Die weiße Rose (Die Gartenlaube 1873/40)

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Titel: Die weise Rose
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 639–642
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die weiße Rose.

Aus meinen Erinnerungen.

An einem frühen Morgen – die Sonne war eben erst aufgegangen, und die Vögel sangen noch ihr erstes Lied – ging eine schon bejahrte Dame auf dem Weg, der von der Stadt B…g auf den nahen Friedhof führt. Ihre Kleidung war, wenn auch einfach und ihrem Alter angemessen, doch gewählt und von feinsten Stoffen. An ihrem linken Arme hatte sie ein elegantes Körbchen hängen, welches mit rothen Rosen gefüllt war. Oefters blieb die Dame stehen, und dann schweifte ihr Blick hinaus über die nahen Felder zu den fernen, noch mit einem feinen Nebel umhüllten Bergen, aber immer kehrte dieser Blick rasch zu den Rosen an ihrem Arm zurück; sie betrachtete diese fast mit Zärtlichkeit, und wenn eine Blume etwas tiefer in den Korb gesunken, erhob sie dieselbe wieder sorgfältig, ja ein paar Mal schien es, als hauche sie einen Kuß auf die Rosen.

Als die Frau den Mauern des Friedhofes nahete, begann sie rascher zu gehen; ihre Augen strahlten in erhöhtem Glanze – man sah, dort hatte sie ihr Ziel erreicht. Gleich am Eingange des Friedhofes erhob sich ein wohl gepflegtes Grab, welches von einer Trauerweide überschattet wurde. Hier blieb sie wie in tiefer Andacht stehen. Nachdem sie dann die Rosen auf dasselbe gelegt und sie geordnet, setzte sie sich auf den Grabstein und faltete ihre Hände in den Schooß. Ob ihre Gedanken und Gefühle sich in ein Gebet auflösten, oder ob ihr Gebet nur ein Gedanke war, wer will es entscheiden?

Es kam eine Ruhe über ihre ganze Gestalt, daß man hätte glauben können, alles Leben sei aus ihr gewichen; nur wer sie genauer beobachtet hätte, würde gesehen haben, wie die Linien um den festgeschlossenen Mund schmerz- und wehmuthsvoller wurden. Es [640] war, als würden dieselben von einem unsichtbaren Griffel tiefer und tiefer gegraben.

So in sich versunken, bemerkte die Dame nicht, daß ein junges Mädchen, welches aus einem entfernter liegenden Theile des Friedhofes kam, sich ihr näherte und sie mitleidig betrachtete. „Wie tief unglücklich sieht doch die arme Frau aus!“ murmelten die jungen frischen Lippen. „Ich will sie ansprechen; vielleicht wird sie dadurch aus diesem starren Schmerze gerissen.“

„Guten Morgen,“ sprach sie dann mit lauter Stimme und trat ganz nahe an das Grab, „ich sehe, Sie sind sehr traurig. Auch ich habe geweint und ein Grab geschmückt. Darf ich,“ fuhr sie fort, „diese weiße Rose, welche ich noch übrig habe, zu Ihren Blumen legen?“

Und mit diesen Worten nahm das junge Mädchen die Rose, die sie bis jetzt in der Hand gehalten, und steckte sie mitten in den Kranz ihrer rothen Blüthenschwestern.

Bei dem ersten Laut des Mädchens hatte die Dame aufgesehen, aber man sah ihr an, daß sie nicht gleich begriff, was Jene gesprochen. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ob sie sich erst wecken müsse. Plötzlich bemerke sie die weiße Rose, und wie durch einen Zauberschlag war die schwache, bejahrte Frau in ein starkes leidenschaftliches Weib verwandelt. Mit einem Schrei des Entsetzens sprang sie auf, nahm die weiße Rose und schleuderte sie mit solcher Gewalt weg, daß sie weitab an einem Grabstein auseinanderfiel.

Hochaufgerichtet stand das Weib da. Ihre Augen glühten in höchster Erregung; ihre Lippen öffneten sich krampfhaft, als sollte all’ das Weh, das sie im Innern durchwühlen mochte, nun in harten Worten ausströmen. Aber die Kraft reichte nicht aus. Die Hände, welche sie wie im höchsten Schmerz krampfhaft zusammengeschlagen hatte, lösten sich. Die Gestalt brach zusammen und sank auf den früheren Sitz zurück, während aus den Augen unaufhaltsam Thränen strömten.

Das junge Mädchen, welches zuerst, von Schreck ergriffen, nicht wußte, ob sie bleiben oder fliehen sollte, fühlte nun ihre Theilnahme zurückkehren. „Ich habe Ihnen unbewußt wehe gethan,“ sagte sie sanft, „wollen und können Sie mir verzeihen?“

„Was wissen Sie von meinem Schmerze,“ rief die Dame tiefergriffen, „was von meiner Schuld, von meiner Reue? Ich allein habe mein Unglück verschuldet, und wie groß und tief es war und noch ist, können Sie daraus ersehen, daß ich alte Frau mein Entsetzen, meine Aufregung nicht bemeistern kann, wo mich, wie eben jetzt, eine Erinnerung plötzlich trifft.“

Von Neuem versank sie nach diesen Worten in ein regungsloses Träumen. Das Mädchen wußte nicht, ob ihre Gegenwart ihr nicht peinlich, ob sie nicht besser thue, zu gehen. Es ist gar schwer, einem Schmerze gegenüber zu stehen, den man nicht kennt. Man möchte ein Wort des Trostes sagen, die Hände mildernd auf die schmerzende Wunde legen, und weiß doch nicht, ob nicht gerade durch eben jene Worte der Schmerz größer, die Wunde unheilbar wird.

„Ich habe Sie wohl durch meine Heftigkeit erschreckt,“ beruhigte die Dame nach einigen Augenblicken das junge Mädchen, „nun bin ich wieder gefaßt. Die Thränen haben mir wohl gethan. Es war nur der Moment, der mich überwältigte und so gewaltig packte, daß ich schon längst Vergangenes wie Gegenwärtiges empfand. Erzählen Sie mir,“ fuhr sie mit weicher Stimme fort, „wessen Grab Sie besucht! Ich werde Ihnen dann auch von mir und meinem früheren Leben sprechen.“

„Ich war noch Kind, erst fünf Jahre alt,“ begann das Mädchen, „als ich meine Eltern verlor; sie sind hier begraben. Habe ich einen Kummer oder eine Freude, immer drängt es mich dann, hierher zu kommen und an ihrem Grabe zu beten. Heute soll ich nun dem Manne, dem schon lange mein Herz gehört, mich verloben, und für diese Stunde habe ich mir den Segen der Eltern erfleht.“

„Und er wird Ihnen werden,“ antwortete die Frau in feierlichem Ton, „aber Sie selbst müssen den Segen jede Stunde Ihres Lebens zu verdienen suchen, ihn festhalten in kleinen und großen Dingen. Spielen Sie niemals, niemals mit dem Glücke! – ich habe es gethan in frevelhaftem Uebermuth, und es zerbrach für immer unter meinen Händen.“

Fragend und theilnehmend sah das Mädchen das Weib an, dieses aber zog sie neben sich, nahm ihre Hände in die ihrigen und begann:

„Vor fünfzig Jahren war ich ein junges, fröhliches Mädchen. Ja, es konnte wohl kein Geschöpf mit glücklicherem Herzen geben, als mich; die ganze Welt, dünke mir, sei nur deswegen so herrlich und prächtig geschaffen, um mich zu erfreuen und zu beglücken. Meine Eltern, welche sehr vermögend waren, erfüllten mir jeden Wunsch. Meine Brüder – Schwestern hatte ich keine – waren stolz auf mich. Ich war auch der Vertraute all ihrer oft mehr als lustigen, ja tollen Streiche. Ich vermittelte zwischen ihnen und den Eltern, denn es machte mich so froh, daß sie meiner bedurften, es erhob mich in meinen eigenen Augen zu einer gar wichtigen Person, so daß ich fast ungehalten war, wenn zuweilen eine ganze Woche verging, in welcher ich nichts zu schlichten hatte. So gewöhnte ich mich, selbst aus dem, was mir eigentlich, da es ja doch nie ohne Aerger für die Eltern abging, unangenehm sein sollte, Befriedigung meiner Gefühle zu ziehen. Ja, selbst die Armuth mußte mir dazu dienen; ich gab gerne und mit vollen Händen, weniger aber um Leid und Sorgen zu mildern, als um mich selbst an der Freude und dem Glücke Anderer zu ergötzen. Entbehrungen mußte ich mir ja deshalb nicht auferlegen, denn mir wurde jeder Wunsch schon im Entstehen befriedigt. Meinen Gott liebte ich mit kindlichem Gemüth – er war mir der Schöpfer all der Herrlichkeit um mich und in mir.

Als ich mein achtzehntes Jahr erreicht hatte, durfte ich den ersten Ball besuchen; ich hatte damals meinen ersten Kummer; es war der, daß die Ballnächte so schrecklich kurz. Ich wähnte, fort und fort tanzen zu können. Nie wurde ich müde und hatte eine unerschöpfliche Kraft, mich zu freuen und glücklich zu sein.

Anfangs waren mir alle Tänzer gleich, konnte ich mich doch mit Allen gleich gut im Kreise schwingen; mit Allen wußte ich zu plaudern und zu scherzen. Dies änderte sich jedoch bald. Ich lernte einen jungen Mann kennen, der mich auszeichnete und allen übrigen Damen vorzog. All mein Denken und Empfinden gehörte von diesem Augenblicke ihm allein. Er war Officier, brav und tüchtig, von Jedem, der ihn kannte, geliebt und geachtet. So sehr ich selbst zum Muthwillen und zum Uebermuth mich neigte, so ernst, fast schwermüthig war er. Aber gerade dies, das Entgegengesetzte meiner eigenen Art, zog mich an. Es schmeichelte mir, daß ich allein im Stande war, seine oft düsteren Augen durch ein einziges Wort, durch einen freundlichen Blick plötzlich in heller Freude aufleuchten zu machen.

‚Du mußt ruhiger werden, liebes Kind,‘ ermahnte mich die Mutter, welche bald erkannte, was in mir vorging, ‚wir Frauen dürfen einem Manne nie auffällig zeigen, was er uns ist, bevor er mit Worten um unsere Liebe geworben. Man darf ein Gefühl der Zuneigung wohl durchblicken lassen, aber es nicht unverhüllt entgegenbringen.‘

Ich versuchte wohl diese Lehren zu befolgen, doch blieb es immer nur bei dem Versuch. Ich konnte nur verbergen, was in mir vorging, wenn ich meine Augen gesenkt hielt, frug mich aber dann Leo Günther – so hieß der geliebte Mann – mit seiner tiefen klangvollen Stimme: ‚Doch nicht traurig, Fräulein Lucie?‘ da mußte ich aufsehen, und ich wußte, daß mit diesem Aufblick auch meine ganze Seele vor ihm aufgeschlagen war.

Oft ersehnte und erwartete ich, daß Leo sich mir erklären würde, und doch wußte ich aus mädchenhafter Scheu ihm auszuweichen, wenn ich glaubte, daß er solches beabsichtige.

So kam der Frühling. Es wurde ein Gartenfest gefeiert – gestern waren es fünfzig Jahre.

Ich hatte mich geschmückt, um ihm zu gefallen, aber Stunde auf Stunde verrann; er kam nicht. Ich war tief unglücklich, obgleich ich nach außen heiter schien. Endlich, da ich schon alle Hoffnung verloren, ihn noch zu sehen, erschien er. Ein Freund aus weiter Ferne hatte ihn aufgesucht und aufgehalten. Wie ich mich gewöhnt hatte, selbstsüchtig zu denken und zu fühlen, so galt mir dies als keine Entschuldigung. Es verletzte mich, daß ich dem Freunde hatte nachstehen müssen. Nun wollte ich ihm zeigen, wie ich auch ohne ihn froh sein könne. Ich ignorirte ihn fast ganz und lachte und plauderte destomehr mit den anderen jungen Herren, die an unserem Tische saßen. Ich war ausgelassen lustig.

[641] Als ich aber bemerkte, mit wie tiefer Trauer ihn mein Benehmen erfüllte, war ich bald versöhnt, und schon wollte ich Leo ein freundliches Wort sagen, als ich plötzlich gewahrte, wie seine Augen mit einer glühenden Leidenschaftlichkeit auf mir ruhten, die mir bisher an ihm fremd gewesen war.

‚Ach,‘ dachte ich, ‚jetzt erst weißt Du, wie unsagbar Du geliebt wirst. Welche Kraft, welche Tiefe muß doch seine Liebe haben, da eine kleine Vernachlässigung ihn so erregen kann!‘

Ein Schwindel erfaßte mich; ich mußte beide Hände auf mein hochklopfendes Herz legen – ich fürchtete, man würde sein Pochen hören.

Es war bis dahin eine ruhige, glückliche Liebe gewesen, welche mich beseligte; zu einer Leidenschaftlichkeit, wie ich eine solche wohl zuweilen in Büchern geschildert gefunden, war es nicht gekommen. Dazu waren die Verhältnisse zu klar; keinerlei Hindernisse wurden uns ja in den Weg gelegt. Jetzt hatte ich zum ersten Male einen Tropfen von dem Gifte der Leidenschaftlichkeit genossen und wurde berauscht davon. Ich regte mich selbst mehr und mehr auf; ich wollte einmal prüfen, wie weit meine Macht reiche. Ich liebte Leo in dieser Stunde wohl mehr denn je. Das Glück, von ihm, dem ernsten Manne, geliebt, so geliebt zu werden, ergriff mich gewaltig; meine Pulse flogen in ungeahnter Seligkeit. Aber ich wollte nun auch den Becher des Glückes bis auf die Neige leeren, und je finsterer seine Augen blickten, je fester sich seine Lippen wie in herbem Schmerze auf einander schlossen, desto sinnbethörender empfand ich seine Liebe. So kam es, daß ich einen immer freundlicheren Ton gegen die mir so gleichgültigen Herren anschlug, aber immer kälter, abstoßender gegen den Geliebten wurde; und als wir uns endlich trennten, hatte ich nur einen kurzen, kalten Gruß für ihn.

Ich konnte an diesem Abend kaum den Augenblick erwarten, wo es mir vergönnt war, mich in mein Zimmer zurückzuziehen, um in der Erinnerung noch einmal die letzten Stunden zu durchleben. Als die Aufregung etwas nachgelassen hatte, durchbebte mich wohl ein leises Weh, wenn ich an das Unrecht dachte, welches ich Leo angethan – mit verdoppelter Liebe wollte ich es sühnen.

Im Begriff, zu Bett zu gehen, mußte ich noch einmal dem Dienstmädchen das Zimmer öffnen. Sie erzählte mir, sie habe eben den Herrn Lieutenant Günther gesprochen, der, da sie Wasser holte, am Brunnen an sie herangetreten und ihr das Versprechen abgenommen, mir heute noch ein Billet und zwei Rosen – sie brachte beides – zu überreichen.

Verwirrt nahm ich diese Sendung in Empfang, und noch heute sehe ich die weiße und die rothe Rose im Geiste vor mir liegen. Mit zitternder Hand öffnete ich den Brief Leo’s.

‚O Lucie,‘ schrieb er, ‚schon seit einigen Tagen fühle ich eine Angst in mir, welche ich umsonst zu beherrschen oder nur zu deuten suche. Sollte dieses Gefühl eine Ahnung dessen gewesen sein, was mir Ihr heutiges Benehmen bestätigte, und ich, der ich auf dieser Welt nur noch von Ihnen beglückt werden kann, zu früh gehofft und für Liebe gehalten haben, was doch nichts weiter als ein flüchtiges Gefallen, oder noch schlimmer, nur ein Spiel mit meiner Liebe war? Doch nein; ich will diesen Gedanken, als Ihrer unwerth, nicht ausdenken; ich kann aber die Zweifel, die mich peinigen, nicht länger ertragen; daher beschwöre ich Sie, geben Sie mir morgen früh – ich werde, sobald der Tag erscheint, vorüberreiten – ein Zeichen, ob meine Liebe erwidert wird oder nicht! Sehe ich die rothe Rose vor Ihrem Fenster – dann weiß ich, daß ich kommen darf, Sie mir von den Eltern zu erbitten; sehe ich die weiße Rose – dann ist meine Zukunft vernichtet.‘

Lange saß ich und las wieder und wieder diese Zeilen. Wer weiß nicht, in welch’ Entzücken die ersten Worte der Liebe ein junges, unentweihtes Herz versetzen! Und an jenem Tage erst, in der ohnehin erregten Stimmung, überwältigte mich förmlich dieser Eindruck. Ich schwelgte in dem Gefühle, dem Manne meiner eigenen heißen Liebe so unendlich viel zu sein. Warum war er nicht da, daß ich ihm hätte gleich an die Brust sinken können, ihm bekennen, wie ich ihn liebe, wie ich mein heutiges Betragen bereue und daß ich von nun an vernünftig und gesetzt sein wolle, wie es einer Braut gezieme!

‚Vernünftig – gesetzt –‘ wiederholte ich mir in Gedanken; aber – wo blieb dann die Empfindung, welche mich heute so selig durchschauert? Noch einmal wollte ich sie durchkosten; noch einmal wollte ich aus seinem Blick die entfesselte Gluth seiner Gefühle lesen – dann wollte ich freudig alles Kindische abwerfen, nur ihm und unserem Glücke leben.

Sonnig lag ja meine Zukunft vor mir; kein Schatten, keine Sorge, kein Zweifel trübte sie. Und Leo sollte diese Zukunft theilen; da konnte er schon noch diese kurze Spanne Zeit in Furcht und Bangen schweben.

Eine Rose, nicht mein eigener Mund, sollte ihm sagen, daß ich ihn liebe? Ich sollte nicht das Leuchten seiner Augen sehen, wenn ich ihm mein Jawort gäbe? Wie oft hatte ich mir diese Scene ausgemalt, und nun sollte es so anders werden! Nein, das durfte nicht sein; er sollte nur kommen; ich wollte von ihm selbst hören, wie heiß er mich begehre. Wie wollte ich dann mein Lebenlang dieser Stunde gedenken, wollte nicht nur glücklich werden, auch glücklich machen!

Solche Gedanken stürmten auf mich ein. Ich theile sie Ihnen jetzt so ausführlich mit, nicht um mich zu entschuldigen, nein, ich will nur zeigen, wie viel Ausflüchte und Beschönigungen dem Menschen zu Gebote stehen, wenn er seine Wünsche rechtfertigen will.

Ich legte die weiße Rose vor das Fenster.

Lange konnte ich nicht einschlafen, und als es doch geschah, schlief ich bis in den späten Morgen hinein. Ich erinnerte mich, daß ich einmal im Schlafe erschrocken aufgefahren, da es mir war, als scheuete ein Pferd vor meinem Fenster und als jagte es dann pfeilschnell fort. Ich war nicht vollständig wach geworden; erst als ich einige Stunden später aufgestanden war und des gestern Geschehenen gedachte, vermuthete ich, daß es Leo gewesen sei, der vorüber geritten.

Ich war heute weniger zuversichtlich als gestern; denn wiederholt fragte ich mich, ob ich auch recht gethan, daß ich die weiße Rose vor das Fenster gelegt. Alles vergessend, was mich gestern zu jener Grausamkeit getrieben, und nur meiner Liebe folgend, nahm ich, bevor ich noch zu den Eltern ging, die weiße Rose weg und legte die rothe hin. Ich kehrte sobald als möglich in mein Zimmer zurück und setzte mich an’s Fenster hinter den Vorhang, ängstlich harrend, ob Leo nicht vorüberkomme.

Der Vormittag verging – er kam nicht. Die rothe Rose fing schon an zu welken. Ich hätte nun zwar der Mutter Alles erzählt, von ihr Rath oder Hülfe erbeten, aber ich fürchtete ihr Schelten und dann schämte ich mich auch meiner That – von Minute zu Minute erkannte ich mehr meine Herzlosigkeit, meinen frevelhaften Leichtsinn. Wie hatte ich nur so handeln können! Nie mehr, gelobte ich mir, wollte ich mit irgend eines Menschen Gefühl spielen. Freuden und Leiden meiner Mitmenschen sollten mir fortan heilig sein, nicht mehr zu eigenem Genügen von mir ausgebeutet werden. Ja, in bangen schweren Stunden lösen sich die Gelübde so leicht und schnell von dem geängstigten Herzen; aber ich konnte nicht mehr gut machen, was ich verschuldet. Für mich gab es fortan nur Reue und Buße.

Es war gegen Abend – meine Aufregung, meine Qual hatte den höchsten Grad erreicht – als ich bemerkte, daß auf der Straße sich einzelne Gruppen bildeten, welche sich lebhaft etwas mittheilten. Es mußte Trauriges sein. Das sah ich an den bestürzten Mienen. Ein kleines Mädchen, die Tochter eines Nachbars, welche ich stricken lehrte und die gerade bei mir war, sandte ich auf Erkundigung hinunter. Ich war froh, daß ich auf Augenblicke von meinen eigenen Gedanken abgezogen wurde.

Athemlos kam das Kind zurück. Schon unter der Thür rief es in jenem Tone, der, verkündet er selbst Trauriges, doch fast freudig klingt, wenn Wichtiges mitzutheilen ist:

‚Lieutenant Günther hat sich draußen im Wäldchen bei Reiden erschossen. Die Leute sagen, es muß schon heute früh geschehen sein, denn er sei schon ganz kalt.‘

Schmerz kann ich es nicht nennen, was ich bei dieser Nachricht empfand – das wäre zu wenig gesagt; es war wie ein Schlag, der mich traf, wie ein Zerreißen all’ meiner Gefühle, und zwischendurch war es, als riefe eine Stimme fort und fort: ‚Das hast Du gethan – das ist Deine Frevelthat!‘

Schon nach einigen Stunden hatte ein plötzlich ausgebrochenes Nervenfieber mir für lange Zeit alle Besinnung geraubt. Und so lag ich Monate, keines klaren Gedankens bewußt. Als ich aber dann wieder gesundete, blieben doch Herz und Seele krank;

[642] die Welt war fortan öde und leer für mich. In mir war Alles, was Freude bringt, Vertrauen, Hoffnung und Liebe, vernichtet. Heute sind es nun fünfzig Jahre – so lange trage ich an meiner Schuld. Die erste Zeit nach jenem traurigen Ereignisse verlebte ich in verzweiflungsvollen Vorwürfen, die ich mir machte und die mir nicht erleichtert wurden durch die Versicherung Aller, daß nicht durch meinen Leichtsinn allein Leo zu der schrecklichen That veranlaßt wurde, daß sein angeborener Trübsinn, seine fast düstere Lebensanschauung dazu gehörten, um in einer Stunde der Verzweiflung ein Leben zu enden, das ja trotz des einen Schmerzes noch so reich und voll vor ihm lag.

Mit den Jahren wurde ich ruhiger. Ich lernte Geduld und Demuth. Ich wurde still gefaßt und ergeben. Die Liebe zu meinen Eltern gab mir wohl die meiste Kraft, nach jener Klarheit zu ringen, die nur allein noch den Frieden bringt, wenn man ein reiches Lieben und Leben verscherzt hat. Glück begehrte ich nicht mehr. Ich war zufrieden, wenn Andere glücklich waren, wenn ich Glück schaffen konnte. Oft besuchte ich Leo’s Grab – niemals ohne rothe Rosen darauf zu legen.

Sie können sich denken, wie schmerzlich gerade an dem heutigen Tage, da mein Geist jene schrecklichen Stunden wieder durchlebte, jene weiße Rose auf mich wirken mußte. Der liebe Gott lasse mich bald ausruhen nach dem langen Kampfe, und möge kein Irren, kein Leichtsinn mehr so hart gestraft werden! Leben Sie wohl, süßes Kind!“ schloß sie ihre Erzählung und reichte dem jungen Mädchen noch einmal die Hand, „und verzeihen Sie mir meine Heftigkeit! Werden und machen Sie glücklich!“

Dann warf die Frau noch einen innigen Blick auf das Grab mit seinen rothen Rosen und verließ langsam den Friedhof.