Dr. Lederer

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Textdaten
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Autor: Gustav Meyrink
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Titel: Dr. Lederer
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aus: Orchideen, S. 13–19
Herausgeber:
Auflage: 8.–10. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: o. J. [ca. 1905]
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
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Quelle: ngiyaw-eBooks, Commons
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[13]
Dr. Lederer

„Haben Sie den Blitz gesehen? – Da muß etwas an der elektrischen Zentrale passiert sein. – – Gerade dort über den Häusern.“

Tatsächlich waren einige Personen stehen geblieben und blickten in derselben Richtung. – – Eine schwere Wolkenschicht lag regungslos über der Stadt und bedeckte das Tal wie ein schwarzer Deckel: – der Dunst, der von den Dächern aufstieg und nicht wollte, daß die Sterne sich lustig machen über die törichten Menschen. –

Wieder blitzte etwas auf – von der Anhöhe zum Himmel empor – und verschwand.

„Weiß Gott, was das sein kann, vorhin hat es doch links geblitzt, und jetzt wieder da drüben?! – – – Vielleicht sind’s gar die Preußen,“ meinte einer.

„Wo sollen denn die herkommen, bitt’ Sie?! Übrigens habe ich noch vor zehn Minuten die Herren Generäle im Hôtel de Saxe sitzen sehen.“

„Na, wissen Sie, das wäre gerade kein Grund, – aber die Preußen – –! das ist doch nicht einmal ein Witz, so etwas kann ja selbst bei uns nicht – –“

Eine blendendhelle eiförmige Scheibe stand plötzlich am Himmel, – riesengroß – und die Menge starrte mit offenem Munde in die Höhe.

„Ein Kompaß, ein Kompaß,“ rief die dicke Frau Schmiedl und eilte auf ihren Balkon. –

[14] „Erstens heißt es Komet, und zweitens hätte er doch einen Schweif,“ wies die vornehme Tochter sie zu recht. – – – – – –

Ein Schrei barst in der Stadt und lief durch die Straßen und Gäßchen, in die Haustore, durch dunkle Gänge und über krumme Treppen bis in die ärmsten Stübchen. – – Alles riß die Vorhänge zur Seite und stieß die Scheiben auf, – die Fenster waren im Nu von Köpfen erfüllt: Ah!

Da oben am Himmel in dem nächtigen Dunst eine leuchtende Scheibe, und mitten darin zeichnete sich jetzt die Silhouette eines Ungeheuers, – eines drachenartigen Geschöpfes ab.

So groß wie der Josefsplatz, pechschwarz und mit einem gräßlichen Maul. –

Ein Chamäleon, ein Chamäleon! – Scheußlich.

Ehe die Menge zur Besinnung kam, war das Phantom verschwunden und der Himmel so dunkel wie früher.

Die Menschen sahen stundenlang empor, bis sie Nasenbluten bekamen, – aber nichts zeigte sich mehr.

Als ob sich der Teufel einen Spaß gemacht hätte.

„Das apokalyptische Tier,“ meinten die Katholiken und schlugen ein Kreuz nach dem anderen.

„Nein, nein, ein Chamäleon,“ – beruhigten die Protestanten. – – –

Glöng, glöng, glöng: Ein Wagen der Rettungsgesellschaft stürmte in die Menge, die schreiend auseinanderstob, und hielt vor einem niedrigen Haustore.

„Ist wem was geschehen?“ bahnte sich der Herr Stadtarzt einen Weg durch das Menschenknäuel. Man schob gerade eine mit Tüchern bedeckte Tragbahre aus dem Hause.

„Ach Gott, Herr Doktor, die gnädige Frau ist vor Schrecken niedergekommen“, weinte das Stubenmädchen, „und es kann höchstens acht Monate alt sein, – er wisse es ganz genau, sagt der gnädige Herr.“ –

[15] „Die Frau Cinibulk hat sich „versehen“ an dem Ungeheuer,“ – lief es von Mund zu Mund. –

Eine große Unruhe entstand. –

„Machen Sie doch Platz, Himmel Herrgott – ich muß nach Hause,“ hörte man vereinzelte Stimmen.

„Laßt uns nach Hause gehen, nach unsern Frauen sehen,“ – intonierten ein paar Gassenbuben, und der Mob johlte. –

„Kusch, ihr Lausbuben,“ schie der Herr Stadtarzt und lief ebenfalls so schnell er konnte heim.

Wenn es nicht zu regnen angefangen hätte, – wer weiß, wie lange die Leute noch auf der Straße geblieben wären. – So leerten sich allmählich die Plätze und Gassen, und nächtliche Ruhe legte sich auf die nassen Steine, die trüb im Laternenlichte glänzten. – –

*     *     *

Mit dem Eheglück der Cinibulks war es seit jener Nacht vorbei. –

Gerade in so einer Musterehe mußte das passieren! – Wenn das Kind wenigstens gestorben wäre, – Achtmonatskinder sterben doch sonst gewöhnlich.

Der Gatte, der Stadtrat Tarquinius Cinibulk, schäumte vor Wut, – die Buben auf der Gasse liefen ihm nach und johlten; – die mährische Amme hatte die Freisen bekommen, wie sie das Kleine erblickt, und er mußte in die Zeitung handgroße Annoncen einrücken lassen, um eine blinde Amme aufzutreiben. –

Schon am nächsten Tage nach jenem schrecklichen Ereignis hatte er angestrengt zu tun, um alle die Agenten von Castans Panoptikum aus dem Hause zu scheuchen, welche das Kind sehen und für die nächstjährige Weltausstellung gewinnen wollten.

Vielleicht war es einer dieser Leute gewesen, der ihm, um seine Vaterfreuden noch mehr zu dämpfen, die verhängnisvolle Idee, er sei von seiner Gattin hintergangen [16] worden, eingegeben hatte, denn kurz darauf war er zum Herrn Polizeirat gelaufen, der nicht nur gerne Silberzeug zu Weihnachten annahm, sondern auch durch emsiges Verdächtigen mißliebiger Personen Karriere gemacht hatte.

Es vergingen richtig kaum acht Wochen, als bekannt wurde, daß der Stadtrat Cinibulk einen gewissen Dr. Max Lederer wegen Ehebruchs verklagt hatte. – Die Staatsanwaltschaft hatte auf die Befürwortung des Polizeirates die Sache selbstverständlich aufgegriffen, obwohl keine Ertappung in flagranti vorlag.

*     *     *

Die Gerichtsverhandlung war äußerst interessant. Die Anklage des Staatsanwaltes stützte sich auf die frappante Ähnlichkeit der kleinen Mißgeburt, welche nackt und kreischend in einem rosa Korbe lag, mit dem Dr. Max Lederer.

„Sehen Sie sich, hoher Gerichtshof, nur einmal den Unterkiefer an und die krummen Beine, – von der niedrigen Stirne, – wenn man das überhaupt Stirne nennen darf, ganz zu schweigen. Betrachten Sie die Glotzaugen, bitte, und den borniert viehischen Ausdruck des Kindes und vergleichen Sie all das mit den Zügen des Angeklagten“, sagte der Staatsanwalt, – „wenn Sie dann noch an seiner Schuld zweifeln – – –!“

„Es wird wohl keinem Menschen einfallen, hier eine gewisse Ähnlichkeit zu leugnen“, fiel der Verteidiger ein, – „ich muß aber ausdrücklich betonen, daß diese Ähnlichkeit nicht dem Verhältnis von Vater zu Kind entspringt, sondern nur dem Umstand einer gemeinsamen Ähnlichkeit mit einem Chamäleon. – Wenn hier jemand die Schuld trägt, so ist es das Chamäleon und nicht der Angeklagte! – Säbelbeine, hoher Gerichtshof, – Glotzaugen, hoher Gerichtshof, – sogar ein derartiger Unterkiefer – – –“

„Zur Sache, Herr Verteidiger!“

[17] Der Advokat verbeugte sich: „Also kurz und gut, ich stelle den Antrag auf Einvernahme von Sachverständigen aus der Zoologie.“

Der Gerichtshof hatte nach kurzer Beratung den Antrag mit dem Bemerken abgelehnt, daß er seit neuester Zeit prinzipiell nur noch Sachverständige aus dem Schreibfache zulasse, und schon hatte sich der Staatsanwalt wieder erhoben, um eine neue Rede zu beginnen, als der Verteidiger, der sich bis dahin eifrig mit seinem Klienten besprochen hatte, energisch vortrat, auf die Füße des Kindes wies und anhob:

„Hoher Gerichtshof, – ich bemerke soeben, daß das Kind an den Fußsohlen sehr auffallende sogenannte Muttermale trägt. Hoher Gerichtshof, können das nicht vielleicht Vatermale sein?! Forschen Sie nach, ich bitte Sie mit aufgehobenen Händen; lassen Sie Herrn Cinibulk sowohl, als auch Dr. Lederer hier Schuhe und Strümpfe ausziehen, – vielleicht können wir das Rätsel, wer der Vater ist, in einem Augenblicke lösen.“

Der Stadtrat Cinibulk wurde sehr rot und erklärte, lieber seinerseits von der Anklage zurückzutreten, als das zu tun, und er beruhigte sich erst, als man ihm erlaubte, sich vorher draußen die Füße waschen zu dürfen. – –

Der Angeklagte Max Lederer zog zuerst seine Strümpfe aus. –

Als seine Füße sichtbar wurden, erhob sich ein brüllendes Gelächter im Auditorium: Er hatte nämlich Klauen, – jawohl, zweigespaltene Klauen wie ein Chamäleon. –

„No Servus, das sind doch überhaupt keine Füße,“ brummte der Staatsanwalt ärgerlich und schmiß seinen Bleistift zu Boden.

Der Verteidiger machte sogleich den Vorsitzenden aufmerksam, daß es denn doch wohl ausgeschlossen sei, daß so eine stattliche Dame wie Frau Cinibulk jemals mit einem so häßlichen Menschen hätte intim verkehren können; [18] – doch der Gerichtshof meinte, während der fraglichen Delikte hätte der Angeklagte doch nicht die Stiefel ausziehen müssen. – – –

„Sagen Sie, Herr Doktor,“ wandte sich leise der Verteidiger während der noch immer herrschenden Unruhe an den Gerichtsarzt, mit dem er gut befreundet war, – „sagen Sie, können Sie nicht aus der Mißbildung der Füße des Angeklagten etwa auch auf geistige Umnachtung schließen?“ – – –

„Natürlich kann ich das, – ich kann alles, – ich war doch früher Regimentsarzt, – warten wir aber noch ab, bis der Herr Stadtrat hereinkommt.“

Der Stadtrat Cinibulk aber kam nicht und kam nicht. –

Da könne man noch lange warten, hieß es, und die Verhandlung hätte vertagt werden müssen, wenn nicht plötzlich aus dem Auditorium der Optiker Cervenka hervorgetreten wäre und der Sache eine neue Wendung gegeben hätte:

„Ich kann es nicht mehr mit ansehen,“ sagte er, „daß ein Unschuldiger leidet, und unterziehe mich lieber freiwillig einer Disziplinarstrafe wegen nächtlicher Ruhestörung. Ich war es, der damals die Erscheinung am Himmel hervorgebracht hat.

Mittels zweier Sonnenmikroskope oder Scheinwerfer, die eine neue wunderbare Erfindung von mir sind, habe ich damals zersetzte, also unsichtbare Lichtstrahlen gegen den Himmel geworfen. –

Wo sie sich trafen, wurden sie sichtbar und bildeten die helle Scheibe. – Das vermeintliche Chamäleon jedoch war ein kleines Diapositivbild des Herrn Dr. Lederer, welches ich an die Wolken reflektieren wollte und im Dunkeln mit meinem eigenen verwechselte. – Ich habe nämlich früher einmal den Dr. Lederer im Dampfbad der Kuriosität wegen photographisch aufgenommen. – Also, wenn sich die Frau Cinibulk, die [19] damals hochschwanger war, an diesem Bilde „versehen“ hat, ist es sehr begreiflich, daß das Kind dem Angeklagten ähnlich sieht.“

Der eine Gerichtsdiener kam jetzt herein und meldete, daß tatsächlich an den Sohlen des Herrn Stadtrates muttermalartige Flecken anfingen sichtbar zu werden, doch müsse man immerhin weiter versuchen, ob sie sich nicht auch noch wegwaschen ließen.

Der Gerichtshof beschloß jedoch, das Resultat nicht erst abzuwarten, sondern sprach den Angeklagten mangels Beweisen frei.