Edelweißkönig (Roman)

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Autor: Ludwig Ganghofer
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Titel: Edelweißkönig
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42–52, S. 681–686, 697–704, 717–722, 734–741, 753–760, 773–779, 789–795, 805–811, 825–832, 842–847, 865–871
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Eine Hochlandsgeschichte
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Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.


Grüß’ Dich Gott, Finkenbauer! Schaust Dir Dein’ Hof an!“ rief der Jäger, der von den Bergen her des Weges kam, dem Bauer zu, welcher mit gekreuzten Armen, die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen, am Zaune seines Gehöftes lehnte. „Aber hast schon Recht! Da is auch ’was dran zum Schauen!“

Damit hatte nun wieder der Jäger Recht; denn der Finkenhof mit dem stattlichen, zweistöckigen Wohnhause, dessen braunrothes Dach die mit Schnitzwerk gezierten Balken weit hinausreckte über die Giebelwand, mit dem hübschen, blaßblau bemalten Austraghäuschen, mit dem Gesindetrakte, mit dem Back- und Waschhause, mit der eigenen Schmiede, mit den Stallungen, Scheunen, Heustadeln und Holzschuppen, bildete gleichsam ein Dörflein inmitten des Dorfes. Ein langer, brauner Staketenzaun mit einem breiten Gitterthore und einem kleinen, zum Wohnhause führenden Pförtchen schied das Gehöfte von der Straße; ein gleicher Zaun umhegte den an die Rückseite des Hauses sich anschmiegenden Gemüsegarten, während graue Bretterplanken die hügelanziehenden Wiesen von den Nachbarhöfen trennten. Höher und höher stiegen diese Planken empor, bis sie im dunklen Wald der steilen Berge sich verloren, die mit ihrer wildzerrissenen Kontour in weitem Bogen das Dorf umspannten. Dicht und weiß lag noch der Schnee auf allen Felsenkuppen, und wie mit bleichen, eisigen Fingern griff er durch alle Schluchten und Schrunden niederwärts gegen das Thal. Die Almenlichtungen, welche sich zwischen Wald und Felsen dehnten, waren wohl zum größten Theile schon frei von Schnee, aber ihre Grashänge zeigten noch ein mattes, todtes Gelbgrün; die Lärchenbestände jedoch, die sich von ihnen dem dichteren Gehölze zusenkten, waren bereits von zartem, lichtem Grün leicht überhaucht, und auch die tiefer stehenden Tannen begannen schon jene hellere Färbung anzunehmen, welche die frischen Triebe des Frühjahrs den dunklen Nadelbäumen verleihen. An den Kastanienbäumen aber, welche das Wohnhaus umringten, war voll und dicht bereits das Laub ersproßt – und die jungen Blätter schwankten und rauschten im lauen Frühlingswinde.

Mit ihrem Rauschen vermischte sich das fröhliche Schwatzen der Sperlinge, das Gurren der Tauben und das Glucksen und Gackern der Hühner. Aus der Schmiede tönte klingender Hammerschlag und aus den Ställen das Brüllen der Rinder und das Klirren der Ketten. Knechte und Mägde kreuzten in geschäftiger Eile den Hof, und aus einer offenen Scheune klang, von einer frischen, kräftigen Mädchenstimme gesungen, die trauliche Weise eines volksthümlichen Liedes. Ein röthlich goldiges Licht lag ausgebreitet über dieses friedsame Bild; denn die Sonne war schon dem Sinken nahe. In zarter Bläue blickte der Himmel hernieder durch die lautere, würzige Lenzluft, in die sich vom Kamine des Finkenhofes der Rauch emporkräuselte mit langsamen Wirbeln.

Ein zärtlich stolzer Blick war es gewesen, mit dem der Bauer auf die Worte des Jägers hin sein Gehöft überflogen hatte, und während er nun lächelnd vor sich [682] hinnicktc: „Ah ja – der Finkenhof –“ schien die hohe, stramme Gestalt des etwa zweiundvierzigjährigen Mannes, der den um acht Jahre jüngeren Jäger ohnedies um eines halben Kopfes Länge überragte, noch zu wachsen.

Dieser Bauer paßte so recht zu seinem Hofe; er machte ein gar gefälliges Bild. Auf den breiten, massiven Schultern saß ein energischer Kopf mit einem scharf geschnittenen Gesichte, darin unter dichten Brauen zwei kluge, lebhafte Augen saßen; sie waren braun wie das Haar, das die knochige Stirn frei ließ, während es mit glatt gestrichenen Strähnen die Ohren völlig verhüllte; ein kurzer, dicht gekräuselter Bart deckte die Wangen; Kinn und Oberlippe waren glatt rasirt; die Lippen waren schmal und beinahe herb gezeichnet, aber die weichen Faltenzüge zu beiden Seiten des Mundes ließen errathen, daß diese Lippen ebenso geübt waren in guten, freundlichen Worten wie im strengen Befehlen.

Solch freundliche Worte waren es auch, mit denen er sich jetzt zu dem Jäger wandte, dessen Gestalt sich ansah, als wollte sie den Beweis führen, daß Knochen und Sehnen zur Bildung eines menschlichen Körpers völlig ausreichend wären. Wenn der Jäger den Kopf zur Seite drückte oder den Arm beugte, meinte man, es müßte dieser Kopf und dieser Arm im nächsten Augenblicke wie von Federkraft wieder in die gerade Lage zurückgeschnellt werden. Fingerdicke Sehnen zogen sich am Halse unter dem schwarzen, struppigen Vollbarte hervor gegen die Schultern und gegen die braune Brust, welche das graue, weit offene Wollhemd tief entblößte. Einem Sehnenbündel glich auch das schwarz behaarte Gelenk der nervigen Hand, die den mächtigen Bergstock gefaßt hielt. Die mit blanken Kappennägeln beschlagenen Schuhe, in denen die nackten Füße staken, mochten nach Pfunden wiegen. So weit die knochigen Kniee zwischen den grauen Wadenstrümpfen und der steifen, verwehten Lederhose sichtbar waren, zeigte sich ihre dunkle Haut bedeckt mit zahlreichen Narben. Die Flügel der dicken, ruppigen Lodenjoppe standen wie zwei Brettstücke von den Hüften ab, und nur widerwillig krümmte sich das rauhe Tuch um die Schultern, welche die Last des bauchig angepackten Rucksackes und der schweren, dickläufigen Büchse nicht zu fühlen schienen. Schief über den kurz geschorenen, schwarzen Haaren saß ein mürber Filzhut, dessen einstiges Grün sich in Wetter und Sonne zu einem gelblichen Braun gewandelt hatte. Ueber die schmale Krempe nickte eine Spielhahnfeder von seltener Größe gegen die Stirn, unter welcher zwei stahlgraue Augen blitzten, aus denen Verwegenheit, Uebermuth, ehrliche Geradheit und harmloser Frohsinn in unbeschreiblicher Mischung sprachen. Scharf hob sich die gekrümmte Nase aus den hageren, sonnverbrannten Wangen und über den starken, spitz aufgedrehten Schnurrbart, unter welchem zwei Lippen lachten, deren frische, schwellende Röthe in seltsamem Widerspruche zu der nervigen Hagerkeit der ganzen Erscheinung stand.

Bei all der starren, trotzigen Kraft, die aus dem Aeußern dieses Menschen sprach, waren seine Bewegungen von einer lebhaften Geschmeidigkeit. Nicht nur sein Mund, alles an ihm redete mit, während er so stand und auf des Bauern Frage, woher er käme, Antwort gab:

„In der Früh – weißt – da hab’ ich a bißl nach meine Auerhähn’ g’schaut, ob s’ noch sauber falzen, und tagsüber nachher hab’ ich meine Jagdsteig’ a bißl ausputzt, damit mein junger Herr Graf a bessers Marschieren hat, wann er jetzt zum Hahnfalz kommt. Weiß dengerst net, warum er so lang ausbleibt. Vor zwei Tag is er schon ang’meldt g’wesen und droben im Schlößl is schon lang alles herg’richt für ihn.“ Dabei deutete er über die Schulter hinweg nach dem kleinen Schlosse, das von einer unfernen Anhöhe mit seinen Thürmchen und Erkern einherwinkte über die Dächer des Dorfes. „Es wär’ an der Zeit, daß er käm’ – sonst laßt’s aus mit’m Falz. Wir haben ja heut schon den vierundzwanzigsten April. No, vielleicht kommt er morgen – und da schießt er nachher doch noch seine sechs, acht Hähn’ – da steh’ ich gut dafür.“

„Oho, oho, ich saget gleich gar: a Dutzend!“ lachte der Finkenbauer.

„Na, na, net an einzigen laß’ ich abhandeln! Mein Jagderl, das steht jetzt da, daß man a Freud’ dran haben kann. Freilich – Müh’ g’nug hat’s mir schon g’macht, und d’ Füß’ sind mir schier gar kürzer worden um an halben Schuh, vor Laufen und Laufen. Wie ich her’kommen bin vor sechs Jahr’, da hat im ganzen Bezirk kein Hahn net g’falzt, zwei einschichtige Hirscherln sind um einander g’schlichen, und alle heiligen Zeiten amal hast an guten Gamsbock g’sehn. Und jetzt! Im vorigen Jahr schon hat der junge Herr Graf fünf Hirsch’ g’schossen, und kein’ unter zehn End’ – und neunzehn teuflische Gamsböck’. Aber weißt – ich hab’ halt sauber g’macht – weißt – mit die Lumpen. A jeder hat’s lassen müssen, der’s früher ’trieben hat. G’rad ein’ – ein’ hab’ ich noch auf der Muck! Aber der lauft mir schon noch amal überzwerch – wie die andern alle.“

Der Jäger überhuschte das Gehöfte mit einem lauernden Blicke, der den Bauer stutzig zu machen schien; doch eh er noch die Frage anzubringen wußte, die ihm auf den Lippen lag, sprach der Jäger schon in raschen Worten weiter: „No – aber – was wahr is, is wahr – das muß ich sagen: mein’ Rennerei allein hätt’s auch net ausg’macht. Er hat sich’s schon recht a Trumm Geld kosten lassen – für Winterfutter, Salzlecken, Gangsteig’ und Jagdhütten – der alte Herr Graf –“

„Unser Herrgott hab’ ihn selig,“ unterbrach der Bauer. „Das war a ganzer, a richtiger Herr, der auch den Bauer ’was hat gelten lassen. Hat ihn aber auch a jeds gern g’habt. Und ’s ganze Ort is allweil z’sammg’rennt, wenn er ’kommen is im Frühjahr, aus der Münchnerstadt, mit der Frau Gräfin und mit seine lieben Büberl. Es hat aber auch ’s ganze Ort mittrauert, wie ’s ihn ’naustragen haben vor zwei Jahr’ – mit die Füß’ voraus. Schad’ drum is g’wesen, schad’, recht schad’ – denn daß ich’s noch amal sag – das war a ganzer, a richtiger Herr.“

„Und der Junge, weißt, der schlagt ihm nach. Das is Dir schon so a lieber und a feiner Mensch. Und so seelengut kann er Dir sein – ja – da könnt’ ich Dir gleich hundert Sachen erzählen. Was ich halt hab’, das hab’ ich von ihm – mein’ Hund, meine G’wehr’, mein kleins Häusl – alles halt, alles! Und a Jaager mein Lieber, a Jaager! G’rad sehen sollst ihn, wann er so draußen is mit mir! Weißt – d’ Jaagerei is halt sein’ liebste Sach’. Da is ihm kein’ Wand net z’gach und kein Graben net z’tief. Und wann’s dazu kommt, daß er ’s Büchsl an sein’ weißen Backen druckt, da heißt’s bei ihm: schnallen und fallen! Drum hab’ ich aber auch mein’ Freud’ dran. Durch’s Feuer ging’ ich für ihn – und wann er’s haben wollt’, reißet ich den Teufel in der Mitt’ aus einander – ja – ich schon!“

Dabei machte der Jäger eine Faust, als hätte er den schwarzen Widersacher bereits auf Armeslänge vor sich. Der Finkenbauer schaute ihm ins blitzende Auge und lachte; dann begann er – wie es jedoch schien, mit einiger Zurückhaltung – in das Lob des jungen Grafen einzustimmen und sagte unter Anderem:

„So viel gern is er allweil da g’wesen in mei’m Hof, wie er noch a Bürschl von a zwölf, vierzehn Jahr’ g’wesen is. Und gar arg gute Kameradschaft hat er g’halten mit mei’m Ferdl.“

„Was is denn,“ unterbrach der Jäger, „laßt sich der Ferdl net bald wieder anschaun im Ort?“

„Ja, ja, in der nächsten Woch’, da kommt er,“ erwiderte der Bauer mit eifrigen Worten. „Vor a sechs Wochen is er ein’zogen worden nach der Münchnerstadt als Unterofficier – no – und in die nächsten Tag’ wird er wieder frei – und da hab’ ich ihm g’schrieben, er soll a Zeitlang bei uns da bleiben, vor er wieder nach Bertlsgaden geht zu seiner Schnitzerei. Mein Gott – am liebsten hätt’ ich ihn ganz bei mir. Aber weißt ja selber, wie er is! Daherin hat er kein’ Werkstatt und kein Werkzeug – und wann er ’s Holz und ’s Schnitzmesser net in die Händ’ haben kann, nachher is ihm net wohl.“

„Ja, ja, das liegt halt so in ihm. Aber es kann ihm auch net leicht einer an in der Schnitzerei,“ betheuerte der Jäger. „Weißt, wann er oft so da g’wesen is in die letzten Jahr’ und is mit mir droben g’wesen am Berg – und wann wir nachher so schön stad um einander g’stiegen sind, da hat er allbot was auf’klaubt vom Boden, a Wurzen oder a Trümmerl Holz, und hat dran um einander bosselt mit sei’m Feitl[1], und kaum daß ich’s versehen hab’, hat er schon a Köpfl, a Mandl oder a Viecherl fertig g’habt. Ja – a ganze Sammlung hab’ ich daheim in meiner Stuben. No – und da freut’s mich recht, daß er sich wieder amal anschaun laßt, der Ferdl, weil er gar so a sauberer, unterhaltsamer und so a rechtlicher Mensch is, und weil ich ihn gar so viel gern hab’.“

„Er is aber auch a Mensch zum Gernhaben,“ stimmte der Bauer mit einem Lächeln stolzen Wohlgefallens bei. „Und lieber [683] kann man sein’ Brudern dengerst nimmer haben, als ich den Ferdl hab’. Is schon wahr – ganz warm geht’s mir allweil von einander in mir drin, wann er da is. Ja – und haben könnt’ er von mir, was er g’rad möcht’. Weißt – und drum hab’ ich auch schon öfters dran ’denkt – bei uns herin wird’s ja auch von Jahr zu Jahr besser mit die Sommerleut’ – no – und da ließet ich ihm a saubers Häusl hinsetzen, hart an d’ Straßen, und da könnt’ er sich nachher einrichten auf’n Glanz und könnt’ a Werkstatt aufmachen und an Laden. Meinst net?“

„Da hast Recht! Da hast Recht! Bist halt a Teufelskerl, Finkenbauer – ich sag’s allweil! Und schau – was Schöners kann’s ja nie net geben in der Welt, als wie wenn Geschwisterleut’ so zu einander halten. Unser Herrgott hätt’ aber auch ’s Kleeblatt net schöner z’sammtragen können, als wie Dich, Dein’ Ferdl und die Hanni dazu. Aber sag’, was is denn mit Deiner Schwester, wie gcht’s ihr denn? Ich mein’, sie müßt’ bei unserer Frau Gräfin drin in der Stadt a schöns Bleiben haben. Und hinpassen thut s’ auch an so an Platz, Dein’ Hanni – weißt – sie is ja selber so fein und so gar net bäurisch – ja – könnt’ schier gar selber a Herrische sein. Ich hab’ mir s’ diemal gar net anz’reden traut, wenn s’ mir so begegnet is in ihrem stadtischen G’wandl und mit ihrem Muttergottesg’sichtl. Wie geht’s ihr denn, han?“

Der Bauer schwieg; sein Gesicht hatte den Ausdruck sorgender Betrübniß angenommen; mit ernsten Augen blickte er nieder und nickte dazu mit dem Kopfe langsam vor sich hin.

Der Jäger schien diese Veränderung nicht zu gewahren und auch auf seine Frage keine Antwort zu erwarten. Seit geraumer Zeit schon war er nur mit getheilter Aufmerksamkeit bei der Sache gewesen. Immer wieder waren seine Blicke hinüber gewandert zu der nahen Scheune, und immer war dabei ein so seltsam unruhiges Zucken über seine Lider und Wangen gehuscht. Während nun der Bauer schwieg, hob er lauschend den Kopf, als bemühe er sich, die Worte des munteren Gesanges zu verstehen, der aus dem Innern der Scheune tönte.

„Is jetzt das net die Emmerenz?“ frug er plötzlich. „Die singt ja heut’ drauf los, als ob s’ ’zahlt werden thät’ dafür!“

Seufzend blickte der Finkenbauer auf; sein herbgeschlossener Mund verzog sich zu einem leisen Lächeln, und während er eine dicke Rauchwolke vor sich hinpaffte, sah er mit zwickernden Augen auf den Jäger und sagte: „Hätt’ leicht g’meint, daß Du der Enzi ihr Stimm’ soweit schon kennst, daß D’ nimmer drum fragen mußt!“

„Hast g’meint?“ frug der Jäger ganz verwunderten Tones, indem er an seinem Rucksackriemen zu nesteln begann. „No weißt, von die paarmal her, wo ich d’ Emmerenz im letzten Sommer g’sehen hab’, droben auf der Alm, da kannst a Stimm’ gar leicht vergessen. Der Winter is gar lang.“

„Ja, ja,“ nickte der Finkenbauer, dessen Lächeln sich verstärkte. „Aber gelt, sauber kann s’ singen, mein’ Oberdirn’?“

„Ja – das muß man ihr zub’stehn, das kann s’!“ sagte der Jäger, während er zur Höhe blickte, als wäre vom Wetter die Rede. „Aber – ich mein’, Du wirst auch sonst kein’ Grund zum Klagen haben. Wenigstens hab’ ich d’ Emmerenz noch nie net anders g’sehn als mit rührige Händ’, allweil fleißig und allweil lustig bei ’r Arbeit.“

„Ja, was hast denn?“ lachte jetzt der Finkenbauer laut auf. „Lobst ja das Deandel über’n Schellenkönig!“

„Gar net, gar net,“ plauderte der Jäger mit dem möglichsten Anscheine von Gleichgültigkeit vor sich hin.

„Geh, geh weiter, thu’ net gar a so!“ schmunzelte der Bauer. „Es is ja doch kein’ Schand’ net, wenn Du ’s einb’stehst, daß D’ seit dem letzten Frühjahr schon der Enzi z’ G’fallen gehst.“

„Ich?“ fuhr der Jäger auf und machte zwei Augen, groß und rund wie Thalerstücke. Dann verzog er die Nase und schüttelte den Kopf: „Na – na – das Deandl wär’ mir für mein Gusto schon alles z’ viel g’schnappig.“

„No – da schau – und ich hätt’ g’meint, da passet s’ g’rad zu Dir. Wenigstens wärst Du der Rechte, der ihr ’nausgeben könnt’ mit gleicher Münz’.“

„Meinst? Meinst? Meinst?“ lachte jetzt der Jäger, daß ihm die Schultern wackelten und die Thränen in die Augen sprangen.

Und dazu klang aus dem Innern der offenen Scheune die frische muntere Stimme der Emmerenz:

„Gasseöngehn is mein Freud’,
Gasselngehn hab’ ich gern,
Wann schön der Mon’schein scheint
Und blitzen d’ Stern’!

Wann ich z’ Nacht munter wer(d)
Und Buaben singen hör’,
Möcht’ ich halt aussi glei’,
Wär’ gern dabei!

Wann ich kein Schneid net hätt’
Hätt’ ich beim Tag mein G’frett,
Hätt’ ich bei’r . . .“

Da plötzlich brach die Stimme mitten im Gesange ab, ein halb erstickter Aufschrei wurde hörbar, ein Gepolter, dann ein klatschender Schlag – und gleichzeitig ließ sich die zornige Stimme des Mädchens vernehmen: „Da hast a Bußl, Du Haderlump, Du heimtückischer!“

Mit gerunzelter Stirn blickte der Finkenbauer nach der Scheune, aus deren Thor ein Knecht getreten war, der außer dem unsauberen, an den Ellbogen zerrissenen Hemde nur eine verblichene, vielfach geflickte Soldatenhose am Leibe trug. Die lautlosen Tritte der nackten Füße verliehen seinem Wesen etwas Schleichendes. Auch ging er leicht gebückt und hielt dabei den Kopf mit den borstig abstehenden, semmelfarbigen Haaren zwischen die Schultern gezogen. Das Gesicht mit dem starken Schnurrbarte, dessen spiralenförmig gedrehte Spitzen bis auf die Brust niederhingen, hätte man hübsch nennen können, wenn ihm nicht der kleine, schiefe Schnitt der Augen einen Ausdruck von lauernder Verschlagenheit gegeben hätte. Dazu war jetzt die eine Hälfte dieses Gesichtes unnatürlich geröthet – und der Bursche schien alle Eile zu haben, diesen rothen Backen in der Stallthür verschwinden zu lassen.

„He! Was hat’s denn da ’geben?“ rief ihm der Finkenbauer zu.

„Was wird’s ’geben haben? Nix!“ brummte der Knecht.

Schon wollte der Bauer erwidern, als ein scharfklingendes Kichern ihn veranlaßte, nach dem Jäger umzublicken – und was er nun in den grauen Augen desselben funkeln sah, das war die Schadenfreude eines glühenden Hasses. Herb und schneidend klang auch das Lachen, mit welchem der Jäger jetzt dem Knechte zurief: „Ja, was is denn, Valtl? Mir scheint ja gar, Du hast den Sonnenschein ’kriegt, am Abend und unter’m Dach?“

Der Bursche erwiderte keine Silbe; einen stechenden Blick nur schoß er nach dem Jäger und verschwand dann in der schmalen Thür des Pferdestalles. Durch eine Spalte des Scheunenthores klang aber nun die streithafte Stimme der Emmerenz: „Gelt, Jaager, geh fein Du auch in’ Schatten. Weißt – d’ Sonn’ macht dürr – und schaust ja so wie so schon aus wie a Zwetschgen am Nicklstag!“

„Hörst es, die hat Dich g’schwinder derkennt!“ lachte der Finkenbaucr, und lachend stimmte der Jäger ein; aber das war nun wieder ein offenes, munteres Lachen, und hell und lustig klangen seine Worte, als er nach der Scheune zu rief:

„Geh, laß Dich doch wenigstens a bißl anschaun. Mußt ja heut’ sakrisch sauber sein, weil schon im Reden so süß bist, als wärst a halbes Jahr lang mit die Immen g’flogen.“

„Da kannst Recht haben!“ klang es aus der Scheune entgegen. „Aber weißt – wenn ich auch vom Honigmachen nix g’lernt hab’, könnt ich bei die Immen ’leicht was profitirt haben vom Stechen.“ Und kichernd schlugen die Worte des Mädchens über in Gesang:

„Der Immstock steht hinterm Haus,
D’ Imm’ fliegen ein und aus,
Büberl, gelt, rühr’ net dran,
Weil der Imm ’s Stechen kann!“

Ueberleitend in einen Jodler entfernte sich die Stimme gegen die Tiefe der Scheune.

Der Jäger aber sang lächelnden Mundes entgegen, freilich mit einer so sehr gedämpften Stimme, daß seine Worte nur dem Ohre des Bauern noch verständlich waren:

„Daß der Imm stechen kann,
Das schreckt mich weni’,
Wann der Imm g’stochcn hat,
Laßt er sein’ Höni’.“

Da schüttelte sich der Finkenbauer vor Lachen. „So! Sauber! So is recht – schön hin und schön her! A kleine Hacklerei, das hab’ ich allweil gern – das macht ei’m lachet, und ’s Lachen halt’ d’ Leber g’sund. Aber weißt ’was, Jaager? Ich mein’ [684] schier, wir hätten uns ganz trocken g'redt. Geh weiter, kehr' a bißl zu ins Haus, nachher trinken wir a Stamperl mit einander.“

„Ja, Du, da laß ich mich fein gar net nöten,“ lachte der Jäger, „weißt – ich hab’ allweil an rauchen Hals, der ’s Netzen vertragen kann.“

Der Weg durch die Gatterthür mochte ihm wohl als ein überflüssiger, zeitraubender Umweg erscheinen; so schob er seinen Bergstock durch die Staketen und sprang mit einem flinken Satze über den Zaun hinweg an die Seite des gastlichen Bauern.

Nun lenkten die Beiden um die Ecke des Wohnhauses, und da verhielt ihnen ein gar lieblicher Anblick die Schritte.

An der ganzen Länge des Hauses hin zog sich eine mit Holzplatten gepflasterte, gegen den Hofraum durch ein Geländer abgesperrte Terrasse. Bis unter das Dach war die Mauer überspannt von einem grünen Lattengitter, an welchem sich die knorrigen Ranken des wilden Weins, der in langen, grünbemalten Holzkisten wurzelte, zu einem dichten Netze verwebt hatten, aus dem nun die langen, weißlich-grünen Triebe stachelartig hervorstarrten. Wie glühende Augen aus dichtem Schleier, so funkelten die von der Abendsonne roth beleuchteten Fenster aus diesem Retzwerk, das ein schmales, laubenförmiges Dach über der offenen Thür bildete, zu welcher drei breite Stufen aus braungelben Backsteinen emporführten. Auf der obersten dieser Stufen saß ein Mädchen, welches kaum das sechzehnte Jahr überschritten haben konnte. Dicke braune Flechten umrahmtem, die rosigen Ohren fast verdeckend, ein feines Köpfchen von länglichem Oval. In dem halb kindlichen, halb jungfräulichen Gesichte mit dem schlanken Näschen, dem winzigen kirschrothen Munde und dem sanft aus den runden Wangen sich senkenden Kinne paarte sich gesunde Frische mit einem leichten Ausdrucke von Trauer oder Schwermuth. Vielleicht waren es aber auch nur die großen Rehaugen, die dem Gesichte diesen Ausdruck verliehen: sie bewegten sich so langsam, sie blickten so zag und schüchtern, sie erzählten von seltsamen, wunderlichen Gedanken und Träumen, die unter der runden, von dünnen Zaushärchen halb verschleierten Stirne leben und weben mochten, und waren anzusehen, als ob sie über alles zu erstaunen hätten, was ihnen auf ihren langsamen Wegen begegnete. Zu beiden Seiten des Mädchens lagen kurzgeschnittene, dunkelgrüne Tannenreiser über die Stufen gestreut, und in ihrem Schoße ruhte ein aus solchen Reisern geflochtener Kranz, der wohl zum Schmucke des nebenanstehenden Brettchems bestimmt war, das auf weißem Grunde in bunten Farben die schnörkelige Aufschrift: „Willkommen!“ trug. Dem Mädchen zu Füßen saßen zwei bausbäckige, von Gesundheit strotzende Kinder, ein Knabe von fünf und ein Dirnlein von etwa sieben Jahren. Sie lehnten sich mit den Aermchen über die Kniee des Mädchens; als dritter im Bunde hatte sich der schwarzzottige Hofhund zu ihnen gesellt, hatte den breiten, kurzschnauzigen Kopf unter dem einen Arme des Dirnleins durchgeschoben – und wie die beiden athemlos lauschenden Kiuder, so blickte auch er mit funkelnden Augen zu dem Gesichte des Mädchens empor, das seinen beiden Schützlingen von Berggeistern und Waldfeen erzählte. Mit rosigen Lichtern spielte die abendliche Sonne über die liebliche Gruppe, während durch den dunklen Flur das in der Küche flackernde Herdfeuer den Kopf, die Schultern und die der Fülle noch entbehrenden nackten Arme des Mädchens mit leuchtenden Linien umsäumte.

„Und so hat a jeder Stein sein’ eigenen Geist: der Kreidenstein, der Bluthstein, der Eisenstein, der Salzstein, der Marmelstein – und überhaupt a jeder – hat mein Vaterl g’sagt,“ so hörten Bauer und Jäger das Mädchen erzählen, als sie näher traten, ohne von demselben bemerkt zu werden. „Die Bäum’ aber und die Pflanzen und Bleameln, die haben Geisterinnen, wo man Feen heißt – ja – und die sind gar sanft und gütig gegen alle Menschen – hat mein Vaterl g’sagt – und bloß nachher werden s’ bös’ auf ein’, wenn einer aus Uebermuth ’neinschneidt in a Bäuml oder so a liebs Bleamerl z’samm tritt mit die Füß’. Und so giebt’s an Almrauschsey, an Enzianweibl und a Steinrautalf. Grad an einzigs von die Bleameln, das schöne, schöne Edelweiß, das droben wachsen thut, z’höchst auf die Berg’, das hat an Mannergeist, der’s hüten thut und b’schützen – und dem sein Nam’ heißt Edelweißkönig. Der hat a freundlichs G’sicht mit blaue Augen, an braunen Bart und braune Lockenhaar! Sein grüner Hut is ziert mit lauter Edelweiß, und ’s ganze G’wand is g’macht aus solche Bleamerln. Ja – und so viel sorgen thut er sich um seine Pflanzerln. Lang vor’m ersten Schnee schon kommt er aus’m Berg und deckt die Pflanzerln zu, daß keins derfrieren kann. Im Sommer nachher, hat mein Vaterl g’sagt, wenn’s lang net g’regnet hat und d’ Sonn’ so hin brennt auf die armen Bleamerln, daß alle schier verschmachten möchten, da holt er ’s Wasser aus die Bach’, damit er seine Pflanzerln gießen kann. Und nachher hat er so viel Freuden, wenn s’ recht schön frisch und weiß und sauber werden – ja – und weil er ’s ganz gut kennt, wie ’s Edelweiß den Menschen so viel g’fallt, drum führt er alle, die wo suchen gehn, unsichtbar an die Platzln hin, wo seine weißen Sternderln wachsen. Dieselbigen aber, wo mit die Bleamerln allein net z’frieden sind, wo die Pflanzerln mitsammt die Wurzen ausreißen, daß an so ei’m Platz kein Stammerl nimmer wachsen kann, die haßt er bis auf’s Blut, und als a Unsichtbarer stößt er s’ ’nunter über d’ Wand, daß s’ ganz derschmettert liegen müssen in der Tiefen – ja – zur Straf’!“

Ein tiefer, stockender Athemzug schwellte die junge Brust der Erzählerin, deren sanfte Stimme sich zu geheimnißvollem Flüstern gedämpft hatte.

Nun sie schwieg, rüttelte ein Schauer unheimlichen Grauens den Flachskopf des kleinen Dirnleins, fröstelnd zog das Kind die Aermchen enger an den Leib, so daß der zottige Hofhund, der dabei unwillkürlich in Mitleidenschaft gezogen wurde, ein röchelndes Knurren hören ließ. In dem frischen Gesichte des braunlockigen Knaben aber war keine Spur eines ängstlichen Empfindens zu lesen. Er hatte schmollend die Lippen aufgezogen, hielt die Augen gesenkt und runzelte nachdenklich die Stirn. Plötzlich warf er das Köpfchen auf und sprach mit kecker Stimme zu dem Mädchen empor. „Du – Veverl – wie kann man denn wissen, wie er ausschaut und was er thut, der Edelweißkönig – wann er allweil unsichtbar is?“

Drüben an der Hausecke stieß der Finkenbauer in lächelndem Vaterstolze dem Jäger den Ellbogen an die Rippen.

Veverl aber richtete ihre großen, träumerischen Augen mit vorwurfsvollem Blicke auf den kleinen, fürwitzigen Frager. „Ja, Pepperl, wie kannst denn jetzt so daherreden!“ schalt sie mit einer Stimme, deren wichtig thuender Ton ihren festen Glauben an die Wahrheit dessen verrieth, was sie den beiden Kindern erzählt hatte, fast mit den gleichen Worten, in denen es ihr vor Jahr und Jahr zu dutzendmalen von ihrem Vater erzählt worden war, im tiefen Bergwalde unter rauschenden Tannen.

„So hat mein Vaterl g’sagt –“ das war für ihr kindliches Gemüth ein Argument, welches keinen Zweifel duldete. Diesen Haupt- und Grundbeweis brachte sie nun auch dem Knaben gegenüber zur Anwendung und fügte erklärend bei: „Weißt, allweil is er ja net unsichtbar, der Edelweißkönig! Ja, kannst es glauben, Pepperl, er laßt sich schon diemal sehen – wenn auch grad net vor ei’m Jeden, der nur so daherlauft auf seine zwei Füß’. “

„Hast ihn Du – schon – amal – g’sehen?“ frug jetzt das blonde Dirnlein mit leise zitternder Stimme, während der Bruder noch immer aus schiefgehaltenem Kopfe mit mißtrauischen Blicken zu dem Gesichte des Mädchens empor zwinkerte.

„Na, Liesei – noch nie net!“ erwiderte Veverl. „Wie könnt’ ich ihn denn g’sehen haben! Da müßt’ ich ja z’erst sein Königsbleamerl g’funden haben! Ja, Pepperl – wart’ nur, wann amal groß bist, daß drauf kannst z’oberst auf die Berg’ – und wenn nachher ’s Glück will, daß D’ sein Königsbleamerl findst, nachher kannst ihn rufen, daß ihn selber siehst mit Deine eignen Augen – ja, und da bist nachher a g’machter Mann! Denn wer sein Königsbleamerl findt und tragt’s am Hut, dem kann in die Berg’ nix g’schehen, der kann sich net versteigen und net derstürzen. Und wo nur Einer in Noth oder G’fahr is droben auf die Berg’ und er ruft den Edelweißkönig an, mit sei’m Königsbleamerl in der Hand – da steht er nachher auf amal da vor ei’m und giebt ei’m alle zwei Händ’ und hilft ei’m aus der Noth.“

„Du – Veverl – an was kennt man denn das Bleamerl?“ frug das Liesei, dem die Augen vor Spannung und Erregung glühten.

„Du mein Gott – kennen thut man’s leicht, aber ’s Finden, weißt, ’s Finden, das is das Schwere bei der Sach’. Denn so a Bleamerl wachst in die ganzen Berg’ g’rad an einzigs alle Jahr’. Wen aber ’s Glück g’rad hinführt davor, der derkennt’s auf’n ersten Blick. Denn ’s Königsbleamerl, das is fünfmal so groß als wie an anders Edelweiß. In der Mitt’, da hat’s fünf graue Schöpferln auf ei’m einzigen Stiel, wie an anders Sterndel [686] g’rad an einzigs hat – und rings drum ’rum, da stehen dreiß’g bluhweiße sammetne Strahlen.“

„Geh – das muß aber schön sein!“ seufzte das kleine Dirnlein.

„No, das glaub’ ich, daß so a Bleamerl schön is – wunderschön!“ betheuerte Veverl. „Ich selber hab’ freilich noch nie keins net g’sehn, aber mein Vaterl hat mir g’nau verzählt, wie’s ausschaut.“

Da legte Pepperl abermals die kleine Stirn in Falten und frug in beinahe drohendem Tone: „Is aber auch wahr, daß’s so a Bleamerl giebt?“

„No freilich!“ scholl jetzt von der Hausecke her die laute Stimme des Jägers, so daß die beiden Kinder erschrocken zusammenfuhren, während der Hofhund dem Jäger mit heulendem Gebell entgegenstürzte. Der Finkenbauer beruhigte das Thier, dann kam er mit seinem Gaste näher, der den verdutzt dareinschauenden Knaben lachenden Wortes ansprach: „No freilich is wahr, Du kleiner Thomasl, Du! Mir wirst es doch glauben! Weißt – ich hab’ selber schon eins g’funden, so a Bleamerl – ja. G’rad schad’ is, daß ich’s Dir nimmer zeigen kann – denn weißt, ich hab’s am Hut droben tragen, und da hat’s mir der Wind ’nunterg’weht über a Wand, daß ich’s nimmer hab’ finden können.“ Lachend wandte er sich zu Veverl, die sich erröthend erhoben hatte und den Jäger mit einem Blicke betrachtete, als suche sie aus seinem Gesichte zu ergründen, ob er scherze oder die Wahrheit spräche. „Aber schön kannst verzählen, Deandl! Schau – Dir möcht’ ich gleich selber zuhören, ganze Stunden lang.“

Veverl erröthete noch tiefer. Mit schüchterner Stimme beantwortete sie des Jägers Frage, wie es ihr ginge und wie sie sich auf dem Finkenhofe eingewöhnt habe – gut natürlich! Auch an die Kinder richtete der Jäger noch einige lustige Worte; dann stellte er den Bergstock an die Mauer und schritt mit dem Bauer in das Haus.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 43, S. 697–704

[697] Als die beiden in der geräumigen Stube, die durch ihre gediegene, sauber gehaltene Ausstattung den behäbigen Wohlstand und die Ordnungsliebe ihrer Bewohner verrieth, bei dem schäumenden Bierkruge saßen, sagte Gidi, der Jäger:

„A saubers Deandl, ’s Veverl! Da paß auf – die wachst sich amal aus!“

„Ja – is a lieber Kerl! Und jeden Tag, seit ich s’ her’bracht hab’ in mein Haus, krieg’ ich mehr G’fallen an ihr,“ erwiderte der Bauer. „So a Madl findst net leicht – so fleißig und dabei so still und b’scheiden. Und für alles hat s’ an Dank – und völlig d’rauf sinniren thut s’, wie s’ ei’m a Freud’ machen kann. Und nachher – zu die Kinder, weißt, da stellt sie sich halt b’sonders gut. Wenn s’ nur net gar so voller Geschichten stecket! Allweil hat s’ mit ihre Geister z’ schaffen – und alle Tag’ redt s’ die Kinder so a paar Sachen in Kopf ’nein, wie g’rad jetzt eine g’hört hast.“

„Du – das mußt ihr fein ja net wehren!“ mahnte der Jäger. „Weißt, g’rad an solche Sachen haben Kinder a Freud’ – und so was bringt a Leben in ihr Kindergemüth. Solchene G’schichten machen ei’m die Kinderzeit gar lieb und schön – das weiß ich von mir selber. Ich hab’ an Ahnl g’habt, die hat mir auch von in der Fruh bis auf d’ Nacht ihre alten G’schichten vorplauscht. Und kannst mir’s glauben – dabei hab’ ich schier gar mehrer profitiert als in der Schul’. Wenn man nachher ins richtige Alter kommt, da lernt man ’s von ei’m selber, was man von solchene Sachen halten muß. Und wenn man z’letzt auch drüber lacht – ’s Gute davon bleibt deßwegen doch: daß man an Sinn hat für alles, was über’m Gartenzaun draußen wachst und lebt.“

„Ja, ja, ja – ich red’ ja net dagegen, aber ich mein’ nur, es wär’ für d’ Vevi schon an der Zeit mit’m richtigen Alter. Die glaubt ja heut’ noch an ihre G’schichten so fest als wie an unsern Herrgott.“

„So laß s’ dran glauben – is g’scheiter, als wie wenn s’ eine von die Aufklärten wär’, die sich mit vierzehn Jahr’ schon Wulsten in d’ Röck’ [698] ’neinnähen. Hast es ja selber g’sagt – kannst ja sonst net klagen! Und so a viel g’schickte Dingin muß das Deandl sein – das hab’ ich jetzt g’rad an dem Kranz g’sehen. Gelt – der Willkomm is wohl schon für’n Ferdl g’rechnet?“

Der Bauer schüttelte den Kopf. „Meiner Mariann’ hat ’s Deandl a Freud’ machen wollen.“

„Ja – wie is mir denn? Dein’ Bäuerin is auf der Reis’?“ platzte der Jäger los, während er mit lautem Klatsch die beiden Hände auf die Schenkel schlug. „Jetzt da schau her – ich bin doch a rechter Lackl. Jetzt erst fallt’s mir auf, daß ich Dein’ Bäuerin mit kei’m Aug’ noch net g’sehen hab! Ja, wo hat s’ denn hinreisen müssen?“

„Nach der Münchnerstadt,“ erwiderte der Bauer mit zögernden Worten. „Weißt – unser’ Hanni hat in der letzten Zeit allweil so verschmaachte[2], traurige Brief’ g’schrieben – und doch hat man ’s aus kei’m ’rauslesen können, ob ihr ’leicht was abgeht, oder ob ihr ’was net recht is. No – und weil ich mich halt doch recht g’sorgt hab’ – kennst ja d’Hanni, weißt ja, wie gut man ihr sein muß – ja – und – da hab’ ich halt z’letzt zur Mariann’ g’sagt: weißt ’was, fahrst ’nein in d’ Stadt und gehst hin zur Frau Gräfin, und da wirst ja nachher wohl derfahren können, was denn das eigentlich für a Sach’ is mit dem Madl seiner Traurigkeit. Weißt – ich wär’ schon am liebsten selber gern g’fahren – aber no – ich hab’ mir halt ’denkt, bei so ’was reden sich d’ Weiberleut’ allweil besser mit einander. Und zur Mariann’ hab’ ich g’sagt: jetzt schaust amal nach, und wenn ’was derfahrst, was Dir net taugt, nachher machst kurzen Proceß, packst das Madl z’samm’ und bringst es mit heim.“

Da wurde von der Straße her das Rasseln eines Wagens hörbar.

Der Bauer sprang auf und eilte auf eines der Fenster zu; aber kopfschüttelnd kehrte er wieder zum Tische zurück, während er mit besorgten Blicken auf die große silberne Uhr niedersah, die er aus der Westentasche gezogen hatte. „Ich kann mir gar nicht denken, warum d’ Mariann’ so lang ausbleibt. Sie is doch sonst so g’nau mit der Zeit – und – jetzt is schon sechse vorbei.“

„Soll Dein’ Bäuerin ’leicht heut’ noch heimkommen von der Stadt?“

„Ja – und drum hab’ ich den Dori mit mei’m Wagen ’neing’schickt in d’ Station. Um viere kommt der Zug –“

„Aber da können s’ ja noch gar net da sein. In zwei Stund’ fahrt man doch den Weg net!“

„Mit meine Roß aber schon!“ versicherte der Bauer mit breitem Stolz, um dann zögernden Wortes beizufügen: „Wenn ich nur wenigstens an andern g’schickt hätt’ als wie den Dori. Der Bua, der lacklete, hat sein’ langohreten Hirnkasten allweil voll mit seine Unfürm’[3] – weiß Gott, was er am End’ wieder ang’stellt hat – ’leicht hat er mir gar den Wagen umg’worfen in sei’m Uebermuth.“

„Aber Bauer – so sei doch g’scheidt! Wart’ halt noch a halb’s Stündl und mach’ Dir jetzt noch keine überflüssigen Sorgen.“

Da erschien Veverl an der Thür und rief den Bauer in den Hof hinaus, damit er den inzwischen vollendeten Schmuck der Hausthür betrachten möchte.

Gidi folgte dem Bauer und bestaunte mit ihm gerechtermaßen das in der That gar schmucke Aussehen der Thür. Noch ergingen sie sich im Lobe über Veverl’s Geschicklichkeit, als auf der Straße Räderrollen und Hufschlag nähertönte, darein sich hallende Peitschenschläge mischten, die in ihrer raschen, taktmäßigen Aufeinanderfolge eine Art von Melodie bildeten.

„Vater – das is der Dori – ich kenn’ ihn am Schnallen[4] – d’ Mutter kommt d’ Mutter kommt!“ jubelte Pepperl und rannte dem Zaune zu.

Inzwischen war Valtl aus dem Stalle herbeigesprungen und hatte das Einfahrtsthor sperrangelweit aufgerissen.

Jetzt tauchten um die vorspringende Hausecke des Nachbargehöftes mit wehenden Mähnen die beiden prächtigen Rappen, deren Stirnriemen und Scheuleder mit Veilchensträußen geziert waren, jetzt erschien Dori mit der kreisenden, hallenden Peitsche, und jetzt die Kutsche mit dem schwarzglänzenden Lederzeuge.

„Ja – heiliger Gott – was is denn,“ stammelte der Finkenbauer, „der Wagen is ja leer! Da hat’s ’was geben! Da hat’s ’was geben!“ Mit zitternder Hand löste er die Fingerchen seines Kindes von seinem Arme und eilte dem Wagen entgegen.

Ohne den Lauf der Pferde zu mäßigen, hatte Dori in tadelloser Kurve das bäuerlich schmucke Gefährte in den Hof gelenkt, wo er die beiden schnaubenden Thiere unter einem letzten Peitschenknalle durch einen kaum merkbaren Ruck der Zügel zum Stehen brachte.

Unter dem Einfahrtsthore hatte sich Pepperl in die hintere Federstange der Kutsche eingehängt, und so war er nun der Erste, der vor Dori stand, mit der Frage: „Han – Du – wo is denn d’ Mutter?“

„Was weiß denn ich? Wahrscheinlich in ihrem Rock,“ kicherte Dori, nahm den grünen Spitzhut ab und sprang vom Bocke.

Dieser siebzehnjährige Bursche bildete eine merkwürdige Erscheinung. Mit dem kurzen, kugeligen Leibe und den langen, mageren Armen und Beinen sah er einer aufrecht wandelnden Riesenspinne ähnlich; dieser Eindruck wurde noch unterstützt durch die absonderliche Bewegung, in der sich seine Arme und Beine fortwährend befanden; das sah sich immer an, als wollte er über hohe Stufen emporsteigen oder irgend ein Etwas von einem hohen Schranke herunternehmen. Man mochte sich die Nothwendigkeit dieser Bewegungen wohl erklären können, wenn man die qualvoll engen, aus einem groben, braun und grau karrirten Stoffe gefertigten Beinkleider betrachtete, wie die steifen, spannenden Falten des schwarzen Spensers, der dem Burschen kaum bis zu den Hüften reichte. An die verwachsenen Aermel, die bei jeder Bewegung zu platzen drohten, waren zinnoberroth gefütterte Aufschläge angestückelt. Der lange, magere Hals war dick umwunden von einem roth und weiß gesprenkelten Tuche, dessen zitternde Zipfel scharf hinausstachen über die Schultern. Der Kopf mit dem spitzen Kinne und dem breiten, flachen Schädel, an den die rothbraunen Haare mit reichlicher Pomade glatt angestrichen waren, mit den abnormen, weit abstehenden Ohrmuscheln und mit dem eintönigen Braun des verschmitzten Gesichtes wäre wohl einer doppelgehenkelten Terrakottavase zu vergleichen gewesen, hätte nicht die ruhelose Beweglichkeit dieses Gesichtes dem Vergleiche widersprochen. Das war ein ewiges Zwinkern, Blinzeln, Zucken und Gähnen, und wenn der Bursche dazu die Stirn runzelte, rührte sich seine ganze Kopfhaut, und die Ohrmuscheln geriethen in eine pendelnde Bewegung, gleich den Löffeln eines Hasen, der den nahenden Jäger wittert.

Dieses letztere Bild vollendete der scheue Blick, mit welchem der Bursche zu dem ernst gefurchten Gesichte des näher kommenden Bauern emporblinzelte; Dori fürchtete Wohl, daß sein Herr die wenig ehrfurchtsvolle Antwort gehört haben könnte, die er auf Pepperl’s Frage gegeben hatte. Als er aber aus dem Munde des Bauern nichts Anderes hörte, als nur die hastige, erregte Frage, weßhalb er allein zurückkäme, da war die Scheu wie weggeblasen, und in wortreicher Geschäftigkeit, und mehr fast mit Händen und Füßen als mit den Lippen, erzählte er von dem Verlaufe seiner Fahrt.

„Ja – und wie nachher der Zug ’rein g’fahren is in d’ Starzion,“ so schloß er, „da hab’ ich g’schaut und g’schaut – aber d’ Leut’ alle sind ’raus ’kommen, der Zug is wieder fort g’fahren, drin is ganz stad ’worden, und allweil war noch kein’ Bäuerin bei’m Zeug[5]. No – da hat mir nachher einer d’ Roß g’halten und ich bin selber ’nein in d’ Starzion, und allweil hab’ ich g’fvagt, und überall bin ich ’nein, wo a Thürl auf’gangen is, in all die Burauxen und Wartsaaler – aber von unserer Bäuerin hab’ ich nix g’hört und nix g’sehen.“

Schweigend kehrte sich der Finkenbauer von dem Burschen ab, und Veverl, welche die in Fragen sich erschöpfende Unruhe der beiden Kinder durch allerlei naive Ausflüchte zu beruhigen suchte, mit einem trüben Blicke streifend, ging er schweren, langsamen Schrittes der Hausthür zu.

Gidi folgte dem Bauer in die Stube, zu dessen Beruhigung er nun ähnliche, freilich ein wenig verständigere Gründe ins Feld führte, wie Veverl zur Beschwichtigung der beiden ungeduldigen Kinder. Aber was der Jäger auch anführen mochte, zu allem schüttelte der Bauer mit ernsten Blicken den Kopf. Er kannte seine Mariann’ – und sie kannte ihren Jörg und seine „sorgsame“ Natur. Da gab’s kein Versäumen des Zugs, keine Verzögerung durch Gänge und Besorgungen, kein längeres Anschauen [699] der Stadt, kein Verplaudern in lieber Gesellschaft. Wenn seine Mariann’ gesagt hatte: zu der und der Stunde komm’ ich – dann kam sie auch – oder –

Bei diesem Oder stockte der Bauer, als scheue er sich, den Gedanken auszusprechen, der sich für ihn an dieses Oder knüpfte. Aufseufzend näherte er sich einem der Fenster und riß es auf, als würde es ihm zu schwül in der Stube. Dann schob er sich hinter den Tisch, stützte die Arme auf und legte den Kopf zwischen die geballten Fäuste. Plötzlich wieder fuhr er auf:

„Hätt’ ich nur ’s Madel net mit fortlassen – im Herbst! Wär’ ich nur mei’m ersten Willeu g’folgt! Aber natürlich – wie’s halt so ’kommen is! Wenn so a fürnehme Frau vor ei’m dasteht und allweil in ei’n ’neinredt, da mußt am End’ Ja sagen, denn grob sein kannst ja doch net. Und – an d’ Hanni selber hab’ ich halt auch a bißl ’denkt. Sie is halt amal schon so ’worden, daß ’s ihr bei die herrischen Leut’ besser taugt als wie unter unserei’m. Weißt es ja selber.“

Der Jäger nickte; er wußte es freilich; während der sechs Jahre, die er nun im Dorfe war, hatte er es ja zum Theile mit angesehen, „wie das so gekommen“. Und was jener Zeit vorausgegangen, das hatte er so nach und nach aus Gespräch und Gespräch erfahren. Und wie viel des Guten hatte er dabei über die selige Finkenbäuerin gehört, die an dem Tage dahingegangen war, an dem sie der Hanni das Leben geschenkt hatte. Wenige Wochen später waren dem alten Finkeubauer von eiuem schlagenden Pferde die Rippen der Herzseite zerschmettert worden; lange Monate mußte er in schwerem Siechthume liegen, ehe der Tod ihn von seinen Leiden erlöste. Von ihm hatte Jörg, der bei seinen dreiundzwanzig Jahren schon ein „strammes resolutes Mannsbild“ war, als der Erstgeborene unter den fünf Geschwistern das Regiment auf dem Finkenhofe mit kräftigen Händen übernommen. Aber gleich im ersten Jahre seiner Herrschaft kam schwere Kümmerniß über den jungen Bauer, der mit einer seltenen Zuneigung an seinen Geschwistern hing. Es schien, als hätte der Tod in dem freundlichcn Hause sich heimisch gefühlt. Noch trauerte Jörg mit ehrlichem Herzen um die geschiedenen Eltern, da mußte er auch die beiden Geschwister zu Grabe tragen, die im Alter zwischen ihm und Ferdl standen; in der gleichen Woche waren sie an den schwarzen Blattern gestorben. Als die Krankheit bei ihnen ausgebrochen war, hatte Jörg die beiden jüngsten Geschwister aus dem Hause geschafft. Seinen „Ferdlbuzzi“, der damals ein Bürschlein von sechs Jahren war, hatte er zu einem Verwandten der Mutter gebracht, in ein fünf Stunden vom Dorfe entferntes Gehöft. Doch ehe noch eine Woche vergangen war, erschien eines Abends der Knabe im Finkenhofe, allein, über und über verstaubt und triefend von Schweiß – „ganz verlechzt und derlegen“, wie der Finkenbauer zu erzählen pflegte, wenn er auf diese Geschichte zu sprechen kam, die er zumeist mit den Worten schloß: „Und weißt, was er g’sagt hat, der kleine Loder, wie ich ihn in mei’m ersten Schrecken völlig angefahren hab’, weßwegen als er durchbrennt wär’ bei seine Vetterleut’? Da hat er so aufg’schaut zu mir mit nasse Augen – und g’rad g’stößen[6] hat’s ihn, wie er g’sagt hat: ,Ich – ich hab’s nimmer ausg’halten – weil – weil’s mich gar so b’langt[7] hat nach mei’m Jörgenbruder!‘ Da hab’ ich ihm aber schon a Bussel ’naufdruckt, das er g’spürt hat a vierzehn Tag’ – und seit der Stund’, da is Dir das Büabl mein Auf und Nieder g’wesen – da hat’s fein nix mehr ’geben!“

Und dieser Geschichte pflegte der Finkenbauer in lächelndem Bruderstolze manchmal die Vermuthung beizufügen, daß wohl auch sein „Hanniderl“ so zu ihm gelaufen gekommen wäre, wenn es damals überhaupt schon hätte laufen können.

Das kleine Hanniderl hatte in jenen bösen Tagen eine „gar hochwürdige Unterkunft“ gefunden. Die alte Schwester des Pfarrers, die das Kind aus der Taufe gehoben, hatte es zu sich in den Pfarrhof genommen – und da wurde das herzige Wesen in kurzer Zeit das lachende Licht des sonst so stillen Hauses, der gehätschelte Liebling des hochwürdigen Herrn und seiner ehrwürdigen Schwester. Als dann der Finkenhof wieder rein war von dem verderblichen Odem jenes finsteren Gastes, entspann sich zwischen Jörg und der Schwester des Pfarrers ein hartnäckiger Kampf: der eine wollte das Kind bei sich im Hause haben, die andere wollte den Liebling nicht aus ihrer Pflege entlassen. Und Jörg war es, der am Ende nachgab – aus verständiger Zuneigung zu dem Schwesterlein. Er mußte sich sagen, daß er bei all seiner Liebe das Kind selbst nicht warten konnte, daß er ihm eine fremde Person halten müßte, die dem Kinde doch gewiß nicht jene zärtliche Fürsorge widmen würde, deren es bei jenen beidcn alten Leuten sicher war, die es liebten wie eigenes Blut. So verblieb denn das Hanniderl im Pfarrhofe; alltäglich wurde es in den Finkenhof zu Besuch getragen, bis es diese Besuche auf eigenen Füßen abzustatten vermochte; an groben Wetterlagen und auch sonst an manch einem Abende kam Jörg mit dem munter sich streckenden Ferdl auf ein Plauderstündchen in den Pfarrhof, und niemals kam er, ohnc dem Kinde einen Leckerbissen oder ein Spielzeug mitzubringen.

Die Jahre vergingen, und aus dem Hanniderl wurde das kleine Hannerl, ein liebliches, bescheidenes, wohlerzogenes Mädchen, das in der Schule stets auf dem ersten Platz saß, dem alle Bewohner des Dorfes freund waren, obwohl sie es bald nicht mehr als ihres Gleichen betrachteten und ihm jene respektvolle Behandlung angedeihen ließen, als wär’ es ein Kind „fürnehmer“ Leute. Vielleicht lag die erste Ursache dieser Behandlung nur in der städtischen Kleidung, die das Mädchen auf Anordnung seiner Pathin zu tragen bekam; bald aber fanden sich weitere nachhaltige Ursachen hierfür in der Art und Weise, in der sich Hanni’s Wesen entwickelte. Der alte Pfarrer, ein edel gearteter, fein gebildeter Mann, der außer der Bibel auch andere Bücher nach ihrem Werthe gelten ließ, hatte seinen und seiner Schwester Liebling auch zu seiner Schülerin gemacht. Dadurch kam es, daß Hanni gar bald in allem und jedem ihre Altersgenossinnen weit überragte, in denen die hierdurch erweckte Scheu jede gespielsame Vertraulichkeit erstickte. So sah sich das Mädchen in den sommerlichen Ferienwochen und in den spärlichen Freistunden der übrigen Zeit auf den Verkehr mit ihrem Bruder Ferdl beschränkt, der mit einer abgöttischen Verehrung an seiner Schwester hing. Wenn sie kam, um mit ihm durch Wiesen und Wald zu streifen, dann warf er gar eilig Holz und Messer in die Ecke, diese beiden Dinge, die ihm doch in der Schule schon über Tafel und Griffel und selbst über Essen und Trinken gingen. Späterhin aber fand das Mädchen noch einen zweiten Gespielen in Ferdl’s „noblem Kameraden“, in dem mit diesem gleichalterigen jungen Grafensohne aus dem Schlosse droben, einem hübschen, schlank gewachsenen Knaben von feinem, traulich munterem Wesen.

Von der Stunde an, in welcher Luitpold mit seinen Eltern auf dem Schlosse zur Sommerfrische eintraf, war er von Ferdl fast unzertrennlich, tobte und tollte mit ihm, ließ sich von ihm leiten und führen und verführte ihn wohl auch selbst zu kecken Streichen, die dann stets, wie sie auch ausfallen mochten, an Jörg einen lächelnden Vertheidiger fanden. Der junge Bauer war ordentlich stolz auf den „nobligen Umgang“ seines Herzbuben. Und doch – wenn man den Verkehr der beiden Knaben in ihrem Zusammensein mit „Hannchen“, wie Luitpold das Mädchen nannte, des genaueren beobachtete, mochte es fast den Anschein gewinnen, als pflegte das junge Herrchen die Kameradschaft mit dem Bauernsohne nur um dessen kluger, lieblicher Schwester willen, die in seiner Sprache mit ihm redete und seine Gedanken mit ihm dachte.

Dieses trauliche Zusammenleben nahm ein plötzliches Ende, als Ferdl mit sechzehn Jahren nach Berchtesgaden zu einem tüchtigen Holzschnitzer in die Lehre gebracht wurde. Es war das des Knaben eigener, heißer Wunsch gewesen – und doch kostete ihm der Abschied von Bruder und Schwester bittere Thränen. Auch Luitpold blieb in den nächsten Jahren dem Dorfe ferne, da er die Sommermonate in einem Seebade verbrachte, welches sein Vater zur Stärkung seiner Gesundheit besuchen mußte. Hannchen schien diesen doppelten Verlust recht schwer zu empfinden; sie wurde so seltsam still und in sich gekehrt. Darin änderte auch der Wechsel ihrer äußeren Lebensweise nichts, der bald nach Ferdl’s Abreise vor sich ging. Schon seit Jahren hatte es Jörg alljährlich ein paarmal versucht, sein Hannerl aus dem Pfarrhofe zu entführen – aber immer wieder hatte er sich durch die Bitten der Pfarrersschwester die Bewilligung neuer Fristen abschmeicheln lassen. Unerbittlich jedoch wurde er, als er sein Begehren durch den Vorhalt unterstützen konnte, daß das Mädchen nun auch im elterlichen Hause in guter Pflege und unter geziemender Aufsicht stehen würde – als nämlich auf dem Finkenhofe eine junge Bäuerin [702] ihren Einzug gehalten hatte. Es war das gar rasch gekommen, mit dieser „Freit“ – und es war dabei gar einfach zugegangen. Es war da eines Tages auf dem Finkenhofe eine junge, saubere, blonde Dirne in Dienst getreten, die Mariann’, auch eine Waise, die nur noch einen Bruder hatte, der tief in den Bergen ein kleines Häuschen besaß und als Holzknecht, Pechsammler und Schachtelmacher sein und seines Kindes Leben fristete. Von allem Anfang an war Jörg über die Maßen zufrieden mit seiner neuen Oberdirne, die bei jeder Arbeit so herzhaft zugriff, mit so stillem Fleiße im Hause waltete, immer und überall den Vortheil ihres Herrn zu wahren bestrebt war, als wär’ es ihr eigener. Da begann denn Jörg gar bald zu denken: die Mariann’ gäb’ einmal eine richtige Bäuerin ab – und von diesem Gedanken war nur noch ein kleiner Schritt zu dem andern: die Mariann’ wär’ die richtige Bäuerin für mich! Auf Geld brauchte er ja nicht zu sehen, er, der Finkenhofbauer, den die Leute im Dorfe den „Goldfink“ nannten. Eines Abends nun, als Mariann’ den jungen Bauer auf einen Uebelstand in der herkömmlichen Milchwirthschaft aufmerksam machte und wohlmeinend beifügte: zu so etwas gehöre halt eine Bäuerin her – da lächelte Jörg und sagte: „No, da is ja leicht g’holfen! Werd’ halt Du mein’ Bäuerin!“

Der Mariann’ schoß das Blut bis unter die Haare, und ganz starr schaute sie den Bauer an: dann verließ sie wortlos die Stube – und am andern Morgen kündigte sie den Dienst auf. Jörg nickte nur und ließ sie gehen; es war ihm völlig recht so, denn er konnte seine Bäuerin doch nicht geraden Wegs aus dem eigenen Gesindehause holen. Drei Tage später aber fuhr er der Mariann’ nach, die zu ihrem Bruder gegangen war, und wiederholte in aller Form seinen Antrag. Zwar erröthete die Mariann’ auch jetzt wieder bis unter die Haare – aber sie blieb nicht wortlos, wenn es auch nur ein einziges Wörtlein war, das sie sagte: „Ja!“

Und die Mariann’ wurde dem Jörg, was er sich von ihr versprochen hatte, eine treffliche Frau – dazu noch eine gute Mutter der zwei hübschen kräftigen Kinder, mit denen sie ihn beschenkte. Jörg wurde der Frau, die er sich eigentlich doch nur aus verständiger Ueberlegung genommen, von Herzen gut – und auch sie war ihm gar zugethan, wenn sie dies auch nie in Zärtlichkeiten äußerte. Ihr Mann stand für sie immer über ihr, sie schaute zu ihm auf, sein Wille war der ihre, sein Wort ihr Gesetz, sie dachte, wie Jörg dachte, und that, was er gethan wissen wollte. Auch ihr Gefühl für seine junge Schwester, welche bald nach der Hochzeit in das heimische Haus übersiedelte, war in erster Linie Verehrung; sie behandelte das Mädchen, so herzlich dasselbe der Schwägerin auch entgegenkam, stets wie einen vornehmen Gast. Freilich, Hanni verbrachte auch jetzt den größten Theil des Tages im Pfarrhause, wo sie lernte und lernte, was der alte Pfarrer und seine Schwester sie nur zu lehren wußten. Nur wenn der Ferdl zu Besuch ins Dorf kam, dann erhielten Hanni’s Bücher und Hefte Ferienzeit – und da sah man die Beiden fast nie ohne den Jörg, und den Jörg fast nie ohne die Beiden, so daß man sie im Dorfe nur die „verliebten G’schwister“ nannte.

Auch die Mariann’ betrachtete dieses Zusammenhalten mit lächelndem Gesichte, sie selbst und ihre Kinder kamen ja dabei nicht zu kurz – und der Ferdl war nun einmal die Freude ihres Mannes, die Hanni sein Stolz. Aus dem Ferdl war aber auch ein Bursche geworden, an dem man seine Freude haben konnte: schmuck und stramm, und ebenso wohlgerathen im Charakter, wie in seinem Aussehen. Und gar, als er zum ersten Male in der knappen, kleidsamen Soldatenuniform erschien, als er heimkehrte aus Frankreich, geschmückt mit dem eisernen Kreuze und der goldenen Medaille, da rannte das ganze Dorf zusammen, um den Ferdl anzustaunen. Bei jedem seiner Besuche brachte er als Geschenk für den Bruder ein schönes Schnitzwerk mit, und diese Arbeiten, welche in Hanni’s freundlichem Stübchen aufgestellt wurden, zeigten von Besuch zu Besuch, wie Ferdl aus einem Handwerker ein Künstler in seinem Fache zu werden begann. Häufig, wenn er im Dorfe anwesend war, äußerte er der Schwester gegenüber, wie sehr es ihn freuen würde, seinen Jugendkameraden, den „Grafen Luitpold“ wieder einmal zu sehen.

Immer schwieg die Schwester zu solchen Worten – kaum daß sie ein wenig mit dem Köpfchen nickte; dennoch aber meinte Ferdl ihr anzumerken, daß sie seinen Wunsch theilte, wenn sie es auch mit keiner Silbe verlauten ließ. Das war überhaupt so ihre Art geworden: von allem, was sie bewegen und erregen mochte, kam nur wenig über ihre Lippen. Ihre Denk- und Empfindungsweise ging weit über das Leben hinaus, von dem sie umgeben war. Im Hause des Bruders fand sie wohl Liebe und Verehrung in Fülle, aber wenig Verständniß; das machte sie schweigsam und verschlossen; gesprächig wurde sie nur im Pfarrhofe, wo sie in der letzten Zeit der kränkelnden Schwester ihres alten Lehrers die einst genossene Pflege mit gleichem Dienste vergelten konnte. Unwillkürlich übte sie jene Wortkargheit nach und nach auch gegen Ferdl, wenn er zugegen war – und der hätte sie vielleicht doch in so manchem verstanden, was sie vor ihm in sich verschloß.

Als Ferdl nach abgedienter Militärzeit das letzte Mal im Finkenhofe zu Besuche gewesen war und vom Grafenjäger erfahren hatte, daß Luitpold, der im Munde der Schloßleute bereits „der junge Herr Graf“ geworden war, im nahenden Sommer die Eltern wieder einmal in das Dorf begleiten würde, da war auf seinen Lippen mit dem Luitpold kein Ende gewesen. Alles was er von Gidi über ihn erfahren konnte, hinterbrachte er wieder der Schwester: daß Luitpold nun seine Universitätszeit vollendet habe, daß er während der letzten Jahre nicht habe kommen können, weil er alljährlich die Ferienmonate dazu benutzt hätte, die Hauptstädte fremder Länder zu bereisen, und daß er nun einer von jenen großen Herrn zu werden gedächte, die über das Wohl und Wehe der Staaten mit einander zu verhandeln haben.

Da war es nun dem Ferdl bitter leid, daß er die Ankunft des Vielbesprochenen nicht abwarten konnte, da er sich für Georgi bereits wieder nach Berchtesgaden verdingt hatte, wo sich die Meister um den außergewöhnlich tüchtigen Gesellen förmlich rauften. Zwei Monate nach seiner Abreise trafen sie ein, die Gräfin, der Graf, von dem die Leute meinten, daß er während des letzten Winters recht „zusammengegangen“ wäre, und Luitpold, den man kaum wieder erkennen wollte. Als sie am Finkenhofe vorüberfuhren, lief alles an den Zaun, was Füße hatte – nur Hanni war in ihrem Stübchen verblieben; sie hob nicht einmal die Augen von ihrem Buche, als drunten der Wagen rasselte. Am andern Morgen schon kam Luitpold in den Finkenhof, brachte dem Bauer Grüße vom Vater und frug nach dem „Ferdinand“ und nach dem „Hannchen“. Mit breitem, behäbigem Stolze erzählte Jörg von seinem Ferdl. Dann holte er die Hanni herbei; er hatte so merkwürdig gelächelt, als er nach dem „Hannchen“ fragen hörte. Nun erschien sie unter der Thür – und da standen sich die Beiden gegenüber und starrten sich an mit so seltsamen Blicken – das Mädchen den Jüngling mit der vornehmen, hochgewachsenen Gestalt, mit dem feinen, stolzen Kopfe und den edlen Zügen – er das Mädchen mit dem madonnenhaft schönen Gesichte und den tiefen, seelenvollen Augen, in dem geschmackvoll schlichten, grauen Gewande, das sich in weicher Glätte um die sanften Formen des jungfräulichen Körpers schmiegte.

Jörg in seinem Bruderstolze weidete sich an der „Ueberraschung“ seines Gastes, der Mühe zu haben schien, für das Mädchen, für „Fräulein Johanna“, ein paar freundliche Worte zu finden. Nach kurzem Verweilen entfernte sich Luitpold mit einer fast auffälligen Eile. Als er einige Tage später der Johanna im Dorfe begegnete, schritt er an ihr vorüber, indem er sie wortlos grüßte; dabei aber zog er den Hut so tief, als wäre sie seines Gleichen. Vielleicht hatte Johanna nur den ersteren Umstand beachtet, und nicht auch den letzteren, vielleicht sah sie darin die Aeußernng eines Stolzes, der sie wohl kränken konnte – sie begann dem jungen Manne auszuweichen, und häufig, wenn sie ihn allein oder in Begleitung des Jägers die Straße einher kommen sah, trat sie unter einem rasch ersonnenen Vorwande in das nächste Haus.

Da war es nun Luitpold’s Mutter, welche die Beiden wieder in nähere Berührung mit einander brachte. Die Frau Gräfin hatte eines Sonntags die Johanna in der Kirche singen hören. Das Mädchen besaß eine Altstimme von wunderbar weichem Klange und ergreifender Innerlichkeit – und wenn diese Stimme während des Hochamtes vom Chore niederzitterte durch den weiten Kirchenraum, dann sagten die Bauern, daß sich dabei zehnmal leichter und besser beten ließe, als wenn der alte Schulmeister [703] mit seinem näselnden Organe das „Gloria“ oder das „Agnus Dei“ sang. Auch der Frau Gräfin hatte Johanna’s Gesang gar wohl gefallen; sie erkundigte sich bei dem Pfarrer nach dem Mädchen, erfuhr da natürlich das Allerbeste – und die Folge davon war, daß Johanna auf das Schloß geladen wurde.

Sie kam – und mußte kommen und wiederkommen, so großes Gefallen fand die vornehme Dame an der schön und tief veranlagten Natur des bezaubernden Geschöpfes, an seinem fein bescheidenen Wesen und an seinem für ein Mädchen fast reichen Wissen. Und gar, als im Herbste die traurigen Tage kamen, in denen die zunehmende körperliche Schwäche des Grafen mit ungeahnter Schnelligkeit die Auflösung herbeiführte, da ließ die trauernde Wittwe das Mädchen, dessen Anblick ihr schon ein Trost zu sein schien, kaum mehr aus ihrer Nähe.

Dieser von beiden Seiten so herzliche Verkehr setzte sich im folgenden Frühjahre fort, als die Gräfin mit ihrem Sohne wieder in das Dorf zurückkehrte. Wie im vergangenen Sommer, so behandelte Luitpold auch jetzt die junge Freundin seiner Mutter mit ausgesuchter Höflichkeit – und dennoch wechselte er niemals andere Worte mit ihr, als eben jene, die der Verkehr bei Tische und das kürzere oder längere Zusammensein mit ihr in den Zimmern seiner Mutter gezwungener Weise erforderte. Ueberdies – er war ja die meiste Zeit vom Schlosse abwesend. Ganze Wochen durchstreifte er, die Büchse auf dem Rücken, unter Gidi’s Führung die Berge, von denen er mit jedem erlegten Wilde der Mutter einen herzlichen Gruß in das Thal sandte. Wenn er dann für einige Rasttage in das Schloß zurückkehrte, geschah es wohl, daß die Gräfin mit einem Lächeln, welches sich freilich nicht allzu fröhlich ansah, den Sohn ermahnte, über seinen Hirschen und Gemsen nicht ganz der Mutter zu vergessen.

Aber all diese Mahnungen blieben fruchtlos, sie schienen eher das Gegentheil von dem zu bewirken, was sie erwirken sollten – und das war um so mehr zu verwundern, als doch sonst an Luitpold die innige Liebe und die hohe Verehrung für die Mutter aus jedem seiner Blicke, aus jedem seiner Worte sprach. Luitpold’s immer wiederholte Rede: „Im Winter, liebe Mama, will ich Dich für diesen Sommer doppelt entschädigen!“ – das war noch der einzige Trost, der aus solchen fruchtlosen Mahnungen für die Gräfin entsprang. Enger und enger schloß sich die Gräfin in diesen stillen, einsamen Tagen an Johanna an – und als der Herbst mit seinen rauhen Stürmen und seinen wirbelnden, welken Blättern in dem lieblichen Bergthale Einzug hielt, da war geschehen, wovon Jörg zu Gidi gesprochen: die Frau Gräfin hatte sich dem Bauer gegenüber so lange aufs Bitten verlegt, bis er die Schwester mit ihr in die „Münchnerstadt“ hatte ziehen lassen.

Jörg hatte ungern das Ja gesagt, denn der Anblick seiner Hanni war ja auch ihm eine Freude, die er schwer entbehrte – aber er hatte ihr angemerkt, wie sehr ihr eigenes Herz an dieser Reise hing, wenn sie auch keine Silbe darüber verlauten ließ, wohl um den Bruder nicht zu kränken – und dann hatte Jörg auch bedacht, daß die Hanni nach solch einem Sommer im Dorfe einen gar traurigen Winter haben würde, um so mehr, da in den letzten Septembertagen ihre alte, mütterliche Freundin aus dem Pfarrhofe in den Kirchhof übergesiedelt war.

Jetzt freilich, in seiner ungewissen Sorge, reute ihn jenes Ja – und ein um das andere Mal murmelte er vor sich hin: „Ich hätt’s net zulassen sollen!“ Und nach einer stummen Weile fuhr er auf, wie in Unwillen wider sich selbst. „Ich hab’ dazu noch ’was g’hört g’habt – selbigsmal – was mich hätt’ stutzig machen müssen. Weißt – Dein junger Herr Graf, der hat fein gar kein b’sonders gut’s G’sicht dazu g’macht, wie er derfahren hat, daß d’ Hanni mit seiner Frau Mutter geht.“

„Jetzt das möcht’ ich schon wissen, von wem Du so ’was g’hört haben kannst?“ frug Gidi hastig und mit ungläubiger Miene.

„Vom Eustach, vom alten Kammerdiener.“

„No, da bist aber g’scheit g’wesen,“ ereiferte sich der Jäger, „wenn so einer alten Ratschen[8] was glauben hast können.“

Jetzt weißt – wann er auch ’leicht a bißl übertrieben hat – ’was dran g’wesen muß halt doch sein. Und da wird halt jetzt der noble junge Herr der Hanni ’s Leben recht sauer g’macht haben – und wird ihr halt die Bauerntochter allweil vorg’rieben haben – in sei’m Grafenhaus. Das hat man ja so wie so sehen können – im letzten Sommer – daß er sich a bißl gar hochmüthig stellt – gegen d’ Hanni –“

„Hochmüthig? Mein junger Herr Graf? Und hochmüthig gegen d’ Hanni?“ platzte der Jäger los, um dann Jörg mit einem unsicheren Blicke zu streifen und zögernd beizufügen: „No mein – das heißt – weißt – wie man halt so ’was anschaut.“

Forschend hob Jörg die Augen zu dem Gesichte des Jägers, als vermuthe er, daß hinter diesen letzten unbehilflichen Worten mehr zu suchen wäre, als sie zu sagen schienen. Gidi aber hielt den Blick des Bauern aus, ohne mit einer Wimper zu zucken.

Und während die Beiden so saßen, Aug’ in Auge, hörten sie plötzlich durch das offene Fenster Dori’s flüsternde Stimme: „Da schau, Veverl, was ich Dir mit ’bracht hab’.“

„Geh’ – den schönen Veigerlbuschen!“ hörte man das Mädchen stammelnd erwidern.

„Ja – was is denn – Veverl! Was hab’ ich denn ang’stellt – han – warum weinst denn jetzt?“

„Vor Freud’ – und – und – weißt, die Bleamerln mahnen mich halt an mein liebs Vaterl selig – in jedem Fruhjahr’ hat er mir die ersten Veigerln heim ’bracht, wo er g’funden hat – und – drum sag’ ich Dir schon so viel Dank – schau – so viel –“

„No – wenn’s Dich nur freut – wenn’s Dich nur freut!“ hörte man den langohrigen Burschen mit einer Stimme sagen, die wie Schluchzen und zugleich wie unterdrücktes Jauchzen klang. „Und alle Jahr’ – alle, alle, hundert Jahr’ lang, sollst die ersten haben – und jedesmal an Buschen, schier größer als wie mein Kopf –“

„So viel Veigerln findt er net!“ lächelte in der Stube der Jäger dem Bauer zu, während Dori draußen vor dem Fenster mit hastigem Flüstern weitersprach:

„Aber gelt – mußt fein zu niemand nix sagen, daß die Bleameln von mir hast – weißt –“ Dori’s Stimme nahm einen rührend schlichten Klang an, „weißt – sonst spötteln s’ mich wieder – wegen Deiner – und – das kann ich halt gar net hören – das sticht mich ganz in mir drin – und schon gar, wenn’s der Valtl derfahren thät’ –“

Leiser und leiser war die Stimme geworden – die beiden mußten sich aus der Nähe des Fensters entfernt haben – und nun erlosch sie ganz. Drinnen in der Stube aber brach Jörg die Stille, indem er sich an Gidi wandte:

„Ja, Du – was ich heut’ schon lang hab’ sagen wollen – gelt, Du hast ’was gegen den Valtl?“

„Ich?“ that der Jäger ganz verwundert. „Ah na – gar kein’ Schein. Wie kommst denn jetzt auf so ’was?“

„No – ich mein’ halt – weil ihn allweil gar so g’spaßig anschaust – und nachher – ich hab’ halt derfahren, daß er öfters in der Nacht net daheim is – ja – und gestern, wie’s so um Tagsgrauen g’wesen is, da hab ich im Zufall zum Fenster ’nausg’schaut – und da is er über d’ Wiesen ’runterg’stiegen, vom Bründlkopf her.“

„Wird halt in die obern Höf’ wo fensterln g’wesen sein,“ warf Gidi mit anscheinender Gleichgültigkeit ein, im Stillen dachte er aber doch daran, daß er am verwichenen Morgen vergebens nach dem Falzgesange des Auerhahns ausgehorcht hatte, der vor zwei Tagen im Frühlichte auf der Höhe des Bründlkopfes noch so lustig „geschnackelt“ hatte.

„No ja – es kann ja sein, daß nix dahinter is,“ meinte Jörg. „Wenn aber was dahinter wär’, nachher kannst offen mit mir reden. Mich kennst! Auf mei’m Hof, da duld’ ich kein Unrechtlichkeit.“

Noch hatte Jörg nicht ausgesprochen, als sich vom Hofe her Veverl’s ängstlich erregte Stimme vernehmen ließ: „So lassen S’ mich doch aus! Was wollen S’ denn von mir?“ – und gleichzeitig hörte man ein ganz absonderlich hölzernes Gelächter.

„Jeh – der Kommandant!“ fuhr Gidi auf.

„Was will denn der wieder amal in mei’m Hof?“ murmelte Jörg, die Stirn furchend. „Den ganzen Winter über hat er sich net sehen lassen.“

„Wahrscheinlich, seit d’ Hanni aus ’m Haus is!“ lächelte der Jäger.

Schwere Tritte klangen im Flur, ein Geräusch ließ sich hören, als würde ein Gewehr niedergestellt – dann öffnete sich langsam die Thür.


[704] In die Stube trat eine untersetzte, leicht zur Korpulenz neigende Mannsperson in der dunkelgrünen Uniform der Gendarmen. Der Gutmüthigkeit des Gesichtes konnte der martialische Schnurrbart wenig anhaben, da die verdüsternde Wirkung desselben durch den beruhigenden Purpuranflug der rundlichen Nase so ziemlich ausgeglichen wurde. Nur in den Augen zeigte sich etwas, was nicht „ganz gut“ war – ohne gerade böse zu sein; sie standen so weit offen und hatten einen so merkwürdig gierigen Blick.

Das war Herr Simon Wimmer, der „Kommandant“, der im Range eines Feldwebels stehende Befehlshaber des im Dorfe liegenden, zwei Mann starken Gendarmeriepostens. Vor neununddreißig Jahren war er im Lande der dreispitzigen Hüte und langen Rockschöße geboren worden. In den letzten zwölf Jahren seines Lebens, die er zumeist in oberbayerischen Ortschaften verbracht, hatte er sich wohl den oberbayerischen Dialekt so ziemlich angewöhnt; doch hatte er noch so manche Merkmale seiner schwäbischen Heimathssprache beibehalten, und da war nun seine Art zu reden gar wunderlich anzuhören.

Die Leute im Dorfe, in das er vor drei Jahren versetzt worden war, zeigten sich ihm nicht sonderlich gewogen, obwohl er in Waltung seines Amtes durchaus keinen bösartigen Charakter entfaltete. Aber der Bauer ist dem grünen Tuche mit den blanken Knöpfen im allgemeinen nicht sehr freundlich gesinnt – und im besonderen hatte es Herr Wimmer nie verstanden, sich bei den Leuten in guten Respekt zu setzen.

Eine heilige Scheu aber hatte die holde Weiblichkeit des Dorfes vor dem Herrn Kommandanten – das heißt, weniger vor ihm als vor seinen dicken Fingern, welche eine unverbesserliche Neigung bekundeten, in runde, rothe Wangen zu kneifen, eine Neigung, die sie sogar zu jener Zeit nicht abgelegt hatten, in der ihr Besitzer der „Finkenhofschwester“ auf Freiersfüßen nachgestiegen war, wobei er sein zweckloses Unterfangen durch die Behauptung zu motiviren gesucht hatte: „Büldung und Büldung g’hören älleweil zu einander, und ein Ang’stellter wird ihr wägerle[9] lieber sein als so a unförmiger Bauernknecht.“

Seit jener Zeit war dem Herrn Simon Wimmer der Spitzname „die ang’stellte Büldung“ verblieben, als einer der vielen, die im Dorfe von ihm gebraucht wurden; unter ihnen allen aber waren es besonders drei, die sich eines bevorzugteren Gebrauches erfreuten: da nannte man ihn einmal mit einer doppelt an seine Heimathsprache gemahnenden Diminutivform den „Simmerle Wimmerle“. Diesen Spitznamen hatte ihm ein Bursche aufgebracht, der ihn einst bei einem zärtlichen Stelldichein belauscht und dabei zu der Dirne hatte sagen hören. „Schätzele – geh – sag’ Simmerle zu mir.“ Andere wieder nannten ihn „die verfluchte Geschichte“ – und das leitete sich von einer typischen Redensart her, die der Herr Kommandant in sorgenvollen Momenten oder in Augenblicken der Unentschlossenheit im reinsten Hochdeutsch zwischen den Mischmasch seiner beiden Dialekte einzuwerfen liebte. Die Meisten aber nannten ihn den „Didididi“ – und sie trafen mit diesem Naturlaute ziemlich genau den merkwürdig hölzernen Klang des kurzen Gelächters, welches Herrn Wimmer eigen war; das klang, wie wenn der Rothspecht hämmert an einer hohlen Fichte. Mit diesem Lachen trat nun auch Herr Wimmer in die Stube. Gar freundlich grüßte er die Beiden, die am Tische saßen. Jörg erwiderte den Gruß und erhob sich mit der Frage, was dem Finkenhofe die Ehre dieses „seltsamen Besuches^ verschaffe.

„Didididi!“ lachte Herr Wimmer und blinzelte den Bauer mit einem Blicke an, als ob er ihn für den durchtriebensten Schelm auf Gottes Erde hielte. „Was ischt denn das? Was ischt denn das? A kleins Geheimißle auf ’m Finkenhof? Ich hab’ ja a neus G’sichtle g’sehen, a neus G’sichtle – und was für a saubers G’sichtle! Und natürlich, natürlich, so ’was muß ich gleich beaugenscheinigen, ich in meiner Stellung als oberste Aufsichtsbehörde – ooooh –“ Herr Wimmer hatte sich dem offenen Fenster genähert; legte die Mütze ab und schob den Kopf mit einiger Mühe durch die engstehenden Eisenstäbe. „Aelleweil noch a finsters G’sichtle – älleweil noch?“ lachte er in den Hof hinaus, ohne von Veverl eine Antwort zu erhalten.

„Du – den wirst jetzt wieder an öften zum Anschauen kriegen in Dei’m Hof,“ flüsterte Gidi dem Bauer zu. „Ich mein’, bei dem brennt’s schon wieder.“

„Mein’, im Stroh zündt’s halt leicht.“

Von Gidi’s Lippen schütterte ein lautes Lachen – und als hätte Herr Wimmer dieses Lachen auf sich bezogen, so hastig versuchte er seinen Kopf durch das Fenster zurückzuziehen, ein Versuch, der dem Herrn Kommandanten einen stöhnenden Schmerzensruf entpreßte, gleich zwei Widerhaken hielten ihn seine beiden Ohren vor den Eisenstäben gefangen – und erst, als Herr Wimmer seinen Befreiungsversuch mit überlegungsvoller Ruhe wiederholte, gelang es ihm, sein dem Umfange nach so wohlgerathenes Haupt aus der unangenehmen Zwangslage zu erlösen.

Die Beiden am Tische lachten, daß ihnen die Thränen in die Augen traten, und als Herr Wimmer sich ihnen näherte, mit den Händen die gerötheten Ohren reibend, sagte Gidi:

„Ja – schauen S’ – so a g’sundes Köpfel hat halt net a Jeder. Bei uns, da sind halt d’ Fenstergitter g’rad auf’s Bauernkopfmaß g’rechnet.“

Herr Wimmer spielte den Klugen und lachte mit, obwohl ihm die innerliche Verdrossenheit deutlich aus den Augen sprach. Dann kam er wieder auf das „neue saubere G’sichtle“ zu reden, und er setzte dem Finkenbauer so lange mit Fragen zu, bis er Alles erfahren hatte, was Jörg über Veverl’s Herkunft zu berichten wußte.

Vor wenigen Wochen erst hatte er das Mädchen in sein Haus gebracht. Vevi’s „Vaterl“ war jener Bruder der Finkenbäuerin gewesen, der tief in den Bergen das kleine Häuschen besaß. Die Leute hatten von ihrem Standpunkte aus mancherlei Gründe, wenn sie sagten, er wäre ein „g’spaßiger Kamerad“ gewesen. Er verkehrte nicht gerne mit Menschen. Das war schon als Knabe so seine Art gewesen, mit elf Jahren war er Hüterbub geworden, als er aber sechs Jahre später zum Senn avancirte, taugte ihm das „milchige G’schäft“ nicht lange; da wurde er dann Holzknecht; aber niemals verdingte er sich an einen Rottmeister – er arbeitete nicht gern mit anderen Knechten, denn es kränkte ihn, daß sie darüber spotteten, wenn er vor dem Fällen eines Baumes über denselben den Bannsegen sprach, damit die „Alfin“ durch die Axthiebe nicht verwundet würde, oder wenn er, der vor dem wilden Jäger fliehenden Waldweiblein denkend, in die Rinde des gefällten Stammes die zwei schiefliegenden Kreuze schnitt, damit die armen Verfolgten gefahrlos auf dem Stamme rasten könnten. So nahm er nur Arbeit für sich allein an, mühte sich tagsüber redlich in seinem Schweiße – doch wenn mit Einbruch des Abends seine Axthiebe im stillen Bergwalde verhallt waren, dann freute er sich der Ruhe, dann saß er bis in die sinkende Nacht vor seinem niederen, aus Rinden gesägten Obdache, in stummer Zwiesprach mit der niemals schlummernden Natur. Nie sah man ihn in einem Wirthshause, nie bei einer Lustbarkeit, und auch in der Kirche nur an den höchsten Festtagen. Er wußte mit den Menschen nicht zu reden, dafür um so besser mit seinen Thieren, Pflanzen und Steinen. Alle Thier- und Vogelstimmen wußte er nachzuahmen. In der Nähe seiner Hütte nisteten zahlreiche Vögel, denn er rief sie mit ihren Stimmen und streute ihnen Brotkrumen und getrocknete Beeren. Das Wild scheute nicht vor ihm – und häufig geschah es, daß er ein verirrtes Kitzlein, nachdem er es mit dem Schmählruf der Geiß an sich gelockt, mit den Armen fing und in die Nähe des Dickichts trug, das er als den Standort des Mutterthieres kannte. Die Bäume, Blumen und Pflanzen waren für ihn nicht leblose Produkte der Natur; ihre mannigfache äußere Gestalt erschien ihm gleichsam als die verschiedenartige Gewandung verschiedener Lebewesen, deren Leben in der äußeren Wandelung der Pflanzengestalt, in Wachsthum und Blüthe, sich bekundete, die, der Gottheit untergeordnet und den Menschen übergeordnet, mit der Gottheit in geistigem Verkehre standen und mit den Menschen fühlten in menschlichem Empfinden; selbst das starre Gestein erschien ihm als die Hülle ähnlichen Lebens. Er liebte die Natur, und deßhalb bevölkerte er sie. Lange Jahre zehrte er dabei von dem reichen Sagen- und Fabelschatze, den sein Kindesherz gesammelt, späterhin baute er auf diesem Grunde weiter – – Natur und Natur, das war der Ausgang und das Ziel all seines Fühlens und Denkens und der Verkehr mit der Natur seine einzige Freude. Aber es kam für ihn eine Zeit, in der zu dieser Freude noch eine andere, reichere sich gesellte.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 44, S. 717–722

[717] Mariann’s Bruder zählte sechsunddreißig Jahre, als sein Herz erwachte. Damals hatte er tief in den Bergen gearbeitet. Dort stand in einem engen, hochgelegenen Bergthale, das vom Dorfe sieben Wegstunden entfernt war, ein kleines Haus, das ein alter Köhler mit seiner jungen Tochter bewohnte. Der Holzknecht hatte das stille, freundlich-blickende Mädchen häufig gesehen, wenn es beim Kräutersuchen und Beerensammeln in die Nähe seines Arbeitsplatzes gekommen war – aber nie hatte er die Dirne angesprochen, wenngleich sie ihm wohlgefallen hatte vom ersten Blicke an. Da kam sie selbst eines Tages zu ihm: ihr Vater läge krank und sie wüßte sich nicht mehr zu rathen. Er ging mit ihr, wortlos – und er sah es gleich, daß dem Alten nicht mehr zu helfen war. Einen Tag und zwei Nächte saßen die Beiden am Lager des Sterbenden – und als es mit ihm zu Ende war, zimmerte der Holzknecht einen groben Sarg, legte den Todten hinein und trug ihn auf seinen Schultern nach dem eine Wegstunde höher gelegenen Wallfahrtskirchlein Mariaklausen. Als er wieder zurückkehrte, begann er für die Bedürfnisse des Mädchens zu sorgen. Die Beiden redeten mit einander, als hätte es nie eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht gekannt, und bald wurde die Maid die Frau des Mannes und gebar ihm nach einem Jahre ein Mädchen, das der alte Kaplan von Mariaklausen auf den Namen Eva taufte.

Das Kind war der Abgott des Vaters, und seine liebevolle Fürsorge für das herzige Wesen, in dem alle guten Eigenschaften des Vaters und der Mutter vereinigt schienen, verdoppelte sich noch, als er im sechsten Jahre seines Glückes sein junges Weib verlor. Von nun an mußte der Vater seinem Kinde die Mutter ersetzen; das hielt in den ersten Wochen wohl schwer, aber die Liebe lehrte es ihn. An schönen Sommertagen nahm er [718] das Kind mit sich in den Wald, wo es unter der Rindenhütte seine stillen, bescheidenen Spiele trieb, während draußen der Vater arbeitete; zur Mittagsstunde schob er ihm auf dem selbstgeschnitzten Holzlöffelchen die einfache Kost in das kirschrothe Mündchen, dann aber nahm er sein Veverl auf die Kniee, lehrte es die Thiere kennen, nannte ihm die Namen der Pflanzen und Steine und plauderte zu ihm von dem geheimnißvollen Leben, das nach seinem Glauben in ihrem Innern webte. Pünktlich nach einer Stunde nahm er die Arbeit wieder auf – aber wenn sie des Abends nach Hause kehrten, setzten sie sich auf die Holzbank unter den rauschenden Tannen, und dann wiederholte sich das gleiche, freundliche Spiel. Der Winter vereinigte die Beiden in der traulichen, behaglich durchwärmten Stube, denn da arbeitete der Vater zu Hause, und während er vor seiner Werkbank saß und aus den weißen, astlosen, geschmeidigen Tannenbrettchen die verschiedenartigsten Schächtelchen und Schachteln sägte, übertrug er bei all dem stundenlangen, zärtlichen Geplauder in das Herz seines Dirnleins, das ihm nach Kräften bei der Arbeit an die Hand ging, sein ganzes Träumen, Sinnen, Fühlen und Glauben.

Täglich zur Mittagsstunde traten sie vor die Thür, wo der tiefe Schnee, der den Grund und die Bäume deckte, wo der zu Eis erstarrte Bergbach im kurz währenden Sonnenschein funkelte. Dann streute das Kind den frierenden Vöglein Nahrung, während der Vater über eine von Schnee entblößte Stelle ein Bündel Bergheu schüttete, zur Aesung für das Wild, das vom Morgen an in Rudeln das kleine Haus umstand, der Stunde harrend, zu der die niedrige Thür sich öffnete. So schwand den Beiden Tag um Tag; das Ausbleiben des Wildes war für sie das erste Anzeichen des nahenden Lenzes, bald kamen mildere Tage, die den Schnee die wachsende Kraft der Sonne verspüren ließen – dann aber hub ein Stürmen und Tosen an rings um das kleine Haus, der schwüle Föhnwind brauste durch den steilen Tann, daß die Bäume ächzten und die Erde schütterte, und von den felsigen Höhen nieder grollten die dumpfen Donner der stürzenden Lawinen. Das Stürmen vertoste, klare Bläue wölbte sich über Berg und Thal, bei Veilchenduft und Vogelsang erwachte der Lenz – und wieder zogen die Beiden hinaus in den frisch ergrünenden Bergwald. Drei Winter schwanden ihnen so – und Veverl war acht Jahre alt geworden, als ihres Vaters Schwester, die Mariann’, das „große Glück“ machte. Da drängte nun der Finkenbauer den Schwager, mit seinem Kinde zu ihm ins Dorf zu ziehen; der aber konnte sich ein Leben fern von seinem Waldhaus nicht denken – er blieb, wo er war und was er war.

Acht neue Jahre gingen dahin – aus dem lieblichen Waldkinde war das blühende, träumerische, rehäugige Mädchen geworden – auf das Haupt des Vaters aber war ein Schnee gefallen, den keine Frühlingssonne schwinden machte. Wieder hatte der Winter seinen weißen Teppich über Höhen und Tiefen gedeckt, da war es am Weihnachtsmorgen, Veverl stand unter der Thür und lockte die Vögel, die im Froste pispernd und wispernd ihre Federn sträubten, der Vater aber hatte gemeint, auch das Wild sollte den Tag vermerken, der voreinst den göttlichen Helfer für Noth und Elend geboren hatte – und nun stand er da drüben, unfern vom Hause – klingend hallten die Schläge seiner Axt – er fällte einen Fichtenstamm, damit das Wild die zarten, saftigen Zweigspitzen äsen könnte. Krachend stürzte der Baum, streifte im Stürzen einen andern, wodurch ein schwerer Ast gebrochen und seitwärts geschleudert wurde – und mit einem gellenden Aufschrei flog das Mädchen auf den Vater zu, der, von dem Aste auf die Stirn getroffen, lautlos niedersank auf den Grund, dessen weißer Schnee von dem strömenden Blute sich röthete. Jammernd warf sich das Kind über den Vater, rüttelte mit den kleinen Händen sein blutendes Haupt und rief ihn schluchzend an mit allen Namen, welche Zärtlichkeit und Liebe in qualvollem Schmerze nur ersinnen können. Doch als sein Auge starr blieb und stumm sein Mund, da zeigte sich in Eva die Tochter dieses Vaters – mit Gewalt überwand sie ihre Thränen, der hundertmal gehörten Lehre ihres Vaters denkend, daß der Seele eines Todten die um ihn geweinten Thränen brennendes Weh bereiten. Dennoch brach sie noch einmal in lautes Schluchzen aus, als ihr bei dem Versuche, die Leiche in das Haus zu verbringen, die Kräfte versagten. Da eilte sie in die Stube, nahm das kleine Krucifix aus dem Herrgottswinkel, kehrte zum Vater zurück, faltete ihm die Hände über der Brust und legte das heilige Zeichen zwischen seine erstarrenden Finger. Dann machte sie sich auf den Weg nach Mariaklausen.

Volle sieben Stunden brauchte sie, bis sie das nur eine Wegstunde höher gelegene Kirchlein mit dem Kaplanhause in Sicht bekam; häufig, wenn sie bis über die Brust in den tiefen, eisigen Schnee versunken war, hatte sie die Versuchung angewandelt, die Hände zu falten, die Augen zu schließen und so zu harren, bis der frierende Tod ihre Seele der Seele des Vaters vereinigen würde; aber der Gedanke, daß dann die Leiche des Vaters unbeerdigt liegen müßte, schutzlos den hungernden Füchsen überlassen, spornte immer wieder von neuem ihre schwindenden Kräfte; den letzten steilen Hang vermochte sie nicht mehr zu erklimmen; doch war sie von den Leuten im Kaplanhause schon gewahrt worden, und die beiden Kirchenknechte kamen ihr zu Hilfe. Als sie vor dem alten Kaplane in der mönchisch kahlen Stube stand, versagten ihr fast vor Frost und Entkräftung die Worte. Die bejahrte Wirthschafterin nahm ihr die vom Schnee durchnäßten Kleider ab, wickelte sie in warme Tücher und brachte sie zu Bette; inzwischen stiegen die beiden Kirchenknechte thalwärts nach dem Waldhause; spät in der Nacht erst kehrten sie mit der Leiche zurück – und sie wußten nicht genug zu reden von der wundersamen Gesellschaft, in der sie den Todten gefunden: rings um ihn hätten die Bäume gewimmelt von Vögeln; Hirsche und Rehe hätten ihn im Kreise umstanden; auf seiner linken Schulter aber hätte ein großer, weißer Vogel gesessen, wie sie all ihrer Lebtage noch keinen gesehen, und der hätte mit menschenähnlicher Stimme zu dem Wilde geredet; als sie sich genähert, hätte sich der Vogel pfeilgrad in die Luft erhoben, das Wild aber hätte sich nicht vertreiben lassen – und während sie die Leiche bergwärts trugen durch die Nacht, hätten sie bald hinter sich, bald seitwärts im Walde trippelnde Schritte gehört, so daß es ihnen ganz unheimlich geworden wäre und sie sich ein- um das anderemal bekreuzigt hätten. Veverl konnte den beiden Knechten nicht erklären, daß jener seltsame Vogel ihr liebes „Hansi“ gewesen war, eine weiße Dohle, die ihr Vater gezähmt und abgerichtet hatte, nachdem er sie im vergangenen Frühling unter dem Neste gefunden, aus dem die alten Vögel das in der Farbe mißrathene Junge gestoßen hatten – denn als die beiden Knechte die Leiche in das Kaplanhaus brachten, lag Veverl schon in glühendem Fieber. Der Kaplan und seine Wirthschafterin pflegten sie.

Als die Kranke nach langen Fiebertagen genas, verblieb sie im Kaplanhause; unter ihrem eigenen Dache hätte sie so allein für sich ein trauriges Wohnen gehabt – und der Verkehr mit dem Dorfe war durch den haushoch liegenden Schnee seit Monaten völlig unterbrochen. Zu Anfang des März erst konnte man der Finkenbäuerin die Nachricht von dem Tode ihres Bruders senden; wenige Tage später schon erschien der Bauer in Mariaklausen, um sein Schwagerkind mit sich ins Thal zu führen. Gar wenig war es, was sie aus dem väterlichen Hause, von dem sie unter Thränen schied, mit sich nehmen konnte – und von ihrem „Hansi“, der ihr in Wahrheit eine sprechende Erinnerung an den Vater gewesen wäre, war schon bei ihrem ersten, nach der Genesung vollführten Besuche im Waldhause nichts mehr zu sehen und zu hören gewesen, obwohl sie den Namen des Vogels mit ihrer weichen, innigen Stimme hundertmal hinausgerufen hatte in den widerhallenden Wald. Gegen Abend langten sie im Dorfe an; als Veverl da die „fürchtig vielen“ Häuser sah, wußte sie sich vor Staunen kaum zu fassen; es erging ihr, wie es dem Dörfler ergeht, der zum ersten Male die Großstadt sieht. Auf dem Finkenhofe hatte sie ein leichtes Sicheingewöhnen, denn sie wußte sich alle Leute durch ihr liebes, stilles Wesen rasch zu Freunden zu machen – und überdies waren da noch drei Leutchen, die das Veverl geradezu anbeteten: die beiden Kinder – und der Dori. Freilich – das kleine Waldhaus tief in den Bergen da hinten, mit allem, was drin und drum gewesen, das konnte ihr der prächtige Finkenhof nicht ersetzen – und dann – ihr „Vaterl“ halt – ihr „lieb’s, lieb’s Vaterl!“

Wenn der Finkenbauer nun von diesen Dingen auch nicht mit besonderer Ausführlichkeit erzählte, so bekam Herr Simon Wimmer immerhin noch so viel zu hören, daß er häufige Veranlassung fand, Jörg’s Rede mit den staunenden Worten zu unterbrechen: „Ja was ischt das! Ja was ischt das!“ – und immer wieder wandte er dabei das Gesicht den Fenstern zu, wohl in der Hoffnung, Veverl’s liebliches Antlitz vor einem derselben erscheinen zu sehen.

[719] Gidi machte sich bei seinem stummen Zuhören das Nebenvergnügen, den zwischen Neugier, Verwunderung und Verlangen wechselnden Ausdruck in den Zügen des Herrn Kommandanten zu beobachten.

Nun folgte eine Viertelstunde, in welcher Herr Simon Wimmer mancherlei von Gidi zu leiden hatte, der ihn tüchtig in die Zwickmühle nahm. Vorerst begann der Jäger ausführlich von verschiedenen Mädchen des Dorfes zu sprechen, deren Namen allein schon genügt hätten, den Herrn Kommandanten in mißbehagliche Unruhe zu versetzen. Dann kam er mit breitem Lobe auf das „Fräulein Hanni“ zu reden, wußte nicht genug davon zu sagen, wie sehr „der Zukünftige von der Finkenhofschwester zum neiden“ wäre, und konnte dabei nicht genug bedauern, daß im Dorfe Niemand zu finden sei, der ihrem Werthe und ihrer „Büldung“ das Gleichgewicht hielte.

Herr Simon Wimmer schien auf einem recht unbequemen Stuhle zu sitzen, so unruhig rückte er hin und her; dabei verhielt er sich gar schweigsam; manchmal nur nickte er hastig vor sich hin oder begleitete des Jägers Worte mit einem gezwungen klingenden: „Didididi!“ Seinem Gesichte war es deutlich anzusehen, daß er mit sich selbst im Zweifel war, ob Gidi auf ihn stichelte oder bei seinem so harmlos sich anhörenden Geplauder nur zufällig gerade auf diese Dinge zu reden käme, ohne zu ahnen, wie unwillkommen sie den Ohren des Herrn Kommandanten sein mußten. Schließlich schien ihn sein Selbstbewußtsein vollständig zu der letzteren Ansicht zu überreden; überdies wich seine Unruhe einer ungetheilten Aufmerksamkeit, als er den Jäger sagen hörte:

„Jetzt ich – wenn ich mich mit Heirathsgedanken tragen thät’, ich haltet[10] mich deßwegen doch mit alle zwei Händ’ am Finkenhof an, und wenn ich mir auch zehnmal sagen müßt’, daß d’ Hanni für mich net g’wachsen is! Sein Weiberl aus’m Finkenhof ’rausholen – das heißt a Nummer ziehen! Und es muß ja net g’rad d’ Hanni sein! A Jahrl noch – und ’s Veverl is im besten Alter – und – gelt Finkenbauer? – da wirst Dich auch net spotten lassen, wenn der Kummetwagen[11] von Dei’m Schwagerkind ’nausfahrt aus’m Finkenhof?“

„Das versteht sich! Didididi! Das versteht sich!“ fiel Herr Wimmer mit erregten Worten ein und pries dann des Langen und Breiten die „großmüthige Nobligkeit“ des Finkenbauern, der diese Lobrede mit wortloser Geduld über sich ergehen ließ. Man konnte es dem Bauer wohl ansehen, daß er im Stillen an andere, ernstere Dinge dachte; er gewahrte es kaum, wie ihm Gidi so lustig zublinzelte und verstohlen mit dem Daumen nach dem vor Eifer und Erregung glühenden Gesichte des Herrn Kommandanten deutete, der jetzt von seiner angesehenen Stellung sprach, von seinem sicheren Einkommen und einer ihm in Aussicht stehenden Gehaltserhöhung.

Jörg athmete erleichtert auf, als Herr Simon Wimmer sich endlich zum Abschied erhob.

„Wart’, ich heiz’ ihm noch a bißl ein auf’m Heimweg. Da kriegen wir noch amal an G’spaß – mit dem!“ wisperte Gidi dem Bauer zu; dann nahm er Büchse und Rucksack von der Ofenbank.

„Geh’, laß!“ erwiderte Jörg. „Der is ja z’letzt imstand und redt der Vevi ’was vor, an was das Deandl noch net denken soll. Und überhaupts –“

Er verstummte und gab mit verdrießlicher Miene seinen beiden Gästen das Geleite durch den Hof.

Vor dem Zaunthor setzte Herr Wimmer zu einer Abschiedsrede ein, deren Ende wohl kaum „zum derwarten“ gewesen wäre, hätte nicht Gidi den Herrn Kommandanten mit einem energischen: „Jetzt aber weiter amal –“ durch das Thor auf die Straße geschoben.

Nachdenklich gesenkten Kopfes kehrte Jörg zum Hause zurück. Schon wollte er die Schwelle betreten, da hörte er hinter sich am Straßenzaune das Pförtchen knarren, als er sich wandte, sah er einen Mann in blauer Jacke und Mütze auf das Haus zu kommen; es war ein Postbote, doch nicht der gewöhnliche, welcher alltäglich die Briefe und Zeitungen in das Dorf brachte.

„Bin ich da im rechten Haus,“ frug der Bote, „beim Bauer Georg Fink?“

„Ja, ja, ganz recht,“ erwiderte Jörg mit unsicherer Stimme und eilte hastenden Ganges in den Hof, beim ersten Schritte schon die Hand nach dem Briefe streckend, von welchem der Bote den Namen des Bauern abgelesen hatte.

„Da hab’ ich einen Expreßbrief – kostet eine Mark achtzig Pfennig für direkte Zustellung.“

„A Mark achtzig! Das is aber a bißl viel!“ murmelte Jörg zerstreut.

„No – und ich mein’, es wär’ wenig g’nug für die drei Stund’ von der Station bis da ’raus.“

Jörg griff in die Tasche, und die Hand zitterte ihm, als er dem Boten das Geld hinzählte. Dann nahm er den Brief, ging mit ihm in die Stube, und immer starrte er die Adresse an, als hätte er nicht den Muth, den Brief zu öffnen. Auf den ersten Blick hatte er die etwas ungeübte, kraus durch einander fahrende Schrift seiner Mariann’ erkannt. Eine Mark achtzig! Was mußte ihm da die Mariann’ zu schreiben haben!

Endlich schüttelte er, hoch sich aufrichtend, wie in Unwillen über sich selbst, den Kopf und löste das Messer, das er bei sich trug, aus der Scheide. Dabei hoffte er, daß Gidi mit seinen Vermuthungen vielleicht doch das Richtige getroffen haben mochte, daß seine Mariann’ trotz ihrer rühmenswerthen Pünktlichkeit dieses Einemal wenigstens sich versäumt haben könnte – und da war ja dann nichts natürlicher, als daß sie durch einen solchen Brief ihren Jörg aller Sorgen enthob.

So dachte Jörg auch noch, als er den geöffneten Brief schon entfaltete – doch als er auf dem Blatte die Thränenspuren gewahrte, unter denen die Schriftzüge häufig verschwammen und fast erloschen, da wußte er, daß er hier noch Schlimmeres erfahren würde, als er anfangs selbst gefürchtet hatte. Seine starke Mariann’ – und Thränen!

Die Hände zitterten ihm, als er das Blatt näher an die Augen hob – und er konnte die ersten Zeilen kaum durchflogen haben, da verfärbte sich sein Gesicht, und tastend suchte seine Hand nach einer Stütze. Schwer sank er auf die Holzbank nieder, mit zuckenden Lippen stammelnd. „Mein lieber Herrgott! Wie kann so ’was g’schehen!“ Wieder begann er zu lesen – Zähre um Zähre troff ihm über die Wangen, und keuchend ging sein Athem.

Lange schon hatte er zu Ende gelesen, doch immer noch starrten seine brennenden Augen nieder auf das zitternde, knisternde Blatt. Dann plötzlich schlug er die Hände an die Schläfe, und in lautem Aufschluchzen, das den mächtigen Körper des Mannes schüttelte wie ein jäher Windstoß die Tanne im Bergwald, brach es von seinen Lippen.

„Mein’ arme Hanni! Mein armer, armer Ferdl!“

Die Fäuste sanken ihm über den Tisch, und schluchzend barg er das Gesicht in beiden Armen.

Lange lag er so – sein Schluchzen verstummte – doch immer noch von Zeit zu Zeit überrann unter einem dumpfen Stöhnen ein zuckender Schauer seinen Leib.

Er schien es nicht zu hören, als die Thür sich öffnete und Veverl die Stube betrat, sie mochte wohl glauben, daß der Bauer schliefe, denn ruhig trat sie auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und rief ihn mit halblauter Stimme an.

„Jörgenvetter!“

„Was willst?“ fuhr Jörg mit heiserem Rufe empor und starrte gläsernen Blickes in das erschrockene Gesicht des Mädchens.

Mit scheuen ängstlichen Augen blickte Veverl auf die verstörten, von Schmerz verzerrten Züge des Bauern, auf die vom Weinen gerötheten Lider und auf seine beiden Hände, die vor den Blicken des Mädchens in so furchtsamer Hast jenen Brief zu bergen suchten, als könnte schon sein bloßer Anblick all das Entsetzliche verrathen, das ihn getroffen und erschüttert hatte bis ins Innerste seines Herzens. Kaum wollten dem Mädchen die Lippen gehorchen, als es auf die Frage des Bauern zur Antwort gab: „Den – den – Tisch hab’ ich decken wollen – 's Abendessen is fertig.“

„So – so –“ stammelte Jörg, „ja, ja – schau nur, daß die Kinderln ihr Sach’ richtig kriegen. Auf mich – brauchst net zum warten mit dem Essen – ich – ich hab’ noch an Gang zum machen – ja – an Gang.“ Zwei schwere Zähren rannen ihm über die Wangen, als er dieses letzte Wort wiederholte. Unsicheren Schrittes ging er auf einen Wandschrank zu und versperrte den Brief in eines der Fächer. Dann zog er den mit [720] großen Silberknöpfen geschmückten Spenser an und griff nach dem Hute.

Wortlos stand Veverl inzwischen vor dem Tische, die Bewegungen des Bauern mit sorgenvollen Blicken verfolgend; doch als sie ihn der Thür zuwanken sah, eilte sie ihm nach mit der herzlichen Frage. „’leicht is der Jörgenvetter krank?“

Traurig schüttelte Jörg den Kopf und murmelte vor sich hin: „Was gäbet ich net Alles drum, wenn’s so wär’ – und alles Andere wär’ anders!“

Ohne dem besorgten Mädchen noch einen Blick zu gönnen, verließ er die Stube und wandte sich dem Hofe zu. Als er die Schwelle überschritt, streifte eine von der Höhe der Thür niederhängende Ranke seine Wange, er hob die Augen – „Willkommen!“ las er da oben zwischen Grün und Blumen.

„Ah ja – willkommen!“ klang es in schmerzvollem Hohne von seinen zuckenden Lippen. Mit heftiger Bewegung streckte er den Arm und riß die Inschrift mit den Blumen vom Gebälke, trug sie in die Küche und warf sie in das lodernde Herdfeuer. Feuchten Auges sah er zu, wie die Flamme mit Knistern und Qualmen das Tannreis und die Blumen ergriff und die Inschrift unter schwarzem Ruße erlöschen machte.

Das Kinn auf der Brust, die Hände der schlaff hängenden Arme zu Fäusten geballt, so wanderte er durch das abendstille Dorf dahin. Die Leute, die ihm begegneten, grüßten ihn mit freundlichem Gruße; er sah ihre Grüße nicht und ließ sie ohne Antwort.

Als er vor der Schwelle des Pfarrhofes die Glocke zog, hob er zum ersten Male wieder das Haupt und die Augen.

Mit dumpfem Halle fiel hinter ihm die Thür ins Schloß.

Längst war die Sonne niedergegangen, und tiefe Dämmerung webte schon über den rauchenden Dächern, als Jörg aus dem stillen Hause wieder auf die Straße trat. Ihm folgte der greise Pfarrer im langen Talare, auf dem Haupte das kleine, schwarze Schäppelchen, das von einem Kranze schneeweißer Haare umzogen war. Die milden, ehrwürdigen Züge des greisen Priesters sprachen von tiefer, schmerzlicher Bewegung, und feucht schimmerten seine Augen. Er legte dem Bauer die Hand auf die Schulter und sagte leise:

„Geh’ jetzt nach Hause, Jörg, und suche Ruhe und Ergebung zu finden. Du weißt, Einer ist über uns – dessen Wille geht vor unseren Wünschen und unserer Liebe.“

„Ich g’spür’s – ich g’spür’s!“ fuhr Jörg mit schluchzenden Worten auf.

„Ja, ja – ich weiß, wie Dein Herz an den Beiden hing – und – ich selbst dank’ es meinem Gotte, daß meine selige Schwester diesen Tag nicht hat erleben müssen. Aber wir, Jörg – wir Beide – wir müssen uns als Männer zeigen! Weißt Du – leben, das heißt leiden. Aber wir sind Christen – gelt, Jörg – gute Christen! Und siehst Du – da müssen wir es auch in blutigen Thränen dem Heilande nachthun – und müssen sagen: Herr, Dein Wille geschehe! Geh’ nur – geh’, Jörg – geh’! Was für morgen früh noch zu besorgen ist, das will ich schon auf mich nehmen. Und – morgen soll dann Alles vor sich gehen, wie wenn Alles gut und richtig wäre. Weißt Du – was Du dem alten Freunde vertraut hast, das braucht der Pfarrer nicht zu wissen.“

„Hochwürden!“ stammelte Jörg unter Thränen, und heißer Dank sprach aus dem Klange seiner Stimme. „Ich hätt’ ja nie den Muth net g’habt, um so viel z’ bitten – und lügen – lägen hätt’ ich auch net können. Aber – aber jetzt – Hochwürden –“ Die Worte versagten ihm, als er nun die welke, zitternde Hand des greisen Priesters ergriff und mit ungestümen Lippen küßte.

„Aber Jörg! Jörg!“ wehrte der Pfarrer mit tief bewegter Stimme, seine Rechte aus den Händen des Bauern lösend. „Geh’ – geh’ jetzt nach Hause! Es ist spät geworden – und ich habe ja auch noch ein paar Wege zu machen. Also – gute Nacht, Jörg, gute Nacht!“

„Gut’ Nacht!“

Noch einmal umfaßte Jörg die Hand des Pfarrers mit festem Drucke. Dann wandte er sich, rückte seufzend den Hut und schritt der Straße zu.

Noch hatte Jörg seinen Hof nicht erreicht, als das Abendgeläute mit sanftem Klange vom Kirchthurme hinaus scholl über das nebeldampfende Thal.

Jörg nahm den Hut vom Haupte, faltete in zögerndem Weiterschreiten die Hände, und raunend bewegten sich seine Lippen.

Das Geläute verstummte – Jörg stand still und hob wie in ängstlichem Lauschen den Kopf – jetzt schauerte er in sich zusammem als wäre ihm der Ton der Glocke, die nun zu läuten anhub, durch Mark und Bein gegangen.

Es war der dünne, wimmernde Ton der Todtenglocke.

An den Häusern öffneten sich die Fenster, aus den Thüren traten die Leute und sammelten sich auf der Straße zu kleinen Gruppen, mit hastig durch einander schwirrenden Fragen.

Wer konnte gestorben sein, da doch Niemand im Dorfe schwer krank darniederlag? Hatte es ein Unglück gegeben? Wen mochte es getroffen haben? Oder war am Ende Schlimmeres geschehen? Verbrechen und Mord?

Niemand wußte auf diese Fragen eine Antwort zu geben – und der sie hätte geben können, schritt gesenkten Hauptes, mit thränenden Augen und krampfhaft geschlossenen Lippen wortlos seiner Wege, heimwärts, dem Finkenhofe zu.


Ein großer Raum mit weißgetünchten, niedrigen Wänden, rechts von der Thür der braunlackirte Geschirrschrank, links der eiserne Ofen, eine rings um die freien Wände sich ziehende Holzbank, in der Fensterecke das Krucifix, und darunter der lange, schmucklose Eichentisch – das war die „Ehhaltenstube“ im Gesindehause des Finkenhofes.

Ein trübe brennendes Oellämpchen, das an der Wand auf einem kleinen Brettchen stand, warf seine matten Lichter über den Tisch, um welchen die Dienstboten bei der dampfenden Schüssel saßen. Emmerenz als Oberdirne führte den Vorsitz – eine gedrungene Gestalt von derb gesunden Formen. Der graue Lodenrock reichte kaum bis zu den Knöcheln der nackten, im Verhältnisse zu der Gestalt auffallend kleinen Füße. Das dunkelbraune, miederartige Tuchleibchen, dessen Achselspangen über die runden Schultern auf die drallen Arme nieder geglitten waren, umspannte straff die üppige Büste. Dem grobleinenen, kurzärmligen Hemde waren hoch am Halse mit rother Wolle zwei Buchstaben eingemerkt, E. und B., und darunter eine Zahl, welche verrieth, daß Enzi vor siebenundzwanzig Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Der etwas kurze Hals, den zwei mollige Faltenringe umzogen, trug einen kugelrunden Kopf, über welchem das reiche, röthlich blonde Haar mehr praktisch als geschmackvoll zu einem dicken, zausigen Knoten zusammengewirbelt war. Das Gesicht mit den in gesunder Röthe strotzenden Wangen, mit den vollen Lippen, zwischen denen die weißen Zähne hervorblitzten, mit der kleinen, leicht aufgestumpften Nase und mit den Blau-Augen unter den starken, lichten Brauen machte wohl den Eindruck gemüthlichen Frohsinns. Manchmal aber fuhren die Lippen wie schwellend auf, die Brauen schürzten sich wie unter trotzigen, zürnenden Gedanken – und das sah sich auf diesem Gesichte so seltsam an, fast wie Wetterleuchten bei heiterem Abendhimmel. Zu beiden Seiten der Oberdirne saßen Valtl und die alte Waben, neben dieser machte sich Dori breit; ihm gegenüber saß die Stalldirn’, welche beim Essen fleißiger die Zähne zu rühren liebte, als die Hände bei der Arbeit; der Schmied, die Hausmagd und der Holzknecht ergänzten die Runde.

Die Mahlzeit war beendet. Emmerenz erhob sich vom Tische und begann das Geschirr zusammen zu räumen, während sich die anderen gemächlich aus den Bänken hervorschoben.

„Du –“ flüsterte Dori dabei mit lustig zwinkernden Augen dem Holzknecht zu, „heut’ beim Heimfahren hab’ ich mir a neus Betsprüchl aus’denkt – da paß auf!“

Emmerenz trug das Geschirr nach dem Schranke; als sie zum Tische zurückkehrte und Dori, der als der jüngste Dienstbote nach jeder Mahlzeit das Dankgebet zu sprechen hatte, noch immer keine Miene machte, dieser Pflicht nachzukommen, mahnte sie ihn mit den Worten: „Was is denn, Dori – wird heut’ nimmer ’bet’?“

Der Bursche schien auf diese Aufforderung gewartet zu haben, denn übereilig stellte er sich nun vor dem Tische in Positur, schlug mit weit ausfahredem Daumen das Kreuz, faltete die Hände und begann:

„Jetzt hab’ ich ’gessen,
Bin noch net satt,
Hätt’ gern noch ’was ’gessen,
Hab’ nix mehr g’hatt.
Die Zähn’ sind ’s Beißen g’wöhnt,
Der Magen is weit gedehnt,
Drum hungert’s mich allezeit
Jetzt und in Ewigkeit – Am –“

[722] „Amen!“ so wollte er sein „neues Betsprüchel“ schließen; Enzi’s flink erhobene Hand aber kam diesem Amen zuvor – klatschend fiel sie auf Dori’s Ohr und Wange.

„Sakra noch amal!“ stöhnte der Bursche unter dem Gelächter all der Anderen auf und verzog den Mund, als wollte er sich überzeugen, ob ihm auch der Kiefer noch richtig im Gelenke säße.

„Hat’s aus’geben? Nachher is recht!“ äußerte sich Emmerenz mit befriedigter Miene; dann faltete sie die Hände und sprach, die Augen frommen Blickes zum Kreuze erhebend, mit ruhiger Stimme das übliche Tischgebet.

Verdrießlichen Gesichtes starrte Dori vor sich nieder, bis ihn die Stimme der Emmerenz aus dem stummen Brüten weckte. „Du Lalle – Du unchristlicher!“ brummte ihn die Dirne an, als sie nach einem ungestörten Amen an ihm vorüber der Thür zuschritt.

„No ja –“ grollte Dori, „deßwegen muß man auch net gleich dreinschlagen wie der Metzger auf sein Hackstock.“

„Thu’ Dich trösten, Dori,“ bemerkte eine von den Mägden, „d’ Emmerenz hat ’s halt heut’ schon amal so in die Finger – gelt, Valtl?“

Der Knecht hatte alle Ursache, diese Frage zu überhören. Um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, wandte er sich mit stichelnden Worten gegen Dori; der aber wußte die Spottreden des Knechtes zumeist in einer Weise zu erwidern, durch die er die Lacher auf seine Seite brachte, und als ihm schließlich der Witz ausging, wehrte er sich mit gesunder Grobheit seiner Haut.

„Da schau!“ spottete Valtl nun, „wenn den Lackl so grob daherreden hörst, da möcht’ sich ja keiner net denken, wie sanft und scharmierlich als er an andermal daherreden kann!“

„Jetzt auf die Stund’ müßt’ ich mich dengerst b’sinnen, wo ich Dir a sanfte Red’ hätt’ geben mögen!“

„Ja – aber gelt – bei der Veverl – da taugt’s Dir halt besser, die zuckerne Süßen!“

„Du, merk’ Dir’s fein,“ fuhr Dori mit bebender Stimme auf, während brennende Röthe in seine Wangen schoß, „zu mir kannst reden, wie D’ willst – und mich kannst heißen, was Dir lieb is – aber – aber d’ Veverl bringst mir net in d’ Red’!“

„Natürlich – von Dir werd’ ich mir vorschreiben lassen, was ich reden soll – Du damischer Gispel, Du verliebter!“

„Valtl – ich sag Dir’s –“

„No also, so sag’ mir’s halt, wo der Veigerlbuschen hin’kommen is, den im Kammerwinkel aus der Joppen ’zogen hast? Ich mein’ allweil, ich hab’ ihn an der Veverl ihrem Mieder g’sehen.“ ’ „Net wahr is! Net wahr is! Net wahr is!“ schrie Dori, die zitternden Fäuste ballend. „D’ Veverl nähmet schon gar keine Bleamerln von mir!“

„Glauben möcht’ man’s schier, daß ihr ’s Grausen kommt, wenn s’ Dich anschaut, Du Mißgeburt!“ fiel Valtl mit rohem Lachen ein; und zu den Andern sich wendend, sagte er: „G’nommen hat s’ den Buschen aber doch. Ich hab’ ja zug’schaut aus’m Stallfenster. Und ang’schmaacht[12] hat er ’s Deandl dabei, so zuckersüß – das is g’rad g’wesen, wie wenn der Mistgockel mit der Schwalben schnabelt.“

Eine fahle Blässe hatte bei diesen Worten alle Farbe aus Dori’s Gesicht vertrieben. Mit vorgerecktem Kopfe und stieren Augen, schnaubend und die langen Arme wie Pendel schwingend, näherte er sich dem Knechte, dann plötzlich schnellte er sich unter einem gurgelnden Aufschrei mit katzenartigem Sprunge wider Valtl’s Brust, der durch die Wucht dieses Anpralls zu Boden gerissen wurde, von Dori’s Händen am Halse gewürgt und gedrosselt.

Da verging den Andern das Lachen. Kreischend und scheltend sprangen sie herbei, um die Beiden zu trennen. Emmerenz erschien unter der Thür, und mit dem Rufe. „Ja, heiliger Gott, was macht’s denn jetzt da für Sachen!“ drängte sie sich mitten in den staubenden Knäuel, packte Dori mit beiden Händen beim Kragen und riß ihn in die Höhe. Fluchend richtete sich Valtl von den Dielen auf – und schon hob er die Arme, um nun seinerseits über Dori herzufallen, als die Thür sich öffnete.

Jörg stand auf der Schwelle.

„Jesses, der Bauer! der Bauer!“ ging es flüsternd durch die erregte kleine Schar, und Jeder und Jede bemühte sich, eine möglichst harmlose Miene zu zeigen.

Doch immer noch hätte ein einziger Blick genügt, um Jörg errathen zu lassen, was hier vor sich gegangen.

Er aber stand auf der Schwelle, regungslos, mit gesenkten Augen – und es währte eine Weile, ehe er die Hand hob, um den Hut vom Haupte zu nehmen. Ein tiefer Seufzer schwellte seine Brust, und seine Lippen begannen zu zittern, als wären ihm die Thränen nahe.

Emmerenz näherte sich ihm mit zögernden Schritten – und als sie nun das blasse Gesicht und die verstörten Züge sah, fuhr sie erschrocken auf. „Um Gotteswillen – Bauer – wie schaust denn aus? Was hast denn? Was is denn g’schehen?“

Jörg mußte sich auf das Gesims des Wandschrankes stützen, als er tiefer in die Stube treten wollte. Mehrmals öffnete er die Lippen, ohne daß er zu sprechen vermochte, und als er endlich die Sprache fand, lösten sich die Worte rauh und schwer von seiner Zunge.

„Leut’ – ’s Unglück – is ein’kehrt in mei’m Haus – mein’ – mein’ Schwester – d’ Hanni is verstorben –“

„Jesus Maria!“ fuhr es von jedem Munde. Nur Valtl’s Lippen waren stumm geblieben. Die alte Waben hob die Schürze vor die Augen und flüsterte: „Da – da – jetzt kommt’s auf, wem ’s Zügenglöckl ’golten hat.“

„Ja is denn zum glauben?“ frug Emmerenz, tief erschüttert. „Kann denn so ’was g’schehen, so g’radweg über Nacht? Heut’ am Abend noch – ganz g’freut schon hab’ ich mich auf das liebe, süße G’sichterl – und jetzt – ja, sag’ nur g’rad, Bauer, an was is s’ denn g’storben?“

„Sie – sie is – verunglückt – im Wasser.“

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 45, S. 734–741

[734] Tonlos hatte Jörg die Worte hervorgestoßen, starr vor sich niederblickend. Alle drängten sich um ihn, in der Erwartung, Näheres über das Unglück Hanni’s von ihm zu hören. Jörg aber schwieg – und als er sich endlich gewaltsam aus seinem verstörten Brüten emporraffte, irrten seine Augen mit scheuen Blicken über die Gesichter, während er mit hastigen, heiser klingenden Worten sprach:

„Morgen in der Früh, zwischen fünfe und sechse, kommt unser Bäuerin z’ruck aus der Stadt – und – da muß der Sarg in der Station nachher abg’holt werden. Valtl! Du machst den großen Planwagen zum Fahren fertig und deckst ihn mit die schwarzen Tücher zu, die der Herr Pfarrer heut’ noch schickt. Und bis um a drei in der Fruh, da fahrst nachher fort –“

„Was? Ich soll fahren?“ brummte Valtl. „Als Todtenfuhrmann, mein’ ich, hab’ ich mich dengerft net ein’dingt auf ’m Finkenhof!“

Dunkle Zornröthe übergoß das bleiche Gesicht des Bauern.

„Du – Du –“ fuhr er mit bebender Stimme auf, „Du kannst sitzen an mei’m Tisch und schlafen unter mei’m Dach – und so a Red’ kannst mir sagen – in so einer Stund’, wo mir ’s Herz schwer is zum Brechen! Da will Dir halt nachher ich jetzt ’was sagen –“

Mit heftigen Schritten wollte er auf den Knecht zutreten, als Dori sich ihm in den Weg stellte.

„Thu’ Dich net kränken, Bauer – net wegen dem!“ sprach der Bursche mit schunchzenden Worten zu Jörg empor, und dabei kugelten ihm dicke Thränen über die Wangen. „Mich laß’ fahren – ich bitt’ Dich gar schön – mich laß fahren! Mir is an Ehr’, Bauer – an Ehr’, daß ich mir a größere net denken kann!“

„Ja, Dori – ja – fahr’ Du!“ erwiderte Jörg gerührt, und die Hand über Dori’s Rothkopf streichend, fügte er bei: „Bist a guter Bursch!“

„Ja, ja – und fahren will ich, Bauer, fahren –“ Dori’s Worte erstickten völlig unter Schluchzen und Thränen, „weißt – ordentlich vermerken müssen’s d’ Roß’, was s’ da zum heimwärtsführen haben – und – und kein Steinl soll den Wagen stößen – so will ich fahren – so will ich fahren!“

Jörg nickte nur immer, und schwerer und schwerer wurde dabei seine Hand, die auf Dori’s Scheitel ruhte. Dann plötzlich preßte er die beiden Fäuste vor die Augen und als er sie wieder sinken ließ, sagte er: „So – und jetzt fangt’s zum beten an, wie’s Brauch is in ei’m christlichen Todtenhaus.“

Lautlos ließen sich die Knechte und Mägde auf die Kniee nieder, die Arme auf die Holzbank stützend, die sich an der Wand entlang zog. Emmerenz knieete vor dem Tische; mit lauter Stimme sprach sie das Vaterunser und dann die Absätze der Todtenlitanei – und wenn die Knechte und Mägde antwortend einhielten, hörte man aus allen andern heraus Dori’s inbrünstige Stimme. „Herr, gieb ihr die ewige Ruh’!“

Regungslos stand Jörg eine Weile inmitten der Stube, die Hände unter dem Kinne gefaltet, den Wortlaut der Gebete leise mitraunend. Als die Litanei zu Ende war und der Rosenkranz begann, schlug er ein Kreuz und wandte sich der Thür zu. Aufathmend trat er ins Freie – und da sah er Valtl auf der Hausbank sitzen, die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen. Weder dem Bauer noch den Anderen war es aufgefallen, daß der Knecht sich bei Beginn des Gebetes aus der Stube geschlichen hatte.

„Valtl!“ fuhr es mit drohendem Laute über Jörg’s Lippen; doch schien er sich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen. „Ich mein’, Du könntst hören, daß drin schon ’bet' wird.“

„No ja – aber was geht denn mich das Beten an? Ich glaub’, ich bin fürs Arbeiten ’zahlt und net fürs Beten. Wenn aber der Bauer anders glaubt, kann er ’s ja sagen.“

„Was ich glaub’, das wirst morgen zeitig g’nug noch hören von mir. Jetzt aber – jetzt gehst ’nein in d’ Stuben.“

„Neinschaffen kann mich der Bauer freilich,“ erwiderte Valtl, indem er sich gähnend von der Bank erhob, „aber den möcht’ ich doch sehen, der mir mit G’walt ’s Maul auf- und zureißt, wenn ich’s net rühren mag.“

„Halt!“ Mit einem raschen Schritte vertrat der Bauer den Weg zur Thür. „Jetzt laß’ ich Dich gar nimmer ’nein in d’ Stuben. Schlafen kannst heut’ noch in der Kammer droben – morgen in aller Fruh aber gehst mir aus mei’m Hof. Dein Lohn bis Jakobi zahl’ ich Dir aus – und nachher sind wir g’schiedene Leut’.“

„Is mir auch net z’wider,“ lachte Valtl, indem er seinen alten Sitz auf der Bank wieder einnahm. „A Knecht, wie ich einer bin, braucht sich um an neuen Dienst net z’sorgen, der Leithenbauer nimmt mich auf der Stell’.“

„Ja – geh zu ihm – das is der richtige Herr für Dich – der Schlingenleger!“

„Geh’ – gelt, Bauer – nimm Dich fein in Acht! Es könnt’ Dir auch net lieb sein, wenn ich jetzt hinging zum Leithner und saget ihm, was ihn Du g’heißen hast.“

„So geh – er soll mich verklagen – nachher will ich ihm beweisen, was ich g’sehen hab’ mit eigne Augen.“

Kurz wandte Jörg dem Knechte den Rücken und schritt über den dunklen Hof hinweg dem Wohnhaus zu, dessen ebenerdige Fenster erleuchtet waren. In der Stube war der Tisch gedeckt, Jörg sah es nicht; kaum vermochte er einen Stuhl zu erreichen, so zitterten ihm die Kniee; seufzend sank er nieder und schlug die Hände vor das Gesicht.

Die Thür zum Nebenraume stand offen; es war das Schlafzimmer des Bauern und der Bäuerin, daran reihte sich die Kinderstube. Durch die beiden Thüren klang in leisem, melancholischem Gesange Veverl’s Stimme. Sie sang einen Nachtsegen, der die schlummernden Kinder vor bösem Zauber bewahren sollte.

Eine Weile lauschte Jörg dem Gesange; dann sprang er auf; es drängte ihn, seine Kinder zu sehen. Als er die kleine Stube betrat, erhob sich Veverl, den Gesang unterbrechend, von ihrem Stuhle.

„Sing’, Veverl, sing’!“ flüsterte Jörg; und während das Mädchen die seltsame Weise von neuem begann, trat er vor das Bett seines blonden Dirnleins und strich die zitternde Hand über das nackte Aermchen des schlummernden Kindes; dann zog er sich einen Stuhl vor das Bett seines Buben; und während er mit brennenden Augen an dem frischen, rothen Gesichte des Knaben hing, horchte er auf den Gesang des Mädchens; der weiche, innige Klang dieser Stimme that ihm so wohl.

Als Veverl den Gesang beendet hatte, wollte sie sich lautlos entfernen. Jörg winkte ihr zu, das Licht mit fortzunehmen. Sie that es – und nun saß er im Finstern, die gefalteten Hände netzend mit seinen rinnenden Thränen.

Nach einer Weile erschien Veverl wieder unter der Thür: „Jörgenvetter,“ flüsterte sie, „geh, komm doch zum Essen – wird ja alles kalt.“

Jörg folgte dem Mädchen in die Stube und ließ sich am Tische mit den Worten nieder: „Trag’ nur alles wieder ’naus – ich kann nix essen!“

Mit besorgten Blicken betrachtete Veverl den Bauer, dann trat sie auf ihn zu: „Jörgenvetter – schau – sollst mir doch sagen, was Dir fehlt. Weißt – mein Vaterl hat mir gar viel verrathen, was gut is für gache Leiden.“

Jörg schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, daß es für sein Leid keine Hilfe gäbe. Und brütend starrte er wieder vor sich nieder.

Veverl schickte sich an, den Tisch abzuräumen; plötzlich ließ sie die Hände ruhen und richtete mit ängstlichem Lauschen das Köpfchen empor.

„Jörgenvetter,“ stammelte sie, „drüben – im Ehhaltenhaus – da – da beten s’ ja! Um Gotteswillen – was is denn g’schehen?“

Nun sagte er es ihr – sagte es ihr fast mit den gleichen, scheu zögernden Worten, mit denen er seinen Dienstboten das Unglück verkündet hatte.

Veverl erblaßte, und die Thränen stürzten ihr aus den Augen, aber sie brachte kein Wort hervor.

[735] Ein einziges Mal nur hatte sie die „Hannibas’“ gesehen: das war im vergangenen Winter gewesen, da war die Finkenbäuerin mit der Hanni für einen ganzen Tag im Waldhause eingekehrt. Aber für Hanni’s liebes, freundliches Wesen hätte es keines ganzen Tages bedurft, da hatte eine Stunde genügt, um Veverl’s Herz zu gewinnen.

Wie hatte sich Veverl da in den letzten Tagen auf Hanni’s erwartete Heimkehr gefreut! Und nun!

Nun verstand sie auch, was sie wie eine unbegreifliche Kränkung empfunden hatte, als sie kurz nach dem Ausgang des Bauern den Kranz, den sie mit so liebevoller Freude um das „Willkommen“ gewunden, in der Herdflamme hatte verkohlen sehen.

Lange, stille Minuten verrannen – immer noch stand Veverl regungslos vor dem Tische. Und als sie endlich hätte sprechen mögen, da schloß ihr der Anblick des Bauern die Lippen, der da vor ihr saß, mit so gramvollen Zügen, stumm versunken in seinen Schmerz.

Mit zitternden Händen räumte sie den Tisch und nahm das Geschirr auf die Arme, um es in die Küche zu tragen. Als sie nach geraumer Weile wieder in der Stube erschien, legte sie vor sich auf den Tisch ein schmales Brettchen und einen rothen Wachsstock. Aus dem dünngezogenen Wachse schnitt sie kleine Kerzen von verschiedener Größe, die sie der Reihe nach auf das Brettchen klebte, so daß die kürzeste den Anfang, die längste den Schluß bildete. Dabei sprach sie keine Silbe, doch unablässig bewegten sich ihre Lippen, und in ihren thränenerfüllten Augen glomm ein schwärmerisch heiliger Ernst.

Wortlos ließ Jörg sie gewähren, obwohl er den Sinn und Zweck ihres Gebahrens nicht verstand. Er mochte sich wohl denken, daß sie wieder einmal einen jener seltsamen Bräuche übe, die der Vater im Waldhause sie gelehrt hatte. Und was die Kerzen zu bedeuten hatten, meinte er aus ihrer Zahl errathen zu können – zwanzig – es war die Zahl von Hanni’s Jahren.

Jetzt hob Veverl das Brettchen auf die schmale Brüstung des kleinen Hausaltars, der im Herrgottswinkel unter dem Krucifixe angebracht war – und während sie mit dem brennenden Wachsstocke die Kerzlein entzündete, raunte sie leise vor sich hin:

„Licht is Gottes Gab’,
Leben is Gottes Gnad’ –
Wie Du ’s Licht uns ’geben,
Wie Du g’schaffen das Leben,
Verlöschen Licht und Leben auch,
Herr Gott, vor Deinem Hauch.
Aber Du thronst in Allgütigkeit
Und richten thust nach G’rechtigkeit!
Herr Gott über Himmel und Höll’,
Sei gnädig der armen Seel’.“

Bei dem letzten Worte hatte sie die letzte Kerze entzündet. Mit sachtem Hauche löschte sie den Wachsstock, dann knieete sie vor dem Tische nieder, in stillem Gebete die Hände faltend, keinen Blick ihrer schwärmerischen Augen verwandte sie von den zuckenden Flämmchen. Es währte kaum eine Minute, da war das erste Kerzlein niedergebrannt – und als das bläuliche Licht in dem zerschmolzenen Wachse knisternd erlosch, sprach Veverl mit innig bewegter Stimme die Worte:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein erstes Jahr.“

Wieder versank sie in stilles Gebet – und wieder sprach sie, als das zweite Licht erlosch:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein zweites Jahr.“

So brannte Kerzlein um Kerzlein nieder – und jedes Mal beim Erlöschen eines Flämmchens wiederholte Veverl diesen Spruch mit steigender Zahl des Jahres. Je weniger der Kerzlein wurden, desto mehr erwachte in ihren Zügen der Ausdruck einer tiefinnerlichen Erregung. Die Wangen begannen ihr zu glühen, der feuchte Glanz ihrer Augen wurde zum Leuchten, hastiger und hastiger bewegten sich bei den stummen Gebeten ihre Lippen, ein leises Zittern kam über ihre gefalteten Hände – und wenn sie ihr Sprüchlein sagte, da war es nicht Trauer mehr, da war es fromme Freude, was aus dem Klange ihrer bebenden Stimme sprach.

Als das drittletzte der Kerzlein erloschen war, schmiegte sie, keinen Blick von den zwei noch zuckenden Flämmchen verwendend, das Köpfchen an die Schulter des Bauern, der lange schon neben ihr auf den Dielen knieete – und flüsterte: „Jörgenvetter – wie brav und fromm muß d’ Hannibas g’wesen sein!“

Mit keiner Silbe, nicht einmal mit einem leisen Nicken des Hauptes erwiderte Jörg diese Worte. Brennenden Blickes starrte er zu dem zitternden Lichtschein empor, während qualvolle Unruhe sich in seinen Zügen malte.

Anfangs hatte er mit zerstreuten, dann mit staunenden Augen das Gebahren des Mädchens verfolgt. Aber die rührende Innigkeit, die aus Veverl’s Blicken und Worten sprach, das Mystische des ganzen Vorganges, der Anblick der brennenden Kerzen, deren röthliche Flammen grelle Lichter und zuckende Schatten über das Krucifix und sein aus weißem Holze geschnitztes Bildniß warfen, das unter diesem Widerspiele von Licht und Schatten zu leben und sich zu bewegen schien – das Alles mochte in seinem von Schmerz durchzitterten Gemüthe eine Stimmung erweckt haben, die ihn unwillkürlich an die Seite des Mädcheus gezogen und niedergezwungen hatte auf die Kniee.

Nun wieder erlosch ein Flämmchen – und wie in verhaltetem Jubel klangen die Worte des Mädchens:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein neunzehntes Jahr.“

Noch aber war das letzte Wort ihren Lippen nicht entflohen, als sich aus der Höhe des Herrgottwinkels ein leises Rascheln vernehmen ließ. Einer der geweihten Palmzweige, welche den frommen Schmuck des Krucifixes bildeten, hatte sich losgelöst, glitt zwischen der Wand und dem Kreuzholze hindurch und schlug mit der Spitze auf das Brettchen nieder, so daß das letzte noch brennende Kerzlein seinen Halt verlor, über die Brüstung des Altares kollerte, im Fallen erlosch und qualmend über die Tischplatte auf die Dielen rollte.

Erblaßt bis in die Lippen sprang das Mädchen auf und stammelte, zitternd am ganzen Leibe: „Heiliger Himmel – Jörgenvetter – d’ Hannibas’ is net g’storben nach Gottes Rath und Willen – da – is ’was net in der Ordnung – oder – oder a Mensch is schuld an ihrem Tod!“

Mit offenen, glasigen Augen starrte Jörg auf das Mädchen, während er sich mühsam emporrichtete.

„Wie kannst so ’was sagen. so ’was sagen!“ stotterte er mit heiserer Stimme.

„Ja, ja – sonst wär’ das letzte Kerzl niederbrennt – g’rad’ wie die andern –“

„Ah was – ah was – Dummheiten – Dummheiten – d’ Hitz’ von die vielen andern Lichter hat’s verschuld’t – da hat sich d’ Wieden[13] g’lockert –“

„Um Gotteswillen – Jörgenvetter – so mußt net reden –“ schluchzte das Mädchen mit angstvollen Augen zu Jörg emporstarrend, „das Wachs is g’weiht am Ostersonntag – und – und ’s Kerzeng’richt lügt net – da wacht unser Herrgott drüber – mein Vaterl hat’s g’sagt – mein Vaterl hat’s g’sagt –“

Jörg antwortete nicht, in sich versunken stand er da, seine Züge waren schlaff, und müde starrten seine Augen.

Weinend bückte sich das Mädchen, hob die halbverbrannte Kerze vom Boden auf und legte sie mit zitternder Hand auf den Tisch.

Aufseufzend griff Jörg nach dem rothen Wachse und drehte es hin und her zwischen seinen Fingern, dann plötzlich warf er es zurück auf den Tisch, und niedersinkend auf die Holzbank barg er das Gesicht in beide Hände unter den schluchzenden Worten: „Mein’ Hanni! Mein’ arme, arme Hanni!“

Hastig trat Veverl auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Jörgenvetter – geh’ – mußt net weinen,“ bat sie mit herzlicher Stimme, während ihr doch selbst die Thränen über die Wangen rannen, „weißt – so ’was verspürt die arme Seel’ – das thut ihr weh.“

[738] Jörg richtete sich empor und fuhr sich über die Augen. „Geh’ – geh’ – Veverl – geh’ jetzt schlafen! Es is schon spat – und – und morgen – und morgen müssen wir ja Alle früh in d’ Höh’.“

„Na, Jörgenvetter! Wie könnt’ ich denn schlafen jetzt und g’rad’ so Du! Mir kannst es ja sagen – gelt – bist doch net gern allein jetzt? Schau - laß mich bei Dir bleiben!“

„Na, mein liebs Deandl, na, na! Leg’ Dich nur schlafen. Und da streckte er ihr die Hand entgegen, „und gelt – wann mir und meine Kinder gut bist, nachher – nachher sagst von wegen der Hanni zu kei’m Menschen so a Wort, wie vorhin g’rad zu mir. Versprich mir’s, Veverl – gelt?“ Fast versagte ihm die Stimme bei diesen Worten.

„Ja, Jörgenvetter, ich versprich’s!“ stammelte Veverl. Dann entzündete sie den Wachsstock und nachdem sie die Finger in den Weihbrunnenkessel neben der Thür getaucht und Stirn und Brust mit dem geweihten Naß besprengt hatte, verließ sie mit leisem „Gut’ Nacht!“ die Stube.

Lautlos stieg sie draußen im Flure die Treppe empor und betrat ihr Kämmerchen. Der kleine Glasschrein mit dem wächsernen Jesukinde, das von Goldleisten umrahmte Spiegelchen, die Schachteln und Schächtelchen und manch anderer Kram, womit die bunt bemalte Kommode bestellt war, verrieth, daß ein Mädchen die Kammer bewohnte, die im Uebrigen durchaus nicht das Aussehen einer Mädchenstube zeigte. Da hing an einem Wandhaken eine Büchse mit einem Bergstocke und drüber eine Cither, von welcher einzelne gesprungene Saiten niederschwankten; an einem anderen Haken hing ein Raupenhelm über einem kurzen Säbel mit schwarzlederner Kuppel. Soldatenphotographien in zierlich geschnitzten Rähmchen schmückten die weißen Wände.

Als Veverl die Kammer betrat, öffnete sie das Fenster, das gegen den Garten ging. Dämmeriger Mondenschein lag über dem Gehänge. Ueber die hochliegenden Wiesen huschte ein Etwas dahin, das sich ansah wie ein vor dem Nachtwinde treibender Nebelstreif. Veverl aber wußte das besser – das war die Hulfrau, die zu nächtiger Zeit im grauen Nebelkleide über die Wiesen schwebt, aus ihrem Wunderkrüglein den Thau ausgießend über die durstigen Gräser und Blumen.

Veverl begann sich zu entkleiden; dann knieete sie vor dem Jesuschreine nieder und verharrte lange in stillem Gebete.

Schon wollte sie sich zur Ruhe legen, als sie ganz erschrocken vor sich hinflüsterte: „Ja, wie ich nur so ’was hab’ vergessen können!“

In dem kurzen, dünnen Röckchen und barfuß, wie sie war, eilte sie aus der Kammer und hinunter in die Küche. Als sie wieder zurückkehrte, trug sie eine Schale mit Milch und ein weißes Brot in Händen. Sie schritt an ihrer Kammer vorüber und öffnete eine Thür.

Nun stand sie in Hanni’s Stube. Matt erleuchtete das flackernde Wachslicht in ihren Händen die mit mannigfachen Schnitzereien geschmückten Wände und Schränke, den Schreibtisch mit seinem Bücherregale, das weißverhangene Bett und das Klavier, an welchem der Deckel geöffnet und das Pult mit Noten bestellt war, als hätte eben erst die Spielerin den Stuhl verlassen.

Veverl stellte, was sie in Händen trug, auf den Tisch nieder. Dann öffnete sie die beiden Fenster. Als sie zum Tische zurückkehren wollte, war es ihr, als hätte eine dünne, lispelnde Stimme ihren Namen gerufen. Lauschend stand sie, unter tiefen Athemzügen, und blickte hinaus in das dunkle Gezweig der Kastanie, die ihre Aeste hoch empor über das eine Fenster recte. Sie hörte nichts mehr; die kühle Nachtluft nur durchstrich mit sanftem Hauche die Stube. Nun griff sie nach dem brennenden Wachse und da huschte ein Etwas mit summendem Schwirren um ihr Haupt; erschrocken hob sie die Augen; doch gewahrte sie nichts. im gleichen Augenblicke aber ging ein raschelndes Klingen durch die Saiten des Klaviers.

„Alle guten Geister loben Gott den Herrn!“ flüsterte das Mädchen, die Stirn bekreuzend; die Stimme bebte ihr nicht bei diesen Worten; ihre Augen leuchteten, und wie ein glückliches Lächeln lag es auf ihren Lippen, während sie innig und leise vor sich nieder raunte:

„Arme Seel’, thu’ Dich speisen,
Arme Seel’, thu’ Dich tränken,
Dein’ Reis’ is lang,
Dein Weg is drang,
Unser Herrgott soll Dich führen in Gnad’
Und Dir sein ewig’s Leben schenken.“

Nun trug sie die Schale mit der Milch und das weiße Brot nach dem Fenstergesimse, warf noch einen Blick hinaus in das dunkle Gezweig und verließ die Stube.

Als sie die Thür hinter sich abschloß, tönte rascher Hufschlag an ihr Ohr. Sie eilte an das Flurfenster und sah die dunkle Gestalt eines Reiters auf der Straße vorüberfliegen. Wer war dieser Reiter? Vielleicht der Billwizschneider? Aber nein – der waizt ja nur zur Zeit der Kornreife, reitet auch nicht auf einem Pferde, sondern auf einem schwarzen Bocke – und dann, es kann ihn ja nur Jener erblicken, der einen verwachsenen Maulwurfshügel auf dem Kopfe trägt. Wer war dieser Reiter? Vielleicht der wilde Jäger? Aber nein – der treibt ja nur in den Freinächten seine gespenstige Hatz, und niemals allein, immer begleitet von dem johlenden, tobenden Gejaide.

Wer war dieser Reiter? Lange noch, als Vevert schon in den Kissen lag, hielt diese Frage ihre Augen wach.

Als sie entschlief, träumte sie, die arme Seele der Hannibas’ säße vor ihrem Bette, das Milchschüsselchen im Schoße, das weiße Brot in den durchsichtigen Händen; sie hatte so traurige Augen und sieben blutige Wundmale auf der Brust; als sie gegessen und getrunken, erhob sie sich und beugte sich über das Lager, um das Mädchen zu küssen, ein eisiger Hauch entströmte dabei ihren bleichen Todtenlippen.

Darüber erwachte Veverl und immer noch spürte sie jenen kalten Hauch auf ihren glühenden Wangen; es war die Nachtluft, welche durch das offene, vom Mondschein hell erleuchtete Fenster strich.

Schon wollte sie wieder die Augen schließen, als dicht unter ihrem Fenster der Hofhund heftig anschlug. Veverl meinte zu hören, wie eine leise, fremde Stimme den Namen des Hundes rief und da verstummte jählings das laute Gebell und wurde zu freudigem Gewinsel. Veverl wollte sich erheben, um aus dem Fenster zu blicken – nun plötzlich aber vernahm sie ein Knistern und Rascheln, das an der Mauer emporzusteigen und dem Fenster sich zu nähern schien – und jetzt – das Mädchen erstarrte vor Angst und Schreck – jetzt tauchte im mondhellen Fenster eine Soldatenmütze empor, ein Kopf mit einem leichenblassen Gesichte, Schultern und Arme rückten nach, und zwei Kniee hoben sich auf das Gesimse. Lautlos zwängte sich der Bursche durch das enge Fenster und ließ sich niedergleiten auf die Dielen. Von dem Soldatenkleide, das die schlank und hochgewachsene Gestalt verhüllte, hingen die Fetzen, und unter dem offenen Rocke hervor starrte die nackte Brust durch das zerschlissene Hemd.

Vergebens rang das Mädchen in seiner Angst nach Athem und Worten; ihre Glieder versagten den Dienst, und es war ein Fühlen in ihr, als wäre das Blut ihr zu Eis geronnen. Doch als die Gestalt sich nun vom Fenster löste und dem Lager sich nähern zu wollen schien, brach die gesteigerte Angst den Bann, der das Mädchen gefesselt hielt – und unter dem gellenden Aufschrei: „Räuber – Räuber!“ sprang es aus den Kissen, die nackten Arme wie zum Schutze emporschlagend über das Haupt.

Erschrocken fuhr der Bursche in sich zusammen, wie vor einem Ungeahnten, Unerwarteten. „Ja – was is denn – um Gotteswillen Deandl – ich bitt’ Dich – sei stad, sei stad!“ stammelte er mit heiser bebender Stimme und haschte die Arme des Mädchens, das unter schrillenden Hilferufen der Thür zuflüchten wollte.

Veverl’s Schreie erstickten unter der Hand, die sich auf ihre Lippen preßte, und ihre ringenden Kräfte erlahmten unter dem starren Drucke des Armes, mit dem der Bursche den zarten, zitternden Körper des Mädchens an seine Brust geschlungen hielt.

Die Sinne drohten ihr zu vergehen – aber neu erwachten ihr plöglich die Kräfte, als sie die Schritte vernahm, welche draußen über die Treppe empor gehastet kamen. Es gelang ihr, das Gesicht frei zu ringen, und gellend schrie sie auf: „Hilf – Jörgenvetter – hilf — hilf —“

An der Thür knirschte die Klinke – aber es war ja von innen der Riegel vorgeschoben; doch unter wuchtigem Drucke klirrte das Eisen auf die Dielen, und Jörg erschien über der Schwelle, umzittert von dem Scheine des Lichtes, das draußen auf der obersten Treppenstufe stand.

Da gaben die Arme des Burschen das Mädchen frei, das zitternd in eine Ecke flüchtete, bangend vor dem Kampfe auf Leben und Tod, der ihrem Fürchten nach ja nun beginnen mußte – [739] und da wußte sie sich kaum zu fassen und meinte zu träumen, als sie gewahrte, was geschah.

„Jörg – Jörg!“ stammelte der Bursche und streckte die Hände dem Finkenbauer entgegen, der mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuwankte, unter den schluchzenden Worten: „Ferdl – mein Bua – mein armer Bua!“

So sanken sich die Beiden Brust an Brust und hielten sich weinend umschlungen.

Endlich wieder richtete sich Jörg empor, mit zitternder Hand die Augen trocknend. „Komm, komm – komm, Ferdl – komm!“ hastete es über seine Lippen, während er den Bruder mit sich hinauszog über die Schwelle.

Langsam fiel die Thür hinter ihnen zu.

„Jörg – wie kommt das Deandl in mein’ Kammer?“ hörte Veverl den Burschen mit erregter, stockender Stimme fragen. „Wer is das Deandl?“

„’s Veverl – von der ich Dir ja g’schrieben hab’ – ’s Bruderkind von meiner Mariann’. Aber – aber – Ferdl – um Gotteswillen – wie schaust denn aus – wie schaust denn aus?“

„Wie ich halt ausschaun kann – an Tag und zwei Nächt’ – auf solche Weg’, daß mich kein Menschenaug’ net hat dersehen können – g’rad aus über alle Berg, o mein, Jörg – Du weißt noch net Alles – Du weißt net –“

Die Stimme erlosch unter dem dumpfen Halle der über die Treppe niedersteigenden Tritte.

Eine Thür noch hörte Veverl gehen – dann vernahm sie nichts mehr, als nur noch ihre eigenen fliegenden Athemzüge und das hämmernde Pochen ihres geängstigten Herzens.

Noch immer kauerte sie auf den Dielen. Wirre Gedanken kreuzten sich in ihrem Kopfe. Kein Räuber also, kein Einbrecher war das gewesen, sondern der Bruder, der Stolz und die Freude des Jörgenvetter, der Ferdl, den sie wohl in ihrem Leben noch nie gesehen, von dem sie aber seit ihrer Ankunft auf dem Finkenhofe alltäglich hatte sprechen hören und immer in einer Weise, welche gar manchmal die Bäuerin in scherzender Eifersucht hatte beifügen lassen: „Ja – der Ferdl! wenn der kommt, da is aus mit ’m Bauern, da gelten wir Alle mit einander nix mehr!“

Weßhalb nun war er nicht am Tage gekommen, auf offener Straße? Weßhalb in der Nacht – weßhalb durch das Fenster wie ein Dieb oder – oder wie ein Flüchtling? Was hatte er zu fürchten, daß er Wege gehen mußte, auf denen ihn „kein Menschenaug’ net dersehen“ konnte? Was konnte Ferdl verbrochen haben, für den doch, wenn auf ihn im Finkenhofe die Rede kam, das beste Wort nicht gut genug schien? Oder war sein Gebahren nur ein Ausfluß der Verstörtheit, die ja der Tod der geliebten Schwester über ihn gebracht haben mußte? – denn mit diesem jähen Tode, da war etwas nicht in der Ordnung – das hatte das „Kerzengericht“ verrathen – und vielleicht wußte Ferdl um Alles, was da nicht in der Ordnung war, vielleicht hatte er selbst eine Rolle mitgespielt in dieser traurigen Geschichte!

Bei diesen Gedanken suchte sich Veverl auf die Züge des Burschen zu besinnen – aber sie hatte nur eine verschwommene Erinnerung an das blasse Gesicht, dem die Stoppeln des dunklen Bartes ein so verwildertes Aussehen gegeben und das ihr überdies in ihrer Angst und Verzweiflung wie ein entsetzenerregendes Schreckbild erschienen war. Und in Wahrheit hatte er doch gewiß ein gutes, freundliches Gesicht – das wußte sie sich nun gar nicht anders zu denken. Wie thöricht war ihre Angst gewesen! Er war ja wohl ebenso sehr vor ihr erschrocken, wie sie vor ihm. Er hatte ja nicht wissen können, wen er in der Kammer vorfinden würde – in seiner Kammer. Da war ja in Wirklichkeit nicht er der Eindringling, sondern sie selbst. Und dennoch war kein rauhes Wort über seine Lippen gekommen – und wohl mit unwiderstehlicher Kraft, doch nicht mit roher Gewalt war es geschehen, als er sie gehascht hatte, um sie an seiner Brust gefangen zu halten.

Und da schlug sie jählings die beiden Hände vor das Antlitz und brach in heftig erströmendes Schluchzen aus.

Lange, lange währte es, bis ihre Thränen versiegten. Sie richtete sich empor und begann sich anzukleiden – und sie wußte kaum, daß sie es that, noch weßhalb sie es that.

Als sie angekleidet war, stand sie lange inmitten der Kammer, vor sich nieder starrend, die Hände auf das pochende Herz gepreßt.

Nun horchte sie auf; aus der Stube herauf hörte sie wie dumpfes Murmeln die wechselnden Stimmen der beiden Brüder – im gleichen Augenblicke aber stieg es ihr heiß in die Wangen: sie lauschte! Hastig wollte sie die halb offene Thür schließen – aber der Riegel war ja abgesprengt.

Zitternd am ganzen Leibe setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes.

Vom Hofe herauf tönte das Heulen und Bellen des Hundes, der unablässig mit den Pfoten an der Hausthür scharrte und kratzte – und nun hörte das Mädchen, wie Jörg in den Flur trat, um das ungeduldige Thier einzulassen, das mit freudigem Gewinsel in die Stube sprang. Sie hörte, wie der Vetter das Haus verließ – und ein Geräusch verrieth ihr, daß er vor den Stubenfenstern die Läden schloß. Eine stumme Weile verstrich – dann wieder ließen sich die Schritte des Bauern vernehmen, der ab und zu ging in Küche und Keller.

Nun schrak das Mädchen in sich zusammen – aber nein, das waren ja nicht die Schritte des Anderen, das waren die Tritte des Bauern, die da über die Treppe empor geeilt kamen.

Jörg trat ein — ohne Licht; er schien sich einem der Schränke nähern zu wollen; plötzlich aber ging er auf das Mädchen zu – und Veverl fühlte, wie die Hand zitterte, die sich schwer auf ihre Schulter legte.

„Arms Deandl – gelt – bist recht derschrocken!“ hörte sie ihn sagen – und hätte Veverl den Jörgenvetter nicht so genau erkannt, sie hätte glauben müssen, ein Fremder stünde vor ihr, so verändert und tonlos klang diese Stimme. „Aber gelt – Veverl – gelt – mußt ja nix Args net denken – weißt – Unglück is Alles – Unglück – Unglück! Und schau – Veverl – bei Deiner Lieb’ zu Dei’m seligen Vaterl ― verrath’ kei’m Menschen ’was von Dem, was derlebt hast – heut’ in der Nacht. Du – Du darfst mein’ Ferdl net g’sehen haben – mit kei’m Aug’ net – gelt – gelt, Du verstehst mich schon.“

Der grenzenlose, unsagbare Jammer, der aus dieser gebrochenen Stimme sprach, that ihr in tiefster Seele weh. Sie vermochte keine Antwort zu geben – sie nickte und nickte nur immer mit dem Kopfe.

Jetzt wandte sich Jörg dem Schranke zu, riß ihn auf mit ungeduldigen Händen, belud seinen Arm mit verschiedenen Kleidungsstücken, und taumelnd wie ein Trunkener verließ er die Kammer.

Veverl saß auf dem Bette; es lag über ihr wie eine Lähmung; sie hatte keine Gedanken mehr; sie weinte nur.

Ob es Minuten, ob es Stunden waren, die ihr so verstrichen, sie wußte es nicht – es war ihr nur plötzlich, als hätte sie Tritte über den Kiesweg knirschen hören, der unter ihrem Fenster vorüber führte. Unwillkürlich sprang sie auf, um die noch immer offen stehenden Scheiben zu schließen – und da hörte sie unter sich eine flüsternde Stimme:

„Er ischt drin – er ischt drin –“

Ein einziges Mal erst hatte sie diese Stimme gehört, und dennoch errieth sie ohne Mühe den Sprecher. Eine Sekunde nur stand sie in zitterndem Schreck, dann huschte sie aus der Kammer. Pochenden Herzens verhielt sie vor der Stubenthür den Fuß. Schluchzende Worte schlugen von da drinnen an ihr Ohr.

„– – und wenn mir zehnmal sagst: ich versteh’s, ich versteh’s, und mir wär’s auch net anders ’gangen – es is ja doch so fürchtig, so fürchtig, a Menschenleben auf sei’m G’wissen z’ haben – und er g’rad – er – dem ich so gut war von ganzem Herzen! Aber es is über mich ’kommen, daß ich net g’wußt hab’, wie – und erst, wie er dag’legen is vor mir, übergossen von Blut –“

Mit schaudernden Sinnen drückte Veverl die Klinke nieder und wankte in die Stube. Sie wagte die Augen nicht zu erheben; zitternd stand sie, das Kinn auf der Brust, und sprach in stammelnden Worten von der flüsternden Stimme, welche sie gehört.

„Jesus Maria!“ stöhnte der Bauer. „Ferdl – Ferdl – fort – fort aus ’m Haus – da – da is der Rucksack – Alles is drin – Geld, G’wand und Essen – verhalt’ Dich an kei’m Platzl net – morgen am Abend mußt über der Grenz’ sein – fort – fort – in die hintere Stuben – und durch d’ Milchkammer ’naus –“

[740] Röthe und Blässe wechselten auf Veverl’s Wangen; sie brachte die Augen nicht von den Dielen los; sie hörte nur, wie er hinter dem Tische hervorsprang – jener Andere – wie er nahm, was der Jörgenvetter ihm reichte – wie er sich dem Bruder an den Hals warf und wie er schluchzte: „Jörg – Jörg – b’hüt Dich Gott, mein Jörg – bet’ Du für mich an unsrer Hanni ihrem Grab – und – der liebe Herrgott soll uns a Wiederfinden geben!“

„Fort – fort – fort – fort –“ das war das einzige Wort, welches Jörg noch über die Lippen brachte. Mit beiden Armen schob er den Bruder der Thür zu; nun kamen sie an Veverl vorüber, die das thränenüberströmte Gesicht verborgen hielt in den zitternden Händen; sie sah es nicht, sie fühlte es nur, wie jener Andere vor ihr die Schritte verhielt, als wollte er zu ihr sprechen – aber nur das stammelnde „Fort, Ferdl – fort – fort –“ des Bauern bekam sie zu hören, der den Bruder mit sich hinausriß über die Schwelle, während der Hund mit unruhigem Gewinsel ihnen voraussprang in den finsteren Flur.

Die Schritte verstummten – dann herrschte Stille, und nur der träge, schläfrige Pendelschlag der Wanduhr war noch zu hören.

Veverl wollte sich der Holzbank nähern; aufkreischend aber fuhr sie zurück. Unter schweren Faustschlägen dröhnte der Fensterladen, die Stimme fast übertönend, die draußen im Hofe den Namen des Bauern rief.

Mit angstvollen Augen starrte das Mädchen um sich; da sah es den Jörgenvetter lautlos unter der Thür erscheinen: mit beiden Armen stützte er sich an die Balken, seine Augen glühten, und fahle Blässe deckte sein Gesicht; er schien es nicht zu hören, als am Fenster die hallenden Schläge sich wiederholten; den Kopf über die Schulter zurückgeneigt, lauschte er der Tiefe des Hauses zu; jetzt flog ein Zucken über seine Mienen, und ein lang anhaltender Athemzug schwellte seine Brust.

Zum dritten Male dröhnte der Fensterladen unter rascheren, heftigeren Schlägen.

Straff richtete Jörg sich empor und trat in die Mitte der Stube.

„Was giebt’s da draußen – wer will was von mir – jetzt in der Nacht?“

Vor dem Fenster wurde ein kurzes Wispern hörbar, dann ließ eine fremde, scharfklingende Stimme sich vernehmen. „Georg Fink – im Namen des Gesetzes – öffnen Sie die Thür!“

Jörg nahm die Lampe vom Tische – ihre gläserne Glocke klirrte, so zitterte seine Hand – und verließ die Stube.

Veverl wollte sich im Finstern der Bank entgegentasten, doch ehe sie dieselbe noch erreichte, sank sie schluchzend auf die Kniee. Draußen rasselte der Riegel, die Thür knarrte – und dann hörte das Mädchen den Jörgenvetter sagen:

„Die Thür’ is offen – aber – aber eh’ daß wer an Fuß über mein’ Schwellen setzt, möcht’ ich wissen, was das alles zum bedeuten hat? Was hat a Schandarm in der Nachtzeit zum suchen in mei’m Haus?“

„Nix für ungut, Finkenbauer, nix für ungut,“ klang die sprudelnde Stimme des Kommandanten.

„Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ wurde Herr Wimmer von jener fremden, scharf und ungeduldig klingenden Stimme unterbrochen. „Georg Fink, ich fordere Sie auf, mir anzugeben, was Ihnen über den gegenwärtigen Aufenthalt des Unterofficiers Ferdinand Fink bekannt ist, der sich vor zwei Tagen widerrechtlich –“

Die Stimme verstummte, als lausche derjenige, der da sprach, dem heiser kläffenden Gebell, das von der Gartenseite des Hauses her plötzlich erscholl. Jetzt erlosch es mit einem stöhnenden Heulen – und gleich darauf bogen eilende Schritte um die Hausecke.

„Herr Kommandant, hab’ zu melden –“ schlugen keuchende Worte an Veverl’s Ohr, „drin is er g’wesen, drin im Haus – und durch’n Garten hat er fort wollen – ich hab’ ihn g’nau derkennt, an der Uniform, an der ich die Knöpf’ hab’ blitzen sehen – aber wie ich ihm nach will, fallt das Hundsvieh über mich her – und natürlich, bis ich mir da Luft g’schafft hab’ –“

Ein dumpfer Schlag, dem ein schmetterndes Klirren folgte, übertönte die Stimme und die enteilenden Tritte der Gendarmen.

Jammernd stürzte Veverl hinaus. in den jählings verfinsterten Flur und fand den Bauer neben der zerschellten Lampe wie leblos hingestreckt über die Steine. Während sie sich an seiner Seite niederwarf, füllte sich die Thür mit den herbeieilenden Mägden und Knechten; Emmerenz erschien mit einem Lichte; allen andern voraus aber drängte sich Dori:

„Ja was is denn – um aller Heiligen willen – Veverl – es wird doch Dir nix g’schehen sein?“

„Hilf, Dori, hilf, hilf – da schau – der Jörgenvetter –“ schlnchzte das Madchen.

Draußen vor der Thür aber ließ sich Valtl’s Stimme vernehmen. „Sauber! Sauber! Schandarmen und Haussuchung – und a Spitzbua unterm Dach. Da kann sich der Finkenbauer jetzt sein’ Kampl[14] scheren lassen. Goldfink? Ja, schön – ‚beim Mistfink‘ soll man’s heißen auf dem Haus.“ Und mit rohem Gelächter schritt der Knecht über den Hof hinweg der Straße zu.


Still und schwarz lag noch die Nacht über dem Dorfe, nur einzelne Bergspitzen hoben sich mit mattem, fahlem Schimmer aus dem alles umhegenden Dunkel – auf jenen Höhen ruhte noch der Blick des Mondes, dessen Scheibe dem Thale längst schon hinter dem waldigen Grate der Höllenleithe entschwunden war.

Mit sachtem Rauschen zog ein kühler Wind hernieder über die finsteren Gehänge, spielte um die Erker und Thürmchen des Schlosses, machte die Wetterfahnen knarren und singen und plauderte durch die kärglich belaubten Bäume des thalwärts ziehenden Parkes, als Gidi das an die Parkmauer angebaute Jägerhaus verließ und rüstigen Schrittes durch das schlummernde Dorf dahinwanderte.

Still und dunkel lagen die Häuser, nur am Wohnhause des Finkenhofes sah Gidi hellen Lichtschein durch die herzförmigen Ausschnitte der Fensterläden dringen.

Er frug sich, was wohl die Leute da drinnen so früh schon aus den Federn getrieben haben konnte, denn er wußte noch nicht, wem am verwichenen Abende der Ton der Todtenglocke gegolten hatte.

Lange hingen seine Blicke an dem dunklen Gesindehause, und besonders lange an einem kleinen, eng vergitterten Fenster des oberen Stockes.

„Ah ja!“ seufzte er endlich und dachte dabei an einen gewissen Morgen des verwichenen Frühjahrs, an welchem Emmerenz kurze Wochen nach ihrem Eintritt auf dem Finkenhofe die Bründlalm auf dem Höllberge bezogen hatte. Er wandte sich wieder der Straße zu, die er bald verließ, um dem über die steilen Wiesen der Höhe des Bründlkopfes zuführenden Steige zu folgen.

Mit eilenden Schritten suchte er die vor dem Finkenhofe versäumten Minuten einzuholen. Als er das Gehölz erreichte, wurde sein Gang wieder sachter und beinah lautlos sein Schritt. Er lüftete die Joppe und öffnete das Hemd; in langen, ruhigen Zügen ging sein Athem, während er zwischen Büschen und Bäumen den finsteren Weg emporstieg, auf dem nur ab und zu eine blanke Felsplatte das Dunkel mit mattem Weiß durchschimmerte. Gidi’s Augen und Gedanken eilten seinen Schritten voraus, denn sie brauchten sich um den Weg nicht zu kümmern, der lag ihm schon in den Füßen.

An die zwei Stunden stieg er so empor. Ueber ihm begannen die Sterne zu erblassen, ein mattes Dämmern erwachte unter den Bäumen, und von Osten her blickte der Himmel schon mit fahlem Grau durch das Gezweig, in welchem sich bereits vereinzelte Vogelstimmen schüchtern vernehmen ließen. Lautlos glitt der Fuß des Jägers über das Moos, die zerstreut liegenden Steine und Reiser achtsam vermeidend und oft in weitem Bogen die grauen, von Tannennadeln übersäten Schneeflächen umgehend, die unter dichter stehenden Bäumen ein spätes Dasein fristeten.

Ab und zu verhielt der Jäger die Schritte und lauschte lange Minuten bergwärts. Dann stieg er weiter – blieb wieder stehen – und endlich hörte er, was er zu hören hoffte: jenes matt und hölzern klingende Klippklipp, das kein rechter Jäger mit ruhigem Herzschlag vernimmt.

Eine Strecke von etwa fünfzig Schritten birschte Gidi noch unter den Bäumen dahin, dann begann er „den Hahn anzuspringen“. Regungslos wie eine Säule stand er, so lange der Auerhahn schwieg und so lange das Klippen währte, das nun schon näher klang und anzuhören war wie helle, rascher und rascher werdende Zungenschläge, doch wenn das Klippen mit dem „Hauptschlag“ überleitete in das „Rodeln“ und „Schleifen“ – in diesen seltsamen, aus Fauchen, Wispern, Blasen, Pfeifen und Gurgeln [741] gemischten Liebesgesang, während dessen der sonst so wachsame Auerhahn blind und taub ist für alles, was in seiner Nähe vorgeht – dann suchte sich Gidi mit drei oder vier hastig ausgeführten Sprüngen dem Baume zu nähern, auf dem er den Hahn vermuthete – und laut- und regungslos stand er wieder, ehe das Schleifen noch völlig zu Ende war. Einige Sekunden verstrichen, dann begann der Hahn sein „G’setzl“ aufs neue, und wieder sprang der Jäger. So wiederholte sich das vielleicht ein Dutzendmal. Als Gidi dem Standort des Hahnes sich so weit genähert hatte, daß er den „Falzgesang“ bis auf den leisesten Ton genau vernehmen konnte, ließ er mehrere Gesetzlein vorübergehen, ohne sich vom Platze zu rühren.

„Das ist der alte Hahn net – das is er net,“ raunte er vor sich hin und spähte mit vorgerecktem Kopfe durch das Gezweig der nahe stehenden Bäume.

Da sah er plötzlich den Hahn auf einem Aste einer noch laublosen Buche stehen. Scharf hob sich der mächtige schwarze Vogel von dem morgenblassen Himmel ab. Gidi’s scharfe Blicke unterschieden trotz der Dämmerung die weißen „Schilder“ und hinter dem rührsamen Hackenschnabel den Schimmer der grellrothen Augenbogen. Der Hahn falzte und schnackelte, daß es eine Freude war – ein „G’sangl“ um das andere, fast ohne abzusetzen – und dabei tanzte er so lustig auf seinem Aste hin und her, duckte und streckte sich, reckte und blähte den Hals, an dem sich die spitzen Federchen gleich Stacheln sträubten, spreizte und schloß die Schwingen und „radelte“ und fächerte den „Stoß“, daß es nur so klapperte.

„Ich hab’s ja g’sagt – a junger Hahn is,“ murmelte Gidi, als er die breiten weißen Sprenkeln der Stoßfedern zu erkennen vermeinte. „Da hat er ihn richtig g’holt, den alten Hahn, der Tropf, der miserablig! Aber wart’ – dem leg’ ich ’s Handwerk noch!“

Da fuhr der Jäger lauschend auf; es war ihm gewesen, als hätte er ein Reis knacken hören wie unter einem Tritte – und er konnte sich nicht getäuscht haben, denn der Hahn, der eben mit Klipp und Klipp ein neues Gesetzlein beginnen wollte, ließ plötzlich sein Falzlied verstummen und strich mit rauschendem Schwingenschlage thalwärts durch die Bäume.

Hastig wandte sich Gidi der Richtung zu, aus welcher jenes Geräusch gekommen war, und sah aus einem nahen Tannendickicht den in der Dämmerung matt blinkenden Lauf einer Flinte gegen seine Brust gerichtet.

„Wer da?“ rief eine rauhe Stimme; Gidi aber hörte diese Worte nicht – einen kurzen Pfiff nur stieß er aus, während er mit raschem Sprunge hinter einem Baume Deckung suchte – und schon lag ihm die Büchse im Anschlag an der Wange.

„G’wehr nieder, sag’ ich – oder es schnallt!“ so klang sein drohender Anruf.

Dort im Gebüsche senkte sich die Flinte, und Gidi hörte eine wohlbekannte Stimme flüstern: „Das ischt er ja net – das ischt er ja net – das ischt ja der Grafenjäger!“

„Jeh – da schau!“ murmelte Gidi und ließ die Büchse sinken.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 46, S. 753–760

[753] Zwei dunkle Gestalten lösten sich aus dem Dickicht: Herr Simon Wimmer in Begleitung eines der beiden Ortsgendarmen.

„Was is denn jetzt das für an Art?“ lachte Gidi. „Meint’s ’leicht, ich bin a Scheiben für Eure ärarialischen Schießprügel? Was habt’s denn zum suchen da, Ihr zwei miteinander?“

„Nichts für ungut, Herr Eberl, nix für ungut,“ stammelte der Kommandant unter Pusten und Schnauben „bei derer Dunkelheit ischt a Verkennung älleweil a mögliche Sach’. Aber Sie dürfen mir’s glauben, es ischt für uns selber kein Spaß –“ Seine Stimme erstickte unter den Falten des ungeheueren Taschentuches, mit dem er an Hals und Wangen den rinnenden Schweiß zu trocknen suchte, während sein Begleiter sich an den Jäger mit der Frage wandte, ob der Steig schon gangbar wäre, der über die Bründlalm und den Grat der Höllenleithe nach dem Grenzpasse führe und von dort zurück gegen den Hochgraben der Höllbachklamm.

„Mein, gangbar is er schon, der Steig,“ erwiderte Gidi, „aber, wenn man fragen darf, was wollts denn eigentlich droben beim Grenzpaß? Habts ’leicht an Schwärzer auf der Muck’?“

„O,“ jammerte der Kommandant, „lieber möcht’ ich auf a ganze Schmugglerbande streifen, als auf den einen einzigen, der da zum suchen ischt. Da hab’ ich mich gestern noch so drüber g’freut, daß ich mich so gut steh’ mit dem Finkenbauer, und jetzt müssen wir streifen auf sein’ Bruder, auf den Ferdinand Fink, der von sei’m Regiment desertirt ischt und auch sonst noch in ei’m gar fürchtigen Verdacht steht – –“

„Der Ferdl – und desertirt!“ fuhr Gidi erschrocken auf. „Na, na, na – das is net wahr – das glaub’ ich net!“

„Und doch ischt die Sach’ net anderscht – leider Gottes!“ jammerte Herr Wimmer, und schon wollte er einen ausführlichen Bericht der Vorgänge beginnen, die sich während der verwichenen Nacht auf der Schwelle des Finkenhofes abgespielt hatten, als ihn ein schrillender Pfiff seines Begleiters zur Eile mahnte.

Gidi hörte die Worte nicht mehr, mit denen der Kommandant ihn zum Abschied übersprudelte. Er stand in Gedanken und starrte hinaus in die Dämmerung, und als er endlich auffuhr, eine Frage auf den Lippen, sah er sich allein. Nur noch ein leises Knirschen und Rascheln über ihm in der Höhe des Waldes verrieth ihm die Richtung, welche die Beiden genommen. Er stieß den Bergstock in das Moos und ließ sich auf einen Baumstrunk nieder.

„Der Ferdl – und desertirt! Ich kann’s net fassen – ich kann’s net fassen !“

Und nun erst jenes andere Wort, das der Kommandant gesprochen! Welcher Art mochte jener „fürchtige Verdacht“ sein, der auf Ferdl lasten sollte? Aber ein Verdacht ist noch keine Thatsache – ein Verdacht kann falsch sein und ungerechtfertigt, muß es sein gegenüber einem Menschen von Ferdl’s Art und Wesen. Aber ein Mensch ist doch immer [754] nur ein Mensch – und es können Stunden kommen, in denen man seiner selbst vergißt. War eine solche Stunde auch für Ferdl gekommen? Und wenn es so war, zu welch einem Entsetzlichen mußte sie ihn verführt haben, da ihn die Furcht vor der Strafe, oder auch nur die Reue und das Grausen über so entsetzliche That zu solcher Flucht verleiten konnte, die zum Unrecht neues Unrecht fügte!

Und wieder versank der Jäger in stummes Brüten.

Rings um ihn erwachte mählich der Tag. Rothes Licht übergoß den Himmel und fluthete durch den Bergwald, um wieder zu erblassen vor den lichtsprühenden Strahlen, die von Osten her emporschossen über das Firmament, das schneebedeckte Felsenhaupt, hinter welchem die Sonne hervortauchte, sah sich an, als trüg’ es eine Riesenkrone von weißglühendem Erze.

Ein blendendes Leuchten und Flimmern webte durch das Gezweig der Bäume und über den Moosgrund, auf dem die Thautropfen in bunten Farben funkelten.

Da plötzlich klang von ferner Felsenhöhe hernieder ein dumpfes Brummen und Knattern.

Gidi fuhr empor und riß den Bergstock aus dem Moose.

Dort oben mußte über eine der steilen Wände eine Schnee- oder Steinlawine niedergegangen sein. Wer mochte sie gelöst haben? Eine flüchtende Gemse – oder – –

Heiß schoß dem Jäger das Blut in die Stirn! Daß ihm aber auch jetzt erst dieser Gedanke kam! War es nicht sein Freund, der da umherirrte im Bergwald oder zwischen Felsen – und wenn er des Schutzes bedurfte, mußte er ihn nicht zuerst beim Freunde suchen?

Gidi stürzte über den Hang dahin, daß unter seinen Schuhen die Steine klapperten und flogen. Auf und nieder über Buckeln und Gräben führte sein Weg, aus dem Bergwald hinaus über die Weidelichtung der Bründlalm, und wieder dahin unter ragenden Tannen, dem Höllbachgraben zu, daraus ihm von Ferne schon das Brausen und Tosen der wilden Gewässer entgegendröhnte. Jetzt erreichte er die Schlucht – ein Baumstamm war als Steg über den schwarz und bodenlos gähnenden Abgrund geworfen – Gidi eilte darüber hinweg, als wär’ es breite Straße.

Keuchend und triefend von Schweiß erreichte er die aus behauenen Blöcken gefügte Jagdhütte. Sie stand auf einem grasigen Hügel, überschattet von riesigen, moosbehangenen Lärchen.

Erschäpft lehnte sich Gidi an die Hüttenwand, verhielt den Athem und lauschte zur Höhe. Er vernahm nur das Rauschen der Bäume und das dumpfe Donnern des Höllbaches.

Nun schloß er die aus dicken Bohlen gebildete Thür auf und trat durch den Küchenraum in die Stube. Er legte Büchse und Rucksack ab, dann öffnete er die beiden kleinen, mit starken Eisenstäben vergitterten Fenster und stieß die Läden auf. Grelles Sonnenlicht erhellte den mit Brettern verschalten Raum, dessen Einrichtung aus Tisch und Bänken, einem Wandschranke und einem Geschirr-Rahmen, einem kleinen eisernen Ofen und einem mit wollenen Kotzen überdeckten Bette bestand.

Mit zerstreuten Blicken irrten Gidi’s Augen über die Wände, mechanisch rührte er die Klinke der versperrten Thür, die zu der anstoßenden „Grafenstube“ führte. Dann ließ er sich auf die Holzbank niedersinken; doch schon nach wenigen Sekunden sprang er wieder auf, eilte ins Freie und setzte sich auf die Schwelle nieder. Mit funkelnden Augen starrte er eine Weile empor zu den felsigem schneebedeckten Höhen; er zog das Fernrohr auf und suchte mit ihm die steilen Hänge und den Grat der Höllenleithe ab. Seufzend ließ er das Glas wieder sinken und verfiel in das alte Aufstarren zur Höhe. Plötzlich fuhr er zusammen. „Was is denn jetzt – das kann doch kein Gams net sein!“

Hastig riß er das Fernrohr vor das Auge und richtete es nach dem schwarzen beweglichen Pünktchen, das er hoch zwischen klotzigen Felsen auf dem steilen schneebedeckten Hange wahrgenommen hatte.

„Ja, ja – Jesus Maria – der Ferdl is – und – mein Gott, mein Gott – g’rad in d’ Händ’ muß er ihnen laufen, wenn er aufsteigt über’n Grat.“

Zitternd sprang Gidi empor, stürzte in die Stube, riß die Büchse an sich, stürmte wieder ins Freie und schmetterte hinter sich die Thür ins Schloß.

Er eilte den steilen Berghang empor, als hätte er ebenen Grund unter sich. Noch ehe der Bergwald zu Ende ging, begann der Schnee, der sich in dicken Klumpen an Gidi’s Schuhe heftete.

Jetzt erreichte er eine offene, von Felsentrümmern übersäete Fläche. Da verhielt er die Schritte und starrte zur Höhe. Nun konnte er schon mit freiem Auge die Gestalt des Freundes unterscheiden, den nur noch eine kurze Strecke vom Grate der Höllenleithe trennte.

„No also – no also – ich hab’ mir ’s ja denkt!“ stammelte Gidi, denn der gleiche Blick, der ihm den Freund gezeigt, hatte ihn auch die scharf vom lichten Himmel sich abhebende Gestalt gewahren lassen, welche vom jenseitigen Berghang über den Grat emportauchte.

Mit zitternder Hand brachte Gidi aus seiner Tasche ein Stückchen Birkenbast hervor – das führte er an die Lippen – und nun schrillte von seinem Munde ein Laut in die Lüfte, der dem gellenden Schrei des Habichts glich. Dreimal wiederholte er dieses Warnungszeichen. Das mußte Ferdl hören und mußte sich dabei an frühere Zeiten erinnern, in denen sich gar häufig die beiden Freunde mit diesem Ruf im Bergwald gesucht und gefunden hatten.

Noch gellte der dritte Schrei auf Gidi’s Lippen – da sah der Jäger, wie Ferdl im Anstieg plötzlich innehielt und in rasender Flucht sich thalwärts wandte. Gidi’s Warnungsruf konnte noch nicht bis in jene Höhe gedrungen sein – Ferdl selbst mußte die Gefahr gewahrt haben, die über ihm drohte. Doch auch der Verfolger mußte von der Höhe des Grates aus den Flüchtling erblickt und erkannt haben, denn in fliegender Eile stürmte er über den steilen Hang hernieder der Stelle zu, von welcher aus die Fährte im Schnee ihm den Weg verrathen mußte, den Ferdl genommen. Gidi meinte in dem Verfolger den Begleiter des Kommandanten zu erkennen – und er sah ihn allein – Niemand folgte ihm. Hatten die mühsamen Pfade jenseit des Grates den Kommandanten hinter seinem Begleiter zurückbleiben lassen – oder war er überhaupt nicht emporgestiegen zum Grate, sondern andere Wege gegangen?

Gidi nahm sich die Zeit nicht, diese seine stumme Frage zu beantworten. Er zwängte sich zwischen Felsenblöcken hindurch, wand sich über Geröll und klotziges Gestein und eilte dem Rande der Höllbachklamm entgegen. Immer dem Abgrund folgend, mühte er sich keuchend der Höhe zu. Das Rauschen und Brausen der Gewässer, die ihm zur Seite in dunkler Tiefe ihre schäumenden Wirbel schlugen, erfaßte das Geräusch seiner Tritte. Es gehörte der schwindelfreie Blick und der sichere Fuß des Jägers dazu, um solchem Wege mit solcher Eile zu folgen, da war nirgends ein Uebergang von der offenen Höhe zur Tiefe – überall jäh abstürzendes Gestein, bald erweiterte sich die Schlucht zu riesigen Kesseln, in deren Abgrund die milchweiße Brandung kochte, bald wand und krümmte sie sich im Bogen oder im Zickzack, und da brüllte der Bach unter dem Zwange seiner engen Fesseln, sich aufbäumend an verwaschenen Felsen, bald wieder verschwand das Wasser mit dumpfem Brummen unter vorspringenden Felsgeschieben, unter schief in bodenlose Tiefe sich senkenden Wänden. Ueberall entquoll eine dunstige Kälte dem Abgrund, und dünne Nebel schwebten aus ihm empor, um unter der Sonne in Luft zu zerfließen.

Höher und höher eilte Gidi, in Angst und Sorge, ob er wohl rechtzeitig noch jene Stelle erreichen würde, an welcher der Abgrund seine Ränder so nahe an einander zieht, daß er mit einem herzhaften Sprunge zu übersetzen war. Ferdl mußte auf seiner Flucht in die Nähe jener Stelle gelangen, denn weiter drüben sperrten steilabstürzende Felsen seinen Weg, und die offene Almlichtung durfte er nicht betreten. So hoffte Gidi, daß es ihm gelingen möchte, den Freund im richtigen Augenblicke an jene Stelle zu rufen – und wenn er ihn erst an seiner Seite hatte, dann wußte er ihn schon auf Wege zu führen, auf denen kein Dritter ihnen folgen würde.

Ein Aufstieg von wenigen Minuten noch, dann mußte Gidi jene Stelle erreichen. Nur eine offene, von Geröll überdeckte Felsfläche und einen niedrigen, von Latschen und kümmernden Fichten bewachsenen Hang hatte er noch zu überwinden.

Nun erreichte er jene offene Felshöhe – und da erstarrte ihm jählings der Fuß. Auf dem jenseitigen Rande der Schlucht sah er den Kommandanten hinter einem Steinblock kauern; lauschend hielt er den Kopf erhoben und spähte über die Kante des deckenden Steines hinweg, jetzt richtete er sich hastig in geduckte Stellang empor – aus dem bergwärts ziehenden Latschendickicht [755] hallte ein lautes Rappeln, Rollen und Brechen – „Halt!“ ließ eine heiser schreiende Stimme sich vernehmen – jenes Klappern und Brechen verstummte nicht, es verstärkte sich, kam näher und näher – im Latschendickicht sah man die ragenden Gipfel und Aeste zittern, schwanken und schlagen – „Halt!“ wiederholte sich jener heisere Ruf – und nun theilten sich die Zweige, und Ferdl wankte auf das offene Gestein, keuchend und röchelnd wie ein von Hunden gehetztes Wild. Einen Augenblick verhielt er, um Athem zu schöpfen, seinen Lauf und drückte dabei die eine Faust, welche die blaue Mütze krampfhaft umschlossen hielt, auf die fliegende Brust, die andere wider die rechte Hüfte, von welcher das blutüberronnene Beinkleid niedergerissen war – dann wieder wollte er thalwärts fliehen – da aber sprang der Kommandant aus seinem Verstecke hervor und versperrte ihm den Weg.

„Ergeben S’ Ihnen in Güte, Ferdinand Fink – es giebt keinen Ausweg mehr!“

Stöhnend taumelte Ferdl zurück, starrte mit brennenden Augen um sich, sah drüben den Jäger stehen und stürzte unter gurgelndem Aufschrei mit verzweifelten Sätzen dem Rande der Höllbachschlucht entgegen.

Hinter ihm aber brach in diesem Augenblicke der Verfolger aus dem Dickicht und riß, an einem Steinblock eine Stütze suchend, mit dem dritten „Halt“ das Gewehr an die Wange.

„Jesses – net schießen!“ kreischte der Kommandant, stürzte auf den Gendarmen zu, und während er ihm das Gewehr in die Höhe schlug, daß der Schuß sich krachend in die Luft entlud, fuhr drüben über der Schlucht der Jäger aus seiner Erstarrung empor mit dem schrillenden Rufe.

„Ferdl – Ferdl – um Gotteswillen – da springt ja kein Hirsch net ummi!“

Doch die Warnung kam zu spät. Schon schnellte sich der Bursche mit hohem Satze hinaus über den Rand der Schlucht – die Verzweiflung mußte ihm die Kräfte zu solchem Sprunge gegeben haben – glücklich erreichte er auch mit den Füßen das andere Ufer, doch unter der Wucht des Anpralls brachen ihm die Kniee. Jammernd warf sich Gidi mit ausgestreckte Armen dem Freunde entgegen, doch ehe er ihn noch zu erreichen vermochte, sah er ihn taumeln, die Arme kreisend in die Luft schlagen und rückwärts niederstürzen über den Felsenbord, unter dem gellenden Aufschrei: „Jesus Maria! Grüßt’s mir mein Jörgenbruder!“

Ein dumpfer, klatschender Schlag – das Rasseln und Poltern der nachstürzenden Steine – und aus der Tiefe war nur noch das Brausen und Rauschen des Wassers zu hören, während in der Höhe der schneebedeckten Felsen mit grollendem Hall das Echo des gefallenen Schusses verrollte.

„Aus is! Aus is!“ stammelte Gidi. „Unser Herrgott sei gnädig Deiner armen Seel’.“

Er hob die zitternde Hand, bekreuzte das erblaßte Gesicht und sank auf die Kniee nieder zu stummem Gebete.


Es war um die zehnte Morgenstunde, als Gidi sich dem Finkenhofe näherte. Kaum trugen ihn noch die Füße; er ging gebückt und mit wankenden Knieen wie ein Greis. Und doch – als er den Zaun des Gehöftes erreichte, richtete er sich straff empor. Er fuhr sich mit den Händen über die Augen, denn er meinte zu träumen, da er nicht zu fassen wußte, was er gewahrte. Aber das konnte kein Traum sein – er hörte ja das summende Geflüster all der vielen Leute, die den ganzen Hofraum erfüllten und zumeist in schwarze Gewänder gekleidet waren, als hätten sie sich zu einem Leichengange gerüstet.

Zögernden Schrittes trat Gidi in den Hof, faßte den Nächsten beim Arme und frug mit bebender Stimme:

„Was is denn? Was soll denn das Alles heißen? Was hat’s denn ’geben?“

„Ja, weißt es denn Du noch net? D’ Hanni is g’storben – verunglückt im Wasser – drin in der Münchnerstadt. G’wiß wahr, ’s ganze Ort is rebellisch ’worden, wie die Botschaft um’gangen is heut’ in der Fruh. No – und a Stund’ kann’s her sein, da is d’ Finkenbäuerin ’kommen und da habn s’ auf ’m Wagen den Sarg von der Station ’bracht. Natürlich bin ich auch mit draußen g’wesen wie s’ den Sarg mit Fahn’ und Lichter an der G’mein’grenz’ abg’holt haben. Du, ich sag’ Dir’s – ganz dergriffen hätt’s Dich, wann die Bäuerin g’sehen hättst, wie’s verweint und derkeit[15] g’wesen is und wie sie sich hing’worfen hat am Bauern sein’ Hals und g’schluchzt hat: ‚O mein Jörg! O mein armer Jörg!‘ Und der is Dir dag’standen, kaasweiß im ganzen G’sicht – aber – aber net a Zahrl is ihm aus die Augen g’ronnen – g’rad ’s Bahrtuch hat er allweil ang’starrt – und nachher hat er den schwarzen Zipfl ’packt, und nimmer ausg’lassen hat er ihn, auf ’m ganzen Weg. No ja – und jetzt is halt nachher d’ Leich’ – gleich muß der Pfarrer kommen.“

Kein Laut kam über Gidi’s Lippen; als er sich dem Hause zudrängte, starrten ihm die Leute mit scheu verwunderten Augen in das fahle, verstörte Gesicht. Mit Mühe gelangte er zur Thür. Falber Kerzenschein erfüllte den Flur, in welchem der offene Sarg auf einem schwarzverhängten Schragen stand. Ein Zittern überkam den Jäger, als seine Blicke auf die Leiche fielen. Sie war in ein dünnes, weißes Gewand gekleidet, dessen Falten sich eng an die schlanken und sanften Formen des herrlichen Körpers schmiegten. Mit reichen Wellen übergoß das offene braune Haar die Schultern und die Büste und verschleierte die weißen Hände, die, über der Brust gefaltet, ein kleines Kreuz von Ebenholz umschlossen hielten. Wachsbleich hob sich aus der dunklen Umrahmung der losen Flechten das schmale, feine Gesicht; es war im Leben nicht schöner gewesen, als jetzt im Tode. Gleich sichelförmigen Schatten lagen auf den Wangen die Wimpern der dünnen Lider, durch deren Blässe die dunklen Augensterne hindurch zu schimmern schienen. Ein schmerzlicher Zug war um den schönen Mund gelegt, der dennoch zu lächeln schien; es war, als läge noch ein unausgesprochenes, liebevolles Wort auf diesen Lippen.

Zu Häupten der Bahre stand die Finkenbäuerin, weinend und betend, ihr zu Füßen knieete Veverl, das schluchzende Lieslein an ihrer Seite, unter der offenen Stubenthür kauerte der Knabe, mit scheuen Blicken bald die Bahre, bald die Mutter und bald den Vater streifend, der drüben am Geländer der Treppe lehnte, mit krampfhaft verschlungenen Händen, ein Bild qualvoller Trauer und tiefen Schmerzes. Als Gidi die Schwelle betreten hatte, war Jörg zusammengefahren, hatte die Augen mit bangen Blicken der Thür zugeworfen und war wieder in sein brütendes Niederstarren versunken.

Eine Weile stand Gidi in stummem Gebete, dann bückte er sich nach dem Weihwasserkessel, der zu Füßen der Bahre stand, sprengte einige Tropfen des geweihten Wassers über die Leiche und verließ den Flur. Auf der Schwelle begegnete ihm Emmerenz; sie war schwarz gekleidet und hatte verweinte Augen, Gidi faßte sie beim Arme und zog sie mit sich fort, dem Gesindehause zu. „Enzi – sei so gut,“ flüsterte er mit bebender Stimme, „kann ich – kann ich mein G’wehr und mein Rucksack einstellen bei Dir – und – und nachher hab’ ich Dir auch ’was zum sagen.“

Wispernd blickten die Leute den Beiden nach und wußten nicht, was sie denken sollten, als sie die Dirne unter der Thür des Gesindehauses jammernd die Hände in einander schlagen sahen. Neugierig eilten einige von den Leuten hinzu, doch hinter den Beiden schloß sich schon die Thür.

Im gleichen Augenblicke scholl vom Kirchthurme her das beginnende Geläute der Glocken und an einer Wendung der Straße erschien der greise Pfarrer im weißen Chorrock, ihm folgten der Meßner mit dem Rauchfaß und die Ministranten mit Fahne, Kreuz und Laternen.

Während dann im Flur die Aussegunug der Leiche vollzogen wurde, erschienen Emmerenz und Gidi wieder unter der Thür des Gesindehauses.

„Und doch – und doch, Gidi,“ stammelte die Dirne, „Du mußt es ihm sagen – und jetzt gleich. Es muß ja ’was g’schehen –“

„Na, na – ich kann’s ihm jetzt net sagen, soviel derbarmt er mich. Und – es hat ja auch kein’ Sinn und kein’ Zweck. Aus ’m Höllbachgraben giebt’s kein Hilf’ und kein’ Rettung. Da kann ich mir net amal a Wunder denken. Denn wann er sich net schon derschmettert hat an die Felsen, so hat ihn das eisige Wasser derstickt. Glaub’ mir’s, Enzi, es is g’scheiter, ich sag’s ihm erst nach der Todtenmeß’, wann sich d’ Leut’ verlaufen haben.“

„Wie D’ meinst! Wie D’ meinst!“

[758] „Na – na – so viel Elend – so viel Elend auf an einzigesmal! Aber – laß Dir’s gesagt sein, Enzi – paß’ auf – der Hanni ihr g’spaßiges Sterben, dem Ferdl sein’ traurige G’schicht’ und – und noch ’was, was mir im Kopf umgeht, das hängt mit einander z’samm’ – da is was g’schehen, was sich kein Mensch net denkt.“ Lauschend fuhr Gidi auf; dumpfe Schläge hallten aus dem Flur des Wohnhauses. „Da – jetzt nageln s’ den Sarg schon zu. Also, Enzi – gelt – red’ vorderhand nix – und – b’hüt’ Dich Gott derweil.“

Fest und lange schüttelten sie sich die Hände; der Ernst der Stunde hatte die Beiden ihres Haders vergessen lassen. – –

Die letzte Schaufel Erde ward über dem frischem Grab geworfen. Dann verloren sich die Leute in die Kirche, um der Todtenmesse beizuwohnen. Nach derselben ging man im Zuge dem Bräuhause zu, wo das Todtenmahl bereitet war.

Dort unter der Thür faßte Jörg die Hand seines Weibes. „Gelt, Mariann’, bleib Du bei die Leut’ – und mich laß’ heimgeh’n.“

„Um Gotteswillen, Jörg,“ stammelte die Bäuerin, „ich bitt’ Dich, schau, nimm Dich doch g’rad a ganz a kleines bißl z’samm’. Was mochten d’ Leut’ denn reden, wann Du net bei’m Mahl bist!“

„Laß s’ reden, was s’ wollen. Ich geh’ heim – ich halt’s net aus – ich muß ’was derfahren!“

Und ehe die Mariann’ noch antworten konnte, rang er seine Hand aus der ihren und wandte sich eilenden Ganges durch das Gärtchen des Bräuhauses den Wiesen zu.

Er erreichte seinen stillen Hof und wankte in die Stube, die von schwerem Weihrauchdufte erfüllt war. Er trat in die Schlafkammer, öffnete eines der Fenster, die nach dem Garten führten, lauschte hinaus und blickte mit starren Augen der Höhe zu. Dann kehrte er wieder in die Stube zurück und sank auf eine Bank. Doch wenige Minuten nur saß er so, dann sprang er zitternd empor. Draußen lenkten flüchtige Tritte um das Haus – die Thür öffnete sich, und Dori erschien über der Schwelle; er hatte zum äußeren Zeichen seiner Trauer die lichtgrünen Schnüre seines Hutes mit einem schwarzen Tuche überbunden, sein Gesicht war blaß vor Erschöpfung.

Jörg war auf ihn zugestürzt und hatte ihn beim Arme in die Tiefe der Stube gezogen.

„Red’, Dori – red’ – red’!“ stieß er mit heiserer Stimme hervor.

„Ja –Bauer – ja –“ keuchte der Bursche, der kaum Athem und Worte fand, „so – so bin ich g’rennt! Der ander’, der fremde – das hab’ ich gleich derfahren – der – der is in der Nacht noch fortg’ritten – und – und – und die andern zwei – g’rad sind s’ heim’kommen – der Kommandant und der ander’ – vom Höllberg her über d’ Wiesen – ganz – ganz allein!“

Ein tiefer Seufzer schwellte die Brust des Bauern. „Unserm Herrgott sei Lob und Dank! Er – er is über der Grenz!“ Doch als er sich nun straff emporrichtete, fiel sein Blick auf die offene Thür und – auf den Grafenjäger, der regungslos über der Schwelle stand.

„Um aller Heiligen willen,“ fuhr der Bauer stammelnd auf, „Gidi, Du bringst nix Guts net!“

„Na, Finkenbauer, na – unserm Herrgott muß ich ’s klagen! Schau – nimm Dich z’samm – ich – ich weiß ja so net, wie ich Dir ’s sagen soll – der Ferdl – Dein Ferdl – –“

„Na, na, na, Du weißt nix anders, als was ich selber weiß! Der Ferdl is über der Grenz’ – lang über der Grenz’!“

„Ja – über der Grenz’, wo zwisch’m Leben is und zwischen der Ewigkeit. Im Höllbachgraben liegt er drunt’ – und ich hab’s mit anschaun müssen – und – ‚Jesus Maria! Grüßt’s mir mein Jörgenbruder!‘ – das war sein’ letzte Red’.“

Weiß quollen dem Bauern die Augen aus den Höhlen, sein Gesicht wurde lang und schmal, und weit klaffte sein Mund, in dessen Winkeln dünne Schaumbläschen sich sammelten. So stand er eine Weile regungslos. Dann tastete er sich an der Tischkante entlang der Bank entgegen und sank darauf nieder unter den stöhnenden Worten: „Meine Füß’ – oh – meine Füß’ –“

Dem Dori aber begannen die Zähne zu klappern, und er brachte die Hand kaum zum Gesichte, um ein Kreuz zu schlagen.

Zögernden Schrittes ging Gidi auf den Bauer zu und rüttelte ihn an der Schulter: „Finkenbauer – Finkenbauer – Jörg!“

Da kam ein Schauer und ein Zittern über ihn; er betastete mit den Händen seinen Kopf und seine Brust und lallte mit schwerer Zunge: „Ja – ja – ich g’spür’ mich noch und – und – ich weiß – ich weiß ja g’wiß – g’fangt wann s’ ihn hätten und hätten ihn eing’führt ins Zuchthaus, wo einer net ’neing’hört, der Ferdl heißt – und – und der mein Bruder is – ich weiß ja g’wiß, das hätt’ mich um’bracht. Und jetzt – jetzt is er dahin – aus und gar is mit ihm – und ich kann’s wissen, und ich kann’s sagen! Er und d’ Hanni bei ’nander – und ich bin noch übrig! Is das a Lieb’? Is das a Lieb’?“ Immer und immer wieder stöhnte er dieses eine Wort vor sich hin, dann plötzlich stürzten ihm die Thränen aus den Augen, und schluchzend warf er die Arme über den Tisch. Dann wieder sprang er auf, und in wilder Hast sprudelten ihm die Worte von den Lippen: „Ich bin Einer! Ich bin Einer! Da kann ich sitzen und kann reden – und reden – und – Jesus, und kein Mensch daheim! Wo sind denn Leut’? Wo sind denn Leut’?“

Er wollte der Thür zustürzen, aber Gidi hielt ihn am Arme fest. „Sorg’ Dich net, Jörg – wir brauchen keine Leut’ – Du und der Dori und ich, wir Drei sind g’nug – und droben im Höllbergschlag, da arbeiten a sieben an acht Holzknecht’, und die haben Alles, was zum brauchen is, Strick’ und Hacken und Beiler und Alles!“

„Ja, ja – is schon g’nug – is schon g’nug – kommt’s nur g’rad – kommt’s – kommt’s – a jede Minuten is a Sünd’ –“ stotterte Jörg und eilte den beiden Anderen voraus dem Hofe zu.

Sie schlugen den nächsten Weg durch den Garten ein – Jörg immer voran um ein Dutzend Schritte.

Auf dem Höllbergschlage fanden sie die Holzknechte, die bei der ersten Kunde von dem Unglück ihre Arbeit ruhen ließen, der eine und andere dieser Männer hatte wohl ein Wort über die Nutzlosigkeit aller Rettungsversuche auf der Zunge, doch als sie dem Finkenbauer in das Gesicht sahen, schwiegen sie und eilten willig mit ihm der Höhe zu.

Als Jörg mit den Männern die hohe Platte erreichte, wurde einer der Holzknechte an langem Seile in die Schlucht niedergelassen, aber er mußte wieder emporgezogen werden, noch ehe er zur Wassertiefe hatte gelangen können. Auf eine weite Strecke war der Weg zum Grunde durch zwei von den beiden Klammwänden aus schief in einander greifende Felsgefüge versperrt.

„A Lucken is schon da, daß Einer durchkönnt’ – und da muß’s ihn auch durchg’rissen haben, den armen Teufel,“ berichtete der Mann, wobei er aus Mitleid für den Finkenbauer verschwieg, daß er auf einer steil abfallenden Platte reichliche Blutspuren gefunden. „’s Kurasch is g’wiß net z’weng bei mir – aber da dürft’ so a Seil von Eisen sein – wenn’s zweimal um’s Eck ’rum muß – bei dene kantigen Steiner, die haben Dir ja a Schneid’ wie a Messer – da kost’s g’rad a Ruckerl, nachher liegst drunten und hast ausg’schnauft – und g’holfen is auch nix. Aber – wenn ich rathen möcht’ – probiren wir’s a bißl weiter drunten, wo die Klamm den Kessel macht – ’leicht daß man von unten auf zukönnt’.“

Alle, auch Jörg, wußten, daß der Mann sein Möglichstes gethan hatte, und Alle sahen ein, daß sein Rath der beste war.

Schweigend eilten sie am Rande der Schlucht jenem Kessel zu. Dort trafen sie schon mit Leuten zusammen, die aus dem Dorfe kamen, in welchem sich die Nachricht von dem Unglücke auf die vom Kommandanten beim Bürgermeister erstattete Anzeige hin rasch verbreitet hatte. Von den Finkenhofleuten kam als Erste die Emmerenz, wortlos reichte sie dem Bauer die Hand, dann streifte sie die Aermel an die Schultern und stellte sich zu den Holzknechten an das Seil, während sie da hielt und zog, daß ihr vor Anstrengung die Schläfenadern schwollen, schien sie gar nicht zu bemerken, daß es Gidi’s Hände waren, welche hart neben den ihrigen das Seil umklammerten.

Es kam die Finkenbäuerin, die sich schluchzend an den Hals ihres Mannes hing – und Veverl kam, bleich, zitternd und athemlos.

Da waren nun hundert Arme zur Hilfe bereit, doch war außer Jörg unter Allen nicht Einer, der unter dieser „Hilfe“ [759] etwas Anderes verstand, als den Versuch, die Leiche des Zerschmetterten oder Ertränkten zu finden.

Als es zu dämmern begann, schickte Jörg die Weiberleute nach Hause.

Die sinkende Dunkelheit unterbrach die traurige Arbeit nicht, die hier vonstatten ging; sie wurde beim Scheine lodernder Kienfackeln fortgesetzt; auf allen Vorsprüngen der Schluchtwände wurde dürres Holz gethürmt und entzündet, so daß die hoch aufschlagende Flamme den tiefen Abgrund mit grellrother Helle erfüllte.

Der Versuch, die Absturzstelle unter der hohen Platte von jenem Kessel aus zu erreichen, war mißglückt. Mit wilder Brandung sperrte das aus der Mündung des Höhlenganges stürzende Wasser den Weg. Man schob an langen Stangen brennende Fackeln in die Höhlung; aber so weit der Fackelschein reichte, gewahrte man nur die kahlen, glatt gewaschenen Wände und zwischen ihnen die schwarz und rasend einherschießende Fluth. Man warf von der hohen Platte lohende Scheite in den Abgrund – und immer nach wenigen Sekunden schon kamen die erloschenen Stümpfe im Wirbel des Kessels zum Vorschein. Da schien es keine denkbare Möglichkeit, daß die Leiche im Höhlengange festgehalten worden sein könnte, das Wasser mußte sie längst den tiefer liegenden Kesseln zugeschwemmt haben.

Man eilte von Gefäll zu Gefäll, von Kessel zu Kessel, überall wo ein Niederstieg oder die Einseilung eines Menschen möglich war, wurde das Wasser mit Stangen und Hacken durchwühlt, jede Wandecke und Felsrinne mit unermüdlichen Augen durchforscht. An Stellen, an denen keiner der Holzknechte, nicht einmal Gidi mehr den Weg in die Tiefe wagte, ließ immer noch Dori sich an das Seil knüpfen und in den Abgrund senken.

Die Nacht entschwand, der Morgen kam mit Glühen und Leuchten, und noch immer war keine Spur des Verunglückten gefunden.

Gegen Mittag erreichte man den Kessel des letzten Gefälles, mit welchem der Höllbach den Bergwald verläßt, um hundert Schritte tiefer im Thale mit seiner klaren, gezähmten Fluth das fleißig klappernde Werk der Höllbachmühle zu treiben. Vergebens wurde auch dieser letzte Kessel bis auf den Grund durchwühlt.

Alle, alle hatten gewußt, daß es so kommen würde. Jörg allein hatte es nicht glauben wollen – und er kannte den Höllbach doch eben so genau wie die andern. Vier Menschen hatte das unheimliche Wasser während der letzten zwanzig Jahre verschlungen, nach jedem hatte man gesucht wie jetzt nach dem Ferdl – und nach jedem gleich vergebens. Nur einen von den vieren, einen Holzknecht, hatte die Strömung lange Wochen nach dem Unglückstage an das Wehr der Höllbachmühle geschwemmt, beinahe zur Unkenntlichkeit verstümmelt und grauenvoll zerrissen. – –

Am andern Morgen verließ Jörg das Haus. Alle, die ihm nachsahen, wußten, wohin er ging. Er schlug den Weg zur Höllbachmühle ein.

Draußen auf der Wiese kam ihm der Müller schon entgegen. „Da schau her, Finkenbauer, was ich g’funden hab’, am Wehr, heut’ in aller Fruh,“ sagte er und hielt dem Bauer eine nasse, zerrissene Soldatenmütze entgegen.

Mit beiden Händen griff Jörg darnach, und lange stand er, mit zuckenden, herbgeschlossenen Lippen und starrte mit feuchten Augen nieder auf das blaue Tuch. Dann ging er dem Kessel zu, den der letzte Fall des Höllbaches bildet. Dort stand er wohl eine Stunde und stierte vorgebeugten Leibes in das Wasser, durch dessen krystallene Klarheit der kiesige Grund heraufschimmerte. Tief seufzend richtete er sich endlich empor und schritt am Ufer des Baches dem Wehr entgegen, vor welchem er sich auf den gleichen Felsblock niederließ, auf dem er am verwichenen Tage bis spät in den Abend gesessen. Keinen Blick verwandte er von der Fluth, die mit Murmeln und Gurgeln das Wehr durchströmte, Schaum, Blätter und Reisig aufstauend vor den Stäben des hölzernen Gitters.

Gegen Mittag kam die Mariann’ mit dem Pfarrer. Herzlich und eindringlich redeten ihm die Beiden zu, daß er nach Hause gehen möchte, aber auf all ihre Mahnungen hatte Jörg nur das eine Wort: „Laßt’s mich sitzen – laßt’s mich sitzen!“

Sie blieben bei ihm, bis die Sonne aus rothüberglühten Wolken hinsank über den Grat der Berge.

Wortlos wanderte Jörg zwischen seinem Weibe und dem Pfarrer dem Dorfe zu. Als sie den Finkenhof erreichten, sagte er: „B’hüt’ Gott derweil – ich hab’ noch an Gang zum machen.“

Die Beiden wollten ihn zurückhalten; er aber schüttelte nur den Kopf, wand seinen Arm aus den Händen seines Weibes und eilte davon. Hinter den Häusern des Dorfes stieg er über Wiesenwege dem Schloßberg zu. Als er die Parkmauer erreichte, stand er lange und starrte das Thor an, als widerstrebe es ihm, die steinerne Schwelle zu betreten. Ein Schauer rüttelte seine Schultern als er endlich zögernden Fußes das Thor durchschritt. Er ging an der Mauer entlang dem Jägerhäuscheu zu. Bellend fuhr der Hund ihn an, und aus der Stube hörte er Gidi’s Stimme; der Jäger sprach in raschen erregten Worten.

Jörg betrat den Flur und sah die Stubenthür offen; Gidi und die alte Wirthschafterin des Schlosses standen vor ihm und blickten mit scheu verwunderten Augen den Bauer an. Mit ängstlicher Hast suchte das Weib einen Brief, den es in Händen hielt, in der Tasche zu bergen und huschte, als Jörg die Stube betrat, an ihm vorüber aus dem Hause.

„Finkenbauer – was willst von mir?“ frug Gidi mit stammelnden Worten.

Jörg ging dem Tische zu, schwer sank er auf die Holzbank nieder, während er den Hut vom Kopfe nahm.

„Gidi – verzähl’ – alles – alles und g’nau!“

Der Jäger schien diese Worte nicht zu hören; er stand und starrte mit weit offenen Augen den entblößten Kopf des Bauern an.

„Finkenbauer – o mein lieber Herrgott – wie schaust denn aus? Grau bist worden – über und über grau! Wie kann denn so ’was g’schehen – über a Nacht schier – über an einzige Nacht?“

„So? So?“ murmelte Jörg und strich die zitternden Hände über das Haar. „Ah ja – Alles, Alles kann g’schehen, wann der Herrgott schlafen geht, statt daß er aufpaßt auf sein’ Welt und seine G’schöpfer.“ Mit einem traurig bitteren Lächeln betrachtete er die Innenfläche seiner Hände, wie um zu sehen, ob nicht an ihnen das frische Grau seiner Haare sich abgefärbt hätte. „Aber jetzt – jetzt, Gidi, verzähl’ – verzähl’!“

Und der Jäger begann zu erzählen, die ganze ausführliche Geschichte jenes traurigen Morgens, bis er mit den Worten schloß: „Und wie’s ihn niederg’rissen hat über’s G’steinet, da hat er d’ Arm’ aufg’schlagen und hat Dir g’rad ’naus g’schrieen: Jesus Maria – grüßt’s mir mein’ Jörgenbruder!“

Mit keiner Silbe hatte Jörg die Erzählung des Jägers unterbrochen. Das Haupt zwischen die Schultern versenkt, die zitternden Fäuste auf die Kniee gestützt, so hatte er gesessen und mit brennenden Augen unablässig auf die rührigen Lippen des Jägers geblickt. Nun aber fuhr er schluchzend auf: „Sag’s noch amal – sag’s noch amal!“

„Jesus Maria – grüßt’s mir mein’ Jörgenbruder!“

„Grüßt’s mir mein’ – Jörgenbruder!“ wiederholte der Bauer in stammelnden Worten. „Ich bin sein letztes Denken g’wesen, und mir hat sein’ letzte Red’ noch ’golten! Ja, ja – der hat mich mögen – der hat mich mögen! Und – und weil er a Ehr’ im Leib’ g’habt hat und a Lieb’ im Herzen, drum muß er jetzt drunten liegen, wo kein Sonn’licht nimmer ’nuntersteigt. G’rechtigkeit – ah ja – G’rechtigkeit –“ In unverständlichem Gemurmel verlor sich seine Stimme. Dann erhob er sich mühsam, griff nach seinem Hute, und wieder raunte er vor sich nieder: „Grüßt’s mir – mein’ Jörgenbruder! Ja, Ferdl – ja – den Gruß will ich Dir danken – in meiner Sterbstund’ noch!“ Nun reichte er dem Jäger die Hand. „Gelt, Gidi, mußt net harb sein, daß ich schon wieder geh’, g’rad weil ich g’hört hab’, was ich hören hab’ wollen. Aber weißt –“ eine wilde Bitterkeit quoll aus dem Klange seiner Stimme, „weißt – mich leid’ts net recht, da wo ich steh’ – es is ja Grafengrund – weißt – Grafengrund!“

„Wird auch net schlechter sein wie Bauernboden!“ fuhr Gidi auf.

„Ja, ja – hast Recht – der Boden is der gleiche – aber unter dene, die wo er tragt, is diemal einer anders wie der ander’ – aber – aber reden wir nix – reden wir nix!“ Und wieder schüttelte Jörg dem Jäger die Hand. „Dir, Gidi, Dir sag’ ich kein Vergelts Gott net – wo d’ Lieb’ ’was [760] thut, da will s’ kein Dank dafür – ich weiß ja, daß D’ ihn gern g’habt hast.“

„Ja, Finkenbauer, gern, von Herzen gern! Aber – aber ’raussagen muß ich’s – – mein’ Lieb’ hängt an ei’m andern auch, der jetzt im Sterben liegt – drin in der Münchnerstadt. Du weißt schon, wen ich mein’ – Du weißt es schon!“

„Nix weiß ich – nix – gar nix!“ flog es in zitternder Hast von den Lippen des Bauern.

„So mußt net reden, Finkenbauer,“ erwiderte Gidi mit fliegenden Worten, „Du mußt der Erste g’wesen sein im Ort, der ’s g’hört hat – g’hört von dem, der schuld is dran! Na – na – gar net sagen kann ich Dir’s, wie mir’s z’ Muth war, jetzt g’rad, wo d’ Schloßhauserin dag’wesen is mit dem Brief vom alten Eustach’. Mein armer, lieber, junger Graf – und – nachher – Du gütiger Herrgott – mein arme Frau Gräfin! Na – na! Sag’ mir nur ’grad, Finkenbauer, wie hat dem Ferdl so ’was zustehn können, daß er so ’was thut!“

„Gidi, Gidi,“ stöhnte Jörg, „der Ferdl is drüben, wo kein’ mehr fragen kannst und keiner Red’ mehr steht. Und über an Todten sollst net reden, wo net weißt –“

„Alle, alle sagen’s – drin im Grafenhaus – es kann kein Anderer g’wesen sein, als wie der Ferdl. Wie er ’rein is ins Haus, hat freilich keiner g’sehen – aber alle haben’s g’sehen, wie er ’naus is – kreidenblaß und ganz verzweifelt, wie wenn der leidige Satan her wär’ hinter ihm – – und droben nachher, droben haben s’ den jungen Grafen g’funden, unter der Thür, von Blut übergossen, mit ei’m Säbelhieb g’radaus über d’ Stirn und über’n Kopf. Der Ferdl hat ihn derschlagen, Finkenbauer – Dein Bruder – Dein Bruder!“

Todtenstille herrschte in dem Gemache. Aug’ in Auge standen sich die Beiden gegenüber. Die Faust auf die Tischplatte stützend, richtete Jörg sich hoch empor, und eine steinerne Starre lag über seinem Gesichte, während von seinen farblosen Lippen rauh und heiser die Worte brachen: „Und – und wann’s so wär’ – – weißt es denn auch, ob ihm net Recht g’schehen is Dei’m – Dei’m Grafen?“

„Recht?“ fuhr Gidi auf. „Was könnt’ mein junger Graf dem Ferdl an’than haben! Und – ich weiß schon – wenn ich mir auch sonst noch denk’, was man sich denken muß, wenn man alles anschaut, was g’schehen is – aber – was der Ferdl sich auch ein’bildt haben mag – mir, Finkenbauer, mir kannst es glauben – was keiner g’sehen hat, hab’ ich mit meine Jägeraugen g’merkt. Stund’ um Stund’ im letzten Sommer war ich mit mei’m Grafen, wenn’s ihn alleweil fort’trieben hat aus’m Schloß, und wenn’s ihn wieder ’runter’zogen hat, kaum daß er droben war mit mir auf unsere Berg’. Mir kannst es glauben – wenn einer is, dem der Hanni ihr traurigs Sterben ’neing’langt hat ins tiefste Herz, so war’s mein junger Graf. Und wie’s jetzt allweil zu’gangen sein mag mit der Hanni – – da schau her, Finkenbauer – da leg’ ich mein’ Hand auf’n Tisch, und weghacken laß’ ich mir s’, wurzweg vom Arm, wenn mein junger Graf ’was Uebls hat verüben können.“

Vorgereckten Halses stand der Bauer und starrte mit düster funkelnden Blicken in das vor Erregung glühende Gesicht des Jägers; seine Lippen bewegten sich, als wollte er sprechen. Nun aber schüttelte er den Kopf, und in sich versinkend, drückte er den Hut über das ergraute Haar. „Gidi – Gidi –“ stieß er in einem Tone hervor, der warnend klang und drohend zugleich, „Dein’ Hand mußt net verschwören – zieh’ Dein’ Hand z’ruck, denn es wär’ mir leid drum – – wann ich reden möcht’!“ Und ohne dem Jäger einen Gruß zu bieten, schritt er der Thür zu.

Aufseufzend trat er hinaus unter die rauschenden Bäume und eilte dem Thore zu. als wäre die Erde, die sein Fuß berührte, Feuer unter seinen Sohlen. – –

Als am Abend der Tisch der Bauernstube des Finkenhofes wieder geräumt und das Dankgebet gesprochen war, entzündete Veverl ein Kerzenlicht und verließ mit einem schüchternen „Gut’ Nacht!“ die Stube. Eine Weile machte sich die Bäuerin mit allerlei zu schaffen, dann trat sie vor den Bauer hin, der regungslos noch immer auf seinem Platze saß.

„Jörg – ich leg’ mich schlafen.“

Er nickte nur.

„Gelt, Jörg – gelt – bleibst auch nimmer z’ lang! Schau – mußt doch a bißl an Dich selber denken – und – und an Deine Kinder.“

Wieder nickte er wortlos vor sich hin. Schweigend blieb Mariann’ vor ihm stehen, dann strich sie ihm langsam die zitternde Hand über das ergraute Haar, und zwei Zähren rollten ihr über die Wangen. Hastig wandte sie sich ab, und die Schürze vor die Augen drückend, ging sie der dunklen Kammer zu. Lange saß sie im Finstern auf dem Rande ihres Bettes, ehe sie sich zu entkleiden begann. Als sie in den Kissen lag, vernahm sie aus der Stube nur das träge Ticken der Wanduhr und von Viertelstunde zu Viertelstunde ihren rasselnden Schlag.

„Jörg!“ rief sie einmal mit leisem Mahnen, ohne eine Antwort zu erhalten.

Sie hörte noch, wie die Uhr die elfte Stunde ausschlug, dann überkam die Erschlaffung des beginnenden Schlummers ihren Leib.

Plötzlich fuhr sie empor; sie wußte, daß sie geschlafen hatte, aber das Geräusch, von dem sie erweckt worden war, klang ihr noch in den Ohren nach; das war ein Klirren gewesen, als hätte draußen im Hofe Jemand an eines der Stubenfenster gepocht.

Jetzt wiederholte sich das Klirren, und im gleichen Augenblicke hörte Mariann’, wie der Bauer aufsprang vom Tische mit ersticktem Schrei, mit den stammelnden Worten: „Heiliger – Herrgott – alle guten Geister – loben – loben –“

Da erloschen seine Worte in einem gurgelnden Laute, aus dem nicht Angst und Schrecken klangen, sondern jäher Jubel und jauchzende Freude.

Mariann’ hörte seine Schritte dem Flur entgegen eilen, hörte, wie der Riegel der Hausthür zurückgestoßen wurde – dann herrschte lautlose Stille.

Mit zitternder Hast erhob sie sich und stürzte nothdürftig gekleidet in die Stube; die Thür stand vor ihr offen, sie eilte in den Flur und über die Schwelle, nun verharrte sie und rief den Namen ihres Mannes mit bebender Stimme hinaus in die Nacht, da hörte sie ein schwaches Geräusch und gewahrte unter den nahen Bäumen eine Gestalt; deutlich unterschied sie bei dem aus den Fenstern fallenden Lichtscheine das blasse Gesicht des Bauern, sie wollte sich ihm nähern – er aber winkte ihr mit erhobenen Armen hastig zu, daß sie bleiben, daß sie zurückgehen möchte – und jetzt verschwand er um die dunkle Ecke des Hauses.

An der Wand sich hintastend, kehrte Mariann’ in die Stube zurück und ließ sich vor dem Tische auf die Holzbank nieder, die zitternden Hände im Schoße faltend.

Sie harrte und harrte – eine Stunde verstrich – dann hörte sie draußen auf der Grät[16] das sachte Knirschen vorsichtiger Tritte. Das mußte der Bauer sein. Nun trat er in den Flur, schloß die Hausthür, schob den Riegel vor – das alles that er so leise, kaum vernehenlich – – und jetzt erschien er über der Stubenschwelle.

Seine Brust arbeitete, sein Athem flog, eine dunkle Röthe brannte auf seinen Wangen, welche naß waren von Thränen, seine Lippen zitterten wie zwischen Lachen und Weinen, und Weh und Freude sprachen zugleich aus den flackernden Blicken seiner weit geöffneten Augen.

Mariann’ sprang auf und schlug die Hände in einander. „Um Christi willen – Jörg – was hast – was is denn g’schehen?“

Da begann er mit den Armen zu fuchteln. wankte Schritt um Schritt dem Tische zu und schüttelte unter Schlucken und Würgen den Kopf, als wollte er durch Erschütterung die lallende Zunge lösen.

„Mariann’ –“ brach es ihm endlich in stammelnden, halb erstickten Lauten vom Munde, „es giebt noch an Gott, Mariann’ – es giebt noch an Herrgott – es – es giebt noch ein’ – es giebt noch ein’!“

„Jörg – Jörg – ja wie is mir denn – so sag’ mir g’rad –“ schluchzte das Weib und streckte die Hände, um des Bauern Arm zu fassen.

Er aber wehrte sie von sich – in helles Weinen ausbrechend, stürzte er vor dem Tische auf die Kniee, rang die Hände in einander, starrte mit glühenden Augen empor zum Krucifixe und hub zu beten an – laut und hastig – mit einer Stimme, welche bebte und zitterte vor trunkener Freude.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 47, S. 773–779

[773] Was hat denn der Bauer heut’ – was hat er denn g’rad?“ so ging es am folgenden Morgen unter den Dienstboten des Finkenhofes mit flüsternder Frage von Mund zu Mund.

Als wäre Jörg durch lange, lange Zeit von seinem Hofe fern gewesen und in der verwichenen Nacht erst zurückgekehrt, so ging er rastlos überall umher, betrachtete alles und frug nach allem. Doch immer nur wenige Sekunden duldete es ihn auf der gleichen Stelle. Wenn er seine Dienstboten ansprach, sprang er vom einen aufs andere, und wenn er Fragen an sie stellte, ging er häufig davon, ohne die Antwort abzuwarten. Sein ganzes Wesen war Ungeduld und Unruhe. Hundertmal wohl im Laufe des Vormittages sah man ihn die Uhr aus der Tasche ziehen, als schliche ihm die Zeit in unerträglich trägem Schneckengang dahin. Oft sah man ihn inmitten des Hofes stehen, mit erhobenem Kopfe, wie hinausschauend in unbestimmte Ferne, und häufig auch gewahrte man, wie er plötzlich ohne jede Ursache in sich zusammenfuhr und die scheuen, ängstlichen Blicke nach der Straße, über das Haus und gegen den Garten irren ließ. Dabei geschah es manchmal, daß seine Blicke den forschenden Augen der Emmerenz begegneten, und dann fuhr es bald wie Röthe, bald wie Erblassen über sein Gesicht.

Während der Nachmittagsstunden war er mit keinem Blick im Hofraum zu ersehen; Emmerenz mußte ihn suchen, um in einer wirthschaftlichen Angelegenheit seinen Willen zu hören. [774] Als sie die Stube betrat, sah sie den Bauer und die Bäuerin vor dem Tische stehen; die beiden waren damit beschäftigt, allerlei Gewandstücke und Eßwaaren in einen Rucksack zu verpacken. „Ich hab’ fragen wollen, Bauer –“ begann Emmerenz noch auf der Schwelle; aber sie kam mit ihrer Frage nicht zu Ende. Während die Bäuerin in ängstlicher Hast ein Tuch über die Gegenstände warf, die auf dem Tische lagen, fuhr Jörg, der über Enzi’s Eintritt mehr erschrocken als erzürnt schien, die Dirne mit heftigen Worten an: „Was willst? Was hast denn jetzt auf amal in der Stuben herin zum suchen ? Das taugt mir net – das Umstreunen am hellen Tag. Mach’ weiter und schau, daß zu Deiner Arbeit kommst!“ Und da wußte Emmerenz in ihrer Verblüffung über diesen Empfang nichts Besseres zu beginnen, als wortlos und hurtig den Rückzug anzutreten. Eine Weile stand sie im Flur, nachdenklich vor sich niederblickcnd; dann ging sie kopfschüttelnd der Hofthür zu. Draußen begegnete sie dem Kommandanten, der sich mit zögernden Schritten von der Straße her näherte: er war ohne Gewehr und trug die „Feiertagsmontur“. Der Ausdruck ängstlicher Unbehilflichkeit, welcher auf seinen sauer lächelnden Zügen lag, war beinahe mitleiderweckend.

„Ischt der Finkenbauer daheim?“ frug er die Dirne mit lispelnder Stimme, während seine scheu verlegenen Blicke die Fensterreihe des Hauses musterten.

„Ja, daheim is er schon – aber –“ erwiderte Emmerenz, den Nachsatz verschluckend, der ihr auf der Zunge gelegen.

Herr Wimmer rückte die Mütze in die Stirn und kraute sich den Hinterkopf. „Das ischt eine verfluchte Geschichte!“ murmelte er vor sich hin und betrat, mit vollen Backen blasend, die Schwelle.

Sachte klopfte er an die Thür; er hörte in der Stube ein hastiges Flüstern, rasch enteilende Tritte, und dann des Bauern laute Frage: „Wer is da?“’ Herr Wimmer trat ein und fand sich wenig ermuthigt, da er den Bauer bei seinem Anblick zurücktaumeln sah, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. „Nix für ungut, Finkenbauer, nix für ungut – aber – aber ich hab’ kommen müssen – ich hab’ müssen – es hat mich nimmer g’litten –“ stammelte Herr Wimmer, während ihm der Schweiß in dicken Tropfen aus Stirn und Schläfen brach. Da er die steifen Blicke krampfhaft in die Dielen bohrte, konnte er nicht gewahren, wie Jörg seine Züge zur Ruhe, seine Lippen zu einem Lächeln zwang. „O mein Gott – gelt Finkenbauer, „schreckliche Sachen hat’s ’geben, seit wir uns nimmer g’sehen haben. Aber – Gott soll mir’s bezeugen – ich, Finkenbauer, ich kann nix dafür, daß’s so bös aus’gangen ischt!“

„Ich weiß schon, Herr Kommandant – Sie hätten’s anders g’macht, wenn’s anders zum machen wär’ g’wesen – ich weiß schon – ich weiß schon – und – und was von Ihnen aus g’schehen is, hat g’schehen müssen – Sie sind ja ang’stellt dafür und haben g’schworen.“

Herr Wimmer traute seinen Ohren kaum, als er den Bauer solche Worte sprechen hörte. Ueber ihrem seinen stillen Plänen so hoch willkommenen Sinne übersah er völlig die hastige, zitternde, ängstliche, fast lauernde Art, in der sie gesprochen waren. Und als er nun gar die vor Staunen weit offenen Augen hob und den Bauer mit ausgestreckten Händen auf sich zukommen sah, wußte er vor Verblüffung und Verwirrung für sein Schnupftuch, mit dem er sich Stirn und Wangen trocknete, kaum die Tasche zu finden. Früher als sein Verstand kam seine Zunge zur Besinnung. Er faßte Jörg bei den Händen, zog ihn nach dem Tische und übersprudelte ihn mit Trostesworten und mit Versicherungen seiner Theilnahme und Freundschaft. Er beklagte Ferdl’s Schicksal und sprach unter Thränen, auf die er durch häufiges Wischen der Augen aufmerksam zu machen suchte, von dem plötzlichen Tode des „lieben, schönen Fräuleins Johanna“. Dann wieder erzählte er in überhasteten Worten von jenem traurigen Morgen. Er war dabei allzu sehr mit dem beschäftigt, was er in jenen „fürchtigen Stunden“ gedacht, empfunden und gethan, um ein Auge für die zitternde Unruhe zu haben, mit welcher Jörg ihm gegenüber saß.

„Aber jetzt – aber jetzt,“ unterbrach der Bauer plötzlich den Redefluß des Kommandanten, „aber jetzt, wo’s aus is und gar mit ihm –, was is nachher jetzt? Is jetzt a Ruh’? Is jetzt a Fried’? Sind s’ jetzt z’frieden, die drin in der Stadt? Wird keiner mehr kommen und fragen, wie’s war und wie’s sein könnt’?“

„No freilich – no freilich ischt jetzt a Ruh’, no freilich ischt jetzt a Fried’!“ betheuerte Herr Wimmer. „Was wollt’ man denn da noch wollen, wo nix mehr zum haben ischt! Wo der Tod sein Wörtle g’sprochen hat, da steckt auch die G’rechtigkeit ihr Schwert in d’ Scheid’. Da kann der Finkenbauer ruhig sein – ganz ruhig. Da hab’ ich schon g’sorgt dafür, denn ich bin dem Finkenbauer sein Freund. Ja, ja – da hätt’ der Finkenbauer nur amal den Bericht lesen sollen, den ich aufg’setzt hab’ und ’neing’schickt in d’ Stadt. Wenn S’ da g’lesen hätten, wie ich die Sach’ mit der Fluchtunterstützung darg’stellt hab’, und alles Andere, was da noch drin g’standen ischt – nachher möchten S’ mir alle beide Händ’ drucken und möchten sagen: der Herr Kommandant ischt mein Freund, und dem hab’ ich’s zum verdanken, wenn jetzt a Ruh’ ischt und a Fried’. Ja – so ischt die Sach’ – da beißt kein Mäusle mehr an Faden ab!“

Das Gesicht des Kommandanten erglänzte vor freudiger Erregung, als Jörg nun wirklich that, was ihm so nahegelegt worden war.

„Ich dank’, Herr Wimmer! Das vergiß ich Ihnen nie nimmer – nie in mei’m ganzen Leben!“ stammelte der Bauer mit schwankender Stimme, während er unablässig die Hände des Kommandanten drückte und schüttelte, „Und gelten S’, Herr Wimmer, wie ’s jetzt auch sein mag – und was kommt – wir Zwei bleiben gute Freund’ mit einander!“

„G’wiß, Finkenbauer, g’wiß – älleweil gute Freund’ – älleweil!“ versicherte Herr Wimmer, der sich bei der Wahrnehmung, welch’ ein begehrter Gegenstand seine Freundschaft wäre, vor Stolz und Selbstbewußtsein ordentlich dehnte und streckte. In diesem Gefühle seiner Würde und seines Werthes begann er nun gar gnädig, so recht von oben herab gnädig mit Jörg zu reden. Als er sich endlich zum Abschied erhob, klopfte er Jörg vertraulich auf die Schulter und versicherte ihm zu wiederholten Malen, daß er „ganz ruhig“ sein und sich auf ihn verlassen könnte. Stolz erhobenen Hauptes stapfte er der Thür zu. Bei all seinem Selbstbewußtsein aber hätte es ihn stutzig machen müssen, wenn er das geringschätzende Lächeln gewahrt haben würde, mit welchem Jörg ihm bis zur Schwelle das Geleite gab, und wenn er durch die geschlossene Thür hätte sehen und hören können, wie der Bauer aufathmend sich emporrichtete und mit nickendem Kopfe vor sich hin murmelte: „Den hab’ ich mir ’kauft – den brauch’ ich net zum fürchten!“

Bald nach ihm verließ der Finkenbauer den Hof, den schwer bepackten Bergsack auf dem Rücken.

Als am Abend die Nachbarsleute zum „Dreiß’gerbeten" kamen und nach dem Bauer frugen, sagte ihnen die Mariann’, daß ein dringendes Geschäft ihn nach einem weit entfernten Dorfe gerufen hätte, von wo er wohl erst nach einigen Tagen zurückkehren würde.

Fast eine Woche blieb er aus. Spät an einem Abende kehrte er zurück und betrat das Haus durch den Garten. Der Zufall wollte es, daß ihm Emmerenz mit einem Lichte im Flur begegnete. Als sie den Bauer betrachtete, meinte sie, er könnte eher von schwerer Arbeit zurückkommen, als von einer Fußreise und von Geschäften; wenigstens sahen seine schrundigen Hände und seine arg mitgenommenen Kleider darnach aus. In der Wohnstube brannte in dieser Nacht die Lampe bis in den Morgen hinein.

Tage und Wochen vergingen; das Leben auf dem Finkenhof schien wieder im alten Geleise zu rollen – und dennoch hatte es ein anderes Gesicht bekommen. Die Mariann’, die sonst so resolut in ihrer Wirthschaft geschaltet und gewaltet hatte, war so still geworden, so in sich gekehrt; wer sie beobachtete, konnte gewahren, wie immer und immer ihre gutmüthigen Augen mit dem Ausdruck tiefer Sorge auf dem ergrauten Haupte ihres Mannes ruhten. Der hatte sich in seinem Wesen wohl ein wenig zum Besseren verwandelt; aber die schweigsame Zerstreutheit und eine Art „schreckhafter“ Unruhe waren ihm verblieben. Wenn die Ehhalten darüber ihr Gerede führten, pflegte Enzi zu sagen: „Laßts den Bauern in Fried’! Der hat halt a Herz – und das trauert sich so g’schwind net aus.“

Häufig war Jörg vom Hause abwesend; entweder wanderte er mit dick angepacktem Rucksack die Straße hinaus, oder er fuhr in seinem einspännigen Bernerwägelchen davon, welches fast immer mit mancherlei Kistchen und Schachteln beladen war; zumeist blieb er nur eine Nacht vom Hofe fern, manchmal aber auch durch [775] mehrere Tage. Diese Wege und Fahrten hatten stets eine triftige Ursache, welche für die Dieeestboten durchaus kein Geheimniß war, ihnen im Gegentheile von der Bäuerin immer mit vertraulicher Genauigkeit klargelegt wurde. Bald war es ein Kauf- oder Tauschgeschäft mit Vieh und Pferden, was den Bauer vom Hofe entführte, bald ein Holzhandel, bald der nöthig gewordene Ankauf von Sämereien und Getreide, von Geräthen und Dingen für die Wirthschaft, bald Dies bald Jenes. Diese Wege und Fahrten häuften sich aber so sehr, daß trotz aller Triftigkeit nicht nur unter den Dienstboten, sondern auch im Dorfe ein Gemunkel darüber entstand. Auch hier war es Emmerenz, die ein erklärendes Wort gleich bei der Hand hatte. „Daheim, wo ihn Alles an die traurigen Tag’ vermahnt, kann halt der Bauer sein Humor nimmer finden – drum sucht er ihn draußt um anand’ und b’sorgt halt selber jetzt, was er sonst von Andere hat b’sorgen lassen.“

Bei Gelegenheit eines Kirchganges gerieth sie einmal hart mit dem Valtl zusammen, der wirklich bei dem übel berüchtigten Leithenbauer in Dienst getreten war und nun offen das Gerede im Dorfe schürte und die Leute gegen seinen ehemaligen Dienstherrn hetzte; als sie dem Bauer in entrüsteten Worten davon Mittheilung machte, schwieg Jörg eine Weile und sagte dann: „Ich dank’ Dir, Enzi! Aber den Valtl laß reden – dem sein Reden thut mir net weh!“

Doch war er von nun an seltener vom Hause abwesend; daß er sich häufig in der dunklen Abenddämmerung durch den Garten davonschlich, mit schwer beladenen Schultern, und bei grauendem Morgen wieder heimkehrte – das wußte ja nur die Mariann’. Viel begann sich Jörg in dieser Zeit mit seinen Kindern zu beschäftigen, die sich ihrerseits wieder eng und herzlich an den Vater anschlossen. Waren sie doch mit der Veverlbas’ seit langen Wochen gar nicht mehr zufrieden! Früher, wenn sie mit ihnen in der Stube oder im Garten beisammen gesessen war, da war sie ein Kind mit den Kindern gewesen, hatte ihre Spiele getheilt und hatte ihnen stundenlang vorgeplaudert von Allem, was sie wußte, was sie in Herz und Köpfchen trug. Jetzt aber war sie so schweigsam und verschlossen; aus einer Genossin der Kinder war sie zur stillen Wächterin geworden; wenn die Kinder zu ihren Füßen spielten, saß sie mit verschränkten Armen oder mit im Schoße gefalteten Händen, aufstarrend zur Stubendecke oder hinausblickend in ziellose Ferne, ernster noch und träumerischer als früher staunten die dunklen Rehaugen aus ihrem lieblichen Gesichte, das manchmal blaß und durchsichtig war wie die Kelchblätter einer Schneerose, dann wieder blühte und glühte in duftigem Roth wie ein Apfel bei beginnender Reife. Dabei streckte sich die Gestalt des Mädchens fast sichtlich von Tag zu Tag, und runder und voller wurden ihre Formen. Wenn auch nur Jörg allein diese plötzliche Wandlung zu verstehen meinte, so fiel sie doch allen im Finkenhofe auf. Ein Einziger nur hatte keine Augen dafür – der Dori. Veverl war ihm eben Veverl, und so, wie sie war, war sie ihm Alles.

Gar fleißig während all dieser Zeit sprach Herr Simon Wimmer im Finkenhofe vor, wenngleich ihm Dori’s Neckereien diese Besuche recht sehr verbitterten. Der Bursche hatte es bald gewittert, auf welch geheimen, absichtsvollen Wegen die „Verfluchte Geschichte“ wandelte, und da sann er nun allnächtig lange Stunden nach, welch einen Schabernak er am kommenden Morgen dem Didididi wohl spielen könnte. Redlich wurde Dori von Veverl unterstützt, um Herrn Wimmer’s hoffnungsvolle Laune zu trüben. Ein einziges Mal nur war es ihm gelungen, das Mädchen zu sprechen – und Veverl hatte nach dieser Unterredung, so kurz sie gewesen war, durch lange Stunden ein rothes Mal auf der Wange umhergetragen. Seitdem floh sie wie ein gescheuchtes Reh in die verborgensten Winkel des Hauses, wenn sie vom Hofe her das bekannte, würdevolle Räuspern hörte, oder wenn Dori ihr die Ankunft des Gefürchteten meldete. In der Hoffnung, Veverl zu treffen, stellte sich Herr Simon Wimmer sogar manchmal beim „Dreiß’gerbeten“ ein, aber nur ein einziges Mal glückte es ihm, den Platz an Veverl’s Seite zu erobern, so oft er dann wiederkam, fand er die Emmerenz zur Linken, den Dori zur Rechten des Mädchens. Dafür trug er aber vom letzten „G’sturitrunk“, der am fünfundzwanzigsten Mai gehalten wurde, ein seiner „Büldung“ wenig entsprechendes Räuschlein mit nach Hause. Die Leute wunderten sich damals, daß Jörg zugleich mit dem Rosenkranz für die Hanni auch die Gebete für den Ferdl schließen ließ, für welchen doch nach Recht und Brauch zwei Tage länger hätte gebetet werden sollen. Das Benehmen des Finkenbauern in dieser Sache hatte überhaupt manches Verwunderliche. Während er den Rosenkranz für die Hanni stets mit lauter Stimme mitzubeten pflegte, rührte er bei den Gebeten für den Ferdl keine Lippe, oder verließ wohl auch, wenn sie begannen, die Stube. Die Leute machten natürlich ihre Glossen – und die Meisten meinten: „Er zürnt sei’m Bruder noch im Tod – er kann’s ihm halt net vergessen, daß er ihm d’ Schandarm’ ’rein’zügelt hat in sein rechtlichen Hof!“

So nahte Ende Mai.

Die Zeit der Almfahrt war schon nahe, und da stieg bei grauendem Tage Emenerenz zu Berge, um Nachschau zu halten, wie ihre liebe Bründlalmhütte sich „g’wintert“ hätte und ob sie nicht durch die Lawinenstürze und Föhnstürme zu Schaden gekommen wäre.

Die Dirne kehrte von ihrer Bergfahrt früher zurück, als man erwartet hatte. In heller Aufregung suchte sie den Bauer und fand ihn in der Stube.

„Denk’ Dir g’rad, Finkenbauer,“ berichtete sie unter Thränen der Entrüstung, „mein’ ganze Hütten is ausg’raubt worden! ’s eiserne Oeferl haben s’ ’rausg’rissen aus der Holzstuben, ’s ganze Kreisterbett haben s’ davon, den Tisch mitsammt der Bank und die zwei Stühl’, alles G’schirr, was droben g’wesen is über’n Winter, und – noch net g’nug – mein’ Herrgott haben s’ mir mitg’nommen, die unchristlichen Halunken, und all meine Heiligenbildln dazu!“

„Ja was D’ sagst – was D’ sagst!“ that der Bauer ganz erschrocken und erzürnt.

„Ja – und g’wiß vor a drei, vier Wochen muß die Rauberei schon g’schehen sein. A Fährten siehst gar nimmer net – und wo s’ den Ofen ’rausg’rissen haben aus der ang’mauerten Wand, da sind die Riss’ und Brüch’ ganz alt schon zum anschaun. Und an Schlüssel zur Hüttenthür müssen s’ auch g’habt haben – oder es is gleich gar a Schlosser dabei g’wesen – denn an der Thür kannst gar nix sehen, daß ’was aufg’sprengt wär’ – ganz schön is ’s Schloß wieder zug’sperrt. So a Lumperei!“

Die Hände auf dem Rücken, wanderte Jörg in der Stube auf und nieder und schalt und wetterte, daß die Fenster klirrten.

„Ja mein, Bauer – mit’m Schimpfen is gar nix g’holfen! Da muß ’was g’schehen! Was is denn – soll ich ’leicht zum Kommandanten ’nauflaufen, daß er herkommt und die Sach’ zur Anzeig’ nimmt?“

„Was? Anzeigen? Das wär’ mir noch ’s Rechte!“ fuhr der Bauer auf. „Daß ich zum Schaden den Spott auch noch tragen müßt’. Meinetwegen sollen s’ hin sein, die paar lumpigen Mark, wo das Sach’ werth is – is mir lieber, als daß mich d’ Leut’ auslachen thäten im ganzen Ort. Und drum brauchst weiter nix z’ reden – ich laß Dir Dein’ Hütten schöner wieder herrichten, als wie’s z’erst g’wesen is!“

Das geschah nun auch in den nächsten Tagen, und zwar auf eine Weise, daß Niemand Ursache fand, nach dem Verbleib der alten Geräthe zu fragen.

Der Sonntag kam, an welchem im Wirthshause der Almtanz abgehalten wurde, eine Art von Abschiedsfeier für die Sennerinnen, die in den folgenden Tagen den Auftrieb nach den Almen vollführen sollten.

Da war es zur Nachmittagszeit, als Gidi von den Bergen niederstieg ins Thal. Von weitem schon hallten ihm die fröhlichen Tanzweisen, die johlenden Jauchzer und lustigen Gesänge entgegen. Was aber ging ihn all dieser Jubel an? Vierzehn volle Tage hatte er droben in seiner Jagdhütte verbracht; sein Mundvorrath war aufgezehrt, und um ihn zu erneuern, kam er nun niedergestiegen in das Dorf. Bei grauendem Abend wollte er wieder hoch oben sein im schönen, geliebten Bergwald.

Doch als er am Wirthshause vorüberschritt, rief ihn der Wirth mit so freundlichen Worten an, und manch ein Bekannter winkte ihm mit dem Kruge den Willkomm’ zu. Da konnte Gidi nicht anders. „No – meinetwegen – auf a Stamperl!“ lächelte er und schritt auf die mit grünendem Birkenreis geschmückte Thür zu. Vielleicht zog ihn neben Durst und Höflichkeit doch auch noch etwas Anderes in das lustige Haus, denn mit forschenden Blicken musterte er die offenen Fenster des im oberen Stocke liegenden Tanzsaales.

Er betrat die Stube, deren Decke unter den Füßen der Tanzenden zitterte und dröhnte. Eine Weile währte es, bis er [776] mit „Gott g’segn’s!“ und „Vergelt’s Gott!“ von Krug zu Krug die Runde gemacht hatte. Dann ging er in die Schlafkammer der Wirthsleute, um seine Büchse in eine sichere Ecke zu stellen; daneben warf er den Rucksack auf die Dielen und hieß den Hund sich darauf niederkuschen.

Schon wollte er die mit plaudernden und schäkernden Paaren verstellte Treppe zum Tanzboden emporsteigen. Da schlug durch die offene Hinterthür der Klang einer Cither und ein Gewirr von lachenden Stimmen an sein Ohr, und aus all diesen Stimmen kicherte eine besonders hell und lustig empor.

Mit langen Schritten eilte Gidi jener Thür zu; sie führte nach einem weiten, von einzelnen Bäumen durchsetzten Hofraume, den ein hoher Staketenzaun von der Straße trennte; in der Tiefe des Hofes war Brennholz in langen, plumpen Scheiten zu einer klafterhohen Mauer aufgeschichtet; rechts und links von der Thür standen im Schatten des vorspringenden Daches zwei Tische; den einen sah Gidi besetzt mit Burschen, deren Gesichter von Trunk und Tanz geröthet waren; er zuckte mit keiner Wimper, als er Valtl unter ihnen gewahrte, der vor sich die klingende Cither hatte. Mit stummem Nicken erwiderte er den grüßenden Zuruf einiger Bursche und steuerte gemächlichen Schrittes dem andern Tische entgegen, um welchen dicht gedrängt eine kleine Schar von Mädchen saß.

„Du – jetzt pass’ auf – jetzt holt Dich Einer!“ kicherte eine schwarzhaarige Dirne und stieß dabei der neben ihr sizenden Emmerenz den Ellbogen in die Seite.

„Geh’, laß mir mein’ Ruh’ – Dein’ Botschaft is kein Puff net werth,“ brummte Enzi und verdrehte die Augen.

Da stand der Jäger schon vor ihr. „Was is, Emmerenz – probiren wir ein’ mit ’nander? Hörst’ es – an Landlerischen spielen s’ droben – das is mein’ liebster – und nachher — der erste Tanz mit Dir – da kann nix fehlen!“

Emmerenz runzelte die Stirn, erhob sich langsam und legte ihre Hand in die dargebotene Rechte des Jägers. Während die Beiden so der Thür zuschritten, begann am andern Tische drüben die Cither zu schwirren und zu klingen mit heiserer Stimme fiel Valtl in die Weise ein:

„Der Bua, der is kurz,
Und sein Deandl net lang,
Und da sind die zwei richtigen
Stutzln beisamm’.“

Schallendes Gelächter erhob sich, denn es war unverkennbar, wem das Trutzlied gelten sollte. Valtl aber sang weiter:

„Und die Zwei sind schon g’recht’,
Und die Zwei passen z’samm’,
Und das giebt Dir a Rass’
So lang wier a Daam.“[17]

Das Lachen und Johlen verstärkte sich, wobei alle Blicke an dem Jäger hingen. Eine unheimliche Blässe lag auf Gidi’s Stirn und Wangen, ein drohendes Funkeln glomm in seinen Augen, aber sein Mund lächelte, und fester schlossen sich seine Finger, als er fühlte, daß Emmerenz ihre Hand aus der seinen zu ziehen versuchte.

„Und ’s Deandl is kugelrund …“

so wollte Valtl von neuem beginnen, aber sein heiseres Kreischen wurde von der hellklingenden Stimme des Jägers übertönt, der in die Ländlerweise, welche durch die offenen Fenster des Tanzsaales herniedertönte, mit den Worten einfiel:

„Der Haber muß reif sein,
Nacht kann man ’n erst maah’n,[18]
Und a Hirsch, der vermirkt’s net,
Wann d’ Aasraben kraah’n!“

Lauter Beifall folgte dieser Strophe; selbst auf Enzi’s Lippen erschien ein leises Lächeln der Befriedigung – rasch aber verschwand dieses Lächeln wieder, als sie die Antwort vernahm, welche Valtl der Strophe des Jägers folgen ließ:

Und a Jaagerknechts-Bua
Und a Stallmagd dazu,
Und a räudiger Hund –
Is a gar schöner Bund!“

Lautlose Stille herrschte nach diesen Worten; das war keine Anspielung mehr, welche die Ausrede hätte zulassen können: „Ich hab’ Dich net g’meint!“ – das war offene Beleidigung.

Dunkle Röthe goß sich über Enzi’s Gesicht, die Thränen schossen ihr in die Augen, und dem Jäger ihre Hand entreißend, stieß sie zornig hervor: „Schand’ und Spott muß man auch noch derleben mit Dir – da such’ Dir an Andere dazu!“

Mit irren Blicken schaute Gidi der Dirne nach, als sie dem Platze zuschritt, von dem er sie geholt hatte. Dann wandte er sich dem Knechte zu – sein ganzes Gesicht verzerrte sich, und in bläulicher Röthe schwollen ihm die Adern – jetzt schleuderte er den Hut beiseite, warf mit einem gurgelnden Wuthschrei die Arme in die Luft und stürzte auf Valtl los, daß der Tisch ins Wanken kam, Cither und Krüge mit Klirren und Klappern zur Erde flogen. Valtl hatte mit einem Fluche dem Angreifer den linken Arm entgegengestemmt, während in seiner geschwungenen Rechten das Messer blitzte.

Ein wildes Schreien und Kreischen erhob sich – schon aber hatte der Jäger Valtl’s Arm erhascht, und den Burschen mit sich niederreißend auf das Pflaster, schmetterte er ihm die Hand, welche das Messer umklammert hielt, wider die Steine, daß mit Klatsch und Klirren die Klinge weit hinausflog in den Hof.

Droben im Tanzsaal verstummte die Musik, neugierige Gesichter erschienen an allen Fenstern, die Thür füllte sich mit herbeieilenden Leuten, Bursche und Männer stürzten auf die Ringenden zu, um sie aus einander zu reißen – aber wie ein wüthender Eber die verfolgende Meute, so schüttelte Gidi die Fäuste von sich ab, die über seine Arme und Schultern herfielen. „So – so – stechen willst auch noch – stechen, – so – stechen willst auch noch –“ keuchte und schrie er, indem er seinen Gegner emporzerrte von der Erde, „g’hörst Du da her – g’hörst Du unter Menschen – wart’ – wart’ – Dir zeig’ ich, wo D’ hing’hörst – wo D’ hing’hörst – Du –“ und unter Würgen und Drosseln stieß und schleifte er den Knecht vor sich her dem Zaune zu, in dichtem Knäul das ganze Rudel der Abwehrenden hinter sich nachziehend. Valtl schlug mit Händen und Füßen um sich, kratzte und biß – aber dieser wilden, von Wuth und Haß entfesselten Kraft gegenüber gab es kein Entrinnen. Mit jähem Ruck hob Gidi den Burschen empor und wälzte ihn über die knackenden Staketen hinweg, daß er wie ein voller Sack auf die Straße plumpste und über Staub und Steine niederkollerte in die tiefer liegende Wiese. Mühsam erhob sich Valtl – „Wart’, Jaager, das brock’ ich Dir ein!“ knirschte er und verzog sich unter dem Gelächter der Leute hinter die nahen Haselnußstauden.

Lachend kehrten die Männer und Bursche zu den Tischen und in das Wirthshaus zurück; sie alle waren froh darüber, daß diese Sache, die ein so böses Gesicht gezeigt, einen so annehmbaren Ausgang gefunden hatte.

Gidi stand eine Weile, tief athmend, und wischte sich mit dem Joppenärmel die Wangen und das Gesicht. Dann schritt er geraden Weges auf Emmerenz zu.

„So, Deandl ― der Weg is frei – jetzt komm’ zum tanzen!“

„Gelt Du – laß mich in Ruh’ –“

„Enzi!“

„Enzi – Enzi hat mein’ Mutter zu mir g’sagt und kann mein Bauer sagen – für Dich heiß’ ich Emmerenz. Und zum Tanz such’ Dir an Andere – Du wüthiger Teufel, Du!“

„Schau’ aber g’rad mit Dir möcht’ ich tanzen!“ stieß Gidi mit scharfer, bebender Stimme hervor und haschte dabei das Handgelenk der Dirne. Da half ihr nun kein Wehren und Sträuben – wortlos zog er sie mit sich fort in den Flur, und über die Treppe empor in den Tanzsaal. Mit Lachen und Kichern drängten die Mädchen und Bursche sich ihnen nach. Für keinen Augenblick gab Gidi die Dirne frei; mit der linken Hand zog er sein Schnürbeutelchen aus der Tasche, öffnete es mit Fingern und Zähnen und warf einen Preußenthaler auf den Musikantentisch.

„An Landlerischen!“ befahl er – und als die Weise begann, schwang er mit einem Juhschrei den Hut, schraubte die Arme um Enzi’s Hüften und wirbelte sie durch den niedrigen Saal, daß ihre Röcke nur so flogen und die dicken, rothblonden Zöpfe sich loslösten ven ihrem Haupte. Rings um die Wände stand Paar an Paar gereiht, und sie alle folgten mit ihren Blicken diesen Beiden. Gidi war ja bekannt als der beste und geschickteste Tänzer des ganzen Thales und es war immer ein „Staat“, ihn tanzen zu sehen.

Lauter Beifall begrüßte das Paar, als die Musik verstummte und Gidi unter einem letzten Juhschrei die Dirne mit beiden Armen hoch aufschwang über seinen Kopf.

Stolz lächelnd blies Enzi, als sie wieder auf den Dielen stand, die hochrothen Backen auf und wollte ihrem Tänzer die Hand reichen, um sich aus dem Saale führen zu lassen.

[778] Gidi aber übersah die Hand. „Das war unser erster Tanz, Emmerenz,“ sprach er die Dirne leise an, „– und ich mein’ schier, unser letzter! Ich dank Dir schön – und nix für ungut!“ Damit rückte er den Hut und stapfte davon.

Wenige Minuten später wanderte er schon mit langen Schritten dem Schloßberg zu, die Büchse auf dem Rücken, begleitet von seinem Hunde, der unter fröhlichem Gebell und mit spielenden Sprüngen seinen Herrn umkreiste. Im Finkenhofe aber war ein arges Verwundern darüber, als die Oberdirne lange vor „Betläuten“ schon vom Almtanz nach Hause kam, mit einem so fuchsteufelswilden Gesichte, daß ihr alles Gesinde aus dem Wege ging.


Drei Tage verstrichen, und unter den Sticheleien der Dienstboten verschlimmerte sich Enzi’s Laune noch. Am bittersten mußte Dori darunter leiden. Wie er seine Arbeit auch thun mochte, immer hatte die Oberdirne daran zu nörgeln und zu räkeln.

Um dieses einen Umstandes willen athmete Dori ordentlich auf, als der Morgen kam, an welchem der Auftrieb zur Alm vollzogen werden sollte. Andererseits freilich war ihm das Herz gar schwer; denn dieser Morgen brachte ja den Abschied von Veverl. Als er bei grauendem Frühlicht in die Gesindestube zur Morgensuppe kam, hatte er ein ganz verschwollenes Gesicht und rothe Augen und immer wieder fuhr er sich mit den Fäusten über die Wangen und unter die Nase, während er die siebzehn Schafe, die droben auf den Bergen seiner Aufsicht unterstehen sollten, aus dem Pferche in den Hof trieb, wo er den Mutterthieren die kugeligen Schellen, dem Widder die große Leitglocke um den wolligen Hals befestigte. Inzwischen trieb die Emmerenz unter Schelten und Schreien die läutenden, brüllenden Kühe und die blökenden Kälber vor dem Zaune auf einen Knäuel zusammen und fuchtelte dabei mit ihrem langen Haselnußstabe, wie ein Fuhrmann vor dem Knallen mit der Peitsche.

Inmitten des Hofes stand Mariann’ in leisem Gespräche mit dem Bauer, der den Bergstock in Händen hielt und die schwerbepackte Kraxe schon auf dem Rücken trug.

Veverl lehnte, die beiden Kinder an ihrer Seite, am Geländer der Grät. Die eine Hand hielt sie in der Tasche ihres Röckchens vergraben. „Dori, Dori!“ hatte sie schon ein paarmal leise gerufen, aber so oft der Bursche in ihre Nähe kam, eilte er abgewandten Gesichtes an ihr vorüber.

Draußen im Hofe mahnte jetzt der Bauer die Emmerenz, daß sie doch das Schelten und Fuchteln lassen möchte; mit Ruhe käme sie rascher zum Ziele, und es wäre an der Zeit, mit dem Auftrieb zu beginnen, wenn man vor der Mittagshitze die Bründlalm erreichen wollte.

Als Veverl den Jörgenvetter so drängen hörte, verließ sie die Grät, um Dori unter seinen Schafen aufzusuchen, und sprach den Burschen mit vorwurfsvollen Worten an: „Han, Dori – möchtest gleich gar auf d’ Alm auftreiben, ohne daß mir,B’hüt Gott!‘ sagen thätst?“

„Ah na – ah na, Veverl,“ stammelte Dori und fuhr mit der schnuffelnden Nase in die Höhe, ich wär’ schon noch kommen – g’wiß – ganz g’wiß!“

„No, jetzt brauchst ja nimmer kommen, jetzt bin ich ja da,“ erwiderte das Mädchen mit treuherzigem Lächeln. „Und — schau, Dori, da hab’ ich Dir ’was ’bracht, das gieb ich Dir mit auf d’ Alm, weil mir doch auch schon so oft a Freud’ g’macht hast!“ Dabei zog sie die Hand aus der Tasche und reichte dem Burschen ein winziges, aus dunklem Seidenstoff gefertigtes Säckchen, das an einer dünnen Schnur befestigt war. „Da – das mußt um Dein’ Hals ’rumhängen – weißt – a heiligs Bannwürzerl is drinn’, das b’schützt vor gachem Unglück und vor Zaubermacht – so hat mein Vaterl g’sagt, der wo mir’s ’geben hat.“

Die dicken Thränen schossen dem Burschen in die Augen. „Veverl – Jesses na – o mein Gott, o mein Gott – na na, das kann ich net nehmen,“ stotterte er, griff aber hastig mit den beiden zitternden Händen nach dem Schnürchen und fuhr damit seinem Halse zu. Danken konnte er dem Mädchen nicht, denn das kleine Liesei faßte ihn bei der Joppe und frug: „Du, Dori, han, dauert’s noch lang’, bis d’ Edelweißbleameln blühn?“

„O nein – noch g’wiß a fünf a sechs Wochen,“ stotterte der Bursche und versuchte seinen Joppenzipfel aus den Händen des Kindes zu ziehen.

Das Liesei aber hielt fest. „Gelt, Dori, wenn s’ nachher blüh’n, nachher suchst mir eine, und wann D’ abtragen thust, nachher bringst mir s’, gelt? Und – und wann ’leicht dem Edelweißkönig sein Königsbleamerl finden thätst, nachher bringst mir’s auch, gelt, Dori – weißt, ich gieb Dir schon was dafür!“

„Ja, ja, Liesei, is schon recht – aber laß mich nur jetzt g’rad a bißl aus —“

Weiter kam Dori nicht, denn der Bauer trat herzu und mahnte: „Schau, daß Dein’ Kraxen in d’ Höh’ bringst! Es is an der Zeit!“ Dann reckte er sich hoch auf und rief über die Herde hinweg: „Enzi – jetzt wird amal marschirt!“

„Ja, Bauer, ich bin schon g’recht!“ scholl die Stimme der Dirne entgegen. Jetzt kam die Mariann’ herbei geeilt. Sie hatte das Weihbrunnkesselchen aus der Stube geholt, rief die Sennerin und den Hüterbuben zu sich, besprengte sie mit dem geweihten Naß und wünschte ihnen glückliche Almzeit.

Nun setzte sich der Zug in Bewegung. Der Bauer schritt voraus; ihm trotteten die Schafe nach, dann kamen mit Läuten und Brüllen die Kühe und Kälber, denen Enzi und Dori mit ihren hohen Kraxen und langen Stäben folgten. Am Zaune glückte es dem Dori noch, Veverl’s Hand zu erhaschen; er sprach kein Wort dazu, er schnuffelte und schluckte nur unter Thränen. Doch als er die Straße erreichte, fuhr er sich mit der Faust über die Augen, schnalzte mit der Zunge und ließ einen Juhschrei in die Lüfte schrillen, daß klingend von allen Bergen das Echo wiedertönte.

„So is recht! So g’hört sich’s!“ lächelte Mariann’; dann aber wandte sie sich mit ernstem Gesichte zu Veverl. „Daß sich d’ Enzi gar net hören laßt! Ich weiß net – die zieht heuer mit ei’m recht unguten G’müth auf d’ Alm – und – so ’was is net gut – für sie net und net für’s Vieh.“ Und mit besorgten Blicken sah sie der Dirne nach, die hinter ihrer Herde einherschritt, als ging es weiß Gott wohin, nur nicht nach der Bründlalm, nach ihrem „liebsten Platz auf der weiten Gotteswelt“.

Mit desto hellerem Gesichte blickte Dori der Höhe zu, der sie entgegen stiegen, und als der Zug den Frühschatten der ersten Bäume erreichte, begann er ein Jodeln und Jauchzen, daß es nur so wiederhallte im steilen, rauschenden Bergwalde. Als aber einmal der Weg am Höllbachgraben hart vorüber führte, verstummte der Bursche plötzlich inmitten eines Jodlers und faßte die Emmerenz bei’m Arme: „Du – da schau – der Bauer!“ flüsterte er und deutete nach dem vom Gestrüpp überwucherten Hang, über welchen Jörg emporstieg, in der Richtung nach der hohen Platte.

„No ja – er wird halt droben a Vaterunser beten,“ meinte die Dirne.

„Du – han,“ frug Dori nach einer Weile, „weßwegen hat er denn an dem Platzl, wo’s Unglück g’schehen is, noch allweil kein Marterl aufrichten lassen? Das g’höret sich doch!“

Enzi zuckte die Schultern. „Was weiß denn ich? Und was geht’s denn uns an, wenn der Bauer net thut, was der Brauch is? Das is sein’ Sach’ net die unser’!“

Dori schwieg, runzelte die Stirn und schaute im Weiterschreiten dem Bauer nach, der zwischen hohen Büschen verschwand. Hätte er ihm noch weiter mit den Blicken folgen können, so würde er wohl zu der Ansicht gekommen sein, daß Emmerenz mit ihrer Meinung nicht das Richtige getroffen hatte. Wenigstens schien Jörg keine Eile zu haben, die Unglücksstelle zu erreichen. Als er sich aus dem wirren Buschwerk auf den freien, von Felsenklötzen übersäeten Hang gewunden hatte, verhielt er aufathmend die Schritte, setzte die Kraxe auf einen Stein und löste die Arme aus den Tragbändern. So stand er geraume Zeit und lauschte nach dem Wege hinunter, bis das Läuten, Blöken und Brüllen der almwärts ziehenden Schafe und Rinder fern und gedämpft einherklang durch das dichte Gehölz.

Jezt schlich er geduckten Leibes am Rande des Gebüsches entlang; als er den steilen Absturz erreichte, lauschte und lugte er wieder emporgereckten Hauptes – diesmal über die Schlucht hinweg der Richtung zu, in welcher die Jägerhütte stand. Dann las er drei faustgroße Steine von der Erde und steckte sie in die Joppentasche. Vorsichtig stieg er über den Schluchtrand auf einen Vorsprung nieder, der sich gleich einem Gesimse an der abfallenden Wand entlang zog; Steinschrunden, Felsecken und kümmerndes Gesträuche boten für seine Hände den nöthigen Halt, während er langsam dem der Höhe zuführenden Gesimse folgte; wo dasselbe [779] näher an den Schluchtrand stieg, ging Jörg gebückt, als fürchte er die Blicke irgend eines Menschen, den Zufall oder Absicht etwa in die Nähe des Höllbaches geführt hätte. Achtsam setzte er Fuß vor Fuß, und dennoch dämpfte das Rauschen, das aus der Tiefe quoll, kaum das Geräusch seiner Tritte. Der Firnenschnee, der unter Föhn und Sonne zur Frühjahrszeit die brausenden Gewässer durch die Höllbachschlünde ins Thal geschickt, war längst zerschmolzen bis auf wenige, schmutzig graue Felder, auch war seit Wochen kein starker Regen mehr gefallen; der Höllbach nährte sich fast nur noch aus spärlich rinnenden Quellen, die mit Triefen und Rieseln über die steil abfallenden Wände ihren Weg in die dunkle Tiefe suchten. Wenn Jörg auf seinem gefährlichen Pfade das Rinnsal solch einer Quelle passirte, wurde er übersprüht von dünnen Tropfen und weißlichem Wasserstaube. Endlich hielt er an; während er den linken Arm zu besserem Halte in eine Felsschrunde preßte, holte er mit der rechten Hand einen der drei Steine aus der Tasche und ließ ihn niederfallen in den Abgrund.

Hin- und widerprallend von Wand zu Wand, verschwand der Stein zwischen den in einander greifenden Felsgefügen, die den Blick in die Tiefe wehrten; ein Poltern und Kollern folgte, das mit einem dumpfen Klatschen erlosch. Im gleichen Augenblicke warf Jörg den zweiten Stein – dann stand er eine Weile lauschend und rührte wie zählend die Lippen, bevor er den dritten Stein von der ausgestreckten Hand in den Abgrund sinken ließ. Wieder folgte jenes Poltern und Klatschen, doch kaum es verhallt war, schwirrte aus der Tiefe ein klirrender Laut empor; das klang, als wäre dort ein eiserner Stachel heftig wider einen Stein gestoßen worden. Jörg nickte vor sich hin, als hätte er diesen Laut zu hören erwartet, und wandte sich zur Umkehr. Doch wenige Schritte nur hatte er gethan, als ein seltsames Geräusch ihn niederblicken machte in die Tiefe. Unter den überhängenden Felsen kam ein weißer Vogel von Taubengröße hervorgeflattert, setzte sich auf einen von blaßgelben Algen überwachsenen Steinvorsprung, öffnete wie gähnend den Schnabel, reckte schlagend die Schwingen und ließ sich mit krächzender Stimme vernehmen: „Echi, do, do, a do, Echi, Echi.“

„Ja gehst net – gehst – gehst, Du – gscht, gscht, gscht!“ flüsterte Jörg und suchte mit fuchtelndem Arme den Vogel zu verscheuchen. Der aber rührte sich nicht vom Flecke; hurtig wendete er den Hals hin und her, lugte bald mit dem einen, bald mit dem andern seiner kleinen schwarzen Augen zu Jörg empor und plapperte dazu: „Do, Görgi, do, a do, gedegg gedegg.“

Mit ungeduldigen Fingern bohrte Jörg ein Steinbröckchen aus einer morschen Stelle der Felswand und schleuderte es mit scheuchendem Zischen nach dem Vogel; der hüpfte erschrocken empor und ließ dabei seine Stimme vernehmen, daß es halb wie zorniges Gackern, halb wie Gelächter erklang; dann breitete er die weißen Schwingen und schwebte in kreisendem Falle der Felsspalte zu, aus der er emporgeflattert war.

Eine Weile noch lauschte Jörg wie in ängstlicher Besorgniß in die Tiefe nieder, dann trat er den Rückweg an. Als er den Stein erreichte, auf welchem seine Kraxe stand, löste er die Verschnürung derselben, zog einen schweren, mit grobem Tuche umwickelten Pack hervor und schlich mit ihm einer dichten Stelle des Gebüsches zu. Hier hob er von der Erde mit schwerer Mühe eine Felsplatte empor, unter welcher eine kleine Höhlung zum Vorschein kam: in diese legte er den Pack und deckte die Platte wieder darüber. Dann kehrte er zu seiner Kraxe zurück, lud sie auf seine Schultern und folgte mit rüstigen Schritten dem Wege nach der Bründlalm.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 48, S. 789–795

[789] Am nächsten Morgen langte Jörg mit schwerbeladener Kraxe zu Hause an. Die Leute im Finkenhofe glaubten natürlich, daß der Bauer bei grauendem Tage die Alm verlassen hätte – während droben die Emmerenz meinte, der Bauer könnte wohl noch vor der „ärgsten Finstern“ den Finkenhof erreicht haben.

In emsiger Arbeit verbrachte Enzi den Tag, während Dori jodelnd hoch droben im Gestein bei seinen Schafen hockte. Als der Abend kam, fachte die Dirne die auf dem Herde glimmenden Kohlen zu hellem Feuer an und schüttete Mehl zum Schmarren in die Pfanne. Da hörte sie Schritte. „Dori?“ rief sie – keine Antwort folgte, aber die Schritte kamen näher. Jetzt erkannte sie diesen festen, gleichmäßig raschen Gang, und eine jähe Röthe flog über ihre Wangen.

Gidi erschien unter der Thür. „Grüß’ Dich Gott, Sennerin! Is verlaubt, daß man zukehrt in Deiner Hütten?“ sprach er die Dirne an, die keinen Blick von ihrer Pfanne verwandte.

„Warum net? ’s Bankl is leer – und is g’macht zum Rasten. Und – grüß’ Dich Gott auch.“

„No ja, niedersetzen kann ich mich ja a bißl,“ meinte Gidi, während er die Büchse an die Holzwand lehnte und dann der Bank zuschritt, „aber – weißt – weg’m Rasten, da hätt’ ich mich g’rad net daher verirren müssen. Sind ja draußen Stein’ und Stöck’ g’nug um anander, wo man sich draufsetzen kann – ja, recht kommod auch noch.“

„No, weßwegen hast Dich denn nachher daher ver … verirrt?“ lautete die bissige Antwort.

Gidi stützte die Arme auf die Kniee, drehte die Daumen und begann mit den Füßen zu trommeln. „Ja mein – weißt – ich hab’ mir halt ’denkt, a jeder Handel, der ang’redt worden is und hat sich verfahren, muß ausg’redt werden auch wieder, und drum hab’ ich mir ’denkt, was wir Zwei mit anander haben, därfet doch auch net verlaufen wie ’s Hornberger Schießen.“

„Wie wir Zwei mit anander haben?“ wiederholte Emmerenz erstaunten Tones, und dabei rührte und rührte sie, daß der eiserne Löffel nur so klapperte in der Pfanne. „Ja, was haben denn wir Zwei mit anander?“

[790] Gidi nickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann plötzlich richtete er sich auf und henkte die Daumen in die Hosenträger ein. „Du heut’ is fein g’rad a Jahr’, daß wir zeei uns zum ersten Mal g’sehen haben.“

„Was D’sagst! Na – hast Du aber a G’mirk!“ fuhr Enzi mit gezwungenem Lachen auf.

„Ja, g’rad a Jahr!“ plauderte Gidi ruhig weiter, während ein leises Lächeln um seine bärtigen Lippen zuckte. „Und – Du – selb’gs Mal hab’ ich Dir fein g’schaut, wie ich so ’rein bin in Dein’ Hütten und hab’ Dich so dastehen sehen – ja – – gleich hast mir g’fallen!“

Hastig wandte Enzi das dunkel geröthete Gesicht dem Jäger zu. Ihre Augen schossen Blicke wie brennende Pfeile, und in ihrer Rechten schwang sie gleich einem Schwerte den eisernen Schmarrenlöffel. „Du – föppeln laß ich mich fein net!“

„Föppeln? Ah na! Ich will ja nix als wie verzählen –“

„Ich hab’ kein’ b’sondere Freud’ an G’schichten,“ brummte die Dirne und machte sich wieder mit ihrer Pfanne zu schaffen. „Aber no – wenn meinst, es müßt’ sein – meinetwegen – aber gelt, mach’s net wie’s Testament, das anfangt mit der Erschaffung der Welt!“

„No, wär’ net amal so z’wider, so an Anfang – denn g’rad wie der Adam hab’ ich selbigs Mal g’meint, der Herrgott hätt’ mir mein’ Eva g’schickt. Ja – so viel hast mir g’fallen! Und da bin ich halt nachher dag’wesen Tag für Tag. Und gar net z’wider is Dir’s g’wesen! Gern hast mit mir ’plauscht – und wann ich ’runterg’stiegen bin übers G’wänd und hab’ mich ang’meldt mit ei’m Juhschrei, da hast mir zug’jodelt – ja g’rad sakrisch!“

„Ah geh’!“ klang es mit spitzigem Kichern über Enzi’s Lippen.

„Ja, g’rad sakrisch! Und natürlich, wie’s halt so weiter ’gangen is, da hab’ ich mir ’denkt. da brauch’ ich ja gar net z’reden, das gibt sich ja ganz schon von selber, denn das hab’ ich bald g’merkt, wie gut als D’mir worden bist mit der Zeit – ja, arg gut!“

Enzi stieß das Holzscheit, das sie von der Erde gehoben, in die Kohlen, daß eine knisternde Funkengarbe hoch aufsprühte über die Pfanne, und unter hellem Gelächter stammelte sie: „Jetzt, das is mir ’was Neu’s – ah, ah, ah!“

„Was? Das hast Du gar net g’wußt?“ frug Gidi mit gemächlichen Worten, während er die Dirne mit einem zwinkerndem Vlicke streifte. „No – nachher sag’ ich Dir’s halt jetzt – ja, und – wer weiß, vielleicht könnten wir schon lang mit anander hausen, wenn –“

„Wenn ich mögen hätt’ – wenn ich mögen hätt’!“ unterbrach die Dirne mit zorniger Stimme die ruhigen Worte des Jägers. „Denn das wirst mir doch zugeben, daß ich bei so ’was g’fragt hätt’ werden müssen auch!“

„Schau, Enzi,“ sprach Gidi nach einer Weile mit ernst bewegten Worten weiter, „ich hab’ a gut’s Auskommen, das für zwei reichet – und für mehr auch noch! Aber natürlich – prassen kann man net dabei, ’s Hausen und Sparen muß man ordentlich verstehen – und – wenn man z’frieden sein will, muß halt auch die richtige Lieb’ dabei sein, wo aushalt’ für Leben und Sterben. Hab’ allweil g’meint, es wachst sich so ’was noch aus bei Dir – aber – der letzte Sonntag hat mir d’ Augen aufg’macht. Das is nix, Enzi, das bißl Gernhaben, das ’leicht hinter Dei’m Trotzen noch stecken mag! Das is z’ wenig für achthundert Mark im Jahr, wo d’ Lieb’ an jeden Pfennig strecken muß. Und mehrer is net da bei Dir, das hab’ ich g’merkt am letzten Sonntag – denn – weißt – die Spöttlerei den ganzen Winter über, die hätt’ nix bedeut’t – aber – aber daß D’ mich. am letzten Sonntag vor alle Leut’ beleidigen hast können bis in d’ Seel’ ’nein, daß D’ sagen hast können: an mir mußt Schand’ und Spott derleben und daß Du’s g’rad vor demselbigen hast sagen können, der mir der Z’widerste is im ganzen Thal, schau, Enzi, da draus hab’ ich dersehen müssen, daß ich Dir so viel net werth bin, als ich Dir werth sein müßt’, wenn – wenn wir z’samm’ stehn sollten fürs Leben – und – und daß nix G’rechts mit uns zwei nimmer werden kann. No – arg g’nug is mir’s, das kannst glauben, aber ich werd’s schon verdrucken in mir drin mit der Zeit, und – – Dir liegt ja nix dran! Oder is ’leicht net a so?“

„Was fragst denn noch –“ stieß Enzi, ohne sich zu rühren, zwischen den geschlossenen Zähnen hervor, „was fragst denn noch, wenn Du’s eh so g’wiß schon weißt?“

„Ja, ja!“ nickte Gidi zögernden Wortes vor sich hin. „Und – was ich noch hab’ sagen wollen – schlecht mußt net denken von mir wegen dem, was am Sonntag darnach noch g’schehen is. Ich bin Keiner, der Streit und Händel sucht – aber – wenn man so gach im Augenblick sein’ ganze hoffende Freud’ verliert, da muß ja der Mensch wild werden. Natürlich – was hätt’ ich mit Dir denn machen sollen? Bist ja a Deandl! So hab’ ich halt den andern packt – aweil auf Abzahlung, bis ich mit ihm ans letzte Rechnen komm’ – er lauft mir schon amal wo überzwerch, wo er net hing’hört. Jetzt hat er mich derweil verklagt beim G’richt – wegen Körperverletzung. Aber so g’scheit bin ich dengerst in der ganzen Wuth noch g’wesen, daß ich kein Tröpfl Blut verschuldt hab’ an ihm – da wird’s halt nachher ‚grober Unfug‘ heißen, hat der Didididi g’sagt – und da werden s’mich halt einsperren a paar a drei Tag’ oder strafen um a dreißig a vierzig Mark. No – das sind halt nachher die Kurkosten für die einbilderische Krankheit, von der mich am letzten Sonntag kurirt hast. Und wenn ich’s g’nau anschau’, bin ich eigentlich noch ganz billig – –“ Gidi unterbrach sich, während er die Nase schnuppernd in die Höhe hob. „Enzi – gieb acht – Dein’ Schmarren brennt an!“

Die Dirne fuhr auf, als hätte dieses Wort sie aus tiefen Gedanken geweckt, verstanden mußte sie es aber doch wohl haben, das war der Antwort zu entnehmen, die sie dem Jäger gab: „Du mußt ihn ja net essen – es ist ja mein Schmarren, der anbrennt!“ Dennoch griff sie mit hastiger Hand nach dem Pfannenstiele, schüttelte und rüttelte daran und begann mit dem eisernen Löffel ein Kratzen, Stochern und Schaufeln, daß es nur so klapperte und rasselte.

Schweigend sah Gidi der Dirne eine Weile zu, dann fuhr er seufzend mit der Hand nach dem Halse, als wäre ihm plötzlich der Hemdkragen zu enge geworden, und sagte. „No also – da wär’ ja nachher jetzt unser Handel ausg’redt in aller Ordnung – ich weiß, wie ich dran bin, und – und Du hast von heut’ an Dein’ gute Ruh’ vor mir. Der Berg is weit – und a jeder Weg, wo ich eheder g’meint hab’, er laßt sich net besser gehn als g’rad vorbei an Deiner Hütten, laßt sich anders machen auch. Meine Schuh’ drucken Dir kaum neehr a Nagelspur in Dein’ Hüttenboden. Und wenn mich g’rad amal brauchen thätst – man weiß ja net, was einer Semmerim auf der Alm zustehn kann, wo s’ a paar gute Arm’ vonnöthen hat – ja – weißt ja, wo’s Jagdhäusl steht – – da müßt’ mir’s dengerst sagen lassen, oder müßt’ mich selber holen.“

„Du – gelt – da laß Dich aber’s Warten net verdrießen!“ klang es mit eineen ingrimmigen Lachen voen Herde her.

Gidi zuckte die Achseln und schnitt eine bedenkliche Grimasse. „No – man kann net wissen – weißt – b’schreien sollst g’rad auch nix! Und – – b’hüt Dich Gott somit!“ Er sah noch, wie Enzi zum Gegengruße langsaen mit dem Kopfe nickte, dann rückte er den Hut, warf die Büchse über die Schulter und schritt der Thüre zu. Auf der Schwelle blieb er wie angewurzelt stehen, lauernde Spannung lag in den Blicken, mit denen seine Augen an der Dirne hingen. Eine stumme Weile verstrich, Enzi aber rührte sich nicht, sie hatte nur Augen für die dampfende Pfanne. Wieder zuckte Gidi die Schultern, hob, mit den Fingern schnippend, die Hand zur Stirne. „B’hüt’ Dich Gott!“ klang es noch einmal kurz und scharf von seinen Lippen, und mit eineen langen, hastigen Schritte trat er ins Freie.

Jetzt fuhr die Dirne auf, mit eineen scheuen Blicke kehrte sie das Gesicht der Thüre zu, und als sie die Schwelle leer sah, schrak sie erblassend zusamenen. „Gidi!“ huschte es mit zitterndem Rufe von ihrem Munde, und dabei streckte sie die Arme, als bedürfte sie einer Stütze.

Dem feinen Ohre des Jägers war dieser Ruf nicht entgangen. Wie ein Wetterleuchten der Freude flog es über sein Gesicht – und dennoch verhielt er den Fuß nicht. „Bua – sei g’scheit – sei g’scheit!“ murmelte er durch die geschlossenen Zähne, dann drückte er die Augen zu, krampfte die Hand noch fester um den Lauf der Büchse und beschleunigte seine Schritte.

*  *  *

[791] Tag um Tag verging. Ein böser Geist schien auf der Bründlalm sein Unwesen zu treiben. Gleich in der ersten Woche hatte sich zu Enzi’s Kummer eine der beiden Ziegen, die der Bauer nachgeschickt, verstiegen oder erstürzt, und trotz des eifrigen Suchens war nicht Haar noch Knochen von dem Thiere mehr zu finden. Dann waren in kurzer Zeit von Döri’s kleiner Herde zwei Lämmer verschwunden; sie mußten während der Nacht von den Mutterthieren weggestohlen worden sein. Das aber waren Dinge, wie sie auf jeder Alm geschehen können, und Dori hätte darüber schwerlich so viel von seiner guten Laune verloren, wenn ihm nicht ein anderer Umstand schwer zu Gemüth gegangen wäre. Lange vor der Auffahrt schon hatte Enzi dem Burschen versprochen, ihm für diesen Sommer das Geschäft des Abtragens zu überlassen. Als aber am ersten Samstage die mit Käslaiben und Butterballen beladene Kraxe bereit stand und Dori sich schon zum Abtragen anschickte, erschien der Finkenbauer plötzlich in der Bründlhütte; der sprach zu Enzi von Verfettung und Blutstockungen, die sich bei ihm seit einiger Zeit verspüren ließen; und da es hiergegen kein besseres Mittel gäbe, als andauernde, ermüdende Bewegung, hätte er sich entschlossen, in diesem Sommer den wöchentlichen Almgewinn auf den eigenen Schultern ins Thal zu fördern. Und in der Folge erschien er auch pünktlich an jedem Samstage in der Bründlhütte, um sich bei Beginn der Dämmerung mit der schwer beladenen Kraxe auf den Weg zu machen. Da war nun freilich mit einem Male die ganze stille Hoffnung zerstört, welche Dori beim Abschied von Veverl auf diese Samstage gesetzt hatte. Sein einziger Trost war jetzt der Jäger, der doch manchmal ins Dorf hinunter kam; so oft er im Bergwald oder hoch oben auf den steinigen Hängen mit ihm zusammentraf, wußte er mit Fragen nach Veverl’s Aussehen und Befinden zu keinem Ende zu kommen. Als ihn der Jäger einmal wegen dieser g’spaßigen Neugier mit scherzenden Worten aufzog, meinte Dori mit einem hilflos verlegenen Lächeln: „Weißt, ich hab’ mich halt soviel an das liebe Deandl g’wöhnt – ja – mir is jetzt g’rad z’ Muth, wie ei’m Hundl, wo sein’ Herrn verloren hat.“

Geschickt verstand es Gidi, bei solchen Zusammenkünften die Rede auf Emmerenz zu bringen, und immer erhielt er dabei von Dori den gleichen Bescheid, wenn auch stets in anderen Worten.

„Ich weiß net, was mit der Sennerin is! Ich kenn’ s’ gar nimmer – und schier zum verwundern is, wie sich die verwandelt hat,“ erzählte Dori eines Tages. „Ganz z’sammgehn thut s’ – a ganz an anders G’sicht hat s’ kriegt. Ich sag Dir’s, Jaager, wirst es sehen, bei der kocht sich a Krankheit aus, a schwere Krankheit!“ Wenn Gidi solche Worte hörte, kam ein merkwürdiges Zwinkern über seine Lider, und ein leises Schmunzeln spielte um seine Lippen, obwohl er doch sonst immer mit einem Gesicht umherging, welches das Lachen verlernt zu haben schien. Schwere Sorgen mußten ihn drücken. Tag und Nacht war er auf den Füßen, denn Dori begegnete ihm zu den verschiedensten Stunden, und häufig an Plätzen, wo er den Jäger mit keinem Gedanken vermuthet hätte; oft tauchte er plötzlich vor dem Burschen aus einem Latschenbusche oder hinter einem Felsblock auf. Und wenn dann die Beiden Seite an Seite saßen, verriethen Gidi’s Mienen und Bewegungen ein unablässiges Spähen und Lauschen. Zu dutzendmalen hörte Dori von ihm die Frage: „Hast Niemand net g’sehn? hast Niemand net ’troffen?“ Immer war ein Kopfschütteln die einzige Antwort, die der Bursche zu geben wußte – und da hörte er einmal den Jäger mit erregten Worten sagen: „Ich kenn’ mich nimmer aus – ich weiß nimmer, was das is! Allbot find’ ich Trittspuren, bald da, bald dort, und nie net sieh ich an Menschen, und nie net hör’ ich ein’! Oft, wenn ich in der Früh an Platzln komm’, wo ich am Abend noch g’wesen bin, is in der Nacht wer drüber ’gangen. Und wenn ich die Fährten nachsuch’ – keine führt ins Thal! Und diemal hören s’ auf, wie wann der Kerl fortg’stiegen wär’ in die Bäum’ oder verschwunden in der Luft.“

Mit offenem Munde hörte Dori diese Worte, an, meinte dann, das wären „g’spaßige Sachen“ und sprach mit zögerndem Flüstern von mancherlei Spuk und Geistertreiben. „Gieb acht, Gidi, gieb acht,“ zischelte er dem Jäger ins Ohr, „da is ’was net richtig – daheroben is ja g’rad der Platz zu so ’was – weißt ja, was g’schehen is da in der Näh’, wo alleweil noch kein Marterl steht.“ Dabei winkte er mit der Hand hinüber nach dem Höllbachgraben.

„Ah was, Dummheiten!“ fuhr Gidi ärgerlich auf.

Und von diesem Tage an unterließ er es, zu Dori von den Sorgen zu sprechen, die jene räthselhaften Trittspuren ihm bereiteten.


Die Tage begannen schon wieder kürzer, die Nächte kühler zu werden. Der Bergwald dehnte sich in dunklem Grün, die Almenrosen hatten ausgeblüht, doch auf den windumwehten Schroffen und Gehängen spannte jetzt die lieblichste aller Hochlandsblumen ihre schneeigen Sterne in stiller, keuscher Schönheit über das ärmlich kümmernde Höhengras.

Wenn der Sommer scheiden will mit seinen Rosen und Schwalben, wenn der nahende Herbst den Bergen die ersten kalten Stürme einherschickt über Gletscher und ewigen Schnee, während man drunten im geschützten Thale den Nahenden noch kaum verspürt – das ist die Zeit der Edelweißblüthe.

Da war es in der zweiten Augustwoche, als Dori eines grauenden Morgens aus der niederen, dachförmigen Reisighütte kroch, welche er sich hoch oben im Gestein errichtet hatte, um der auf den Lahnern weidenden Schafherde auch zur Nachtzeit nahe sein zu können. Von der Kälte, die er während des Schlafes gelitten, waren ihm die Glieder so steif geworden, daß es ihn Mühe kostete, durch das wirre Latschengezweig nach der Stelle zu gelangen, von welcher er die Glocke des Widders und die Schellen der Mutterthiere hörte. Mit hellem Zungenschlag und blökendem Rufe lockte er die Thiere. Am hurtigsten folgten die Lämmer seinem Locken, und er überzählte sie, während sie ihm unter lustigen Sprüngen näher kamen. Sieben zählte er – das achte fehlte. „Jesses na! Es wird doch net schon wieder –“ stammelte er erschrocken und machte sich auf die Suche.

Der Mittag kam, und Dori hatte das Lamm nicht gefunden – dafür aber in der Nähe des Weideplatzes auf feuchtem Sande die frische Fährte eines genagelten Männerschuhes.

Nun eilte er zur Sennhütte hinunter, um der Emmerenz zu berichten, was vorgefallen. Obwohl die Beiden nichts Anderes dachten, als daß das Lamm gestohlen worden wäre – vielleicht von Einem, der längst wieder über der nahen Grenze drüben in sicherem Verstecke saß – verbrachten sie doch den ganzen Nachmittag mit Suchen und Suchen. Sie hatten sich getrennt, und Dori suchte gegen den Höllbachgraben zu, dabei gerieth er in die Nähe der Jagdhütte und sah, wie Gidi gerade das Häuschen verließ. Er rief den Jäger an und eilte auf ihn zu.

„Was sagst – jetzt geht mir schon wieder a Lampl ab.“

„Seit wann?“ fuhr Gidi auf.

„Seit heut’ in der Nacht.“

Gidi that einen leisen, gedehnten Pfiff. „Jetzt da schau – jetzt is das a Schafdieb g’wesen! Und ich hab’ mir schon ’denkt – Weißt, heut in der Nacht bin ich droben g’sessen unter der Höllenleithen, weil ich g’meint hab’, ich müßt’ doch amal draufkommen, was denn das allweil für a Treiben is im Berg umander. No – und wie ich so sitz’ – um a zwei ’rum in der Früh kann’s g’wesen sein – da hör’ ich auf amal Steiner gehn, auf a vier-, fünfhundert Schritt’ von mir. Z’erst hab’ ich g’meint, es is a Gams lebendig – wie ich aber auf amal an Bergstock g’hört hab’, nachher hab’ ich mir ’denkt: holla! Mondlichten is freilich gewesen, aber wenn’s amal über hundert Schritt ’naus geht, da derkennst ja nix inehr – und der Kukuk hat mir eingeben müssen, daß ich mein’ Hund daheim hab’ lassen in der Hütten! A Zeitlang hab’ ich Dir g’lust – und wie ich g’hört hab’, daß ’s gegen den Höllbachsteig ’nunter geht, da bin ich Dir aber auf, oben ’rüber über’n Höllbach, bergab bis auf’n Steig und wieder in d’Höh’ bis zur selbigen Lichten im Altholz – Du kennst es ja! da, hab’ ich mir ’denkt, muß er mir g’rad in d’ Hand’ laufen. Und richtig – keine fünf Minuten bin ich Dir noch g’sessen, da hab’ ich ihn schon daher rasseln hören. Und jetzt steht er da vor mir auf a fufz’g a sechz’g Schritt. An Mordsbart hat er g’habt und lange Haar’ wie a städtischer Maler – und auf’m Buckel droben hat er was ’tragen – ja g’schworen hätt’ sich, es is a Gamsjahrling g’wesen. ,Halt Lump!‘ fahr’ ich auf und bin mit der Büchsen auch schon im G’sicht. Aber natürlich – so auf’s G’rath’wohl schießen kannst dengerst auch net – und ich b’sinn’ mich noch kaum, is er mit ei’m Satz schon drunten g’wesen über’m Steig’. Ich aber hint’nach unter die Bäum’, bergab, bergauf, übers G’steinet und durch [792] d’Latschen, am Höllbachgraben in d’Höh’, nach der hohen Platten zu – a paar mal hab’ ich ihn auf an Wischer dersehen – aber natürlich – in die Latschen is er mir wieder unter’gangen – und ehvor ich mich noch ’nauswind’ auf die offene Platten, hör’ ich Dir auf amal kein Schritt mehr und kein Tritt. Tag is ’worden, und nix hab’ ich g’hört, nix hab’ ich g’sehen! Verschwunden is er g’wesen, wie wann ihn der Teufel g’holt hätt’ auf ein’ Sitz!“

Dori riß Mund und Augen auf zu dieser Geschichte, eine Weile noch redeten sie darüber hin und her, bis Gidi sagte: „No – weil ich jetzt nur weiß, daß ’s a Schafdieb g’wesen is, da geh’ ich doch a bißl leichter ins Thal.“

„Was? gehst heim?“

„Ja, morgen muß ich ins Stadt ’nein, da hab’ ich G’richtsverhandlung weg’m Leithner Valtl.“

„Was d’sagst! Aber da könnst mir an G’fallen derweisen, wann an recht an schönen Gruß –“ Dori stockte und fuhr verlegen fort: „und wann mei’m Bauern Nachricht geben möchst von wegen der G’schicht’ mit dem Lampl?“

„Ja – so! Will’s ihm schon z’wissen thun – und will ihm auch sagen lassen, daß Du kein’ Schuld dran hast. Aber mußt halt fleißig weiter wachen, weißt! Ja – somit b’hüt’ Dich Gott! Und – sei nur z’frieden – ’s Veverl grüß’ ich Dir auch!“

Dori stand wortlos und blickte lange dem Jäger nach. Endlich richtete er sich seufzend auf, eilte dem Höllbachgraben zu und überschritt die Schlucht auf dem schwankenden Baume.

Als er den Steig erreichte, hörte er plötzlich aus der Tiefe das Geräusch leichter Tritte. Er lugte durch die Bäume und Büsche, gewahrte den Schimmer eines lichten Gewandstückes, und jetzt – jetzt stieß er einen gellenden Juhschrei aus, und mit den stammelnden, halberstickten Rufen. „Veverl, Veverl, Veverl!“ stürzte er über Hals und Kopf den Steig hinunter. Unter der Wucht des schwer zu hemmenden Laufes brach er vor dem erschrockenen Mädchen fast in die Kniee. Der Bergstock kollerte ihm aus den Händen, und der Hut flog ihm vom Kopfe.

„Aber Dori, na, na, um Gotteswillen,“ stotterte Veverl, „was kommst denn jetzt gar so daherg’rennt?“

„Veverl, Veverl!“ schluchzte und jauchzte der Bursche, und die hellen Thränen rannen ihm über die Wangen, während er sich aufrichtete mit zitternden Knieen und sich emporzog an den Händen des Mädchens.

Mit scheu verwunderten Augen blickte Veverl in Dori’s Gesicht, und eine dunkle Röthe erschien auf ihren Wangen. Sie sprach kein Wort, von den Lippen des Burschen aber sprudelte Frage um Frage.

„Ja wie geht’s Dir denn? Wie is Dir’s denn alleweil g’wesen die ganze Zeit? Wie kommst denn auf amal da’rauf? Und ganz allein bist ’gangen? Hast denn ’s Steigl richtig g’funden? Bist denn auch schön langsam g’stiegen? Bist gar net müd – han? Schau – magst Dich net a bißl niedersetzen? Da schau, da is Dir g’rad a so a schönes Platzl, a ganz a kommods – da schau – geh – komm’, setz’ Dich a bißl nieder und ruh’ Dich aus!“ Dabei sprang er einem kleinem Mooshügel zu, der zu Füßen einer riesigen Fichte lag, scharrte und kratzte die dürren Reiser aus dem weichen, dunklen Moose und klatschte die Stelle platt mit beiden Händen, und zog das Mädchen an einer Rockfalte dem so sauber bereiteten Ruheplätzchen zu. „So, so! Gelt – da is gut sitzen? Ja – jetzt laß Dir’s nur wohl sein!“ Zu Veverl’s Füßen kauerte er sich nieder ins Moos und starrte mit seligen Augen zu dem Gesichte des Mädchens empor. „Aber jetzt – jetzt, Veverl,“ fuhr er nach einer stummen Weile auf, „jetzt sag’ mir nur g’rad, wie kommst denn amal daher? Ja hat Dich denn der Bauer gehn lassen?“

„Der Jörgenvetter is gar net daheim, der is um Mittag schon fort, a G’schäft hat er wo draußen in einer von die Ortschaften – und morgen am Abend erst kommt er z’ruck. Und bei der Bäuerin hab’ ich’s schon verbettelt, daß ich fort hab’ dürfen – no – vielleicht hat s’ ihr auch a bißl denken können, was ich haben möcht’ von der Alm. Weißt – übermorgen is ihr Namenstag. Und da hätt’ ich halt gern a paar Kranzln g’macht und an recht an schönen Buschen. So hab’ ich mir denkt, ich will mir um a bißl an Almrausch schauen und um an Edelweiß.“

„Almrausch? O mein, Veverl,“ jammerte Dori, „da is aus und gar. Z’höchst droben, ja, da könnt’ man noch a paar einschichtige Bleamln finden, aber ganz blaß in der Farb’ sind s’schon, und so viel müd’ schauens’ aus. Aber Edelweiß! Edelweiß g’rad g’nug; da paß auf – da brock ich Dir morgen an ganzen Arm voll.“

„Ja, Dori, ja – aber gelt ich selber möcht schon auch einbrocken, weil’s ei’m gar so viel g’freut, wenn man so a liabs Bleamln find’t.“

„Aber freilich – aber g’wiß! Weißt – ich brock’ ’s an die schlechten Platz’, und Dich führ’ ich nachher hin, wo ’s ganz kommod zum haben sind. Ja – schau – gleich da drüben kannst eine finden, wo’s a bißl licht is, am Höllbachgraben ’nauf –“

Veverl erblaßte, und ein Schauer überflog ihre Schultern. „Na, na, Dori,“ unterbrach sie den Burschen mit bebender Stimme, „da mag ich keine net – vom Höllbachgraben!“

Erschrocken blickte Dori in Veverl’s Gesicht. „Jesses, mein – ich bin aber einer!“ stammelte er. „Daß ich aber auch gar net dran denken kann – und schau – gelt – mußt mir net harb sein, weil ich – und – –“ Seine Stimme verlor sich in hilfloses Stottern, noch einmal schielte er mit ängstlichen Augen zu dem Mädchen empor, dann verstummte er.

So saßen sie schweigend, und Dori verwandte keinen Blick von den lieblichen Zügen des Mädchens.

Tiefe Stille herrschte rings umher. In den Wipfeln der Bäume hatte sich das Rauschen gelegt, die Vöglein waren verstummt, und die Dämmerung webte ihre ersten leichten Schleier durch den Wald, von welchem der letzte Strahl der Sonne längst geschieden war.

„Han, Veverl, sag’,“ frug Dori nach einer stillen Weile, „wann’s jetzt dengerst so wär’ – und der Edelweißkönig möcht sich sehen lassen vor Dir – han – thätst Dich fürchten vor ihm?“

„Ja warum denn fürchten?“ frug Veverl ganz erstaunt. „Der Edelweißkönig is ja a guter Geist, der d’ Menschen gern hat.“

„No – jetzt weißt – das is halt so a Sach’,“ erwiderte Dori zögernden Wortes, „und – vielleicht redtst bloß so, weil D’ noch nie kein’ Geist net g’sehen hast.“

„Meinst?“ klang es leise von Veverl’s Lippen.

Dori ließ die Füße sinken und spitzte die Ohren. „Ja, wie is mir denn? Wirst doch net sagen wollen, daß schon amal ein’ g’sehen hast - an Geist?“

Ein stilles, inniges Lächeln spielte um den Mund des Mädchens, das mit schwärmerischen Augen aufwärts blickte in das dunkelnde Gewirr der Aeste.

„G’sehen, Dori? Ob ich ein’ g’sehen hab’ – ich weiß net g’wiß. Oft träumt man ’was und meint, man hätt’s mit wache Augen g’sehen – und diemal sieht man was, und meint, man hätt’s bloß ’träumt. Aber – noch gar net lang is her – da – da hab’ ich ein’ g’hört, an Geist, und hab’ verspürt, daß er dag’wesen is“ – und sie flüsterte leise dem Burschen ins Ohr: „Der Hannibas’ ihre arme Seel’.“

„Ah geh! Ah geh!“ murmelte Dori, während ein Gruseln seine Schultern überflog.

Veverl nickte. „Ja – bei’m Namen hat s’ mich g’rufen, ganz stad und sanft – in derselbigen Nacht, ehvor man d’ Leich’ ’raus’bracht hat aus der Stadt – wie ich drin g’standen bin in ihrem Stübl und hab’ ihr’s Armeseelmahl aufs Fensterbrettl g’stellt – an weißen Wecken und a Schüsserl Milch. Ja – und in der Früh, wie ich nachg’schaut hab’, da war der Wecken ’gessen und d’ Milch is ’trunken g’wesen.“

Veverl sah nicht, wie Dori bis hinter die Ohren erblaßte, sie hörte nur das heisere Lachen, das von den Lippen des Burschen schütterte, und dazu die stotternden Worte. „Aber – aber – Veverl, wie kannst denn so ’was glauben! Wer da ’gessen und ’trunken hat, kann denn das net a Mensch g’wesen sein – a richtiger Mensch mit Blut und Beiner?“

Ernst schüttelte das Mädchen den Kopf. „Ah na – so ’was is gar net zum denken! Wie käm’ denn in der Nacht a Mensch ans Fenster ’nauf in obern Stock. Und – so ’was thät’ a Mensch schon gar net – denn wann sich einer am Armenseelenmahl vergreift, so hat mein Vaterl g’sagt, der muß im selbigen Jahr noch sterben.“

„Sterben – sterben – Jesus Maria!“ stammelte Dori und fuhr mit beiden Händen nach den Schläfen.

„Ja – ja was hast denn, Dori, was is Dir denn?“ frug Veverl verwundert.

[794] Hastig schüttelte Dori den Kopf, den er tief auf die Brust senkte. „Nix – nix – gar nix! G’rad – g’rad ’denkt hab’ ich mir – wenn einer so ’was thät’, wie fürchtig das wär’ – wie fürchtig – wie fürchtig! Aber – aber ha, Veverl – sag’ um Tausendgottswillen – wann jetzt so einer gar net wissen thät’, daß das an Armeseelenmahl war, von dem er ’gessen und trunken hat?“ Und mit dem Ausdrucke flehender Angst hingen die weitoffenen Augen des Burschen an Veverl’s Lippen.

Veverl besann sich eine Weile, dann schüttelte sie langsam das Köpfchen und entschied mit allem Ernste, dessen ihr liebliches Gesichtchen fähig war: „So ’was muß man wissen!“

Dem Burschen schrumpfte der Kopf zwischen die Schultern, und sein Kinn bewegte sich, als wollten ihm die Zähne zu klappern beginnen. „O heilige Maria – jetzt is schön – jetzt is schön! Und – und so ei’m – is gar – gar nimmer z’ helfen?“

„O ja!“ nickte Veverl – und da streckte Dori die Hände, als wollte er sich an den Rock des Mädchens klammern, und sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das sich halb wie Lachen ansah halb wie Weinen. „O ja – weißt – so einer muß halt sein verfallenes Leben lösen – er muß ei’m andern Menschen ’s Leben retten, hat mein Vaterl g’sagt.“

Trostloser Jammer malte sich wieder in Dori’s Zügen. „O mein – o mein,“ stammelte er, „das is ja g’rad wie gar nix! Wie kommt denn so einer g’schwind zu so ’was – das is ja gar net zum denken!“

Veverl schien diese Worte nicht mehr zu hören. Hastig war sie aufgesprungen, und während sie die Röcke schüttelte und glättete, schmollte sie: „Na, na, schau nur grad an, wie spät als ’worden is! Geh – komm, Dori – jetzt heißt’s aber tummeln – komm, komm!“ Und hurtigen Schrittes eilte sie schon auf dem bergwärtsführenden Pfade dahin durch den dämmernden Wald.

Mühsam erhob sich Dori, und seine Füße schienen ihn kaum tragen zu wollen, als er dem Mädchen folgte.

Nach kurzer Wanderung erreichten sie eine Stelle, an welcher der Pfad eine Biegung machte, um quer über den waldigen Berghang eben fortzulaufen.

„Veverl!“ rief Dori plötzlich das Mädchen an, und als es die Schritte verhielt und ihm fragend entgegenblickte, sagte er mit stockenden Worten, ohne die Augen von der Erde zu heben: „Gelt, Veverl, mußt net harb sein, daß ich net weiter mit Dir geh! Aber von jetzt an findst den Weg ja blindlings – und – weißt – ich muß noch weit in d’ Höh’ – ich hab’ mein’ Liegerstatt da droben, wo meine Schaf’ auf der Weid’ sind.“

„Aber ja, geh’, Dori, geh! Laß Dich von mir net abhalten!“ mahnte Veverl. „Ich find’ mich schon hin zur Hütten – und – morgen in der Fruh, da kannst ja ’runter und holst mich ab zum Edelweißbrocken – gelt?“

„Ja – schon – wann – wann ich noch kommen kann!“ stieß Dori mit versagender Stimme vor sich hin, während er den Stachel des Bergstockes in die Erde wühlte.

„Weßwegen. sollst denn net kommen können! Brauchst ja bloß Deine Füß’ a bißl rühren!“ lachte Veverl und streckte dem Burschen die Hand entgegen. „Also, b’hüt Dich Gott!“

Dori drückte und schüttelte Veverl’s Hand und erwiderte ihr „B’hüt Dich Gott“ mit einer Stimme, als gälte es einen Abschied fürs Leben. Da schaute ihm Veverl verwundert und besorgt ins Gesicht; eine Frage lag ihr auf der Zunge, schon aber riß sich Dori los und stürmte, ohne sich noch einmal umzusehen, geraden Weges den steilen Hang empor.

„Was hat er denn? Was hat er denn?“ murmelte Veverl, während sie dem Burschen kopfschüttelnd nachschaute, bis er im Dickicht verschwand und seine Tritte verhallten.

Zögernden Schrittes und sinnend vor sich niederblickend, folgte sie dem Wege. Bald erreichte sie die Lichtung, auf welcher, wie Dori vor kaum einer Stunde erfahren, Gidi’s Zusammentreffen mit dem räthselhaften Schafdieb stattgefunden hatte.

Eine falbe Helle lag über dem Platze, den spärliches Buschwerk nur bedeckte, daraus sich einzelne verwitterte Felsblöcke erhoben. Veverl hatte die Lichtung überschritten und wollte schon wieder den dunklen Wald betreten, da hörte sie plötzlich einen schwirrenden Flügelschlag und dann ein kurzes Flattern. Hastig blickte sie der Richtung zu, aus welcher sie das Geräusch vernommen hatte – und ein leiser Aufschrei glitt von ihren Lippen. Auf einem der Felsblöcke sah sie einen weißen, schwarzgeschnäbelten Vogel sitzen, der wie nach eben erst vollendetem Fluge die Schwingen schloß.

„Na – na – das is ja net möglich – das kann ja net sein!“ stammelte sie, während sie zögernden Fußes um einige Schritte zurücktrat in die Lichtung und dabei mit beiden Händen nach ihrem Gesichte fuhr, als wollte sie mit Fingern fühlen, ob es denn wirklich wache, offene Augen Wären, mit denen sie zu sehen meinte, was sie doch nicht glauben konnte.

Der Vogel mußte ihre murmelnde Stimme und das Geräusch ihrer Schritte vernommen haben. Hurtig reckte und drehte er den Kopf, dann duckte er sich nieder und begann zu plappern: „do, do, Echi, a do, a do!“

„Jesses ja – o du mein lieber Herrgott!“ jubelte Veverl auf und eilte mit ausgestreckten Armen durch das Gestrüpp dem Felsblock zu. „Ja Hansei – o mein liebs Hansei – Hansei – Hansei!“

Schon war sie dem Stein so nahe, daß sie den Vogel haschen zu können meinte, da flatterte er mit zornigem Krächzen empor und flog dem Walde zu.

„O mein Gott – o mein Gott – er kennt mich nimmer!“ schluchzte Veverl unter plötzlich ausbrechenden Thränen auf, und während sie der Richtung zueilte, in welcher der Vogel zwischen den Bäumen verschwunden war, rief sie lockend und schluchzend unablässig den Namen: „Hansei – Hansei – mein liebs Hansei!“

Trotz der Dämmerung, die schon im Walde herrschte, sah sie bald hier, bald dort auf einem Aste das weiße Gefieder des Vogels schimmern; sie hörte ihn durch die Zweige flattern, und manchmal auch vernahm sie sein schnarrendes Plappern: „Do, do, gedegg, a do!“ doch immer, wenn sie ihm nahe kam, floh der Vogel mit scheuem Krächzen vor ihr der Höhe zu. Mit Weinen, Jammern, Locken und Rufen folgte sie ihm; sie achtete des Weges nicht, den sie ging, nicht der Richtung, nach welcher dieser Weg sie führte, und vernahm nicht das dumpfe Rauschen, das näher und näher klang, je weiter sie den fliehenden Vogel verfolgte. Sie kam aus dem Walde, sie wand sich durch dichtes Latschengestrüpp – und nun gelangte sie auf einen steilen, von massigem Steingeröll überlagerten Hang.

Wieder sah sie den Vogel auf einem Steinblock sitzen, wieder suchte sie ihn zu haschen, wieder floh er vor ihr – mühsam folgte sie ihm eine kurze Strecke – da plötzlich entschwand er ihren Augen, als versänke er in der Erde – einige Schritte noch that sie, dann fuhr sie erschaudernd zurück, denn ihr zu Füßen gähnte schwarze bodenlose Tiefe.

„Jesus Maria – der Höllbachgraben!“ stammelte sie und wollte von der Stelle fliehen, indeß sie mit zitternder Hand sich bekreuzte, doch schon beim ersten Schritte traf ihr Fuß auf einen locker liegenden Stein, der unter ihrem Tritte ins Rollen kam; sie wankte, versuchte im Wanken seitwärts zu springen und stürzte dabei mit dem einen Fuße beinahe bis ans Knie in eine enge, von Mooswerk überdeckte Felsenschrunde. Ein jäher stechender Schmerz durchfuhr ihren Knöchel, und stöhnend brach sie zusammen. Schwer nur gelang es ihr, den heftig schmerzenden Fuß aus der Spalte zu befreien – doch als sie sich emporzurichten und den verletzten Fuß zu gebrauchen versuchte, hatte sie ein Gefühl, als träte sie auf spitze Nadeln. Mit aller Ueberwindung verbiß sie den Schmerz, unter Marter und Mühe machte sie einige kurze Schritte, aber es wollte ihr nicht gelingen, sich aufrecht zu erhalten – und wieder sank sie nieder auf das rauhe Gestein.

Unter bitterlichem Schluchzen barg sie das Gesicht in beide Hände. Nun wußte sie, daß sie ohne fremde Hilfe keinen Schritt mehr von der Stelle käme. Unter dem Schmerze, den sie empfand, fürchtete sie, den Fuß gebrochen zu haben. Eine Stunde noch, dann mußte sich die Dämmerung zu tiefer Nacht gewandelt haben – und diese ganze, lange Nacht nun sollte sie hier verbringen, an diesem grausigen, unheimlichen Orte – denn nun erkannte sie die Stelle wohl, an welcher sie sich befand: die „hohe Platte“, auf der das Unglück mit dem Ferdl geschehen war. Bei diesem Gedanken ließ Veverl die Hände sinken, und „Dori, Dori, Dori!“ klang es mit schrillenden Rufen von ihren Lippen in die Lüfte. Sie hoffte, daß der Bursche noch so nahe’ wäre, um ihren Hilfeschrei vernehmen zu können. Wieder und wieder rief sie seinen Namen, aber zwischen Wald und Felsen verhallten ihre Rufe, ohne daß ihr Antwort kam.

Endlich verstummte sie und starrte, die Hände im Schoße gefaltet, trostlos vor sich nieder. Da plötzlich gewahrte sie zu ihren [795] Füßen auf einem kleinen, von spärlichem Grase überwachsenen Fleckchen einen weißen Schein – ein zitternder Schreck überkam sie, hastig neigte sie sich nieder, und sie hatte sich nicht getäuscht – was da im Abendwind auf hohem dünnen Stengel sachte schaukelte, war ein Edelweiß von seltener Größe.

Wohl nur die Trostlosigkeit der Lage, in welcher sich Veverl befand, mochte sie an die Hoffnung glauben lassen, die jäh und brennend in ihrem Herzen emporschoß, während sie sich von ihrem Sitze gleiten ließ und dem grasigen Fleckchen näher rückte. Wie ein Espenzweiglein bebte ihr die Hand, mit der sie die schwankende Blume brach. Ein tiefer, angstvoller Seufzer schwellte ihre Brust; dann hob sie die Blume nahe zum Gesichte, doch bei der herrschenden Dämmerung sah sie nur einen runden, weißen Schimmer vor den in Thränen schwimmenden Augen. Mit zitternden Fingern begann sie die Strahlen des Edelweißsternes zu befühlen – nannte dazu mit flüsternden Lippen Zahl um Zahl – je weiter sie zählte, desto mehr steigerte sich ihre Unruhe und Erregung – bis auf zwanzig hatte sie schon gezählt, als sie tief athmend einen Augenblick inne hielt – dann zählte sie weiter – „siebenundzwanzig, achtundzwanzig,“ stieß sie mit stockender Stimme vor sich – und da nannte sie nun keine Zahl mehr, doch wieder fühlte sie einen Strahl des Sternes – und jetzt den letzten vor den beiden Fingern, in denen sie zum Merkmal noch den ersten hielt.

„G’funden hab’ ich’s – g’funden – ’s Edelweißbleamerl!“ stammelte sie unter Zittern und Schluchzen. „Du lieber – du guter Herrgott – du willst mir helfen in meiner Noth – –“ Sie verstummte, doch nur für die Dauer eines stockenden Athemzuges, dann klangen mit leisem Raunen, jedoch in steigender Hast, von ihren Lippen die Worte:

„Edelweißkönig, ich ruf’ dich an!
Ich lieb’ dein Bleamerln, hab’ kei’m noch ’was ’than!
Dreiß’g sammetne Strahl’ am gottseinzigen Stil,
Is nimmer net z’wenig, is nimmer net z’viel!
Dein Bleaml is g’wachsen, dein Bleaml hat ’blüht,
Der Herrgott hat’s g’schaffen und du hast es b’hüt’!
Aus Näch’ oder Weiten, aus Berg oder Thal,
Dein Bleaml, das b’ruft dich von überall!
Ob z’öberst in Lüften, ob z’tiefest im Grund,
Edelweißkönig, jetzt thu’ dich kund!
Edelweißkönig, in Herrgottsnam!
Edelweißkönig, ich ruf’ dich an!“

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 49, S. 805–811

[805] Der Zauber war gesprochen – und jetzt erschrak Veverl vor ihrem eigenen Muthe. Sie begann an allen Gliedern zu zittern, krampfhaft umschlossen ihre Finger den Stengel der Edelweißblume. Frost und Hitze wechselten in ihrem Körper, ihr Herzschlag stockte, und der Athem drohte ihr zu versagen. Mit angstvollen Blicken starrte sie umher in der tiefen Dämmerung – mit jedem Augenblick meinte sie die geisterhafte Gestalt des Beschworenen vor sich auftauchen zu sehen – aber Sekunde um Sekunde verrann, die Sekunden wurden zu Minuten, mehr und mehr verschleierte die sinkende Nacht den Grund, und nur das dumpfe Rauschen des Höllbachs war zu hören, sonst kein Laut rings in der dunklen Runde.

Endlich schüttelte Veverl aufseufzend das Köpfchen. Es war Erleichterung, was sie empfand, und nicht Enttäuschung. „’s muß dengerst net das rechte Bleaml sein!“ flüsterte sie.

„Es hilft nix – bleiben muß ich – bleiben die ganze Nacht!“ dachte sie schluchzend, „und zwar hier am Höllbachgraben.“ Dann hob sie die zitternde Hand, bekreuzte sich und begann zu beten.

Während sie so mit leiser Stimme ein Vaterunser um das andere sprach, überkam eine ruhige, tröstliche Stimmung ihr Gemüth. Sie konnte beten – was hatte sie da zu fürchten? Ewig würde die Nacht ja auch nicht währen, meinte sie – und bei grauendem Morgen schon mußte Dori in die Sennhütte kommen; dann würde er mit Enzi ausgehen, um sie zu suchen und zu finden.

So begann sie sich in ihr Schicksal zu ergeben, und mit Geduld ertrug sie die heftigen Schmerzen an ihrem Fuße, im dessen Knöchel sich eine glühende Geschwulst gebildet hatte.

Die Nacht war da; kühl und finster lagerte sie über den Bergen; nur wenige Sterne funkelten mit mattem Schein am Himmel, der sich mit dünnen Nebelschleiern überzogen hatte. Von den felsigen Höhen fuhr ein kalter Wind zu Thal, bald zu trägem Luftzuge sich dämpfend, bald fauchend unter jähen, heftigen Stößen; es war ein Wind, der nahen Regen verkündete.

Veverl kannte die Bedeutung dieses Windes. Mit besorgten Blicken schaute sie in die westliche Ferne und sah vom Horizonte eine schwarze Wolkenmauer emporsteigen, die auf ihrem Zuge Stern um Stern vom Himmel löschte.

Mühsam rückte sie einem Felsblock entgegen, hinter welchem sie die scharfe Kälte des Windes weniger zu spüren hatte und wohl auch einigen Schutz vor dem [806] Regen finden konnte, wenn das drohende Unwetter zum Ausbruch kam. Kaum hatte sie ihren Sitz zu Füßen des Blockes eingenommen, als sie mit beiden Händen heftig an die Brust fuhr, sie fürchtete das Edelweiß verloren zu haben, das sie ins Mieder gesteckt hatte. Erleichtert athmete sie auf, als sie die Blume fühlte. Sie wollte dieselbe bewahren zum lebenslangen Gedenken an diese Nacht – und an die verwegene Hoffnung, die der erste Anblick des weißen Sternes in ihr erweckt hatte. Bei dem Gedanken an jene Minuten schalt sie sich im Stillen um der herz- und athemstockenden Angst willen, von der sie sich beim letzten Worte der so muthig begonnenen Beschwörung hatte befallen lassen. Was hätte sie zu fürchten gehabt – von diesem „so viel guten Geist, der alle braven Menschen gern hat“, wie ihr „Vaterl“ wohl zu hundertmalen ihr versichert hatte?

Sie sah den Alten im Geiste vor sich stehen, in der Gestalt, die ihr der Vater einst geschildert – sie sah den grauen, faltigen Mantel, das weiße Gesicht mit den blauen Augen, den braunen Bart und auf dem lockigen Haar den mit der Edelweißkrone gezierten Hut – eine Gestalt „zum Gernhaben ehnder als zum Fürchten“.

Das hätte sie sich wohl gefallen lassen können, meinte sie jetzt, wenn er in solcher Gestalt ihr erschienen wäre, wenn er sie auf seine Arme gehoben, bis zur Hütte getragen, mit einer Berührung seiner Hand ihren Fuß geheilt und sie noch überdies mit reichen Geschenken bedacht hätte. Sie hätte beschwören können, daß sie von dem Sprüchlein, das der Vater sie einst gelehrt, kein Buchstäbchen vergessen hatte, „’s Bleaml halt,“ dachte sie, „’s Bleaml kann net ’s rechte sein!“ Sie mußte sich wohl beim Zählen der Strahlen geirrt und sicherlich den einen und anderen doppelt gezählt haben.

Zögernd löste sie die Blume von ihrer Brust und begann mit den Fingern die sammetweichen Zacken des Sternes abzufühlen. Und wieder zählte sie dreißig Strahlen. Sie schrak zusammen, die Wangen wurden ihr heiß, und ein Zittern kam in ihre Hände. Aber sie schüttelte den Kopf und wollte nicht glauben. „Ah ja – ah ja – ich hab’ ja vergessen –“ stammelte sie plötzlich, tastete nach der Mitte der Blume – und fühlte richtig die „sechs Schöpferln“ – sechs kugelige Samenknöpfchen. Ein Schauer überlief ihre Schultern. „Na – na – und es kann ja doch net’s rechte Bleaml sein – sonst hätt’ er ja kommen müssen,“ stotterte sie, begann aufs neue die Strahlen zu zählen – und dabei vergaß sie des schmerzenden Fußes, vergaß sie der Nacht und des Himmels, der in der weiten Runde schon behangen war mit dicht geballtem, wogendem Gewölke. Erst als ein greller Blitz zur Erde zuckte, dem ein rascher, krachender Donner folgte, fuhr sie auf.

Da fielen auch schon die ersten schweren Tropfen – und ehe noch Veverl zum Schutze sich enger an den Fels zu schmiegen vermochte, rauschte und klatschte schon ein strömender Regen über das Gestein.

Veverl legte die Blume in ihren Schoß, zog die Kniee in die Höhe und schlug das oberste Röckchen gleich einem Mantel um die fröstelnden Schultern. Es war ein karger Schutz, den sie dadurch gewann. Mit Sausen und Wirbeln peitschte der Wind ihr den Regen entgegen, und bald fühlte sie, wie die kalte Nässe durch das dünne Gewebe an ihren Körper quoll. Ungeduldig harrte sie auf einen Blitz, bei dessen Schein sie in ihrer Nähe einen besseren Unterschlupf zu gewahren hoffte.

Mit einem Male fuhr sie lauschend auf – es war ihr gewesen, als hätte sie Tritte gehört – und nun wieder vernahm sie ein Knirschen und Klirren, als ginge Einer mit genagelten Schuhen über das Geröll.

„Dori – Dori – bist Du’s?“ so rief sie mit hastender, flehender Stimme in Sturm und Nacht hinein.

Die Tritte verstummten, und schon wollte das Mädchen zu neuem Rufe die Lippen öffnen. Da jählings loderte mit einem Donnerschlage, unter dem die Erde bebte und schütterte, ein Blitzstrahl aus den Wolken, bei dessen flammendem Scheine der Wald und die Berge wie in Feuer zu schwimmen schienen – und mit einem gellenden Aufschrei warf sich Veverl in die Kniee. Wenige Schritte vor ihr, inmitten der lohenden Helle, ersah sie eine Gestalt in grauem Mantel, mit geisterblassem Gesichte, welches ein dunkler Bart umrahmte und lockige Haare umwallten, darauf der Spitzhut saß, den eine Krone von Edelweißsternen schmückte.

„Alle guten Geister – der Edelweißkönig!“ vermochte Veverl noch zu stammeln, dann schwanden ihr die Sinne.


Als Veverl aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die klatschenden Schläge des Regens auf ihrer Wange das Erste, was sie empfand. Die kalte Nässe ermunterte sie rasch, und sie fühlte plötzlich, daß ihr Haupt an einer Schulter ruhte, daß ein Maatel ihren Körper eng umschlang, und daß sie von zwei starken Armen durch Sturm und Nacht getragen wurde. Im gleichen Augenblicke erinnerte sie sich an Alles und meinte zu verstehen, was mit ihr geschah. Ein seltsames Gefühl, halb Schreck, halb wonniger Schauer, durchzuckte sie bei dem Gedanken, daß es nun wirklich so gekommen war, wie sie in ihrer Noth geträumt und gehofft hatte: der beschworene Alf war ihr erschienen, hatte sie auf seine Arme gehoben und trug sie wohl jetzt der Almhütte zu.

Es war ihr, als ging es wie im Fluge, während in Wahrheit doch ihr Retter mit ängstlicher Vorsicht über das rauhe Geröll dahinschritt und sich in der sturmerfüllten Finsterniß mit schwerer Mühe einen Weg durch die wirren, triefenden Latschen bahnte. Inmitten des Gebüsches hielt er stille, und Veverl sah beim rasch verflackernden Scheine eines Blitzes, wie dicht vor ihr ein mächtiger Felsblock, als hätte ein Zauberwort ihn bewegt, langsam zur Seite rollte. Gleich darauf war es ihr, wie wenn sie mit jenem, auf dessen Armen sie ruhte, in die Erde zu versinken begänne. Erschrocken fuhr sie zusammen, und während hinter ihr ein dumpfer Schlag sich hören ließ, als hätte sich eine schwere Pforte geschlossen, stammelte sie mit zitternden Lippen den Namen des Erlösers und der heiligen Jungfrau.

Da schlossen sich die beiden Arme fester um ihren Leib, und an ihr Ohr schlug eine traulich klingende Stimme: „Mußt Dich net fürchten, Veverl, es g’schieht Dir nix! Und – is Dir schon wieder besser, han? No – Gott sei Dank!“

Gott sei Dank! Dieses eine Wort gab ihr allen verlorenen Muth zurück. Was Uebles konnte ihr von einem Geiste widerfahren, der vor den heiligen Namen, die sie gesprochen, nicht in Rauch und Luft zerfloß, der selbst den lieben Herrgott auf den Lippen führte? Da konnte es ihr nun gleichgültig sein, ob er sie zur Almenhütte trug, oder in sein eigenes „Geisterhöhl“. Sie wußte, daß er sie vor dem Sturme schützte und ihren Fuß heilen würde – das Wie war seine Sache.

Wohl hob sie jetzt schon mit einem muthigen Blicke die Augen, aber undurchdringliche Finsterniß lag um sie gebreitet. Sie fühlte nur, daß es tiefer und tiefer ging, wie über Geröll und steinerne Stufen. Es mußte ein schmaler Gang sein, durch den sie getragen wurde. Denn sachte streifte sie bald mit den Haaren, bald mit einer Fußspitze die Wände.

Mit jeder Sekunde steigerte sich ihre Spannung und das Gefühl des Wundersamen, von dem sie befangen war. Mit jedem Augenblicke erwartete sie das Aufflammen eines zauberhaften Lichtes, jetzt, und jetzt, meinte sie, müßte sich das unterirdische Reich des Alfen in jener Pracht enthüllen, die sie in ihren Träumereien sich ausgenmlt hatte, und die zu schauen immer und immer das Ziel ihrer stillen Wünsche gewesen war. In dieser Erwartung eines Ungewöhnlichen bestärkten sie die seltsamen, zischenden und pfeifenden Laute, die sie manchmal vernahm, das geisterhafte Flattern, das ab und zu an ihrem Haupte dicht vorüber zu huschen schien, das dumpfe Dröhnen und Knattern, welches sich von Zeit zu Zeit erhob, und das geheimnißvolle Murmeln und Rauschen, das von Sekunde zu Sekunde deutlicher hörbar wurde, das bald wie nahe plaudernde Stimmen klang und bald wie fernes Gelächter.

Nun plötzlich verhielt ihr Retter die Schritte, lockerte den Mantel, der sie umhüllte, und während sie ihn sagen hörte. „So, Veverl, schau, da kann Dir kein Sturm nimmer an und kein Regen,“ ließ er sie niedergleiten auf die Erde. Kaum aber, daß sie auf die Füße zu stehen kam, sank sie mit einem leisen Wehlaut in die Kniee.

„Ja um Gotteswillen! Was hast denn? Du kannst ja net steh’n!“ so hörte sie ihren Alfen ganz erschrocken fragen. „Bist am End gar recht ungut gefallen und hast Dir ’was ’than?“

„Ja – am Fuß – am linken –“ stammelte sie und fühlte sich im gleichen Augenblicke wieder emporgehoben, einige Schritte getragen und achtsam niedergelassen auf ein weiches Lager, während er im Tone ängstlicher Besorgniß ausrief. „O mein Gott! Ja – jetzt versteh’ ich’s. Da muß ich ja ’gleich nachschauen – aber – aber sorg’ Dich net! Es wird ja so g’fährlich net sein! Das wird sich schon wieder machen lassen – ja – da weiß ich gar viel, was gut is für so was!“

[807] Freilich, dachte Veverl und nickte unwillkürlich mit dem Köpfchen, was gut is für so ’was, wer in der Welt sollte das besser wissen als er, der da mit hastigen Schritten sich von ihr entfernte? Sie hörte ein Rascheln und Knistern, sah ein röthliches Licht erglimmen und an einer goldig glitzernden Felswand die helle Flamme einer Fackel auflodern. Sie verwandte keinen Blick zur Rechten oder Linken, mit gebannten Augen hing sie an der männlichen Gestalt, deren Umrisse sich scharf von der flackernden Helle abhoben – und da meinte sie gleich zu erkennen, daß diese Gestalt auf ein Haar der Gestalt ihres Vaters glich, der ja auch eine Joppe getragen hatte, eine kurze Lederhose, graue Strümpfe und genagelte Schuhe. Sie meinte ihn ordentlich vor sich zu sehen, wie er oft, wenn er an stürmischen Tagen vom Walde nach Hause gekommen, auf dem Herde das Feuer anschürte, während das Wasser von ihm niedertroff, gerade so wie von jenem, der dort vor der lodernden Fackel stand.

Nun wandte er sich und kam, in der Hand ein Kerzenlicht, auf das Lager zugeschritten. Veverl saß, zitternd am ganzen Leibe, und starrte in sein bleiches Gesicht, das mit dem gekräuselten Barte und zwischen den braunen, die Schultern berührenden Haaren sich ansah, wie das Gesicht eines Jünglings, und dennoch wieder wie das von Kummer und Schmerzen erzählende Antlitz eines gereiften Mannes.

Dicht vor Veverl blieb er stehen, hob das Licht empor, als wollte er sein Gesicht noch heller beleuchten und frug mit einer Stimme von tiefernstem Klange: „Veverl! Kennst mich denn auch? Weißt denn, wer ich bin?“

Sie vermochte kein Wort über die Lippen zu bringen. Sie nickte nur, während sie keinen Blick von seinem Gesichte verwandte, mit dem Köpfchen hastig vor sich hin. Wie hätte sie ihn nicht kennen sollen? hatte sie ihn doch selbst gerufen!

„Gelt, gelt, das verschlagt Dir völlig d’Red’ – und ’leicht willst es gar net glauben, daß ich’s bin, g’wiß und wahrhaftig,“ sagte er. „Aber – aber jetzt is ja net Zeit zum reden,“ hörte sie ihn weiter sagen. „Komm, Veverl, komm, laß mich Dein Fußerl b’schauen.“

Er ließ sich auf die Kniee nieder, stellte den Leuchter neben sich auf den felsigen Boden und begann an Veverl’s verletztem Fuß die Schuhriemen zu lösen. So sachte und sorgsam er dabei auch verfuhr, Veverl meinte vor Schmerz vergehen zu müssen, aber sie preßte die Lippen zusammen und rührte sich nicht.

„O mein Gott, Veverl, o mein,“ so jammerte er, als er den entblößten rothverschwollenen Fuß auf seinen Knieen hielt, „das schaut sich ungut an.“ Dann bat er sie, zu versuchen, ob sie den Fuß noch zu bewegen vermöchte. Mit aller Gewalt verbiß sie den Schmerz, drehte den Fuß rings im Knöchel und rührte die Zehen.

„Na also,“ sagte er und schaute mit einem ermunternden Lächeln zu ihr empor. „Das schaut sich übler an, als wie’s is. Da is nix ’brochen und nix g’rissen. Weißt, arg aufg’schürft hast Dich halt – und natürlich – ’s G’lenk a bißl verprellt und ’leicht a Flaxen überzogen. Aber sorg’ Dich net – ich richt’ Dir Dein Fußerl, Dein armes, schon wieder z’samm, daß gar nix nimmer merkst.“

Da erschien auch auf Veverl’s Lippen ein muthiges Lächeln – alles kam ja, wie sie geträumt und erwartet hatte – mit ehrfürchtig dankbaren Blicken schaute sie auf ihn nieder, und als er nun den Fuß noch einmal betrachtete und dabei die beiden Hände sanft um den verschwollenen Knöchel legte, fühlte sie durch die Kühle, die von diesen Händen in ihr heißes brennendes Blut überströmte, den Schmerz zur Hälfte gelindert.

Jetzt rückte er einen nahestehenden Holzstuhl herbei, legte den kranken Fuß darauf, damit das „g’sunkene Blut a bißl verlaufen“ könnte, wie er sagte; dann raffte er den Leuchter von der Erde, eilte davon, und als ihm Veverl nachschaute. war es ihr, als verschwände er mitten durch die Felswand ihren Blicken. Regungslos und mit verhaltenem Athem lauschend saß sie, aber sie hörte keinen Tritt, nur das Knistern der Fackel und jenes geheimnißvolle Murmeln und Rauschen. Sie kreuzte die Arme über dem pochenden Herzen und lugte mit scheuen Augen in dem länglich gerundeten Höhlenraume umher, in dessen äußerster Rundung die Mündung des Felsenganges, durch den sie gekommen sein mußte, gleich einem schwarzen Trichter sich ausnahm. Staunend betrachtete sie die im Fackelschein schimmernden und glitzernden Wände, die ihr wie von tausend Edelsteinen übersät erschienen. Ueber diese Wände wölbte sich eine von funkelnden Tropfen und Zacken starrende Kuppel, die bei dem Spiele der zuckenden Lichter und Schatten sich ansah, als tröffe sie von flüssigem Erze – von hellem Gold und Silber, wie Veverl meinte. Auch die nichts weniger als feenhafte Einrichtung der Höhle mit dem kleinen eisernen Ofen mit Pfannen, Krügen und Schüsseln, welche hier und dort auf Vorsprüngen und in Spalten der Wände lagen und staken, ja selbst die richtige Bettlade mit einer Heumatratze, einem Polster und zwei schneeweißen Lammfellen darüber, wußte Veverl ihrem Glauben anzupassen; hatte sie doch von ihrem Vaterl erfahren, daß die guten Geister, als deren erster und bester ihr der Edelweißkönig galt, bei all ihren geisterhaften Eigenschaften „im übrigen akrat wie d’ Menschen sind“, daß sie hungern und dürsten, trinken und essen. –

Dennoch schrak sie leicht zusammen, als sie jenen, an den sie unablässig dachte, „plötzlich vor sich stehen sah, als wäre er aus der Erde hervorgewachsen“. Er hielt ein gefaltetes nasses Tuch in Händen, das sich freilich ansah wie ein grobleinenes „Handfahnl,“ das aber gewiß irgend ein feenhaftes Gewebe war, welches er beträuft hatte mit wundersamer Arzenei. Unter freundlich zuredenden Worten wand er dieses Tuch um Veverl’s kranken Fuß; dabei seufzte sie und drückte die Augen zu vor Schauer und Behagen. Ach – wie kalt das war! – und wie wohl das that! Nun faßte er sie um den Leib, als wollte er sie auf dem Bette in bequeme Lage bringen, fuhr aber hastig mit den Armen zurück. „O mein Gott! Daß ich da net schon lang dran ’denkt hab’! Bist ja über und über naß. So kannst ja net bleiben – da thätst mir ja am End’ noch verkranken.“

Mit einem zögernden Blicke streifte sie sein eigenes, bis auf den letzten Faden durchnäßtes Gewand. Er gewahrte diesen Blick und sagte, als vermöchte er in ihren Gedanken zu lesen: „Mein, mir schadt’s nix! Bei ei’m Leben wie das meinige, weißt, da wird man so ’was g’wöhnt. Aber Du – Du därfst mir net so bleiben! Mußt schon ’s Tüchel weglegen und ’s Mieder – und – ’s oberste Röckerl wenn abstreifen thätst, das machet ja auch nix. Ich zünd’ a Feuer an, das macht a bißl warm herin, Deine Sachen werden wieder recht schön trocken – und – und schau – scheuen mußt Dich fein g’wiß net vor mir. Gelt na? Ich bin ja doch schier gar wie a Bruder zu Dir!“

Mit einem vertrauensvollen Blicke schaute Veverl zu ihm empor und nickte unter einem schüchternen Lächeln mit dem Köpfchen. Dann hob sie die zitternden Hände und löste das geblumte Tuch von ihren Schultern. Als sie das Mieder öffnen wollte, schrak sie plötzlich zusammen. „Jesus Maria,“ stammelte sie, „’s Bleaml – mein Bleaml hab’ ich verloren!“

„A Bleaml hast verloren?“

„Ja, ja, ’s Edelweiß – mein Edelweiß!“

„Geh’, da brauchst Dich net z’ kümmern,“ tröstete er. „Kannst ja wieder eins haben von mir – ich hab’s ja g’nug. Hundert für eins kannst haben!“

Ein Seufzer der Erleichterung schwellte ihre Brust, und während er sich dem Ofen zuwandte und sich bei demselben zu schaffen machte, legte sie rasch das Mieder ab und streifte das durchnäßte Röcklein nieder über das rothe Unterkleid. Dann breitete sie die abgenommenen Gewandstücke über den Holzstuhl und ließ sich lautlos zurücksinken auf das Lager.

Als sie nun vom Ofen her Schritte sich nähern hörte, überkam sie trotz all der willenlosen Folgsamkeit doch ein Gefühl der Scheu und Scham, und hastig zog sie die wollene Decke über sich her bis an den Hals.

Jetzt stand er vor ihr und schaute ihr mit leisem Lächeln in die schüchteren Augen. „Gelt, so taugt’s Dir schon besser? Ja – da kannst es jetzt ganz schön abwarten, bis Dein Fußerl wieder Verstand annimmt. Aber –“ Er unterbrach sich, eilte davon und kehrte mit einem weißen Tuche zurück. „Weißt, so kannst ja net liegen mit die tropfnassen Haar’. Geh, heb’ Dich a bißl in d’ Höh’!“

Willig richtete sie sich empor und hielt das Köpfchen regungslos, während er die Nadeln aus ihren Zöpfen zog, die Flechten löste und mit dem Tuche sanft und achtsam die schweren Strähnen ihres braunen Haares trocknete. „So – schau, jetzt kannst Dich wieder legen,“ sagte er, dann stand er lange wortlos vor ihr und betrachtete sie mit glänzenden Augen. Er schien sich an dem Bilde nicht satt sehen zu können, das sie seinen Blicken bot, wie sie so vor ihm lag, unter der dunklen Decke, deren Falten die Formen ihres schlanken Körpers verriethen in dem weißen, hoch bis zum [808] Halse reichenden Hemde, das liebliche, von den offenen Haaren umflossene Gesicht sanft eingedrückt in das schneeige Lammfell, und übergossen vom falben, zitternden Scheine der flackernden Fackel.

Seufzend wandte er sich endlich ab; Veverl konnte ihm mit den Augen nicht folgen, denn sie wagte nicht sich zu rühren; sie hörte nur, daß er im Ofen ein Feuer entzündete, ab und zu ging und mit allerlei Geschirr hantirte. Wirre Gedanken schossen ihr durch das Köpfchen, aber sie vermochte keinen mehr zu Ende zu denken, es lag über ihr wie eine Betäubung, wie ein seelischer Rausch. Eine prickelnde Wärme durchrann ihren ganzen Leib. Sie fühlte sich so leicht – und es war doch die beginnende Erschlaffung nach all der Aufregung und Uebermüdung, was sie empfand. Sie spürte ihre Glieder nicht mehr, kaum noch den leise schmerzenden Fuß. Die Lider wurden ihr schwer, seufzend schloß sie die Augen und lauschte gedankenlos der seltsamen Musik, zu der das Knistern der Fackel, das Prasseln des Feuers und jenes unablässige Murmeln und Rauschen in ihren Ohren sich verwob. Leiser und leiser klang ihr diese Musik, sie schien sich zu entfernen, endlich verstummte sie und Veverl hörte nichts mehr.

Da ließ sich durch die Felswand des Höhlenraumes ein Geräusch vernehmen, das dem Rollen und dem Aufschlag eines fallenden Steines glich. Jener am Ofen hob lauschend den Kopf. Noch dreimal hörte er in gleichen Zwischenräumen dieses Geräusch sich wiederholen, und nun verschwand er mit eilenden Schritten in dem dunklen Trichter des Felsenganges.

Stille Minuten verstrichen. Im Ofen verstummte das Prasseln und das Fauchen der ziehenden Flamme, und als das Feuer erloschen war, da war auch die Fackel niedergebrannt bis auf einen müde flackernden Stumpf.

Sanft und ruhig gingen die Athemzüge der Schlummernden. Manchmal rührte sie leicht die Lippen, als spräche sie im Traume. Nun plötzlich schrak sie leise zusammen und schlug mit einem tiefen, stockenden Seufzer die Augen auf. Das Erwachen erst verrieth ihr, daß sie geschlafen hätte. War sie denn aber auch wirklich erwacht? Oder schlief sie noch und träumte nur, daß sie erwacht wäre? Ja, gewiß, so mußte es sein, denn wenn sie wirklich und wahrhaftig wach gewesen wäre, hätte sie doch nie und nimmer hören können, was sie hörte: diese halblaute Stimme, die aus den Felsen zu quellen schien und auf ein Haar der Stimme des Jörgenvetters glich! Der Jörgenvetter, der war ja meilenweit vom Orte - auf Geschäften in einem fernen Dorfe. Und wie käme der auch zum Edelweißkönig! Da müßte er doch die Königsblume gebrochen haben, die sie selbst gebrochen hatte, die also kein Anderer mehr brechen konnte. Fast hätte sie lachen mögen über ihren unsinnigen Traum – dann wieder kam es ihr so wunderlich vor, daß sie sich im Traume sagen konnte, daß sie träumte. Und was sie in diesem Traume die Stimme des Jörgenvetters reden hörte, das war „schon gar zu g’spaßig“. Sie hörte ihn vom Edelweißkönig erzählen, Alles, was sie selbst von ihm gewußt, Alles, was sie selbst den beiden Kindern einst von dem guten Alfen erzählt hatte – und das Alles erzählte der Jörgenvetter eben Dem, von dem er erzählte, dem Edelweißkönig. Denn auch die Stimme des Alfen hörte und erkannte sie in ihrem Traume. Und wie sich der verwunderte über Alles, was er von sich zu hören bekam! „Ja, was D’ sagst! Ja, jetzt versteh’ ich’s – jetzt versteh’ ich Alles! Na so ’was! Aber da paß auf – da will ich noch mein’ Freud’ dran haben! Hab ja so gar wenig g’nug!“ so hörte Veverl in ihrem Traume den Edelweißkönig sagen, als dem Jörgenvetter die Weisheit auszugehen schien. Nein, wie man nur so unsinnig träumen kann! Dann meinte sie leise Schritte zu vernehmen, die näher kamen und vor ihrem Lager still hielten – und nun träumte sie gar, der Jörgenvetter flüsterte dem Edelweißkönig zu: „Schau s’ nur g’rad an! Wie lieb als s’ daliegt! Han, g’fallt s’ Dir net auch?“ Und weiter war es ihr, als schwiege der Edelweißkönig eine Weile, als hörte sie ihn dann mit einem tiefen, zitternden Seufzer sagen: „O mein Gott, Jörg – wie müßt’ das schön sein: leben können, und leben in Glück und Licht, mit ei’m, das ei’m ang’hört mit Leib und Seel’, das sich mit ei’m freut in guter Zeit und ei’m in harbe Stunden d’ Haar wegstreicht aus der sorgenden Stirn. Aber – Du lieber Himmel – wie dürft’ denn ich mir so ’was noch verhoffen!“

Nein – wie einem nur im Traum der Ton einer Stimme so ans Herz greifen und einem so weh thun kann, schier gar zum Weinen weh! Und so natürlich meinte Veverl dieses Weh zu träumen, daß sie völlig zu spüren glaubte, als schlichen ihr zwei heiße Thränen durch die geschlossenen Lider auf die Wangen. Immer und immer nur in ihrem Traume dachte sie an diesen herzergreifenden Ton und achtete kaum darauf, daß sie auch noch träumte, als vertröste der Jörgenvetter den Edelweißkönig auf eine kommende Zeit, als nähme er mit herzlichen Worten von ihm Abschied und verspräche ihm ein Wiedersehen in einer der nächsten Nächte. Dann plötzlich sah sie die Beiden vor sich, so deutlich wie mit offenen, wachen Augen, sah den Jörgenvetter dem dunklen Trichter des Felsenganges zuschreiten und darin verschwinden, den Alfen aber regungslos vor ihrem Lager verharren und vor sich niederstarren mit gesenkten Augen. Und während sie seinen schweren Athemzügen lauschte, war es ihr, als würde es ihr selbst ganz schwer auf der Brust. Dann wieder sah sie in ihrem Traume, wie der Alf mit einem tiefen Seufzer die Hände zur Stirn hob, wie er sich niederkauerte auf den felsigen Grund, die Arme über den Bettrand legte und in ihnen das kummervolle Gesicht verbarg. So sah sie ihn lange, lange liegen und blickte mit regungslosen Augen nieder auf sein braungelocktes, im Fackelscheine goldig glänzendes Haupt. Endlich hob er wieder den Kopf und legte ihn seufzend in die aufgerichtete Hand. Und da schaute ihm Veverl unablässig in das blasse Gesicht – und es war ihr so leid, daß er die Lider geschlossen hielt, daß sie seine Augen nicht sehen konnte. Je länger sie dieses Gesicht, das von quälenden Sorgen und nagendem Kummer zu erzählen schien, betrachtete, desto weher und mitleidiger ward ihr ums Herz. Sie konnte die Augen kaum abwenden von den tiefen, finsteren Furchen auf dieser sorgenvollen Stirn, welche die Schatten der überhängenden Haare noch mehr verdüsterten. O du lieber Himmel! Es ist doch ein recht armseliges Leben, so ein Geisterleben, „g’wiß net zum neiden“! Immer so allein und verlassen!

Veverl wußte nicht, wie es geschah – sie hob nur mit einem Male die Hand, und sanft und sachte strich sie dem „so viel traurigen“ Alfen die dunklen Haare von der furchigen Stirn. Da sah sie ihn auffahren, sah, wie er mit beiden Händen ihre Hand erfaßte und das Gesicht darauf niederdrückte, und fühlte, wie ihr seine heißen Thränen durch die Finger rannen. Und so lag sie nun und rührte sich nicht. Mit feuchten Augen schaute sie über das Haupt des Alfen hinweg auf die langsam erlöschende Fackel, von deren glühendem Stumpfe ab und zu ein glimmendes Kohlenstückchen gleich einem langsam fallenden Sternlein niedersank auf den Felsenboden. Und dabei war es ihr ein so wohliges Empfinden, ihre Hand so fest und eng umschlossen zu fühlen.

Langsam ließ sie die Lider sinken und athmete mit offen lächelnden Lippen, so tief, als tränke sie nach rauher Winterszeit die laue Luft des ersten Frühlingstages. Dann wieder war ihr zu Muthe, als wäre sie endlose Stunden mühsam und frierend durch Nässe und Schnee gewandert und säße nun in einem bequemen Eckchen zur Seite des Herdes, darauf ein lustiges Feuer flackerte - und das war der Herd in ihrem lieben Waldhause, das war die kleine, saubere Küche, durch deren Fensterlein die Nacht mit ihren Sternen lugte und der stille, weiß beschneite Wald. Am Herd stand ihr Vaterl und schürte die Flamme. Und seltsam – wie jung ihr Vater geworden war! Und wie er aufs Haar dem Edelweißkönig glich! Da plötzlich klingen helle Schellen, man hört den Dori jauchzen und knallen, der Jörgenvetter erscheint unter der Thür, ihm folgt die Mariann’ mit den Kindern – und da mit einem Male sieht sich die Waldhausküche an wie die trauliche Wohnstube im Finkenhofe, die Kinder spielen hinter dem Ofen, die Mariann’ trägt auf, daß der Tisch sich biegen will, an dem sich Veverl mit dem Edelweißkönig sitzen sieht, gegenüber dem Jörgenvetter, der den Mund nicht zubringen will vor Lachen und Schmunzeln. –

Das war nun ganz gewiß ein wirklicher und wahrhaftiger Traum, denn der Jörgenvetter saß gar nicht zuhause in seiner Stube – der schlich im Frühlicht des ergrauenden Tages von der „hohen Platte“ her durch die dichten Latschenfelder dem Bründlalmsteige zu. Als er den Pfad erreichte, blieb er eine Weile stehen, wie wenn er sich besänne, welchen Weg er einschlagen sollte, dann nickte er vor sich hin und folgte dem Steige in der Richtung, die nach den Almen führte.

Am andern Tage aber wußten nicht allein Dori und Emmerenz, sondern auch alle Dienstboten des Finkenhofes ganz genau, wohin das Veverl gegangen wäre – nach Mariaklausen auf die Wallfahrt.

[810] Auch Herr Simon Wimmer bekam von der Wallfahrt zu hören, als er gegen Abend im Finkenhofe vorsprach und nach Veverl frug.

„Didididi!“ lachte er. „Was hat denn dem lieben Schätzle auf einmal ’s Herzle so schwer gemacht? Sie wird sich doch net gar verliebt haben? denn es heißt ja, daß die heilige Mutter von Mariaklausen gut ischt für so ’was.“

Jörg schwieg und runzelte die Stirn, worauf Herr Simon Wimmer die Daumen zu drehen begann und mit einem nachdenklichen „Tja, tja!“ das schüttere Haupt zwischen den Schultern wiegte, dann that er einen Seufzer, so tief, als wäre er aus der großen Zehe heraufgeholt – und begann vom Wetter zu reden. Vom blauen Himmel kam er auf seine blauen Aussichten zu sprechen, auf seine demnächst erfolgende Gehaltsaufbesserung, auf seine „ang’sehene“ Stellung und seine „Büldung“, dann wurde er vertraulich, tätschelte die Hand des Bauern, sprach von „schönem Beisamm’sitzen“ und von „ginschtiger G’legenheit“ – und ehe sichs Jörg versah, war der Heirathsantrag fertig. „No also,“ schloß Herr Wimmer, zum zweiten Male seufzend, „jetzt ischt’s heraußen, was mir schon alleweil auf der Zung’ g’legen ischt. Ja – und wenn der Finkenbauer nix dagegen hat, nachher ischt älles richtig und ich heirath ’s Veverle.“

„Na, na, das schlagen S’ Ihnen nur gleich aus’m Sinn, Herr Kommandant,“ fuhr Jörg fast zornig auf, „da kann nix draus werden! Jetzt schon gar nimmer!“

Er verstummte, als wäre er selbst vor diesem Worte erschrocken.

Herr Simon Wimmer erblaßte, soweit der Kupferanflug seines Gesichtes das Erblassen gestattete. „Aber hören S’ Finkenbauer, hören S’,“ stotterte er, „das ischt doch kein Art und Weis net, wie man so an ehrenvollen Antrag aufnimmt. ’vor der Finkenbauer so kurzweg Na sagt, hätt’ man doch z’erst noch drüber reden können, wie’s der Brauch ischt unter richtige Mannerleut’. In so a ang’sehene Stellung z’kommen, an gebildeten Menschen zum Mann z’kriegen und Frau Kommandantin z’heißen, das ischt doch auch a bissele ’was!“

Iörg suchte einzulenken, sprach von Veverl’s Jugend, meinte, daß man in dieser Angelegenheit doch zuerst das Mädchen selbst befragen müßte, und versicherte unter begütigenden Umschweifen, daß er von seiner Person aus nicht das Geringste gegen eine solche Verbindung einzuwenden hätte.

„Na, na – da braucht sich der Finkenbauer jetzt gar nimmer anzustrengen,“ versetzte Herr Simon Wimmer tief beleidigt, während er sich erhob und mit dem Aermel den Mützendeckel bürstete. „Dem Finkenbauer sein’ Sinn hab’ ich aus sei’m ersten Wort erkannt. Und es ischt für mich arg, daß ich sehen muß, wie mir der Finkenbauer mein’ Freundschaft vergilt. Er dürft’ schon a bissele mehr drauf geben – ja. Man kann net wissen, wofür’s gut ischt, en Freund in meiner Stellung z’haben. Vielleicht denkt sich der Finkenbauer gar net, was man da amtlich oft z’hören kriegt – ja – und wenn ich net älleweil dem Finkenbauer sein Freund g’wesen wär’ –“

Er verstummte und zuckte mit einer seltsam geheimthuenden Miene die Achsel.

„Was soll das heißen, Herr Kommandant?“ fuhr Jörg erschrocken auf. „Da muß ich schon bitten! Was kann man hören von mir und über mich?“

Wieder zuckte Herr Wimmer die Achseln. „Der Finkenbauer kann doch net von mir verlangen, daß ich ihn in meine Amtsg’heimnisse ’neinschauen lass’. Unter Freund und Freund, natürlich, da wär’s ’was anders g’wesen! Aber so! Und – wenn ich schau an des net denk’, was man so hört – man hat ja selber auch seine Augen. Nix für ungut – das ischt ja nur so a Meinung. Und im Uebrigen – wenn mir der Finkenbauer auf mein’ Antrag noch was z’sagen hätt’, weiß er ja, wo er mich finden kann.“ Damit stülpte Herr Wimmer die Mütze schief über das obrigkeitliche Haupt, salutirte und stelzte in hochmüthiger Haltung zur Stube hinaus.

Mit langen Schritten wanderte Jörg in der Stube auf und nieder; dann wieder blieb er stehen und schüttelte hastig den Kopf. „Ach was! Was kann er denn g’hört haben? Was kann er denn wissen und sehen? Nix! Nix! Gar nix, als daß ich diemal net daheim bin! Aber – aber dahinter kann ja doch ’was sein! Und – es nutzt nix - es nutzt nix mehr! Jetzt muß er mir fort – fort über d’ Grenz’ – so bald als möglich! A jeder Tag kann a G’fahr für ihn bedeuten!“

Aufathmend fuhr sich Jörg mit beiden Händen über die Stirn und eilte aus der Stube, als würde ihm zu schwül zwischen den vier Wänden. Als er den Hof betrat, hörte er sich von der Straße her mit lautem Gruße anrufen. Er blickte auf und erwiderte zerstreut. „Grüß' Gott auch, Brennerwastl, wo kommst denn her?“

Der Bursche zögerte einen Augenblick, dann öffnete er das Gatter. Während er näher kam, rückte er den Hut und drehte dabei den selten schönen Spielhahnstoß nach vorn, damit ihn Jörg nur ja nicht übersehen möchte.

„Drin im Stadtl bin ich g’wesen,“ begann er zu erzählen, „weißt, da hat’s heut’ die Verhandlung ’geben vom Valtl seiner Klag’ gegen den Grafenjager – wegen derselbigen G’schicht’ beim Almtanz. Mich hat halt die Sach’ aus g’wisse Gründ’ a bißl verinteressirt. Und ich sag’ Dir’s – a größere Freud’ hätt’ ich schon nie net haben können, als wie ich den Spruch g’hört hab’. Frei is er ’worden, der Gidi, ganz und gar frei, denn aus die Zeugenschaften hat’s G’richt die Einsicht kriegt, daß der Valtl der Hackler g’wesen is, der Ruhestörer, wo’s Messer ’zogen hat – und daß der Gidi d’ Ruh’ g’rad wieder herg’stellt hat. Natürlich – da hat jetzt der Andere zu die Schläg’ noch ’s G’spött und ’s G’lachter – und die ganzen Kosten muß er zahlen. Der is Dir weiters net springgiftig! Verschnellen thut er schier vor lauter Wuth. Ja – und wie er ’raus is aus ’m G’richt – a paar von die Zeugen haben’s g’hört – da hat er g’schworen, daß er dem Gidi ’was anthut. Aber das soll er sich nur net einfallen lassen, sonst hat er mich auch gegen ihn, denn ich bin dem Gidi sein Freund.“

Die Suada des Brennerwastl’s wurde durch einen Knecht unterbrochen, der den Bauer in die Schmiede rief. Jörg verabschiedete sich von dem Burschen, wobei er ihn ermahnte, zu anderen Leuten über Valtl nichts zu reden, was er nicht wirklich verantworten könnte. „Kannst ja net wissen, wie man’s ihm wieder zutragt, und – der Valtl is kein Guter net!“ –

Der folgende Tag war ein Feiertag, Mariä Geburt – der Geburts- und Namenstag der Finkenbäuerin. Am frühen Morgen schon kamen die Dienstboten, um die Bäuerin „anzuwünschen“. Die beiden Kinder stammelten die Sprüchlein herunter, die sie von Veverl gelernt hatten, und schalten dann der Mutter gegenüber tüchtig auf ihre Lehrmeisterin los, die, wie das Liesel sagte, „jetzt auf amal hat wallfahrten müssen, statt daß s’ die zwei Edelweißbuschen b’sorgt hätt’, wo s’ uns für’n heutigen Tag versprochen hat.“

Wie dann die Glocken zu läuten begannen, wanderte Jörg mit seinem Weibe und seinen Kindern der Kirche zu, um dem Hochamte beizuwohnen. Als sie wieder heimkehrten, hatte Mariann’ in der Küche zu thun, und die Kinder trugen im Hofe ihr Feiertagsgewand spazieren, während Jörg in der Stube saß und sich in das „Wochenblattl“ vertiefte, das der Postbote gebracht hatte.

Eine Stimme, die vom Flur hereinklang, ließ ihn die Lektüre unterbrechen. Die Thür öffnete sich, und Gidi trat in die Stube. Sein Gesicht war geröthet wie von tiefer Erregung. Mit hastigen Schritten näherte er sich dem Tische und warf den Hut auf die Fensterbank.

„Grüß’ Dich Gott, Finkenbauer!“

„Grüß’ Dich Gott auch!“ erwiderte Jörg mit zögernden Worten, wobei er sich langsam erhob. „Schier verwundern muß ich mich! Hast Dich ja gar seltsam g’macht unter mei’m Dach.“

„Mein Gott, der Sommer halt – und – aber um so ’was ausz’reden, deßwegen bin ich net da! Finkenbauer – kannst Dir denken, wer heut’ noch kommt?“

„Was soll ich mir denn da denken? ’leicht kommt der Abend nach’m Tag.“

„Ehvor’s aber Abend wird, Finkenbauer, ehvor kommt noch mein junger Graf!“

Jörg erblaßte bis in die Lippen. Eine Weile stand er wortlos, dann brach es in heiseren Lauten aus ihm hervor. „Und mir – mir denkst doch am End’ net a Freud’ mit Deiner Botschaft z’ machen!“

„A Freud’? Ah na! Ehnder macht’s Dir noch mehr Kümmerniß, als schon g’litten hast – wann derfahrst, daß a Unglück, wo g’schehen is, net g’schehen hätt’ müssen, wenn – ja, wenn das traurige Wenn net g’schehen wär’! Da, Finkenbauer, da –“ und mit flinken Händen brachte Gidi aus seiner Joppentasche ein engbeschriebenes Blatt zum Vorschein. „Da, den Brief mußt lesen, den der Eustach, der Kammerdiener, der Schloßhauserin g’schickt hat.“

[811] Abwehrend streckte Jörg die Arme aus. „Laß mich in Ruh’. Ich will nix lesen – ich will nix wissen!“

„Willst ihn auch net lesen, wann ich Dir sag’, daß Dei’n Ferdl selig sein guter Nam’ da drin steht – und drin steht, daß er net schuld is an dem Blut, wo geflossen is?“

Mit gläsernen Augen starrte Jörg den Jäger an. „Gidi – Gidi –“ stammelte er, „gieb mir den Brief, den Brief laß mich lesen!“ Die beiden Arme streckte er nach dem Blatte, und als er es in Händen hielt, hob er es dicht vor die Augen und begann zu lesen, mit nickendem Kopfe und raunenden Lippen. Als er zu Ende war, drehte er das Blatt zwischen den zitternden Fingern und starrte wieder den Jäger an, dann ließ er sich auf die Holzbank niedersinken, legte das Blatt vor sich auf den Tisch, fuhr mit den Händen in sein graues Haar und begann aufs neue zu lesen.

Der Jäger stand vor ihm und sah mit theilnahmsvollen Blicken auf ihn nieder – und so hörte keiner von ihnen den Wagen rollen, der draußen auf der Straße vor dem Thore des Finkenhofes anzuhalten schien.

„Na! Na! Nu! Und wenn’s auch zehnmal g’schrieben steht,“ fuhr Jörg mit einem Mal auf, die beiden Fäuste wider die Stirn pressend, „es kann nix nutzen – es kann ja nix nutzen!“

„Nutzen, Jörg, nutzen kann’s freilich nix mehr,“ fiel Gidi mit bewegter Stimme ein. „Da schaut sich jetzt ’s Unglück ehnder noch größer an, als wie’s z’erst schon war. Aber schau – drin im Grafenhaus kannst es ja kei’m net verargen. Denn so, wie alles g’wesen is, hat ja a jeder denken müssen, der Ferdl hat’s than! Und daß er sich g’flücht’ hat, das hat ja jeden noch b’stärken müssen in dem fürchtigen Verdacht. Und so – natürlich - der einzige, wo hätt’ sagen können, wie’s g’wesen is, der hat ja net reden können, der is dag’legen zwischen Leben und Sterben. Jetzt freilich – jetzt kommt alles Reden z’spat!“

Gidi verstummte und ließ sich mit einem müden Seufzer an der Seite des Bauern nieder, der noch immer regungslos am Tische saß, in grübelndes Sinnen versunken. Manchmal flog es über Jörg’s Gesicht wie der lichte Ausdruck hoffnungsvoller Gedanken, aber immer wieder verfinsterten sich seine Züge, und immer wieder raunte er vor sich hin: „Es kann ja nix nutzen – es kann ja nix nutzen.“

„Wann der Ferdl nur g’rad das eine net ’than hätt’! Wann er nur ’blieben wär’!“ fuhr Gidi mit jammernden Worten wieder auf. „Aber freilich – ich kann mir’s ja denken, wie’s ihm g’wesen is: 's Unglück von der Hanni muß ihn ja schon ganz auseinander ’bracht haben – und ’leicht hat er sich da ’denkt: der ’s schuld dran und der hat meine Schwester am G’wissen – und so rennt er hin zu ihm – und mein’ jungen Grafen, wie er hört vom Unglück, kommt der Jammer an – ich weiß ja, ich hab’s ja lang schon g’merkt g’habt, was ihm d’ Hanni gilt – und in der Schwächen, die ihn anpackt, thut er den unseligen Fall mit der Stirn g’rad auf den scharfen eisernen Thürhaken – und wie ihn der Ferdl auf amal so daliegen sieht, übergossen von Blut, schier als a Todter, da muß ihn ’s Grausen anpackt haben – ’leicht hat er sich auch gleich ’denkt: jetzt werden s’ sagen, ich hab’ ’s ’than – und da hat ihn halt der Schreck noch ganz um sein bißl Besinnung ’bracht – und so wird’s ihn davon ’trieben haben, daß er ’naus is zum Haus und fort und fort – g’rad heimzu allweil – allweil heimzu, ohne Denken und ohne Verstand. Und wer kann’s wissen – ’leicht hat er sich in seiner Verstörung noch eing’redt, als hätt’ er wahrhaftig a Schuld verübt! Du, Jörg, Du mußt ja wissen, was er Dir fürg’redt hat in derselbigen Nacht – und schau – da kannst nachher den Grafenleuten drin ihren Verdacht auch net so arg verübeln – denn wann Dich auf den Abend b’sinnst, wo bei mir droben g’wesen bist im G’schloß, da bast Du selber nix anders ’denkt, als daß der Ferdl wirklich –“

„Nix hab’ ich denkt! Nix! Nix! Gar nix!“ brauste der Bauer auf, wobei sich sein Gesicht verzerrte vor heller Angst. „Was damals g’redt is worden zwischen uns, das waren lauter Wenn und Aber! Und jetzt redst so zu mir! Na, na, den möcht’ ich sehen, der mir nachweisen kann – das heißt – ja – eins hab’ ich für g’wiß g’sagt: daß ihm recht g’schehen is, Dei’m saubern Grafen – so oder so! Und das sag’ ich heut’ noch, wo meiner Hanni ihr Grab schon grün verwachsen is – und saget’s ihm ins G’sicht, wann er da stünd’ vor mir –“

Jörg verstummte und blickte nach der Thür, welche hastig aufgerissen wurde. Die beiden Kinder stürmten in die Stube. „Vater, Vater, draußen is Einer, der fragt nach Dir,“ berichtete Pepperl, und das Liesei ergänzte. „Ja, Vater – a ganz a nobliger Herr“

„Um Gotteswillen,“ fuhr Gidi auf, „es wird doch net –“

Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, vor Schreck und Freude. Einen Augenblick starrte er wie versteinert auf die schlanke, dunkelgewandete Gestalt des jungen Mannes, der, den Hut in der Hand, die offene Schwelle betreten hatte – starrte in das feine durchgeistigte Gesicht, das in Blick und Zügen von kaum überstandener schwerer Krankheit und von tiefem Leid erzählte, und wollte die Augen von der breiten Narbe nicht losbringen, die sich in dunkler Röthe von dieser weißen Stirn abhob und unter dem locker gescheitelten Haare sich verlor. Das helle Wasser sprang dem Jäger auf die sonngebräunten Wangen, er schlug die Hände in einander, und unter den stammelnden Worten: „Herr Graf! Herr Graf! Grüß’ Ihnen Gott, Herr Luitpold – grüß’ Ihnen Gott bei uns daheim, mein lieber Herr Graf!“ eilte er seinem jungen Herrn entgegen.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 50, S. 825–832

[825] Luitpold reichte dem Jäger zu langem und festem Drucke die Hand, nickte ihm mit trübem Lächeln einen stummen Gruß zu und richtete dann die tiefen, ernsten Augen auf den Bauer, welcher hochaufgerichtet stand und die beiden Kinder an sich drückte, als müßte er sie vor dem in Schutz nehmen, der da gekommen.

Mit scheuen Blicken schaute Gidi bald auf seinen Herrn und bald auf Jörg, er suchte die Kinder zu sich heran zu winken, und als ihm das nicht gelingen wollte, verließ er mit einem leisen Seufzer die Stube.

Raschen Schrittes näherte sich Luitpold dem Bauer. Es schien als wollte er sprechen, aber wortlos schlossen sich seine zuckenden Lippen wieder, doch wenn sein Mund auch schwieg, deutlich sprachen seine Augen, als er Jörg mit stummer flehender Bitte die Hand entgegenbot.

Jörg übersah diese Hand. Ein unheimliches Feuer brannte in seinen Augen, und rauh und heiser lösten sich die Worte von seinem Munde. „Was will der Herr von mir?“

„Seht Ihr es nicht? Meine Hand will ich Euch bieten, und die Eure, Jörg, die Eure möchte ich drücken.“

„Daß ich net lach’! Und z’wegen so ’was hat der Herr den weiten Weg g’macht von der Münchnerstadt bis ’raus zu uns? Schad’ um den weiten Weg – recht schad’! Oder – ah ja – jetzt merk’ ich’s erst! So a sauberer Herr! Und hat a Hütl – kein Federl drauf und net a gotzigs Bleaml! Ah ja – der Herr will ’leicht a Bleaml haben aus’m Finkenhof! Da – da – droben im Herrgottswinkel steckt a Rosen! Hab’s erst am letzten Sonntag heim’bracht von meiner Hanni ihrem Grab.“

Luitpold ließ die ausgestreckte Rechte sinken und schaute mit einem Blicke voll unsäglicher Wehmuth in die von Gram und Leidenschaft verzerrten Züge des Bauern. „Ihr seid bitter, Jörg! Aber ich höre nicht Eure Worte, ich höre nur Euren Schmerz – und der, Jörg, der redet eine Sprache zu meinem Herzen, die ich besser zu verstehen weiß, als Ihr glauben mögt! Wie sollten Schmerz und Schmerz sich nicht verstehen! Sie gleichen alles aus –“

„Ah ja! No g’wiß! Da is ja gar nix z’reden! Da is ja Alles gleich auf gleich!“ fuhr Jörg mit wildem Lachen auf. „An schönern Ausgleich kann’s ja gar net geben! Auf meiner Seit’ a ’brochenes G’müth, Herzleid und Schand’, a Häuferl Aschen draußt am Freithof und – und mein Ferdl dazu, mein armer – und – und auf der andern Seit’ a Ritzerl in der noblen Haut –“ die Stimme zu heiserem Kreischen steigernd, schlug Jörg sich die beiden [826] Fäuste wider die Stirn, „ja dummer Bauernkerl, verstehst es denn net, das is ja gleich auf gleich!“

„Vaterl, Vaterl!“ schluchzte das kleine Liesei und streckte mit ängstlicher Gebärde die Aermchen zu Jörg empor. Für einen Augenblick drückte Jörg die Fäuste über seine brennenden Lider, dann riß er den Knaben an sich, der mit trutzigen Blicken die Gestalt des Gastes maß, und schlang den zitternden Arm um den Flachskopf des schluchzenden Dirnleins.

„Sei stad, Deanei, mein lieb’s – sei stad und mußt net weinen!“ stammelte er. „A blinder Bruder bin ich g’wesen, aber Dir will ich a Vater sein mit offene Augen!“ Und zu Luitpold sich wendend, fuhr er mit harter Stimme fort. „Ah – ja – eins hab’ ich vergessen – und ich will net ung’recht sein. Der gnädige Herr Graf hat sich ja so viel Müh g’macht, mei’m Ferdl sein’ guten Namen wieder z’ geben – im Augenblick erst hab’ ich’s derfahren! A recht a gute, gnädige Lug’! Freilich, lang g’nug hat’s ’braucht – und wissen kann man auch net, weßwegen eigentlich der Herr Graf so gnädig war! D’ Leut’ halt! Net wahr? D’ Leut’! Die wann sich denken müßten: das hat der Ferdl ’than, der Bruder von dem armen Deandl, wo sich hat ins Wasser stürzen müssen – da konnten sie sich leicht auch denken, es is ’was g’schehen, wo dem Bruder a Recht ’geben hat, daß er d’ Hand aufhebt gegen den, der – der – Und freilich, so was wär’ gar an arger ‚Schmerz‘ für so an nobligen Herrn, wenn d’ Leut’ sich so ’was denken müßten von ihm. Aber no – die Lug’ is g’sagt, und ich muß dem gnädigen Herrn Grafen auch noch danken dafür von ganzem Herzen. ’leicht denkt sich Keiner net, wozu man’s brauchen kann – und – schriftlich hab’ ich s’ ja auch für alle Fäll’!“ Tiefathmend schwieg er und sank erschöpft auf die Holzbank nieder.

Luitpold stand regungslos, mit todtenblassem Gesichte und flammenden Augen.

„Halb nur versteh ich, was Ihr sprecht,“ sagte er, und die Worte lösten sich schwer und stockend von seinen Lippen, „aber was ich verstehe, das ist eine Sprache, die ich nicht länger anhören darf, wenn ich nicht vor mir selbst erröthen will. Meine plötzliche Ankunft, mein unerwarteter Anblick mag Euch so über alles Maß erregt haben. Ihr seid ungerecht! Aber ich zürne Euch nicht – ich sehe nur, daß in dieser Stunde eine Verständigung zwischen uns unmöglich ist. Ihr würdet mir nicht glauben, wenn ich Euch sagen wollte, daß ich erst vor wenigen Tagen von dem entsetzlichen Ende vernommen habe, das der Bruder meiner Johanna gefunden. Ich bin gekommen, weil mein Herz mich zu Euch getrieben hat, um zu trösten und Trost zu empfangen. Was geschehen ist, Jörg, das ist geschehen und unabänderlich. Wen es härter getroffen, Euch oder mich, das mag nur Einer entscheiden, der in unsere Herzen sieht. Aber ich weiß, die Stunde wird nicht ausbleiben, die Euch sagen wird, daß ich mehr Euer Mitgefühl verdiene als Euern Groll.“

Luitpold schwieg, als vermöchte er nicht weiter zu sprechen. Mit feuchten Augen starrte er die beiden Kinder an – dann wieder klang es mit leisen, zitternden Worten von seinen Lippen.

„Ihr, Jörg, Ihr habt nur ein Theil von dem verloren, was Euer Herz besaß – mir ist mit Johanna mein Alles gestorben!“

Es war ein Ton in diesen Worten, von dem sich Jörg in innerster Seele betroffen fühlte, das sah man seinem Gesichte an, auf welchem jählings alle Zeichen des Grolles und der Leidenschaft wie ausgelöscht erschienen. Banges Staunen sprach aus seinen Augen, ein Zucken und Zittern kam in seine Züge – dann plötzlich sprang er auf und streckte, überwältigt von tiefer Bewegung, dem jungen Manne die beiden Hände entgegen.

Luitpold sah es nicht mehr; hastig hatte er sich abgewandt, als hätte er die Thränen verbergen wollen, von denen seine Augen überflossen. Und ehe Jörg ein Wort über die Lippen zu bringen wußte, schloß sich hinter seinem Gaste die Thür.

Gidi hatte seinen Herrn im Hof erwartet, wortlos schritt er mit ihm die Straße dahin. Luitpold mit scheuen besorgten Blicken von der Seite betrachtend, dann fing er schüchtern zu reden an, von den Auerhähnen, die heuer so ein „g’sundes Frühjahr“ gehabt hätten, von einem „Kapitalhirsch“, der nahe bei der Jagdhütte seinen Stand hielte, und von drei „Fetzengamsböck“, die droben auf der Höllenleithe so „g’fangig“ stünden. So redete er zu und wurde immer eifriger und lauter, als hätte er gar kein Auge dafür, daß sein Herr auf seine Worte kaum zu hören schien.

Sie hatten die Straßenkreuzung vor der Kirche erreicht, als Luitpold die Schritte verhielt.

„Geh’ nur, Gidi, geh’!“ sagte er. „Zu Hause treffen wir uns wieder.“

Gidi aber ging nicht. Wie angewurzelt stand er und folgte mit traurigen Blicken seinem jungen Herrn. Er sah ihn den Friedhof betreten, die Reihen der Hügel und Kreuze wie suchend durchwandern und endlich vor einem Grabe stille stehen und das Gesicht in beide Hände bergen.

Als Luitpold die Straße wieder betrat, meinte Gidi, das hätte eine Ewigkeit gedauert. „Müssen’s S’ net harb sein, Herr Graf, daß ich g’wart’t hab’,“ stammelte er, „ich hab’ mir halt ’denkt –“ und da wußte er mit einem Male gar nicht, was er denn eigentlich gedacht hatte.

Luitpold reichte ihm die Hand. „Gidi – wir wollen zu Berge steigen. Ich muß hinauf – hinauf! Die Luft hier unten erdrückt mich!“

Da schnalzte Gidi mit den Fingern und hätte am liebsten einen Juhschrei gethan.

Zwei Stunden später brachen sie auf. Als sie über den Wiesenhang dem Walde zustiegen, sah Gidi über die Straße, die zur Bahnstation führt, eine offene Kutsche dahinrasen, daß der Staub in dicken Wolken hoch empor wirbelte.

„Wo mag denn der jetzt hinfahren?“ frug er sich, als er in der Kutsche den Finkenbauer zu erkennen meinte.


Drei Nächte und zwei Tage war Veverl schon vom Finkenhofe ferne. „Na – so a weite Wallfahrt!“ schmollte das Liesei unablässig, und immer wieder rechnete sie dem Pepperl an den Fingerchen vor, welch’ eine „fürchtig“ lange Zeit verstrichen wäre, seit die Veverlbas den Hof verlassen hatte.

Und diese lange, lange Zeit, wie kurz war sie dem fernen Mädchen selbst erschienen!

In dieser immergleichen, von flackerndem Fackelschein erhellten Nacht, in der sie weilte, hatte Veverl alles Gefühl für die verstreichende Zeit verloren. Draußen über den Felsen brach der dritte Tag schon an, und Veverl wähnte die erste Nacht noch nicht vergangen. Bei Allem, was sie sah und hörte, was sie dachte und fühlte, waren ihr die Stunden wie Minuten verflogen. Sie konnte sich nicht einmal darüber wundern, daß sie so häufig zu essen und zu trinken bekam und immer wieder zu schlafen vermochte, – sie schrieb das kurzweg auf Rechnung der „zaubermaßigen“ Behandlung, in der sie sich mit ihrem kranken Fuße zu befinden wähnte. So mußte sie auch glauben, daß die Besserung, die ihr Fuß in diesen Tagen und Nächten zeigte, der Erfolg von wenigen Stunden wäre. Das erfüllte sie aber durchaus nicht mit irgend welchem staunenden Respekte vor der Heilkunst ihres Alfen, es war dies in ihren Augen nur die selbstverständliche Bestätigung für eine jener wundersamen Anschauungen, die sie von ihrem wunderlichen Vater überkommen und während ihres einsamen, idyllischen und träumerischen Lebens im Waldhause genährt und großgezogen hatte, an die sie glaubte wie an den lieben Herrgott im Himmel droben. Ihre Seele glich dem See im Märchen, um welchen Kobolde, Wichtlein und Zwerge ihre Spiele treiben, in welchem Nixen und Schwanjungfrauen auf- und niedertauchen und goldene und silberne Fischlein schwimmen, um dessen weiße Rosen die luftigen Elfen ihren Reigen schlingen, während hoch darüber hin im Blumenwagen die Feeen schweben, indeß der Himmel mit seinen ewigen Sternen in der Fluth sich spiegelt, die so lauter und keusch ist wie der Quell, der aus Felsen springt – und so liegt der See in seiner geheimnißvollen Stille, bis das bärtige Sonntagskind an seine Ufer tritt, den Zauber bricht und die in den See gebannte Maid gewinnt für ein Leben in Glück und Sonne – „in Glück und Licht“, wie Veverl den Edelweißkönig in ihrem seltsamen Traume hatte sagen hören.

Als sie damals aus dem Schlafe erwacht war, der an den „Traum“ sich angesponnen, hatte sie sich an Alles genau erinnert, was sie geträumt zu haben glaubte – und da hatte sie um ihrer „geträumten Keckheit“ willen kaum den Muth gefunden, ihrem Edelweißkönig ins Gesicht zu schauen. Es war aber auch fast so anzusehen, als hätte der Alf in Wirklichkeit verspürt, was sie ihm in ihrem Traume Liebes erwiesen, ein so freundliches [827] Lächeln und eine so helle Stirn wußte er ihr zu zeigen. Und wie er zu ihr war! Wie er mit ihr plauderte! Wie er Alles und Alles that, was er nur zu thun vermochte, um sie vertraut und gesprächig zu machen! Er trank mit ihr die Milch aus der gleichen Schale, das Wasser aus dem gleichen Kruge; wenn sie aß, aß er mit ihr vom gleichen Teller, und wenn sie die Augen zum Schlafe schloß, legte auch er sich zur Ruhe auf seinen Mantel nieder, der, wie Veverl hätte beschwören können, aus den silbergrauen Blättchen von aberhundert Edelweißpflänzchen kunstvoll gefertigt war, wenngleich er sich ansah, wie eine ganz gewöhnliche graue Lodenkotze. Das war es ja auch, was ihm Veverl’s Zutrauen zumeist gewann, daß er jedem Dinge, welches in den Bereich ihrer Blicke kam, ein so vertrauenerweckend natürliches Ansehen gab, und daß er Alles, was er trieb und that, so einfach und natürlich that, „akrat wie a richtiger Mensch“, und so ganz ohne jedes „schreckhafte“ Zauberwerk. Freilich – eine Probe seiner Zauberfertigkeit hatte er ihr doch gegeben – aber das hatte er ja nur gethan, um ihr eine Freude zu machen. Und welch’ eine Freude! Sie hatte ihm berichten müssen, wie sie denn eigentlich so spät in der Nacht an jene Stelle gekommen wäre, an welcher er sie gefunden; und da hatte sie ihm von dem Wiedersehen mit ihrenn Hansei erzählt, von der Verfolgung des Vogels und dazu des Vogels ganze Geschichte. „So? So is die Sach?“ hatte er darauf gesagt. „Ja – wenn den Vogel gar so viel lieb hast, da muß ich schon ’was Uebrig’s thun!“ Ehe sie noch recht gewußt hatte, was sie zu diesen Worten denken sollte, war er aus der Höhle verschwunden – und dann plötzlich war er wieder vor ihr gestanden, auf der ausgestreckten Hand ihr liebes Hansei tragend, das die Flügel reckte und lustig darauf losschnatterte: „do, do, a do, Echi, a do!“ Geweint und gelacht hatte sie da vor heller Freude, und nicht mehr aus den Händen hatte sie den Vogel gelassen, der bald wieder so vertraut zu ihr wurde, als wäre er nie von ihr getrennt gewesen. Sie wurde nicht müde, mit ihm zu scherzen und ihn zu kosen, wobei sie seiner Zunge manch ein vergessenes Wort in Erinnerung brachte – und jener, dem sie diese Freude dankte, saß dabei zu Füßen ihres Lagers und betrachtete sie mit stillem Lächeln. Unterbrach sie das Spiel, so begann er mit ihr zu plaudern. Und was sie da Alles zu hören bekam! Es machte sie ordentlich stolz, daß er so gar nicht geheim that vor ihr. Als wäre sie seinesgleichen, so erzählte er ihr von seinem Geisterleben, von seinen Geistersorgen, von der unglaublichen Mühe, die ihm die Wartung und Behütung seiner zahllosen Schützlinge bereite, wie überhaupt von Allem, was als Edelweißkönig so seine Pflicht und Schuldigkeit wäre. Dazu erzählte er ihr die merkwürdigsten Geschichten von allerlei Menschenkindern, die durch die Kraft der Königsblume den Weg zu ihm gefunden. Bei all diesem Geplauder umspielte ein so eigenes Lächeln seinen Mund, als hätte er seine Freude an ihrem athemlosen Lauschen und Staunen. Und wie gut ihr dieses Lächeln gefiel! Wenn er so lächelte, konnte sie keinen Blick von seinem Gesichte verwenden – sie trank es ordentlich hinein in ihre Augen. Und dieses Gesicht überhaupt! Freilich – er sah ja auch der Hannibas so ähnlich, die so schön gewesen war. Als er einmal den Verband an ihrem Fuße löste, da hatte er sie lange angeschaut mit einem Blicke, unter dem ihr bald heiß bald kalt geworden war, und hatte gesagt: „Wie lang noch dauert’s, nachher is Dein Fußerl ganz in Ordnung – und nachher – freilich, was hast denn nachher noch zum suchen bei mir? – nachher wirst halt gehn!“ Es hatte ihr einen ganzen Stich im Herzen gegeben bei dem wehmüthig bitteren Klange dieser Worte. Der Gedanke an das Gehen, an die Heimkehr zu den Ihrigen mußte ihr doch Freude machen – und dennoch hätte sie lieber weinen als lachen mögen. Wie von Herzen gut mußte er ihr geworden sein, da ihm der Gedanke an ihr Gehen so bitter wehe that! Wie freundlich war er zu ihr gewesen! Was Alles hatte er für sie gethan! Und da sollte es nun ihr ganzer Dank sein, daß sie ein „Vergelt’s Gott“ sagte und ihn allein ließ, so sterbensallein!

Diese Gedanken ließen nicht mehr von ihr, und über all dem Denken vergaß sie des Redens. Sogar ihr liebes Hansei hatte darunter zu leiden – am meisten aber wohl jener, der das Wort gesprochen, das so jählings ihren traulichen, an der Minute sich genügenden Verkehr zerstört hatte gleich einem bösewirkenden Zauberworte. Er wurde so wortkarg und in sich gekehrt. So stille that er Alles, was er sonst mit freundlichen Worten und unermüdlichem Geplauder begleitet hatte. Jedoch – so stumm auch ihre Lippen geworden waren, eine Sprache war ihnen geblieben.

Wenn er zu Füßen ihres Lagers saß, wenn sie so stille lag und er kein Wort zu finden wußte, um das bedrückende Schweigen zu brechen, dann wußten immer wieder ihre scheuen, bangen Blicke seine traurigen Augen zu finden, und je häufiger sie sich fanden, desto länger hielten sie sich fest in still geheimnißvoller Sprache.

Aus solcher stummen Zwiesprach fuhr er einmal auf mit tiefem Seufzer und schüttelte den Kopf, als wollte er Gedanken von sich wehren, die ihn wider Willen überkamen. Mit bebenden Händen löste er den Verband von Veverl’s Fuß, und seine Worte klangen kurz und rauh, als er sie aufforderte, nun wieder das Gehen zu versuchen. Da wurde sie völlig blaß vor Schreck und fühlte schon eine Schwäche und ein Zittern in allen Gliedern, noch ehe sie auf den Füßen stand. Er brachte ihr die Schuhe, und als sie dieselben angezogen hatte und ihm versicherte, daß sie nicht den geringsten Druck oder Schmerz verspüre, nickte er nur. Dann wunderte sie sich darüber, wie prächtig sich das Gehen machte. Gemachen Schrittes wanderte sie ein um das anderemal in der Höhle auf und nieder, und dabei sah sie ihn unablässig an, als warte sie auf ein Wort von ihm, daß es nun genug wäre.

„No schau – es geht ja ganz sauber,“ sagte er endlich. „Und da könnten wir ja gleich a bißl an größeren Spaziergang machen. Ich muß Dir doch amal mein ganze Behausung zeigen.“

Er faßte ihre Hand und führte sie einer Stelle der Felswand zu. Zögernd folgte sie seiner Leitung, befangen von zitternder Scheu. „A do, a do!“ schnatterte das Hansei und flatterte vom Kopfende des Bettes auf die Schulter des Mädchens, das sich vor eine dunkle, die Steinwand schief durchbrechende Felsenspalte geführt sah. Veverl hatte diese Spalte bisher mit keinem Blicke noch gewahren können, und so dachte sie nicht anders, als daß ihr Alf mit einem stummen Zauberworte „d’ Felsen in aller Mitten auseinander g’rissen“ hätte.

Drei oder vier Schritte gingen sie im Dunkeln, wobei jenes Murmeln und Rauschen sich zu nähern und zu verstärken schien, welches Veverl unaufhörlich vernahm – dann machten sie eine Wendung, und mit einem leisen, staunenden Rufe verhielt das Mädchen den Fuß. Sie stand in einem halbkugelförmigen Höhlenraume. Ein schmaler, feuchter Steingrund lief an der gekrümmten Wand entlang gegen ein enges Felsenthor, durch das ein fahles Zwielicht schimmerte, welches den tiefblauen Dämmerschein nicht störte, der den ganzen Raum erfüllte. Dieses magische Licht schien aus dem kleinen See zu quellen, der dicht vor Veverl’s Füßen lag, jetzt ruhig und so glatt wie ein geschliffener Sapphir von dunkler Farbe, im nächsten Augenblicke aufwallend und Blasen werfend wie kochendes Wasser, und wieder still und ruhig, bis das alte Spiel begann. Dazu ein unablässiges Triefen und Rieseln an den Wänden, ein immerwährendes Klatschen der schillernden Tropfen, die von all den abenteuerlich geformten, bläulich schimmernden Zacken und Buckeln der gewölbten Decke niederfielen in die geheimnißvolle Fluth.

„Der Zauberbrunn’!“ flüsterte Veverl tief aufathmend vor sich hin.

„Ganz recht, der Zauberbrunn’,“ lächelte er, „weißt, aus dem ich’s Wasser trink’, wo ewig jung macht und ewig g’sund. Aber komm, da schau, da kannst Dich a bißl setzen – da sitz’ ich oft selber ganze Stunden lang und schau so ’nein in das blaue Wunder, weil’s mir selber so viel g’fallt.“

Er führte sie zu einer aus groben Felsstücken an der Wand errichteten Bank, über welche ein Brett gelegt war. Lange, lange saßen sie hier, schweigend vertieft in den Anblick des wundersamen Schauspiels.

Da schauerte Veverl fröstelnd zusammen.

„Gelt – a bißl frisch is halt herin! Komm – gehn wir da ’naus, da draußen is a weng wärmer.“

Er erhob sich und führte sie jenem engen Felsenthore zu, durch das sie in einen breiten Höhlenraum gelangten, der ihnen gegenüber eine langgestreckte mannshohe Oeffnung zeigte, die ins Freie führen mußte, denn durch sie erhielt der Raum ein Licht, als läge er im Frühschein eines erdämmernden Morgens. Für Veverl’s Augen schien nach all der langen Nacht, in der sie geweilt hatte, dies graue Licht der helle Tag zu sein. Unter halb geschlossenen Lidern hervor schaute sie umher und sah dann mit einem scheuen, verwunderten Blicke ihren Alfen an.

[828] „Das is mein Werkstatt,“ sagte er, „mein Keller, mein Stadel, mein Schupfen – und da draußen is der Stall. Ja – schier an ganzen Bauernhof hab’ ich da bei’nander!“

Nahe der hellen Oeffnung stand ein kleiner Tisch, der als Schnitzbank zu dienen schien und mit allerlei Werkzeugen und theils vollendeten, theils halb fertigen Schnitzereien bedeckt war. Daneben stand ein plump aus Brettern gefügter Schrank. In Ecken und Nischen waren Vorräthe von Schnitz- und Brennholz aufgespeichert. An einem in der Wand befestigten Zapfen hingen große Stücke frischen Fleisches, und darunter sah man ein blutiges Lammfell wie zum Trocknen über gekreuzte Stäbe gespannt.

Veverl schaute und schaute, und ihr Köpfchen hatte alle Gedanken voll zu thun, um diese ganze Natürlichkeit, die sich ihren Blicken bot, ins Uebernatürliche zu übersetzen. Und mit allem kam sie zurecht – nur mit den dicken Berggrasbüscheln, die in einer Ecke aufgeschichtet lagen, wußte sie nichts anzufangen. Aber die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten, denn vor jener Oeffnung draußen sah sie auf einem von mageren, mattfarbigen Moose bewachsenen Raume eine Ziege liegen.

Meckernd sprang das Thier in die Höhe, als die Beiden zu ihm hinaustraten aus den von dicht in einander geflochtenen dürren Latschenzweigen umhegten Raum. Es war das die Oberfläche einer mächtigen, überhängenden Felsplatte – und da wußte sich Veverl mit einem Male jenes unablässige Murmeln und Rauschen zu erklären. Weißschäumige Wellen rollten ihr zu Füßen rasch vorüber, um weiter abwärts zwischen steil gesenkten Wänden brausend zu verschwinden, als stürzten sie in bodenlose Tiefe. Ein Schauder überflog das Mädchen, während es die Augen über den Lauf der Wellen aufwärts gleiten ließ bis zu einem brodelnden Wasserkessel, in den aus dunkler Höhe rauschende Fluthen sich ergossen. Es war ein finsterer unheimlicher Anblick, der ihren Augen auf diesem Wege sich bot – überall Zeichen einer wilden Zerstörung und Verwüstung, überall verwaschenes, unterwühltes und zerrissenes Gestein, und in allen Fugen und Schrunden ein wirrer Wust von Unrath und zertrümmertem Holze. Und als sie von diesem finsteren Bilde die Augen zur Höhe hob, in unwillkürlicher Sehnsucht den lichten Himmel suchend, versperrten vorspringende Steinplatten und ineinandergreifende Felsgefüge ihren Augen den Ausblick, so daß sie trostlos wieder zurückkehren mußten zu dem unheimlich rauschenden Gewässer.

„Wie grausig, o wie grausig!“ seufzte Veverl schaudernd auf.

Und der an ihrer Seite stand, der nickte mit dem Kopfe und raunte vor sich hin: „Mein – wie halt der Höllbach is!“

Erbleichend taumelte Veverl zurück. „Jesus Maria – das is – der Höllbach?“ stotterte sie mit versagender Stimme und hob die zitternde Hand, um sich zu bekreuzigen.

Sie fühlte kaum, daß er mit kalter, bebender Hand die ihre faßte, daß er sie zurückführte zu ihrem Lager – sie achtete nur darauf, daß jenes grausige Bild aus ihren Blicken schwand, daß jenes Brausen und Tosen ferner klang und wieder zu sachtem Murmeln und Rauschen sich dämpfte.

Zitternd sank sie auf das Lager nieder und starrte mit angstvollen Augen ihren Edelweißkönig an, der ihr zu Füßen auf den Stuhl sich niederließ, die Arme auf die Kniee stützte und wie in tiefen Gedanken die Stirn in die beiden Hände legte.

Als er nach langer, stummer Weile sich wieder emporrichtete, frug er mit zögernden Worten. „Veverl - sag - weßwegen bist denn gar so arg derschrocken vor’m Höllbach?“

„Weil da an Unglück g’schehn is – a fürchtigs Unglück,“ hauchte es von Veverl’s Lippen, „das hat mei’m Jörgenvetter d’Haar’ grau g’macht und hat ei’m ’s Leben kost’, der’s Leben werth wär g’wesen. Du mußt es ja wissen - Du - der Alles weiß!“

„Ah ja! Wer sollt’s dann wissen, wenn ich’s net weiß!“

Veverl hatte kein Ohr für den seltsamen Ton dieser Worte. „Und Du – Du hättst d’ Macht g’habt, das Unglück zu verhüten – es is ja g’schehn in die Berg,“ so stammelte sie weiter in zitternder Hast, „weßwegen net hast es ’than – weßwegen net hast ihn g’rett’?^

„Schau – wann ich g’wußt hätt’, daß er Dich gar so dauert – wer weiß – ’leicht hätt’ ich’s ’than. Und wenn er jetzt leben thät’ – sag, Veverl – wärst ihm a bißl gut g’wesen?“

„Oh g’wiß – von ganzem Herzen gut! An einzigsmal g’rad hab ich ihn g’sehen – aber – in der Nacht halt – und so viel derschrocken bin ich g’wesen – aber allweil hab’ ich an ihn denken müssen. Und Alle, Alle sagen, daß er so brav is g’wesen und so rechtschaffen – und Keiner will’s glauben, daß er so ’was Fürchtig’s ang’stellt haben könnt’ – und daß er –“

„Daß er Menschenblut an seine Finger hat!“

Veverl erschrak bis in die Seele vor dem dumpfen, tonlosen Klange dieser Stimme.

„Gelt? Jetzt verschlagt’s Dir d’ Red?! Aber schau – wenn D’ wissen thätst, wie Alles ’kommen is, leicht thätst von der Sach’ a bißl besser denken als wie ’s G’richt, wo s’ hinter ihm herg’hetzt haben. Freilich – ’s G’richt därf net fragen: warum? – das kann bloß fragen: was? Aber Du – han Veverl, sag’, wer is Dir ’s Liebste g’wesen in Dei’m ganzen Leben?“

„Mein Vaterl selig.“

„Und jetzt denk’ Dir, es wär’ Einer ’kommen, der Dein liebs Vaterl um sein’ Ruh’ ’bracht hätt’, um sein Glück und sein Leben –“

„Ich hätt’s net g’litten,“ fuhr Veverl mit bebenden Worten auf, „na – na – ich hätt’s net g’litten – ich hätt’ ihn ’packt, den wilden Kerl –“

„No schau – und gar viel anders hat’s der Ferdl auch net g’macht. Was Dir Dein Vaterl war, das is dem Ferdl d’ Hanni g’wesen – sein Auf und Nieder, sein Alles! Und so viel g’freut noch hat er sich, wie s’ ihn einb’rufen haben nach München zum Militär, weil d’ Hanni drin war in der Stadt. No – und er hat s’ auch oft g’nug g’sehen – aber allweil schon hat er sich a bißl Sorgen g’macht, weil s’ so viel traurig d’rein g’schaut hat. ’s Heimweh, hat er halt g’meint, ’s Heimweh hätt’ s’ an’packt – mein, auf ’was anders hätt’ er gar kein Denker net g’habt! Und da hat er noch sei’m Brudern g’schrieben, ob’s net g’scheiter wär’, sie thäten d’ Hanni heim – sie selber freilich hat nie nix wissen wollen, wann er davon mit ihr g’redt hat. Ja – und so kriegt er z’ Mittag amal an Brief vom Jörg, daß d’ Mariann’ kommt am andern Tag und d’ Hanni heimholt. Da is er gleich zur Hanni g’laufen und – freilich hat er g’sehen wie s’ derschrocken is, aber er hat sich ’denkt: vor lauter Freud’. Am andern Morgen find’t er auch ganz richtig d’ Mariann’ auf’m Bahnhof – und dene zwei ihr erster Weg, natürlich, is zur Hanni g’wesen. Die Hanni wär’ schon fort’gangen, haben s’ dort derfahren, und hätt’ d’ Richtnug nach dem Ferdl seiner Kasern’ zu g’nommen. Da sind s’ halt jetzt der Hanni nach – und – und wie’s zur Thorwach’ hinkommen, wird dem Ferdl a Brief übergeben – a bildsaubers Fräulein hätt’ ihn da’lassen, hat der Posten g’sagt, und wär’ nachher gegen d’ Isar ’nunter’gangen. Der Ferdl macht den Brief auf und denkt sich noch allweil nix – kaum aber fangt er’s Lesen an, da hat sich Alles ’dreht um ihn und es is ihm g’wesen, als falleten d’ Häuser über ihn her und der Himmel und Alles. Und d’ Mariann’ hat er beim Arm ’packt – ‚komm, um Tausendgotteswill, komm,‘ so hat er g’rad ’nausg’schrieen, ,’leicht is noch net z’ spat, ’leicht holen wir s’ noch ein‘ – und fortg’rennt sind s’ mit einander. Aber lang schon z’ spat is g’wesen! Dann wie s’ ’nunterkommen gegen d’ Isar, da sehen s’ schon a ganz’ a Menge Leut’ bei ’nander stehn und – Veverl, Veverl, wie soll ich Dir sagen, was das für an Anblick war, wie s’ so dag’legen is, die arme, arme Hanni, auf ’m Boden, blaß und stad – und ’s Wasser is von ihr g’ronnen – und kein Rührer nimmer hat s’ Dir ’than!“

Veverl sah die Thränen nicht, die ihrem Alfen aus den starren Augen niederrannen in den Bart, sie saß gebeugt und schluchzte leise in die vorgehaltenen Hände.

„Gelt, Veverl, Du weißt es schon noch, wie Dir selbigsmal g’wesen is, wo Dein Vaterl so dag’legen is vor Dir – und da wirst Dir auch denken können, wie’s dem Ferdl war! Du aber, Du hast weinen können und beten zum lieben Herrgott – dem Ferdl aber hat kein Zährl den Brand in seine Augen kühlt, und nix anders net hat er sich denken können als wie das Einzige: Mein’ Hanni is dahin – und der s’ betrogen hat um ihr Ruh’ und ihr Glück, der s’ ’neinzogen hat in d’ Schand’, ins Wasser und ins ewige Verderben, der lebt – der lebt! Und da is über ihn ’was kommen, wie Feuer ins G’hirn, wie Nesseln ins Blut – an kein’ Mariann’ nimmer hat er ’denkt und an gar nix mehr, g’rad fort’trieben hat’s ihn, hin zu Dem, der d’ Hanni auf sei’m G’wissen hat. Wie’s ihm g’wesen is von dem Augenblick an, wo er d’ Hanni aus ’m Gesicht ’kriegt hat, was er sich ’denkt [830] hat, daß er denn eigentlich möcht’, wie er den Weg zum selbigen g’funden und was er ihm zug’schrieen hat – auf das Alles hätt’ er sich darnach nimmer derinnern können, und wenn’s sein ewigs Leben ’golten hätt’ – erst wie dem Andern ’s helle Blut über’s weiße G’sicht wegg’schossen is, wie er ihn niederstürzen hat sehen vor ihm, da is ihm d’ B’sinnung wieder ’kommen, da is ihm eiskalt ’worden über’m ganzen Leib – und wie er in der eigenen Hand den blanken, blutigen Säbel g’sehen hat, da hat er erst verstanden, was g’schehen war – da hat ihn aber auch schon d’ Angst und ’s Grausen ’packt, daß ’s ihn fort’trieben hat, g’martert von doppelter Verzweiflung – über der Hanni ihr traurigs Sterben und über sein’ eigene Schandthat –“

„Na, na, es war an Unglück,“ schluchzte Veverl auf, „und unser Herrgott wird’s ihm net vergessen haben, daß ihm ’s Herzleid um sein’ liebe Schwester d’ Sinn’ verwirrt hat!“

„Veverl! Das war a freundlichs Wörtl, und tausendmal sag’ ich Dir –“

Betroffen von dem tiefinnigen Ton dieser Worte blickte Veverl auf, und da verstummte er, zog die Hände zurück, die er ihr in überwallender Bewegung entgegengestreckt hatte, und sprach nach kurzem Schweigen mit leiser Stimme weiter:

„Ja – tausendmal hab’ ich mir schon ’denkt, daß der liebe Herrgott Gnad’ für Recht hat ergehen lassen, weil er’s dem Ferdl wenigstens erspart hat, a Menschenleben auf sei’m G’wissen tragen z’ müssen – freilich – es brennt ja Menschenblut schon g’nug – und alles Andere – alles Andere noch dazu. Aber –“ dabei sprang er auf, mit einem Kopfschütteln und einer Armbewegung, als wollte er alle Gedanken und alle Erinnerung an diese trübe Geschichte jählings von sich abwerfen.

Mit irren Blicken schaute Veverl zu ihm auf; sie war wie betäubt von Allem, was sie gesehenn und gehört. Ein Schwindel hatte sie befallen, der all ihr Denken erdrückte und gegen den nur noch die Ueberfülle ihrer Empfindungen die Wagschale hielt. Bald fröstelte sie, bald glühten ihr die Wangen. Dazu war in ihren Ohren ein Sausen, durch das ihr die Stimme des Alfen so seltsam hohl und tief erklang, als er sagte: „Gelt, freust Dich schon, daß jetzt bald wieder ’raus kannst aus der Finstern und heim zu Deine lieben Leut’?“

Sie zuckte zusammen, schwieg und rührte sich nicht.

„Und – han, Veverl – wann nachher daheim bist, wirst auch diemal an mich denken?“

Hastig nickte sie mit dem Köpfchen.

„Aber – aber gelt – das därf ich mir doch net hoffen, daß D’ mich wieder amal b’suchen thätst?“

„Wann ich auch wollt’, das ging’ ja gar net,“ fuhr es über Veverl’s Lippen, „ich hab’ ja mein Königsbleaml verloren.“

„Ah so – ja – jetzt hast Du wieder Recht,“ bestätigte er, „und ich weiß schon, so eins wachst alle Jahr bloß an einzigs in die Berg’. Aber weißt, wann ich amal wem b’sonders gut bin, da is nachher ’s Königsbleaml gar net nöthig – da giebt’s nachher schon andere Sachen auch noch, wo ich ganz gern drauf geh’. Zum Beispiel – wann so um a Zeit, wo d’ Sonn’ untergeht oder aufgeht, allweil am Höllbach in d’ Höh’ steigen thätst, bis – kennst das Platzl? – d’ hohe Platten heißt man’s –“

„D’ hohe Platten! Wo ’s Unglück mit dem Ferdl g’schehen is!“ stammelte Veverl, wobei sie ein Gefühl hatte, wie wenn sich auf ihrem Kopfe die Haare zu rühren begännen.

„Ganz recht – weißt – so a Platzl is halt b’sonders g’schickt für so ’was! Ja – am selbigen Platzl wann an Stein in Höllbach ’nunterwirfst, a bißl a richtigs Trumm, und nachher langsam bis auf Zehne zählst, und wieder wirfst und zählst – und so fünfmal hinter einander, nachher thät’ ich wissen, daß Du droben bist – und auf der Stell’ wär’ ich bei Dir! Aber – mein –“ er seufzte, und gleichsam zum fühlbaren Vorwurf drückte er den Ellbogen sachte an Veverl’s Schulter, „was strapazier’ ich mich denn? Du kommst ja doch nimmer.“

Veverl hatte nicht den Muth, zu schweigen. „Man kann – net – wissen,“ stotterte sie, bebend am ganzen Leibe.

„Man kann net wissen?“ wiederholte er. „Hast schon Recht – das heißt – was ich weiß, weiß ich g’wiß: daß mir arg bang sein wird um Dich, daß ich Dich arg schwer g’rathen kann, und daß ich öfters, als Dir ’leicht träumet, bei Dir sein will mit meine ganzen Gedanken. Du hast mir so liebe Stunden ’reinbracht in mein unguts Leben, Du bist mir g’wesen wie a freundlichs Licht in der Finsterniß – und wann jetzt nachher gehst, wird’s wieder Nacht um mich, und doppelt traurig schaut sich mein Leben für mich an!“

Veverl saß mit tief geneigtem Kopfe, die zitternden Hände im Schoße gefaltet. Sie spürte in sich ein fliegendes Pochen und fühlte auf ihren Schultern Schauer mit Schauer wechseln. Wie sprach er so lieb von ihr – und dennoch war ihr die Brust zusammengeschnürt wie in Furcht und Bangen und Herz und Seele wie von namenloser Angst erfüllt.

Als er verstummte, starrte sie mit scheuen Augen zu ihm empor und erbebte vor der leidenschaftlichen Flamme, die ihr aus seinen Blicken entgegenschlug. Und ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er ihre Hand ergriffen, seinen Arm um ihre Schulter geschlungen, und so zog er sie an seine Brust, unter den bebenden Worten: „Veverl – schau – g’wiß wahr – am liebsten ließ ich Dich gleich gar nimmer fort von mir und thät’ Dich b’halten für Leben und Ewigkeit!“

Da sprang sie empor mit einem markerschütternden Aufschrei und riß sich aus seinen Armen.

„Veverl! Veverl!“ stammelte er und streckte wieder die Hände nach ihr, sie aber taumelte vor ihm zurück – „Jesus Maria! Jesus Maria!“ stöhnte sie unablässig mit blassen Lippen und schlug in Angst und Grauen die Arme über das Gesicht.

Wenige Schritte folgte er ihr, mit gestreckten Händen, mit flehendem Stammeln – dann plötzlich blieb er stehen, wie gewaltsam sich bekämpfend und starrte sie wortlos an, bis er sich langsam wandte, mit den Händen die Schläfen preßte und wankenden Ganges aus der Höhle schritt.

Zitternd und mühsam nach Athem ringend richtete Veverl sich empor. „Fort, fort, fort!“ das war in ihrer Todesangst und ihrem mißverstandenen Empfinden ihr einziger Gedanke. Sie starrte um sich, ihre Augen trafen auf den dunklen Trichter des Felsenganges, trafen auf die flackernde Flamme der Fackel – sie riß dieselbe von der Wand und stürzte mit ihr dem dunklen Schachte zu, auf den Lippen das Stoßgebet: „Heilige Mutter Gottes, dir b’hüt ich mein Seel’!“

Keuchend hastete sie sich empor über Stufen und Geröll. Der Qualm der Fackel benahm ihr fast den Athem; manchmal lehnte sie sich erschöpft an die Steinwand, um gleich wieder aufzufahren, zu Tod erschreckt durch das gespenstige Flattern der „Geisterdrachen“, zu denen in ihren Augen die aus den Felsschrunden aufgescheuchten Fledermäuse wurden. Vorwärts und vorwärts stürzte sie, bei diesem angstvollen Hasten und Fliehen wurden ihr die Minuten zu Tagen – und nun mit einem Male war der Schacht zu Ende, und Veverl fühlte und gewahrte vor sich und zu beiden Seiten nur kaltes regungsloses Gestein. Im gleichen Augenblicke klang hinter ihr einher des Alfen Stimme, die ihren Namen rief und unter dem Widerhall der hohlen Wände dröhnte wie ferner Donner. Die Fackel sank aus Veverl’s schreckgelähmten Händen, sie erlosch – und durch die Finsterniß schimmerte in dünnem Streif ein blendend grelles Licht den Augen des Mädchens entgegen. Den Namen des Erlösers kreischend, stürzte sich Veverl gegen die lichte Stelle, der Stein gab nach, und aufjubelnd wankte sie hinaus in den hellen Tag, fast erblindend vor dem langentbehrten Glanz der Sonne. „Veverl! Veverl!“ tönte es noch mit dumpfer, hohler Stimme aus dem Schachte, dann schloß sich mit polterndem Rollen die steinerne Pforte, und wie ein gehetztes Reh flog Veverl thalwärts durch die schlagenden Zweige der dichten Latschenbüsche. Als sie den Almensteig erreichte, brach sie erschöpft zusammen; sie faltete die Hände und wollte zu beten beginnen, aber ein donnerndes Krachen schreckte sie wieder empor und trieb sie zu neuer Flucht. –

Ganz nahe war ein Schuß gefallen – über’m Höllbach drüben, vor der Jagdhütte.

*  *  *

„An Schuß, Herr Graf,“ hatte Gidi zu seinem Herrn gesagt, „an Schuß sollten S’ doch machen, ehvor wir ’naufsteigen, damit S’ doch wissen, ob auch ’s Büchsl noch richtig hinschießt.“

Schweigend hatte Luitpold das Gewehr aus Gidi’s Händen genommen und an die Wange gehoben. Auf hundertfünfzig „Gänge“ lag zwischen den Bäumen ein faustgroßer, weißer Stein im Moose, als der Schuß krachte, war er verschwunden, zertrümmert.

[831] „Geht schon noch – sauber auch noch!“ schmunzelte Gidi, es war ja das für ihn, seit sie am verwichenen Nachmittag das Schloß verlassen hatten, der erste vergnügte Augenblick.

Und eine recht trübselige Nacht war das gewesen! Drinnen in der Hütte hatten die Beiden vor dem flackernden Feuer bei einander gesessen, und Gidi hatte erzählen müssen – die ganze traurige Geschichte „vom selbigen Tag in der Hahnfalzzeit“.

Der Morgen hatte schon durch die kleinen vergitterten Fenster gegraut, als sie zur Ruhe gegangen waren. Da hatte natürlich von einer „Frühbirsch’“ auf den „Kapitalhirsch“ keine Rede mehr sein können.

Jetzt aber ging es der Höhe zu. Es galt jenen drei „Fetzengamsböcken“, die so „g’fangig“ standen. Mit zuversichtlichen Mienen stieg Gidi, den Hund an der Leine führend, seinem Herrn voran. Er hätte darauf schwören mögen, daß es da droben „duschen“ würde, daß zum mindesten einer der drei Böcke „dran glauben“ müßte. Freilich hieß es „woltern auffisteigen“, um guten Wind zu bekommen, „schnurg’raden Aufwärtswind“; die Sonne stand ja schon hoch über dem Grate der Höllenleithe. „Unter an acht a neun Stund’ wird ans Heimkommen net zum denken sein.“

Das war nun allerdings ein Weg, der des von Gidi erwünschten Erfolges werth gewesen wäre. Und doch – als die beiden Jäger zu dämmernder Abendzeit in die Jagdhütte zurückkehrten, war der dicke „Edelweißbuschen“ auf Gidi’s Hut die ganze Beute. Gidi machte aber auch ein Gesicht wie „neun Tag’ Regenwetter“. Hatte er es doch beim „Anriegeln“ des „Bogens“ von der Schneide der Höllenleithe aus durch das Fernrohr mit angesehen, wie sich der stärkste der drei Böcke vor den „Stand“ des Grafen hingestellt hatte, „schier mit ’m Bergstecken zum derschlagen“; vergebens aber hatte er nach dem mit jedem Augenblick erwarteten „Duscher“ ausgelauscht; die Büchse quer im Schoße und das Haupt in die Hände gestützt, so hatte er den Grafen regungslos sitzen sehen, während das stattliche Wild an ihm vorüberzog, gemächlichen Schrittes, als wüßte es, wie wenig Gefahr ihm drohe von dem so tief in Gedanken und Erinnerung Verlorenen.

„No mein, es is ja alles recht, aber – an Gamsbock, der sich ei’m hinstellt auf a Dutzend Gäng’, den braucht man deßwegen doch net durchlassen!“ so lautete Gidi’s brummig abgegebenes Endurtheil.

Jetzt stand er im Küchenraume der Jagdhütte vor dem Herde und starrte verdrießlich in die Pfanne, in welcher die „Röschnocken“ schmorten – sein und seines Hundes Nachtmahl.

In der Jägerstube saß Luitpold, durch das offene Fenster aufblickend in den dämmernden Himmel. Manchmal nippte er von dem rothen Weine, der vor ihm auf dem Tische stand, und aß dazu ein weißes Brot in winzigen Stückchen.

Als Gidi hereinkam, um die Hänglampe anzuzünden, erhob sich Luitpold, wünschte seinem Jäger mit kurzem Worte eine gute Nacht, lockte den Hund zu sich und zog sich zur Ruhe in sein „Grafenstüberl“ zurück.

Seufzend blickte ihm Gidi nach, und als sich die niedrige Thür schloß, nickte er vor sich hin. „Du lieber Herrgott – den hat’s arg verwischt! Der braucht a Zeit, bis er sich wieder z’sammklaubt! Laßt an Gamsbock durch!“

Er ging in die Küche zurück, um das benützte Geschirr zu spülen und aufzuräumen. Als er damit zu Ende war, trat er ins Freie, schaute nach Wind und Wetter aus, schloß an allen Fenstern die Läden und versperrte, als er in die Hütte zurückkehrte, hinter sich die Thür.

Drinnen in der Stube schob er sich in den Tischwinkel, zündete passend seine Pfeife an und ließ sich den Rest des Weines schmecken. Plötzlich erhob er sich, nahm seinen Hut vom Zapfen, legte ihn vor sich hin und betrachtete mit wägenden Blicken den „Edelweißbuschen“. Dann schüttelte er mit einem kurzen Pfiffe den Kopf, streifte mit dem ausgestreckten Arme den Hut auf die Bank hinunter und machte ein Gesicht, als hätte er eine schwere Versuchung tapfer überstanden. Aber diese Siegesgewißheit währte kaum einen Paffer lang. Da lag der Hut schon wieder auf dem Tische – und mit einem Male saß er auf Gidi’s Kopf.

„Ah was! Ich trag’ ihr den Buschen ’nauf – weil er gar so schön is! Sie braucht sich ja net g’rad z’denken, daß er von mir kommt – a Freud’ hat s’ dengerst d’ran!“

Das hatte er noch nicht ausgedacht, als er schon in der Küche stand. Lautlos zog er den Schlüssel aus dem Schlosse, öffnete die Thür, sperrte sie von außen wieder zu und eilte durch die Nacht dem Almensteig entgegen.

Als er jene Lichtung erreichte, auf welcher er wenige Nächte zuvor mit dem „Schafdieb^ zusammengetroffen war, stockte ihm plötzlich der Fuß. Es war ihm gewesen, als hätte er ein Geränsch gehört, ein Rascheln im Gebüsche. Lange lauschte er in die Nacht hinein. „Werd’ halt a Stückl Wildpret auf’gangen haben!“ dachte er endlich und eilte weiter in der Richtung der Bründlalm.

Im Walde verhallten seine Schritte - und da tauchte aus den Büschen eine dunkle Mannsgestalt empor, die sich über die schräg liegenden Felsplatten lautlos auf den Steig niedergleiten ließ. Scharf hob sich die finstere Kontour des Gesichtes mit dem gedrehten, bis auf die Brust niederhängenden Schnurrbart von den helleren Steinen ab. Mit nickendem Kopfe schaute der Bursche der Richtung zu, in welcher Gidi verschwunden war, und warf die kurze Büchse, die er in der Hand getragen, hinter die Schulter.

„Dich hab’ ich aber g’legen derschaut!“ glitt es mit höhnischen Worten leise von seinen Lippen. „Jetzt will ich Dir den Almtanz danken! Geh nur fensterln, Du – ich zünd’ Dir derweil a Licht an, daß D’ leichter wieder heimfindst!“

Hastigen Laufes folgte er dem Pfade, bis die stille, dunkle Jägerhütte vor ihm lag. Seitwärts von der Thür sah er dicke Reisigbündel, wie sie zum Entzünden des Herdfeuers dienen, hochaufgeschichtet. Eines um das andere dieser Bündel nahm er auf und reihte sie lautlos zu Füßen der Holzwand rings um die Hütte. Schon hatte er den unheimlichen Kranz geschlossen, als er aus dem Innern der Hütte das Knurren und den kurzen Anschlag eines Hundes vernahm.

„Schau – jetzt hat er sein’ Hund daheim ’lassen. No – d’ Jagdhund’ mögen ja ’s Warmhaben gern derleiden.“

Er bückte sich, ein leises Zischen folgte, und durch das dürre Reisig züngelte ein blaues Flämmchen.

Da fuhr der Bursche erschrocken auf. Ein klirrender Laut war an sein Ohr geschlagen, als wäre über ihm in der Höhe der Latschenfelder die eiserne Spitze eines Bergstockes wider einen Stein gestoßen worden.

Der Bursche spähte den Berghang empor, aber seine stechenden Blicke drangen durch die Nacht nicht hinauf bis zu jener Höhe, wo inmitten des dichtesten Latschengebüsches zwei Männer standen, Hand in Hand.

„Und b’hüt Dich Gott jetzt!“ sagte der Eine, der den Bergstock trug und auf dem Rücken die schwer beladene Kraxe. „Ich hol’ nachher schon in einer von die nächsten Nächt’, was ich heut’ net dertragen kann. ’leicht is bis dahin auch a Schreiben von dem Münchner Advokaten da. In der kurzen Stund’, wo ich mich bei ihm hab’ aufhalten können, hat er mir natürlich kein’ richtigen B’scheid net zum sagen g’wußt. Aber – wie auch d’ Antwort ausfallt, die ich Dir bringen kann – in derselbigen Nacht noch mußt mir fort und über d’ Grenz’.“

„Das wird mich was kosten! Jetzt geh’ ich ja doppelt schwer –“

„Es muß aber sein! So geht’s nimmer fort. Es reden ja d’Leut’ schon davon, daß ich so oft in der Nacht net daheim bin! Aber – das is ja kein Platz zum reden net! B’hüt’ Dich Gott – und gelt, sei g’scheit und nimm Dich in Acht, damit net am End’ auf d’Letzt’ noch wer dahinter kommt, wer daheroben haust. B’hüt Dich Gott!“

Mit festem Drucke schüttelten sie sich die Hände, und während der eine sich niederließ auf das Gestein, und den Kopf wie unter trüben Gedanken in die Hände stützte, rückte der andere die Kraxe höher an die Schultern und stieg mit raschen Schritten durch die Büsche nieder.

Als er den Almensteig erreichte, hörte er sich plötzlich angerufen. „Wer is da?“ Fast brachen ihm die Kniee vor Schreck, doch nur einen Augenblick währte die Schwäche, die ihn beim Klange dieser Stimme überkommen hatte, dann raffte er sich auf, sprang hinaus über den Steig und keuchte dem finsteren Walde zu, verfolgt von jenem, der ihn angerufen. Thalwärts ging es in wilder Jagd. Furcht und Verzweiflung schienen dem Fliehenden übermenschliche Kräfte zu geben, so daß er einen beträchtlichen Vorsprung gewann, aber die Last auf seinem Rücken wurde für [832] ihn zu Blei – der Athem begann ihm zu versagen – von Schritt zu Schritt verminderte sich die Hast seines Laufes – aus dem Walde vermochte er noch hinauszuwanken auf eine lichtere Rodung, dann versagten ihm die Kräfte. Da stand auch schon der Verfolger vor ihm und Aug’ in Auge starrten sich die Beiden an.

„Finkenbauer! Du!“

„Ja, Gidi – ich bin’s – ich – aber – mußt Dir net denken – um Tausendgottswillen bitt’ ich Dich – komm – komm morgen zu mir – und laß – laß mit Dir reden –“

„Der Finkenbauer auf Schleicherweg’? Na – das hätt’ ich mir nie net ’denkt! Und da brauch’ ich auch weiters nix z’wissen. Das geht ja kein Jaager nix an – das schlagt ja ins Steuerfach!“

Die Achseln zuckend, wandte er sich von Jörg und schritt, auf die leisen, flehenden Rufe des Bauern nicht hörend, dem Saume des Waldes zu. Er suchte den Steig nicht wieder zu gewinnen, quer über den waldigen Berghang nahm er die Richtung nach der Jagdhütte.

Manchmal blieb er stehen, um seinen erregten Athem zur Ruhe kommen zu lassen, und dann immer murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin „Na, na, was man derleben kann! Der Finkenbauer auf Schleicherweg’!“

So stand er wieder einmal stille und da war es ihm, als vernähme er zwischen den Bäumen leise Tritte, die sich ihm zu nähern schienen.

„Ja Himmel! Is denn heut’ der ganze Berg lebendig?“ flüsterte er vor sich hin und lauschte wieder auf jene Schritte.

Jetzt sah er eine dunkle Gestalt unfern an ihm vorüberschreiten. Heiß schoß ihm das Blut zu Kopfe, als er über die Schultern jener Gestalt den schwarzen Lauf einer Büchse aufragen sah – und im gleichen Augenblicke gewahrte er auch die scharfe Linie des Gesichtes mit dem lang niederhängenden Schnurrbarte.

„Meiner Seel’! Der Valtl!“ fuhr es ihm durch die Zähne, und da sprang er auch schon mit mächtigem Satze auf den Burschen los und schlug ihm die Fäuste ins Genick. „Hab’ ich Dich amal, Du Lump, Du gottvergessener!“

„Für heut noch net!“ zischte Valtl auf und riß, unter Gidi's Fäusten sich duckend, das Gewehr von der Schulter.

Gidi erkannte die Gefahr und fuhr mit beiden Händen nach der Büchse – zu spät.

Ein Blitz und ein Knall – und „Jesus Maria!“ konnte Gidi noch stöhnen, dann stürzte er zusammen, und Moos und Farren tranken sein rinnendes Blut.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 51, S. 842–847

[842] Grollend rollte der Hall des Schusses empor über den Berghang und brach sich mit dumpfem Widerhall an den finster ragenden Felsen.

Da fuhr auch jener einsame Träumer, der immer noch, seitdem ihn Jörg verlassen, regungslos auf dem Steine saß, empor aus seinen tiefen Gedanken.

„A Schuß? Wer kann jetzt g’schossen haben – mitten in der Nacht? Da muß ’s was ’geben haben!“ raunte er vor sich hin und spähte thalwärts über die dunklen Latschen.

Da sah er über den Höllbach her eine grelle Röthe durch die Bäume leuchten und züngelnde Flammen aufschlagen über die schwarzen Lärchenwipfel.

„Ja lieber Herrgott im Himmel, was kann denn das sein? Um Gotteswillen doch net – ja, ja! dem Gidi sein’ Hütten is’s! Da hat’s an Unglück ’geben! Und er is heroben, er – er und der Gidi! O grundgütiger Herrgott! Laß mich nur g’rad jetzt net z’spät kommen!“

Das waren nicht mehr Gedanken, es waren stammelnde Schreie – und der sie ausstieß, stürzte in rasendem Laufe thalwärts, immer entlang dem jäh abstürzenden Ufer des Höllbachgrabens, der Gefahr nicht achtend, die ihm bei jedem Schritte drohte, oft in mächtigem Sprunge hinwegsetzend über Steinblöcke und wirres Buschwerk. Als er den Steig erreichte und hinweg eilte über den schwankenden Balken, der den Höllbach überbrückte, hörte er schon das Krachen des brennenden Gebälks, das Rauschen der lodernden Flammen und zwischenein das Mark und Bein durchdringende Geheul des Hundes.

So grausig diese Laute seinem Ohre klangen, sie gaben ihm Hoffnung, sie sagten ihm, daß in der Hütte das Leben noch nicht zur Unmöglichkeit geworden wäre.

Nun stand er vor dem brennenden Hause, sah, wie der Rauch in dicken Stößen aus den offenen, eng vergitterten Fenstern quoll, und sah die Flammen empor- und niederlecken über die geschlossene Thür. Wie diese Thür öffnen? Mit verzweifelten Blicken starrte er umher. Kein Balken, kein Pfahl, kein Scheit! Aber dort – dort unter einer Lärche stand der schwere Eichenblock, der als Hackstock diente. Auf den stürzte er zu, riß ihn mit Ueberspannnug aller Kräfte empor und schleuderte ihn wider die glimmende Thür! Krachend flogen die Bretter aus einander und während der Block zurückrollte von der Schwelle, sprang schon der Hund mit heiserem Gewinsel durch die eröffnete Lücke, stand mit hängender Zunge und weit geöffnetem Rachen, schüttelte die Funken von seinem Felle und stürzte aufheulend davon, zwischen den Bäumen verschwindend.

Ein Ruck der kräftigen Arme, die den Block geworfen, und die klaffenden Bretter der Thür flogen vollends zur Seite. Ein röthlich beleuchteter Qualm schlug dem Eindringenden entgegen und trieb ihn für Sekunden wieder zurück über die Schwelle. Unter einem tiefen Athemzuge hob sich seine Brust, dann stürzte er wieder vorwärts, hinein in den von aufzuckender und erlöschender Helle und von dichtem Rauch erfüllten Küchenraum. Da stieß sein Fuß wider eine weiche Masse – „O lieber Herrgott!“ schrie er auf, warf sich nieder auf den gepflasterten Boden und fühlte unter seinen Händen einen wie leblos hingestreckten menschlichen Körper. Den riß er empor an seine Brust und wankte mit ihm ins Freie. Aufathmend stand er stille und starrte in die bleichen, regungslosen Züge – in Luitpolds Gesicht. „Er is’ – er!“ brach es mit dumpfen Lauten von seinen Lippen, und seine Augen hingen wie gebannt an dieser weißen, von der breiten Narbe durchzogenen Stirn. „Aber – der Gidi – o mein Gott, der Gidi!“ fuhr er plötzlich auf, ließ die Last seiner Arme niedergleiten in das Moos und wandte sich wieder der brennenden Hütte zu. Schon stand er auf der Schwelle, da stürzte ein qualmender Pfosten vor ihm nieder, und krachend neigte sich die eine Seite des Gebälkes, dessen Klammern das Feuer schon gebrochen hatte. Aufstöhnend taumelte er zurück. „Aus is – da giebt’s kein Retten nimmer! Armer Kerl – unser Herrgott sei Dir gnädig!“ Mit zitternder Hand bekreuzte er sich und starrte mit nassen Augen in den wüsten, glostenden, rauchenden Haufen. Nun schrak er aus seinem Brüten auf, fuhr sich mit den Händen über die Stirn und eilte zu jenem zurück, den er auf seinen Armen aus Rauch und Flammen getragen. Er warf sich zu ihm nieder, riß ihm die Joppe auf, die Weste und das Hemd, griff nach der Stelle des Herzens – und fühlte unter seinen Fingern ein mattes Pochen.

„Leben thut er noch – leben! Und kein Wasser net da, kein Tröpferl Wasser!“

Rathlos starrte er eine lange Weile um sich, dann sprang er in die Höhe, raffte den Körper des Bewußtlosen empor auf seine Arme und eilte mit seiner Last in keuchendem Laufe dem Steige zu.

Als er den Höllbach überschritten hatte, stand er einen Augenblick stille. „Zur Alm hin brauch’ ich a halbete Stund’, wenn’s gut geht,“ stammelte er, „na – na – ich muß ihn zu mir ’nauf tragen!“

Noch hatte er diese Worte nicht ausgesprochen, da stieg er schon vom Pfade hinweg, empor über den steinigen Berghang, wo ihn bald die dichten Büsche verschlangen.

Er sah nicht mehr den zitternden Fackelschein, der sich auf dem Almensteig hastig einherbewegte durch den Wald, und vor dem Rauschen des Höllbach’s hörte er nicht mehr die ängstlich rufende Mädchenstimme, die zwischen den Bäumen erscholl.

„Da bin ich, Dori – da – da!“

„Ja, Enzi, ich sieh Dich schon!“ klang tiefer aus dem Walde die Antwort des Burschen, der in hastigem Laufe der Dirne folgte. „Was is denn?“

Es muß ’was ’geben haben! Ja – weißt – a Stund kann’s her sein, da bin ich auf amal derwacht, und da is mir’s g’wesen, als hätt’ ich Schritt’ g’hört vor der Hütten –“ daß sie Gidi’s Schritte erkannt und gleich darauf den schönen Edelweißbuschen vor ihrem Fenster gefunden hatte, das verschwieg sie, „– und da hab’ ich nimmer einschlafen können – ja – und auf amal, da hab’ ich an Schaß g’hört! Uad gleich hab’ ich mir ’denkt, da muß ’was net in der Ordnung sein – weißt – ’leicht mit’m Jaager! No – angehn thut er mich freilich nix – der Jaager – aber – a Mensch is er ja doch!“

„Freilich, freilich!“ stotterte Dori und schielte, während er mit der Dirne kaum Schritt zu halten vermochte, nach ihrem blassen, von der Fackel grell beleuchteten Gesichte, dessen Lippen zuckten und zitterten, dessen nasse Augen ängstlich ausspähten in die dunkle Nacht.

„Und drum hat’s mir kein’ Ruh’ nimmer g’lassen, drum hab’ ich mich gleich in d’ Höh’ g’macht und –“

Mit einem kreischenden Aufschrei verstummte Enzi. Irgend ein erschreckendes Etwas war dicht an ihren Röcken vorübergefahren. „Was is denn das jetzt g’wesen?“ stammelte sie und neigte die Fackel zur Erde.

„Da – da – dem Gidi sein Hundl is!“ schrie Dori und deutete dem Thiere nach, das mit gesenkter, suchender Nase über den Steig dahinschoß und nun vom Pfade hinweg sprang zwischen die thalwärts ziehenden Büsche.

„O heilige Mutter! Jetzt is g’wiß! Jetzt is ihm ’was g’schehen!“ schluchzte Enzi auf und fing zu laufen an, daß dem folgenden Dori schier die langen Beine zu kurz wurden.

Nun erreichten sie die Höhe einer Bergrippe, über welche der Steig hinwegführte – und da leuchtete ihnen die helle Röthe des Brandes entgegen.

Enzi stand wie gelähmt und brachte kein Wort hervor. Dori aber schrie: „O du mein Gott – da schau – d’Hütten brennt – dem Gidi sein Hütten!“ Dann riß er der Dirne die Fackel aus der Hand und stürzte davon, in athemlosem Laufe dem Steige folgend. Erst als er vor dem glühenden, rauchenden Trümmerhaufen stand, der einst das schmucke freundliche Häuschen gewesen, erinnerte er sich wieder der Dirne, und da sah er sie plötzlich an seiner Seite, mit todtenblassem, verzerrtem Gesichte, mit starren Augen auf die glostenden Trümmer stierend.

„Enzi – was sagst?“ glitt es mit versagender Stimme von den schreckensbleichen Lippen des Burschen.

[843] Da rüttelte ein Schauer die Gestalt der Dirne. „Na, na,“ schrie sie auf, „wie mag ich denn denken – er – er kann ja net d’rin g’wesen sein, sonst hätt’ er ja net –“

Jählings verstummte sie, und mit schwerer, zitternder Hand auf Dori’s Arm sich stützend, lauschte sie der Tiefe zu.

„Dori – hörst es?“ stieß sie in bebendem Flüstern hervor, „hörst es denn net – da drunten –“

Die Worte erstarben ihr auf den offenen Lippen, den fliegenden Athem verhaltend, lauschte sie vorgereckten Kopfes in die Nacht hinaus – und da war es deutlich zu vernehmen, das klägliche Geheul des Hundes, der seinen Herrn gefunden.

Ehe noch Dori den Gedanken auszudenken vermochte, den jene unheimlichen Laute in ihm wachriefen, war Enzi schon zwischen den Bäumen des thalwärts ziehenden Waldes verschwunden. Da raffte er sich auf und rannte mit hocherhobener Fackel der Richtung zu, welche sie genommen. Wohl vernahm er immer und immer vor sich das Rauschen und Brechen der Büsche und Zweige, und dennoch gelang es ihm nicht, die Dirne einzuholen. Näher und näher klang ihm das Geheul des Hundes – und jetzt durchzitterte ein herzzerreißender Schrei die stille Nacht, und durch die finsteren Bäume hallte Enzi’s jammernde Stimme: „Gidi! Gidi! Mein Bua – mein Herzensbua!“

Keuchend erreichte Dori die Unglücksstelle und stand, in wortlosem Schreck an einen Baum sich lehnend. In seinen Händen zitterte die Fackel, die mit zuckender Helle das traurige Bild übergoß: den Jäger, regungslos ausgestreckt auf der Erde, die Dirne, über ihn hingeworfen in verzweifelndem Schmerze, und den Hund, der winselnd seinem Herrn die Hand des ausgestreckten Armes beleckte.

„Enzi! Enzi!“ stammelte Dori endlich und näherte sich schwankenden Ganges. Da fuhr die Dirne auf und schrie unter krampfhaftem Schluchzen zu ihm empor: „Dort – da schau – jetzt haben s’ ihn mir derschossen – mein’ Bua – mein’ Bua!“ Wieder warf sie sich über den Jäger hin, rüttelte in ihren Händen sein blutiges Haupt, hob es in ihren Schoß – und nun mit einem Male kreischte sie auf: „Jesus Maria – d’ Augen hat er offen – und – und reden möcht’ er – Gidi! Gidi! um tausendgottswillen – mach d’ Augen nimmer zu –“ In Thränen erstickten ihre Worte und mit hoffendem Bangen starrte sie in Gidi’s Gesicht, in welchem die Lider schon wieder geschlossen lagen, indeß ein mattes Lächeln den bleichen Mund umspielte.

Nun fuhr sie auf, und während sie mit dem einen Arme das Haupt des Wunden an ihren Busen drückte, mit dem andern über ihre Augen fuhr, sprudelte es von ihren Lippen: „Na! Na! Ich bin die Richtige! Weinen kann ich – nix als weinen, wo’s Helfen g’scheiter wär’! Weiter, Dori, weiter – steck ’s Licht in Boden und her zu mir!“

„Ja, Enzi, ja!“ stammelte der Bursche und stieß die Kienfackel in den moosigen Grund; dann richtete er sich lauschend auf.

„Enzi – mir is, als höret ich Leut’ im Wald!“

„Leut’! Die schickt mir der liebe Herrgott, der dengerst an Einsehn hat!“ Und mit hallender Stimme rief Enzi in den Wald hinein: „Ho! Ho! Leut’! da her! da her!“

„Ho! Ho!“ scholl es von verschiedenen Seiten, und dunkle Gestalten tauchten unter den Bäumen auf. Es waren die Holzknechte, die in der Holzerhütte auf dem Höllbergschlage hausten. Sie hatten den Schuß gehört, die Röthe des Brandes gewahrt, waren herbeigeeilt und hatten die jammernde Stimme der Dirne vernommen. Da wußte nun jeder einen Rath, und es schien ihnen das Klügste, den Jäger hinunter in das Schloß zu tragen.

„Nix da! Nix da!“ fuhr Enzi mit fliegenden Worten auf, während ihr noch immer Thräne um Thräne über die Wangen rollte. „Dritthalb Stund’ ins Ort! Seid’s denn verrückt? Zu mir in mein’ Hütten kommt er ’nauf. Weiter, Dori, da her, Du haltst mir mein armen Buaben. Du Hies, rennst nunter ins Ort um an Doktor! Weiter! Weiter! Du, Sepp, springst ’nauf in mein’ Hütten, kendst a Feuer an, stellst Milli und Wasser dazu – und da hast den Schlüssel zu meiner Truchen, da nimmst Dir a meinig’s Pfaid und schneidst es in handsame Streifen! Mach weiter! Geh! Geh! Und Du und Du – ihr zwei machts aus Stecken a Bahr z’samm! Und Du Lenzei, Du hilfst mir Daxen reißen zum Drauflegen!“

Einen Blick noch warf sie in Gidi’s stilles Gesicht, dann legte sie sein Haupt in Dori’s Arme, sprang auf und eilte auf die nächste Tanne zu, die Hände schon nach einem der buschigen Zweige streckend. Sie zog und zerrte die Aeste nieder, daß es nur so krachte durch den Wald, daß die rauhen Rinden ihr die Hände blutig rissen, und daß ihr der Schweiß in dicken Perlen von der Stirne tropfte. Ihr Muth und Eifer feuerte auch die Männer an. Eine Hand kam der andern zu Hilfe – und ehe noch wenige Minuten vergangen waren, konnten sie schon den Wunden auf die fertige, weiche Bahre legen. Dann hoben sie die Stangen auf ihre Schultern – drei Holzknechte und Enzi. Dori leuchtete ihnen mit der Fackel voran, und ihm zur Seite trippelte der Hund, der immer wieder stehen blieb und winselnd aufblickte zu der stillen Last, die da getragen wurde.


Auf dem Lager, auf welchem eine Nacht zuvor noch Veverl in stillen Träumen geschlummert hatte, lag Luitpold ausgestreckt. Naß klebten ihm die Haare an Stirn und Schläfen, und die entblößte Brust war feucht und dunkel geröthet. Jetzt rann ein Zittern durch seinen Körper, und ein fiebernder Athemzug rührte seine Lippen.

Da richtete sich jener, der vor ihm kniete, hastig empor und warf die nassen Tücher, die er in Händen hielt, zur Erde. „Er darf mich net sehen, wenn er d’ Augen aufmacht – er müßt’ ja z’viel derschrecken,“ flüsterte er, „aber – aber – merken soll er mich!“

Hastig eilte er der Felsennische zu, in welcher das Krucifix angebracht war, und kehrte mit einem zerknitterten Blatte zurück. Das schob er auf den Holzstuhl, darauf ein kleines Medaillon mit einem fadendünnen goldenen Kettchen lag. Und nun verschwand er lautlos aus der Höhle.

Luitpold rührte die Arme, griff mit den Händen nach der schwellenden Brust und öffnete die Augen. Da traf sein erster Blick die flackernde Helle der Fackel. „Feuer – das Feuer!“ stöhnte er unter grausendem Erschauern und fuhr in die Höhe. Doch ehe noch seine Füße den felsigen Boden berührten, gewann er das klare Bewußtsein der gefahrlosen Lage, in der er sich befand. Mit staunenden Augen überflog er seine seltsame Umgebung und starrte in den harmlosen Glanz der stillen Fackelflamme. Und wieder schauerte er in sich zusammen, als bei diesem Leuchten und Flackern die Erinnerung an jene fürchterlichen Minuten in ihm auftauchte. Er fühlte sich wieder erwachen, hörte seine müde Stimme, mit der er den knurrenden Hund zur Ruhe verwiesen, hörte das Knistern, das er im wieder beginnenden Halbschlaf für das Knistern der Herdflamme gehalten, und empfand aufs neue den stechenden Druck auf der Brust, mit dem er plötzlich aus qualvollen Träumen aufgefahren. Wieder hörte er das Winseln und Scharren des Hundes und sah sich aufspringen vom Lager und durch die raucherfüllte Stube der Thür zustürzen. Alles, alles lebte wieder in ihm auf: wie er vergebens nach Gidi rief, wie er den Herd ohne Feuer und doch alle Räume erfüllt sah von stickendem Dunst und Qualm, wie er die fürchterliche Gefahr erkannte und die Thür von außen verschlossen fand, wie er an allen Fenstern die Scheiben aufriß, die Läden aufstieß, zerrte und rüttelte an den starren Eisenstäben der engen Vergitterung, über welche die Flammen schon emporzuzüngeln begannen, wie er, halb schon betäubt von Rauch und Dunst und umkreist von dem angstvoll heulenden Hunde, die Thür zu erbrechen sich mühte und – und –

Und nun – nun! Wer hatte ihn gerettet aus Rauch und Flammen? Wer hatte ihn hierher in diese bewohnte Höhle gebracht? Wer hatte ihn zurückgerufen ins Leben? Wer hatte –

Da traf sein Blick den goldenen Schmuck auf dem Stuhle. Hastig griff er danach, hielt ihn in zitternden Händen und betrachtete das winzige Pastell, dieses schöne, zarte Mädchenantlitz mit den unergründlich tiefen Augen.

Aufathmend starrte er wieder um sich. Wo waren die Hände, die ihm während der Belebungsversuche diesen theuren Schmuck vom Halse genommen? Still und leer der ganze Raum! Seufzend schüttelte Luitpold den Kopf, unwillkürlich kehrten seine Blicke wieder zurück zum Stuhle. Er sah das Blatt, gewahrte die zierlichen und dennoch so festen Schriftzüge, mit denen es bedeckt war, griff danach, führte es näher vor die Augen und fuhr in stammelnden Worten auf: „Dieses – dieses Blatt! Ja seh’ ich denn recht? Ja, ja, es sind ihre Züge! Wie kommt dieses Blatt hierher?“ Mit nickendem Kopfe und fliegenden Augen begann er zu lesen: „Mein lieber, lieber Bruder! Ich weiß, Du hast Deine Johanna lieb, und Du wirst es ihr vergeben, wenn sie Dir Schmerz bereitet. Aber nun muß geschehen, was [846] seit Tag und Tag schon hätte geschehen sollen. Ich gehe aus dem Leben mit Gedanken und Wünschen der Liebe für jenen, der mein Alles war, dem auch Du von Herzen gut bist. Und nun grüße mir die Marianna, grüße mir meinen Jörg, sag ihm, daß ich ihm danke für all seine Güte und Liebe. Es wird ihn tief in das Herz treffen, ich weiß es, aber ich kann nicht anders! Sag ihm, daß ich glücklich war. Und Dich, mein liebster Bruder, Dich küsse ich tausendmal. Wir alle, alle werden uns wiedersehen, dort, wo alle Menschen gleich sind, wo keine Schranke zwischen Liebe und Liebe steht. Und nun den letzten Gruß Deiner im Tode glücklichen – Johanna!“

Lange, lange schon hatte Luitpold gelesen, und immer noch hingen seine Augen an dem Blatte.

„Das hat sie geschrieben – ihrem jüngeren Bruder – an jenem unglückseligen Morgen!“ glitt es mit leisen, stockenden Worten von seinen Lippen. „Aber dieses Blatt – wie kommt es hierher, so augenscheinlich mit Absicht gerade hierher auf diesen Stuhl? Das sieht sich an – wie eine Mahnung! Von wem aber kann sie kommen? Es kann nur Einer noch von diesem Blatte wissen, da Jener, an den es gerichtet war –“ Vor sich niederstarrend verstummte er, dann wieder fuhr er auf und streifte die zitternde Hand über die Stirn. „Nein, nein! Ich fühl’ es! Ich bin krank! Denn mit gesunden Sinnen denkt man nicht, daß möglich wäre, was unmöglich ist. Die Todten stehen nicht wieder auf –“

Da erstarben ihm die Worte, mit einem gurgelnden Aufschrei sprang er in die Höhe, aber die Kniee wollten ihm brechen, und so sank er wieder zurück auf das Lager, die irren Blicke nach dem blassen Gesichte Dessen gerichtet, der mit einem Male vor ihm stand, regungslos, mit hängenden Armen, mit herb geschlossenen Lippen, mit Attgen, aus denen Scheu und Vorwurf sprachen.

„Du? Du? Du?“ rang es sich endlich mit bebenden Lauten von Luitpold’s Lippen.

„Ja, Luitpold, ich bin’s! Ich, der Ferdl!“

„Und Du – Du lebst!“

„Leben! Ja, leben thu’ ich! Aber wie – da drum frag’ mich lieber net.“

„Darf ich es denn glauben? Haben mich denn Alle, Alle genarrt? Hat mich denn alle Welt betrogen?“

„Keiner, Luitpold, Keiner kann mehr sagen, als er weiß. Außer mei’m Jörgenbruder und der Mariann’ bist Du der erste Mensch, der erfahrt, daß der Ferdl net im Höllbachgraben liegt.“

„Und Du bist es, dem ich mein Leben danke? Du warst es, der mich gerettet?“

„Ja, Luitpold, ich bin’s g’wesen! Und wenn ich das net anders sagen kann, als mit heller Freud’ in jedem Wörtl, so mußt net glauben, daß ich mir ’was einbild’ auf mein Zugreifen im rechten Augenblick. Ah na! Was ich z’wegen ’bracht hab’, das hätt’ jeder Andere g’rad so g’macht, den a Zufall dahin g’führt hätt’, wo a g’schwinde Hand vonnöthen war. Wann ich mit Freuden sag’: ich bin’s g’wesen – so g’schieht’s bloß deßwegen, weil ich in ei’m Schnaufer dazu sagen kann: die heutige Nacht für denselbigen Tag, und so sind wir wett mit anander, Du und ich – wann auch g’rad vor uns Zwei allein und ’leicht auch noch vor unserem Herrgott, wann er’s gelten laßt, daß sich ’s Blut im Feuer wascht.

„Nein, Ferdinand, nein, nein! So rede nicht. Was an jenem unheilvollen Tage von Deiner Hand geschah, darfst Du nicht auf Dein Herz nehmen als eine Schuld –“

Es war a Schuld! A schwere, schwere Schuld!“ fuhr Ferdl mit dumpfen Worten auf. „Wann ich Dir’s aber nur sagen könnt’, Luitpold – wann ich Dir’s nur sagen könnt’, was in mir drin g’wesen is, wie ich mein’ liebe, arme Hanni so daliegen hab’ sehen vor mir –“

„Wem sagst Du das? Wer in der Welt sollte besser verstehen als ich, was jener grausame Anblick in Dir erwecken mußte? Und wer sollte besser wissen, wie werth Johanna der Liebe war, mit welcher Du und Dein Bruder an ihr gehangen? O – es hätte dieses Todes nicht bedurft, um mich erkennen zu lassen, was sie mir galt und was ich an ihr verlor. Wir gehörten uns an vor Gott – und in seliger Hoffnung sah ich schon der Zeit entgegen, in der wir uns auch angehören sollten vor den Menschen. An jenem unheilvollen Morgen war es, da hab’ ich mit meiner Mutter gesprochen, und mit Freuden hat sie mir das Ja gesagt. War ihr doch Johanna längst schon wie eine Tochter, unserem Namen ebenbürtig durch den Adel ihres Herzens und ihrer Seele! Doch als ich Johanna suchte, um ihr die freudige Botschaft zu bringen, hatte sie das Haus verlassen. Eine jähe Angst befiel mich, als ich auf ihrem Pulte einen Brief mit meinem Namen fand. Doch als ich gelesen hatte, war alle Angst und Sorge verschwunden. In Worten von herzberauschender Innigkeit sprach sie zu mir in diesen Zeilen von ihrer tiefen, unverbrüchlichen Liebe. Sie wüßte, welch eine starre Schranke den Edelmann von dem Kinde des Dorfes schiede. Und so wollte sie mir den Kampf zwischen Pflicht und Liebe ersparen. Es stand in diesen Zeilen kein Wort, das nur die leiseste Ahnung ihres fürchterlichen Entschlusses in mir hätte erwecken können. Wohl sprach sie vom Gehen, von einem Abschied für immer und ewig – aber ich dachte dabei nichts Anderes, als daß sie zurückgekehrt wäre in ihre Heimath. In fliegender Eile rüstete ich mich zur Reise, ich wollte ihr folgen und war schon auf der Schwelle meines Zimmers – da standest plötzlich Du vor mir – und als ich Deine wie im Wahnsinn glühenden Augen sah, Deine schmerzverzerrten Züge, da zuckte jählings die entsetzliche Ahnung in mir auf – o, ich war von Deinen Worten schon zu Tode getroffen, noch ehe Deine Hand sich wider meine Stirn hob.“

Erschauernd in Schmerz und Weh bedeckte Luitpold das Gesicht mit beiden Händen. Die Kniee begannen ihm zu zittern, und er drohte niederzustürzen vor Schwäche und Erschöpfung.

„Luitpold! Luitpold!“ schluchzte Ferdl, sprang auf ihn zu und fing ihn auf in seinen Armen.

Lange saßen sie wortlos Seite an Seite auf dem Lager.

„Na! Na! Errathen hätt’ ich’s doch müssen, wie Alles is und war!“ brach Ferdl endlich mit bebenden Worten das bange Schweigen. „Aber wie ich selbigsmal der Hanni ihren Brief g’lesen hab’, da hat mich der Gram völlig blind g’macht. Später ’naus freilich, wie ich hundert und hundertmal den Brief wieder g’lesen hab’, da hab’ ich mir oft denken müssen, alles wär’ anders, als ich g’meint hab! Und wie ich jetzt bei Dir das Kapserl g’funden hab’ – mit der Hanni ihrem lieben Bildl, da hab’ ich mir gleich g’sagt, daß Du kein ungut’s G’wissen haben kannst – sonst thätst doch so a Mahnung an Dein’ Schuld net noch an der Ketten um Dein’ Hals ’rum tragen. Freilich, freilich – da schaut sich mein Schuld jetzt noch hundertmal ärger an. Aber kannst mir’s glauben – woltern hab’ ich ’büßt dafür! Wie ich den fürchtigen Sprung über’n Höllbach gewagt hab’, und wie’s mich niederg’rissen hat über’s gache G’schröff, da hat sich ’s Sterben für mich schier ang’schaut wie an Erlösung. Den ersten Auffall hab’ ich noch g’spürt, und wie’s mich hin und wider wirft von einer Platten zur anderen, nachher is mir d’ B’sinnung g’schwunden, und ich weiß nix mehr von mir bis zu dem Augenblick, wo ich auf amal wieder derwach’ und g’spür, daß ich auf festem Boden lieg’, tropfnaß am ganzen Leib, schier starr vor Kälten, und daß ’s Wasser wegrauscht über meine Füß’. Kaum hab’ ich mich aufheben können, wie derschlagen war Alles in mir, und dengerst hab’ ich nach a paar Stund’ meine Arm’ und Füß’ ganz richtig brauchen können. Und so bin ich dag’sessen, Stund’ um Stund’, unter mir der wilde Höllbach, über mir a G’wänd und G’stein, wo einer fliegen hätt’ können müssen, wann er ’nauf hätt’ mögen in d’ Höh! Schon hab’ ich drüber nachsinniert, wie man sich ’s Derhungern leichter machen könnt’, da vermerk’ ich auf amal, daß an dem Platzl, wo ich g’legen bin, a G’höhl in Berg ’nein geht. Da hab ich mich aufg’macht, hab’ mich weiter’tappt und weiter in der Finstern, von ei’m G’höhl bin ich ins ander’ ’kommen – und ninderst, ninderst hab’ ich an Ausweg g’funden. Und es muß doch einer da sein, hab’ ich mir allweil g’sagt, weil ich überall und überall an frischen Zugluft g’spürt hab’. Und so hab’ ich net aus’lassen mit’m Suchen – aber wer weiß, ob ich ’nausg’funden hätt’, wann ich net in ei’m schmalen Felsengang, grad wie ich schon wieder umkehren hab’ wollen, a Fledermaus hätt’ aufflattern hören. Das Thierl is mein Engel g’wesen! Mit aller G’walt hab’ ich mich durchg’arbeit’ durch’s G’stein – und auf amal, da hab’ ich d’ Lichten schimmern sehen – und nachher bin ich draußen g’standen unter der lieben Sonn’, z’mittelst d’rin in die dicksten Latschen.“

Aufseufzend verstummte er und starrte, in Erinnerung versunken, vor sich nieder.

[847] „In die Latschen hab’ ich d’ Nacht derwart’,“ fuhr er nach einer Weile mit ruhigerer Stimme fort, „nachher bin ich ’nunter ins Ort – und wie ich mei’m Jörgenbruder sein’ Freud’ und sein’ Jubel g’sehn hab’, da is mir mein Leben dengert auch wieder werth worden. Ich hab’ ihm verzählt, wie Alles zu’gangen is, hab’ ihm verzählt von dem fürchtigen G’höhl, das ich im Berg drin g’funden hab’ – und da hat er g’sagt: ,Ferdl! Wo Dich unser Herrgott hing’führt hat, da bleibst! D’Leut’ reden von Dir wie von ei’m Todten, kein Mensch mehr fragt Dir nach – und da kannst jetzt bleiben, so lang’, bis alles verraucht und vergessen is. Was nachher weiter g’schehen soll, das wird sich schon finden mit der Zeit!‘ Und – so bin ich halt ’blieben. Acht Tag’ is der Jörg heroben g’wesen bei mir und hat mir arbeiten g’holfen, den Höhlboden von die Steiner säubern und den Zugang weiter machen, damit man leichter beischaffen könnt’, was nöthig war. Draußt vor’m Ausgang haben wir an mannshohen Steinblock über Walzen g’legt, so daß er mit ei’m leichten Drucker schon auf d’ Seiten ’gangen is – g’rad wie a Thür! Sein’ ganze Sennhütten hat der Jörg nachher ausg’räumt, damit er mir ’s Hausen daherinn a bißl leichter macht – und mit allem hat er mich versorgt, was ich ’braucht hab’ zum Leben und zum Zeitvertreib. Und von da an is der Tag mein’ Nacht g’wesen, und d’ Nacht mein Tag – eh’ net d’ Stern’ am Himmel g’standen sind, hab’ ich mich ja nie net ’rauswagen dürfen aus’m Berg. A paar a drei Wochen hab’ ich’s gern derlitten – aber nachher – nachher is mir mein g’storbenes Leben härter und härter an’kommen mit jedem Tag. Bei all dem Sinnieren in meiner Einschicht’ is mir mein Herz und mein G’wissen so steinschwer ’worden – und wenn ich auch um Deinetwegen, Luitpold, a bißl leichter ’denkt hab’, wie mir’s durch mein’ Jörg bekannt worden is, daß’s besser geht mit Dir, so hat mich doch mein’ andere Schuld, wo ich in der Verzweiflung so mitverübt hab’, ohne dran z’denken, schwerer und schwerer ’druckt in mei’m Stolz und in meiner Ehr’. Ich bin ja Soldat g’wesen mit Leib und Seel’ – und ich hab’s auch bewiesen, wie’s golten hat, drin in Frankreich – und ich, der ich so stolz g’wesen bin auf meine zwei Kreuzln und auf mei’m lieben König sein farbigs Tuch, ich hab’ mein’ Fahn’ verlassen und hab’s selber g’macht wie Einer, vor dem ich amal ausg’spieen hab’ in Abscheu und Verachtung.“

Aufstöhnend drückte Ferdl die zitternden Fäuste über die Augen, aus denen ihm die dicken Thränen niederrollten über die blassen Wangen.

„G’wiß wahr! Hundertmal für einmal hab’ ich mir g’sagt: „Ferdl, geh’ hin, stell’ Dich wieder beim Regiment, thu’s, thu’s und frag’ net, was darnach kommt – aber wann ich mei’m Jörgenbruder in die traurigen Augen g’schaut hab’, war’s wieder aus und gar mit all’ mei’m Muth! Bald aber hat sich ’s Blattl g’wendt. Da hab’ ich am Bleiben halten müssen – und er hat ’trieben, daß ich jetzt bald fort sollt’ über d’ Grenz’! Ich hab’ eben g’merkt, mit was für Gedanken als er sich tragt. Sein’ Finkenhof will er verkaufen – sein’ Finkenhof! wo schon seit hundert und hundert Jahr’ allweil nach’m Vater der Sohn g’haust hat – und mir z’lieb will er’s thun, damit er mit mir und seine Leut’ fortziehen könnt’ – fort ins Amerika. Aber ehnder ich so ’was zulass’, lieber verbring’ ich mein ganz’ Leben daherin im Berg, wenn auch gleich seit die letzten Tag’ was über mich ’kommen is, was mich mit doppelter G’walt ’nauszieht ins Licht und unter d’ Menschen!“

„Und Du wirst zurückkehren zu den Menschen – zu jenen, die Dir lieb sind!“ fiel Luitpold mit bewegten Worten ein. „Eines ist schon geschehen, um Dir diese Rückkehr zu erleichtern. Alle, die Dich um meinetwillen anklagten, glauben heute, daß Dich nur Entsetzen und falsche Furcht zur Flucht getrieben, nicht das Gefühl der Schuld.“

„Ich weiß, was D’ sagen willst. Heut’ in der Nacht noch is der Jörg bei mir g’wesen, und – – aber so ’was därf ich net zulassen –“

„Auch nicht, wenn ich Dein Schweigen fordern würde – bei dem Angedenken an unsere Johanna? Wo kein Kläger ist, Ferdinand, da wird auch kein Richter sein. Hast Du nicht selbst gesagt, daß wir wett sind, wir Beide unter einander? Es wäre ja auch nie so weit gekommen, wär’ ich nicht durch Tage und Wochen schwerkrank darniedergelegen – nicht durch die Wunde auf meiner Stirne – durch die Wunde in meinem Herzen. Und als das Fieber in mir erlosch und die Besserung begann, haben sie mir Deinen vermeintlichen Tod verheimlicht, um meine zögernde Genesung nicht aufs Neue zu gefährden. Da auch Niemand kam, um eine Aussage von mir zu begehren, dachte ich nichts Anderes, als daß wir Beide allein, nur Du und ich, von jener Begegnung auf der Schwelle meines Zimmers wüßten. Man glaubt ja, was man hofft – selbst wenn sich die Hoffnung an die Unmöglichkeit und an den Widersinn klammert. In der trübsinnigen Schwermuth, in der ich in meinem Schmerze um Johanna die Tage auf dem Krankenlager verbrachte, war ich ja auch nicht fähig zu ruhigem und klarem Denken. Dann führte mich meine Mutter auf den Rath der Aerzte nach dem Süden – und erst vor wenigen Tagen bin ich zurückgekehrt. Es drängte mich, Dich aufzusuchen, mich mit Dir auszusprechen – ich ging zu Deinem Regimente, um Deinen jetzigen Aufenthalt zu erfragen – und da starrten sie mich an wie einen Wahnsinnigen – und nun erst hab’ ich erfahren, was Alle, Alle in meinem Hause vor mir verschwiegen. Mein erstes Gefühl bei dieser erschütternden Nachricht hat nur die Worte auf die Zunge getrieben, die Dich frei sprachen von aller um meinetwillen Dir aufgebürdeten Schuld. Und jetzt – und jetzt!“ In überwallender Bewegung faßte er Ferdl’s beide Hände und schaute ihm mit einem freudig glänzenden Blicke in die bangen Augen. „Wie dank’ ich es meinem Herzen, daß es mich hieher getrieben! Jetzt kann Alles, Alles noch gut werden, was noch gut zu machen ist. Was Du als Soldat gethan – freilich – es ist ein Vergehen, und Du wirst die Strafe auf Dich nehmen müssen, die sie Dir zuerkennen Werden, – aber ich hoffe, sie wird nicht eine allzu strenge sein. Ich habe mächtige Freunde, ich will ihren ganzen Einfluß für Dich geltend machen – und – die beste Fürsprache hast Du an der guten, ehrenvollen Erinnerung, in der Du um Deiner früheren Führung willen bei den Officieren Deines Regimentes stehst. Und jetzt –“ vom Lager aufspringend löste er seine Hände aus denen Ferdl’s, um in nachlässiger Hast sein Gewand zu ordnen, „jetzt führe mich, Ferdinand, laß mich gehen, es drängt mich, bald zu thun, was ich zu thun vermag. Und Du versprich mir, nichts zu unternehmen, nicht von hier zu gehen, eh’ ich Dir nicht Nachricht sende oder eh’ ich Dich nicht selbst von hier forthole. Komm’ – komm’ – laß uns gehen! Es drängt mich ja auch, den Gidi, den guten Burschen, von der Sorge zu befreien, die er wohl um mich fühlen mag, da er ja glauben muß –“

„Der Gidi – der Gidi war net in der Hütten?“ schrie Ferdl freudig auf.

„Nein – ich habe sein Lager leer gesehen – und es war auch die Thüre von außen verschlossen. Wohin er gegangen ist –“ ein feines Lächeln spielte um Luitpold’s Lippen, „ich kann es vielleicht vermuthen –“

„Na – na! Da is was net in der Ordnung,“ stieß Ferdl in neu erwachender Sorge hervor, „das muß ich mir sagen, wenn ich an Alles denk’, wenn ich mich auf den Schuß b’sinn, den ich g’hört hab’ –“

„Ein Schuß?“ fuhr Luitpold erschrocken auf. „Der kann nur ihm gegolten haben! Und wir stehen noch hier, während vielleicht der arme Bursche –“

Kaum hörte er noch auf Ferdl’s Worte, der ihm seinen Wettermantel und einen Hut aufzudrängen suchte – und er war schon in der Mündung des Felsenganges verschwunden, ehe noch Ferdl die Fackel von der Wand zu reißen vermochte.

Sie gewannen das Freie und stiegen am Rande des Höllbachgrabens nieder. Von der Stelle, auf welcher die Jagdhütte gestanden, schimmerte ihnen nur noch ein mattes Glosten entgegen. Als sie den Almensteig erreichten, löschte Ferdl die Fackel – sie hörten Stimmen und Tritte näher kommen. Es waren zwei Holzknechte, die zur Holzerhütte zurückkehrten. Von ihnen erfuhren sie Alles, was mit Gidi sich begeben.

„Jetzt liegt er droben in der Bründlhütten – auf der Sennerin ihrem Kreister,“ berichtete der Eine. „Diemal macht er schon d’ Augen auf, fällt aber aus ei’m Taumel in andern. Es is a halber Schuß, den er ’kriegt hat, und er wird d’ran z’beißen haben, wann er’s durchreißen will. Da auf der rechten Brustseiten hat ihn der Lump ’neing’schossen, durch d’ Schulter is d’ Kugel durchaus, und den Hals hat’s auch noch a bißl g’streift Ja – dran z’ beißen wird er haben.“,

In hastigem Gange folgten Luitpold und Ferdl dem Steige.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 52, S. 865–871

[865] Als Luitpold und Ferdl aus dem Walde auf die Almenlichtung traten, sahen sie schon die blinkenden Fenster der Hütte und hörten schon die Leute reden, welche die hell erleuchtete Thür umstanden, Sennerinnen der nächsten Almen, Kühwehrer und Schafhüter. Je näher sie der aufgeregten Gruppe kamen, desto deutlicher hörten sie eine Stimme aus all den andern heraus. „Der Dori!“ flüsterte Ferdl und lauschte wieder den Worten des Burschen. „Ja – und so hat jetzt d’ Enzi dem Gidi ’s Leben g’rett’,“ hörte er ihn sagen. „Die is zum neiden! So a Glück hat halt an andrer net – und wann er sich auch d’ Augen drum ausschaut. Und wann er ’s Glück haben könnt’ – nachher verschlaft er’s!“

Schon wurden die Leute auf die Beiden aufmerksam, die sich ihnen näherten. Da reichte Luitpold seinem Gefährten schweigend die Hand zu langem und festem Drucke. Sie verstanden sich auch ohne Worte.

Während Luitpold der Thür zuschritt, huschte Ferdl hinter eine Mauer hochaufgeschichteten Brennholzes. Als er die Hütte umgehen wollte, kam er an einem offenen, erleuchteten Fensterchen vorüber und verhielt die Schritte. Da drinnen sah er auf dem Kreister der Sennerin den Jäger liegen; das blutleere Gesicht zeigte in der Umrahmung des dichten, schwarzen Bartes eine erschreckende Blässe; doch war es nicht entstellt von irgend einem Ausdruck des Schmerzes, es lag vielmehr ein still glückseliges Lächeln über diese Züge gebreitet, während die matt glänzenden Augen mit regungslosen Blicken auf das Gesicht der Dirne gerichtet waren, die mit zitternden Händen ein feuchtes, dickgefaltetes Tuch über die entblößte Schulter des Jägers breitete.

„Wie das wohl thut, Enzi, wie das wohl thut!“ glitt es mit müden, zitternden Worten von Gidi’s Lippen.

„Geh, geh, thu mir nur g’rad net reden! Ich bitt’ Dich, halt’ Dich doch stad!“

„No ja – aber gelt – – jetzt hast mich halt dengerst ’reing’holt in Dein’ Hütten – so oder so!“

„Na, na!“ fuhr Enzi schluchzend auf. „Jetzt is er halbert hin – und kann von so ’was reden!“

„Aber geh’ – das bißl Blut! Ich muß ja schier dem Valtl noch a Vergeltsgott sagen – ’leicht hätt’ ich sonst – gar z’lang – auf Dich warten müssen. Aber – was ich sagen will – is Keiner net da, der ’nüberspringt zu mir in d’ Hütten? Mein junger Herr Graf, der könnt’ sich ja sorgen um mich – wann er derwacht und – und ich bin net da bei ihm.“

„Jesus Maria! Dein Graf – war – war in der Hütten!“ hörte Ferdl die Dirne stammeln, während sie mit aschfahlem Gesichte zurücktaumelte vom Lager. Doch sah er mit dem gleichen Blicke, wie Luitpold über der Schwelle des Stübchens erschien, und da wandte er sich vom Fenster und eilte mit lautlosen Schritten [866] hinaus in die Nacht. Er erreichte die Pforte seiner traurigen Behausung und hob schon die Hand, um den Stein beiseite zu rollen. Doch ließ er kopfschüttelnd den Arm wieder sinken. „Na, na, – jetzt kann ich net ’nein! Luft – Luft muß ich haben – und Stern’ muß ich sehen!“ Er streckte sich nieder auf das Gestein, verschlang die Hände unter dem Nacken und starrte empor zu den funkelnden Augen des nächtigen Himmels. Noch einmal zogen in seiner Erinnerung die letzten Tage, die letzten Stunden an ihm vorüber. Bangen und Hoffen kämpften in seinem Herzen.

Stunde um Stunde verrann. Zwischen den Kuppen der östlichen Berge tauchte schon, die Sterne löschend, eine fahle Blässe über den Himmel empor, und drunten im Thale schieden sich schon die regungslos von Berg zu Berg gelagerten Nebel in mattem Grau von dem tiefen Dunkel der steil gebauten Wälder.

Da erhob sich Ferdl – denn nun begann ja seine Nacht. Schon streckte er die Hand nach der steinernen Pforte, da war es ihm, als hätte er über den Latschen draußen auf dem Gerölle das Geräusch von Tritten gehört. Mit lautloser Vorsicht huschte er durch das Gezweig, erreichte die offene Platte und hätte fast vor jäher Freude laut aufgeschrieen, als er die dunkle Mädchengestalt gewahrte, die sich mühsam emporarbeitete über den rauhen Grund.

Sie – sie kam wieder zu ihm, die vor ihm geflohen in Furcht und Grausen! Er wagte kaum seinen Blicken zu trauen. Regungslos verhielt er sich am Rande des Gebüsches, und da sah er das Mädchen mit gefalteten Händen stille stehen und hörte es schluchzen: „O lieber Herrgott! G’rad noch a bißl Kraft! G’rad noch a bißl!“ Und wieder sah er, wie das Mädchen sich weiter aufwärts mühte über das Geröll, wie es sich gegen einen Felsblock lehnte, jetzt einen Stein von der Erde las und ihn hinauswarf über den Rand des Höllbachgrabens.

Da vermochte sich Ferdl nicht länger zu halten „Veverl! Veverl!“ jubelte er auf. „Du – Du kommst wieder zu mir!“ Und mit ausgestreckten Armen eilte er auf das Mädchen zu.

„Jesus Maria – jetzt is er schon da!“ stammelte Veverl, vor Schreck und Bangen in die Kniee brechend.

„Du – Du kommst zu mir!“ war Ferdl’s einzige Rede, während er Veverl emporzog und die Zitternde niedergleiten ließ auf einen moosigen Stein. „Na! So a Freud’! Wie soll ich Dir das vergelten, Du liebs, liebs Deandel Du?“

„Na, so net, so mußt net reden zu mir – net so gut und freundlich!“ sprudelte es mit Schluchzen von ihren Lippen. „Du hast mir bloß Liebs und Guts erwiesen, und ich bin fort von Dir ohne Wort und Vergeltsgott. Ja – ja – straf’ mich, wie sich’s g’hört! Laß mich’s entgelten, wie D’ willst! Aber ihn mußt es net büßen lassen, für den ich bitten komm’. Was liegt an wir – und wenn’s um mein Leben geht! Fang’ mit mir an, was D’ willst! B’halt’ mich bei Dir im Berg, wann D’ magst! Ich will net derschrecken, und gern will ich’s leiden. Aber sein Unschuld mußt derweisen, daß er wieder heimgehen kann zu sei’m verlass’nen Weib und zu seinen armen lieben Hascherln, die sich jetzt d’ Augen ausweinen um ihren guten, braven Vatern!“ Veverl schlug die Hände vor das Gesicht, und ihre Worte erstickten in bitterlichem Schluchzen.

„Ja um Gotteswillen!“ stotterte Ferdl. „Jetzt weiß ich gar net – – Veverl, han, was – aber so red' doch – was is denn passirt! Es wird doch mit’m Jörg nix g’schehen sein!“

„Ja, ja, mein’ Jörgenvetter haben s’ fort. Auf der Straß’ draußt haben d’ Schandarm ihn ’troffen in der Nacht und haben g’sagt, sie hätten mit ihm z’ reden, und sind mit ihm bis ’rein in Finkenhof. Na – wie die arme Mariann’ derschrocken is! Und jetzt nachher hat der Kommandant zum reden ang’fangt – so ganz scheinheilig, wie wenn er dem Jörgenvetter sein bester Freund wär’ und da hat er was g’sagt von ei’m G’red unter die Leut’, von annanyme Zuschriften und vom Leithnervaltl, der auf d’ Schandarm’ allweil spötteln thät’, ob s’ denn net wüßten, wo der Finkenbauer schlaft, wann er net daheim is in der Nacht – ja und da hat er g’sagt, der Kommandant, daß er auf all das G’red nix gäb’, weil er den Jörgenvetter kennen thät’, aber er müßt’ seiner Stellnug z’lieb amal was thun, um d’ Leut’ zum Schweigen z’bringen – ja – und weil er halt jetzt g’rad den Jörgenvetter vom Berg her kommen hätt’ sehen – mit der g’ladenen Kraxen, so möcht’ er halt grad amal der Form wegen fragen, wo der Jörgenvetter herkäm’ und was denn eigentlich d’rin wär in der Kraxen –“

„Jesses na!“ fiel Ferdl mit stammelnden Worten dem Mädchen in die sprudelnde, schluchzende Rede.

„Wie ihn der Jörgenvetter so reden hört, da wird er käsweiß über und über – natürlich, so a Schand’, das kann ein’ wurmen! – und schier ’packt hat er den Schandarm, der sich schon herg’macht hat über d’ Kraxen. Und wie die Kraxen auf’bunden wird, sind lauter Schnitzersachen drin – ja g’rad die schönsten Sachen. Da hat sich der Kommandant jetzt g’stellt, wie wann er selber ganz derschrocken wär’, und hat g’sagt: wann der Jörgenvetter sich net ausweisen könnt’, nachher müßt’ man glauben, daß die Sachen von Tirol ’rein g’schmuggelt sind, und da könnt’ er ihm nachher net helfen, und er müßt’ ihn fortführen aufs Amt. ‚So führts mich fort!‘ das war dem Jörgenvetter sein Red’ – aber d’ Mariann’ hat ’s Jammern ang’fangt, hat sich hing’hängt an ihn und g’rad ’naus g’schrieen hat s’: ‚Jörg, Jörg, denk’ an Deine Kinder! Jetzt mußt reden – jetzt mußt reden!‘ Aber ‚Mariann’!‘ hat er g’sagt und sonst kein Wörtl net, und ang’schaut hat er s’ mit zwei Augen, daß d’ Mariann’ g’rad ’zittert hat am ganzen Leib – und net a Silben mehr hat s’ g’redt – und ’naus is aus der Stuben und hat ihm d’ Kinder g’holt – in die Hemderln hat s’ ihm s’ ’bracht und – und den Augenblick vergiß ich nie net in mein Leben, wie s’ ihn fortg’führt haben! Und er hat doch g’wiß nix Unrecht’s net verübt – und unschuldig is er, so g’wiß, so g’wiß – Du mußt es ja wissen! Und Du kannst es derweisen. Und helfen mußt ihm – helfen –“

„Ja, Veverl, ja! G’holfen muß ihm werden!“ brach es in bebenden Worten von Ferdl’s Lippen. „Und wer könnt’ besser helfen, als wie ich! Und – sag’ – weiß d’ Mariann’, daß zu mir ’rauf bist?“

„Na, na, um Gotteswillen, na!“ fuhr Veverl aus ihrer stummen, zitternden Freude ganz erschrocken auf. „Ich weiß ja doch, daß bei so ’was ’s Mitwissen von ei’m Zweiten den guten Ausgang vom Anfang an verdirbt. Und – und es hat ja auch kein’ Menschenseel’ derfahren, daß ich schon amal – da heroben g’wesen bin. Dein’ Macht hat’s ja so g’fügt, daß alle ’glaubt haben, ich wär’ auf der Wallfahrt g’wesen. Freilich – angesehen muß man mir’s schon haben, daß ich ’was recht Seltsams derlebt hab’, denn d’ Mariann’ hat mich allweil gar so g’spaßig ang’schaut, und allweil hat s’ mich ’drängt, ich sollt’ ihr doch ’was verzählen von meiner Wallfahrt. Aber kein Sterbenswörtl hab’ ich g’redt – ich weiß ja, daß man von so ’was net reden soll, wenn man ’s derlebt hat, denn sonst is aus und gar und nie nimmer kann man – –“ Erschauernd deckte Veverl das Gesicht mit beiden Händen.

Schweigend stand Ferdl vor ihr, und trotz der tiefen Sorge, die ihn um den Bruder erfüllte, umspielte ein leises, inniges Lächeln seine Lippen.

„Daß mich aber mein Weg so bald wieder da ’rauf führt, das hätt’ ich mir freilich nie net ’denkt,“ sprach Veverl nach einer Weile mit zitternder Stimme weiter. „Aber – wie s’ den Jörgenvetter so fortg’führt haben, und wie der Mariann’ schier ’s Herz ’brochen is vor Prast und Gram, und wie die armen Kinderln so z’sammg’schrien haben um ihren Vatern – da hat mich mein erster Gedanken da ’rauf verwiesen, und zur Mariann’ hab’ ich g’sagt: ‚Mariann’ thu’ Dich trösten, denn ich weiß ein’, der wo helfen kann – und sollt’s mich mein eigens Leben kosten, ich ruf ihn an!‘ Und fort bin ich, fort – und ,Jesus Maria! Veverl, Veverl!‘ hab’ ich d’ Mariann’ ganz derschrocken noch schreien hören – aber ich hab’ mich nimmer halten lassen, und fort bin ich, mitten in der Nacht!“

Zitternd am ganzen Leibe, mit gefalteten Händen, mit angstvoll starrenden Augen, aus denen die Thränen niederperlten über ihre blassen Wangen, so stand sie vor ihm im falben Dämmerschein des ergrauenden Morgens. Da schlang er die eine Hand um ihre Finger, zog sie zu sich heran, sah ihr mit einem tiefen, leuchtenden Blicke in die schimmernden Augen und strich ihr sachte mit der anderen Hand die braunen Kraushärchen aus der weißen Stirn. Sie duldete es und rührte sich nicht.

Ein stockender Seufzer schwellte seine Brust. „Geh Veverl,“ sagte er, „setz Dich nur g’rad a bißl nieder – ich bin gleich wieder da!“ Zögernd gab er ihre Hände frei, wandte sich und eilte den dichten Büschen zu.

Sie sah ihn verschwinden und starrte regungslos auf die schwankenden Zweige. Als er nach einer Weile wieder erschien, [867] führte er die Ziege an der Hand und hatte das Hansei auf der Schulter sitzen. „Da, Veverl, schau, den bring’ ich Dir!“ sagte er und reichte ihr den Vogel, nach dem sie unter stammelndem Danke mit beiden Händen griff. Dann schob er mit sanftem Drängen die Ziege von sich: „Geh’, Zottin, geh’ – kennst dich ja aus daheroben – wirst den Platz schon wieder finden, von wo ich dich g’holt hab’, und leicht auch wieder a bessers Leben, als bei mir hast haben können.“ Er schaute mit feuchten Augen dem Thiere nach, das ihm durch lange Monate Geselle seiner bangen Einsamkeit gewesen. Dann kehrte er sich hastig zu dem Mädchen zurück. „Komm, Veverl, komm – jetzt laß uns gehn!“ Er faßte nach ihrer Hand, die sie ihm willig reichte, während sie mit der anderen ihr Hansei an der Brust gefangen hielt – und so schritten sie thalwärts, dem Ufer des rauschenden Höllbachs folgend.

Das goldige Frühlicht der erwachten Sonne lag schon über den Almengehängen der jenseitigen Berge, als die Beiden aus dem Walde auf die von dünnem Nebel überzogenen Wiesen traten. An einer Stelle, an welcher der Pfad sich theilte, hielt Ferdl inne. Erschrocken blickte Veverl zu ihm auf und ein so seltsam drückendes Gefühl beschlich ihr Herz, als sie in seine ernsten, sorgenvollen Augen schaute.

„Von jetzt an, Veverl, gehen unsere Weg’ auseinander,“ sagte er, und seine Stimme zitterte, „der Deinige geht heim ins Ort, der meinige geht ’naus ins Thal – und führen soll er mich, wohin mei’m lieben Herrgott recht is. Aber – eh’ noch a Tag vergeht, soll der Jörg wieder daheim sein bei seiner Mariann’ und seine Kinder. Leicht dankst mir nachher mit ei’m guten Gedanken – und – wann derfahren solltst, daß Geister Menschen werden, so mußt mir fein net z’ arg derschrecken. Jetzt – b’hüt’ Dich Gott!“

Mit beiden Händen hielt er ihre Hand gefaßt und schüttelte sie unablässig, während ihm die Thränen in die Augen sprangen.

Nun wandte er sich hastig von ihr, taumelte Schritt um Schritt dahin – dann plötzlich wieder kehrte er sich zu ihr zurück. „Vevi, Vevi!“ brach es schluchzend aus ihm hervor, mit ausgestreckten Armen eilte er ihr entgegen und riß sie an seine Brust, mit stammelndem Munde ihre Lippen suchend.

Sie wußte nicht, wie ihr geschah, wußte nicht, daß sie den eigenen Arm mit zärtlichem Drucke um seinen Nacken geschlungen hielt – sie hatte die Augen geschlossen und trank unter Schauer und Zittern die heiße Gluth dieses Kusses in ihre Seele.

Wer weiß, wie lange sie so an einander würden gehangen haben, hätte nicht das Hansei, das zwischen Brust und Brust in drückende Gefangenschaft gerathen war, mit zornigem Krächzen den Zauber dieses Augenblicks gebrochen. Da löste Ferdl seine Arme, nahm Veverl’s Haupt in beide Hände und schaute sie an mit trunkenen Blicken. „Jetzt, Vevi, jetzt kann kommen, was mag!“ jauchzte er, drückte noch einen herzhaften Kuß auf ihre Lippen und stürzte davon, im grauen Nebel verschwimmend und verschwindend.

Veverl stand und starrte ihm nach. Es lag über ihr wie Rausch und Betäubung. Alles Denken war in ihr erloschen – Gefühl war Alles, was in ihr bebte und zitterte – Gefühl des Glückes und der Freude. Der Freude? Worüber? Doch wohl darüber nur, daß jetzt der Jörgenvetter wieder heimkehren sollte zu Weib und Kind? Das war ja beschworen – er hatte es ja versprochen – er, er! Und da fing sie nun doch schon wieder zu grübeln an. Ob es ihm leicht, ob es ihm schwer werden würde, des Jörgenvetters Unschuld an den Tag zu bringen? Und welch ein Wort nur war das gewesen, das er gesprochen hatte? Vom Menschwerden! Aber wie einfach und selbstverständlich war der Sinn dieses Wortes! Unter all den Häschern und Herren vom Gerichte hatte doch Keiner die Königsblume gefunden – und so mußte doch der Alf aus freien Stücken menschliche Gestalt annehmen, wenn er diesen Leuten haarklein auseinandersetzen wollte, wie die Sache mit dem Jörgenvetter stünde. Und nichts, nichts, gar nichts hatte er von ihr zum Danke dafür begehrt. Er hatte sie im Gegentheile noch mit ihrem lieben, lieben Hansei beschenkt und – und hatte – hatte –

Da schrak sie zusammen und fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen floß. Er hatte sie geküßt! Und das wußte sie: ein Geisterkuß tödtet noch in der Stunde, in der man ihn empfangen. Sterben! Sterben! Und sie war so jung! Und die Welt so schön – die Berge, das Thal, der Wald, die Wiesen! Und sterben! Aber – als sie so mitten in der Nacht davongestürzt war, dem Jörgenvetter zuliebe, hatte sie da nicht gleich gedacht, daß – daß – – Umsonst ist der Tod! Und nun gab sie ihr Leben für das, was sie vor einem Augenblick noch umsonst erreicht zu haben meinte. Aber was lag an ihr! Der Jörgenvetter war gerettet! Und – der Tod, der ihr bevorstand, konnte kein schwerer und schmerzhafter sein, das fühlte sie jetzt schon in ihrem Inneren – es war ihr so – so – sie wußte nicht wie! Doch bevor er käme, dieser gute, leichte, süße Tod, sollte doch die Mariann’ noch ihren Trost haben, und sollte erfahren – –

Da fing sie schon zu laufen an, daß ihre Zöpfe sich lösten, daß ihre Röcke flogen und flatterten. Als sie den Finkenhof erreichte, kamen ihr die Kinder entgegengestürmt; um ihren Händen und Fragen sich zu entwinden, überließ sie ihnen das Hansei. In der Stube traf sie die Mariann’; kopfschüttelnd, mit gerungenen Händen kam ihr die Bäuerin entgegen.

„Mariann’, Mariann’!“ jauchzte und schluchzte Veverl. „Mußt nimmer weinen! Mußt nimmer jammern! Ich bin bei ei’m g’wesen, der helfen kann! Und es is auch schon g’holfcn – und der Jörgenvetter kommt wieder heim – morgen, morgen schon – ’leicht heut’ noch am Abend!“

Weßhalb denn fuhr sich die Mariann’ nicht mit den Händen in das Gesicht, um ihre Thränen zu trocknen? Weßhalb denn lachte sie nicht? Weßhalb nicht schlang sie in Dank und Freude die Arme um Veverl’s Hand?

„Mein Gott, mein Gott, Veverl, was hast denn da jetzt ang’stellt!“ jammerte die Bäuerin. „Na, na, was wird mein Jörg dazu sagen! Jetzt is alles, alles umsonst g’schehen – alles für nix und wider nix!“

„Na, net umsonst, Mariann’, net umsonst!“ stotterte Veverl.

„Einer hat ja g’schworen, daß er helfen will – und der hat nie an Schwur noch ’brochen. Du kannst ja net wissen – Du kannst Dir ja net denken, wo ich g’wesen bin!“

„Freilich weiß ich’s, freilich kann ich’s denken! Wo anders wirst denn g’wesen sein, als droben am Berg, im Höllbachg’höhl, beim Jörg sei’m Brudern – beim Ferdl droben!“

Mit leichenblassem Gesichte, wie zu Stein verwandelt, stand das Mädchen und starrte mit entsetzten, gläsernen Augen auf die Bäuerin, die des Jammerns kein Ende fand: „Und jetzt is alles umsonst – das Wunder, wo ihn g’rett’ hat aus ’m Höllbach, das ganze, lange, traurige Leben im G’höhl, alles, alles, was mein Jörg um seinetwegen durchg’macht hat – alles, alles umsonst – und wenn s’ ihn erst haben, den armen Ferdl, nachher b’halten s’ ihn auch und sperren ihn wo ’nein, wer weiß, wie lang – daß er ’s Heimkommen nimmer derlebt! Na, na, was wird mein Jörg – – Veverl, um Gotteswillen, was is Dir denn?“

Veverl’s Lippen gaben keine Antwort mehr. Sie stand, die Hände wider die Brust gepreßt, mit aschfahlen Zügen, mit gebrochenen Augen – jetzt kam ein Zittern und Schwanken über ihren Körper, und ehe Mariann’ mit den Armen die Ohnmächtige aufzufangen vermochte, stürzte sie mit dumpfem Schlage nieder auf die Dielen.

*  *  *

Der Gidi vom Valtl durch die Brust geschossen! Die Jagdhütte niedergebrannt, vom Valtl natürlich! Der Finkenbauer als Schmuggler verhaftet, sicher nur auf die gehässigen Verdächtigungen des Knechtes hin, den der Bauer einst mit Schand und Spott vom Hof gejagt! Das ging wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus. Das ganze Dorf war in Aufruhr und Erregung. Und dieser Aufruhr kulminirte im Kopfe des Brennerwastls. Der Bursche schrie sich vor Zorn und Entrüstung die Kehle heiser. Als sich dann das Gerücht verbreitete, daß ein Bauernknecht bei grauendem Morgen durch die Wiesengärten einen Menschen hätte schleichen sehen, der „akrat wie der Valtl ausg’schaut“ hätte, war es für den Wastl eine ausgemachte Sache, daß sich der Valtl im Dorfe verborgen hielte. Er rannte nach dem Stationshause, um seinen Verdacht dem Kommandanten mitzutheilen; der aber hatte sich sofort nach seiner Rückkehr vom Amte mit den beiden Gendarmen zu einer Streife im Gebirge aufgemacht. Nun fing der Wastl ein Hetzen und Schüren an, führte als zweites Wort die allgemeine Sicherheit im Mund, und so gelang es ihm wirklich, eine Schaar von Burschen aufzubringen, die sich nicht übel aufgelegt zeigten, einen Akt der Volksjustiz zu üben. Sie zogen vor [868] den Leithnerhof, umzingelten das Haus und durchsuchten es bis auf den letzten Winkel – erfolglos freilich. Jetzt war es wieder der Brennerwastl, der den Verdacht aussprach, ob sich nicht etwa der Valtl gerade dort verborgen haben könnte, wo man ihn am wenigsten vermuthen möchte – im Finkenhof, an welchem ja der ehemalige Knecht jeden Schlupf und Winkel kennen müßte, wie seine Tasche. Mit dieser Weisheit aber kam der Wastl übel an, der ganze Dank, den er erntete, war ein schallendes Gelächter. Der erste Mißerfolg hatte die Gemüther ziemlich abgekühlt, und so wurde einstimmig ein gar friedlicher Vorschlag angenommen: man zog unter Singen und Johlen ins Wirthshaus. Wastl wüthete und stürmte in seinem zornigen Trotze ganz allein dem Finkenhofe zu, wo er dem Knecht und dem Schmiede so lange in den Ohren lag, bis ihm die Beiden den Gefallen thaten und mit ihm alle Bodenräume des Gesindehauses, alle Ställe, Scheunen und Schupfen durchstöberten. Als er aber auch das Wohnhaus mit seiner geschäftigen Sicherheitssorge bedenken wollte, vertraten ihm die Beiden den Weg, da sie sich nicht zu denken wußten, wie Valtl in das Haus hätte kommen können. Vielleicht hätte er seinen Willen doch noch durchgesetzt, wenn nicht ein Menschenauflauf auf der Straße seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte. Da draußen brachten sie gerade den Gidi von der Bründlalm, um ihn nach dem Schlosse zu tragen. Enzi schritt an der Seite der Bahre und hielt des Jägers Hand gefaßt. Den Trägern folgte Luitpold mit dem Doktor – und mehr noch als den Verwundeten starrten die Leute den jungen Grafen an, der in dem grauen, rupfigen Wettermantel und unter dem grobfilzigen Bauernhute allerdings ein seltsames Bild gewährte.

Vor Abend noch fuhr Luitpold zum Dorfe hinaus, nachdem er vom Arzte erfahren hatte, daß Gidi’s Verwundung zwar eine immerhin bedenkliche wäre, daß aber bei der eisernen Gesundheit des Jägers und bei der trefflichen Pflege, die ihm in sicherer Aussicht zu stehen scheine, das Beste zu hoffen wäre.

Um Gebetläuten kam dann die Enzi in den Finkenhof. Zuerst mußte sie erzählen, was sie zu erzählen wußte. „Gelt, Finkenbäuerin,“ sagte sie dann, „das siehst schon ein, daß mich mein Gidi im Jaagerhäusl jetzt nöthiger braucht, als wie der Finkenbauer auf der Bründlalm. Und da wär’ ich Dir schon recht viel dankbar, wann mich a paar Wochen verurlauben thätst und thätst derweil die alte Waben in mein Hütten ’naufschicken.“

Mit einem Worte war das zugestanden, und so wackelte am anderen Morgen die Waben über den Bergsteig empor zur Bründlalm.

Als Dori, der unter der Hüttenthüre stand, die Alte über das Almfeld „daherknotschen“ sah, fuhr er sich mit beiden Händen hinter die Ohren: „J ... jeh! die alte Waben! Jetzt is g’recht! So ’was muß mir auch noch passiren! Ein Unglück ums andere!“

„Schöne Sachen! Schöne Sachen g’schehen daheroben!“ pfiff es durch die Zahnlücken der Alten, als sie vor der Hüttenthüre verschnaufend stille hielt.

„Ah was! Drunten muß auch net alles bei Verstand sein, sonst hätten s’ mir Dich net da ’rauf g’chickt!“ knurrte Dori und verschwand in der Hütte.

Keifend folgte ihm die Alte, aber als sie dem Dori in das vergrämte Gesicht schaute, frug sie doch mit besorgten Worten, was ihm fehle. „Nix!“ war die kurze Antwort, die sie erhielt. Nun erkundigte sie sich noch nach dem Befinden der Kühe, dann begann sie zu erzählen: von dem Unglück, das den Finkenbauer betroffen hätte, wie von der „g’spaßigen“ Krankheit, von der das Veverl befallen worden wäre.

„Ja – gestern in aller Fruh, da muß das Deandl wo g’wesem sein, und bald drauf, wie ’s heim’kommen is, hab’ ich d’ Finkenbäuerin in der Stuben drin schreien hören: Waben, Waben, Waben! Und wie ich ’neinkomm’, liegt ’s Deandl auf’m Stubenboden, völlig damisch – ja – und schier a Stund lang hat s’ Dir ’braucht, bis wieder d’ Augen aufg’macht hat. Und seit der Zeit is ’s Deandl wie verwendt. Mit gar kei’m redt’s kein Wörtl net, und allweil steht ihr ’s Wasser in die Augen. A böse Sach’ – a böse Sach’!“

Wortlos hatte Dori zugehört. Jetzt sprang auf, holte vom Heuboden die Kraxe herunter und begann sie in zitternder Hast mit dem Almgewinn der letzten Tage zu beladen.

„Ja, was is denn jetzt auf amal?“ staunte die alte Waben.

„Abtragen muß ich!“ erwiderte Dori, und weiter sprach er kein Wort mehr bis zu dem „B’hüt Dich!“ mit dem er die Hütte verließ.

Je weiter er sich von der Alm entfernte, desto hastiger wurden seine Schritte. Und als er aus dem Walde auf die Wiesen trat, tropfte der Schweiß von ihm, und keuchend ging sein Athem.

Schon näherte er sich der Höllbachmühle, an welcher sein Weg vorüberführte, da stutzte er plötzlich. Hastig warf er den Bergstock bei Seite, stellte die Kraxe nieder und schlich in geduckter Stellung dem Bache zu. Hinter einem der Erlenbüsche, mit denen das Ufer bewachsen war, verbarg er sich. Ein Fuchs, der die zum Opfer ausersehene Henne belauscht, kann keine gieriger lauernden Augen machen, als Dori sie machte, während er durch die Lücken des Buschwerkes die Bewegungen des sechsjährigen Müllersöhnchens verfolgte, das mit übermüthiger Keckheit über den schwankenden Balken hin und her spazierte, der unterhalb des Mühlausflusses den schäumenden Bach überspannte. So oft das Bürschlein ins Wanken gerieth, zuckte die helle Freude in Dori’s Zügen auf, die sich wieder verfinsterten, sobald der kleine Uebermuth mit schlagenden Armen das Gleichgewicht zu gewinnen wußte. So zwischen Hoffnung und Enttäuschung hin und her geworfen, spähte und lauerte er, bis ihm ein ganz unerwarteter Gedanke sagte, was er denn eigentlich that. Da erschrak er vor sich selbst und stammelte. „Na, na, ich bin Einer! Kann da sitzen und drauf passen, ob dem armen Schluckerl an Unglück g’schieht! Jetzt gehst mir aber gleich weiter!“ Ingrimmig fuhr er auf und schoß mit einem langen Schritte aus dem Buschwerk. Das Büblein aus dem Balken aber hörte die Büsche rascheln, sah über das Laub ein bleiches, grinsendes Gesicht auftauchen, erschrak, gerieth ins Wanken und stürzte mit einem kreischenden Schrei vom Balken in die schäumenden Wellen.

„Gottlob! Jetzt hat’s ihn dengerst g’rissen!“ jubelte Dori und sprang mit einem mächtigen Satze dem Knaben nach in den Bach. Glücklich erwischte er ihn beim Kittelchen, zerrte ihn ans Ufer, herzte und küßte ihn, daß dem Knaben Hören und Sehen verging, dann ließ er ihn stehen, wie er stand, und rannte davon über die Wiese. Als er die Stelle erreichte, wo seine Kraxe stand, warf er sich der ganzen Länge nach ins Gras, wälzte sich wie ein Pudel und stammelte und schluchzte in überquellender Freude: „Ich hab’ ei’m Menschen ’s Leben g’rett’! Ich hab’ ei’m Menschen ’s Leben g’rett’! Jetzt darf ich selber wieder leben! Mein’ Sünd’ is gut g’macht und vergessen! Ich hab’ mein Leben wieder g’wonnen – mein Leben – mein Leben – mein Leben!“ Und kaum versiegen wollten die Thränen seiner Freude. Als er sich endlich dennoch erhob, schaute er mit einem vergnüglich lächelnden Blicke an seinem triefenden Gewande nieder. „So kann ich doch net gut ins Ort nein geh’n! Da muß ich mich schon z’erst a bißl trocknen.“ Er nahm die Kraxe auf und lief dem Waldsaume zu. Hier hängte er seine Joppe über einen Fichtenbusch und streckte sich an einem Plätzchen ins Moos, auf welches die Sonne ihre ganze, brennende Mittagshitze niedergoß. Trunkene Freude füllte sein Herz, fröhliche Bilder gaukelten vor seinen Augen, eine rieselnde Wärme begann in seinem Körper zu erwachen und das that ihm so wohl, daß er vor Behagen die Lider schloß. Als er endlich auffuhr aus dem Schlafe, der ihn wider Wissen überkommen hatte, lag schon die tiefe Dämmerung über Berg und Thal. Unter sprudelnden Selbstvorwürfen schlüpfte er in die Joppe, raffte die Kraxe auf und rannte dem Dorfe zu.

Er erreichte den Finkenhof und sah durch die erleuchteten Fenster des Dienstbotenhauses die Ehhalten bei der Schüssel sitzen. Auch die Stubenfenster des Wohnhauses waren erleuchtet, die Thüre aber fand er verschlossen. Er pochte, und die Bäuerin öffnete ihm. Sein erstes Wort war eine Frage, wie die Sache mit dem Finkenbauer stünde – hoffentlich gut, wie er meinte.

„Ah ja – mußt Dich net sorgen! Es wird sich schon Alles wieder machen!“ gab die Bäuerin kleinlaut zur Antwort.

„Und han – wo is denn ’s Veverl?“

„Sie is schon droben in der Kammer.“

„So! Aber – sag’ Bäuerin – was ich von der Waben g’hört hab’, wär’ ’s Veverl derkrankt?“

„Ah na! Gar kein’ Schein net! Jetzt das is amal an alte Ratschen! Aber – mach weiter! Jetzt is doch kein Zeit net zu ei’m Diskurs im Hausgang. Geh’, lad’ Dein’ Kraxen ab und trag’s in Keller ’nunter. Da geh’ her, da is a Licht.“ Sie schritt ihm voraus in die Küche, entzündete ein Kerzenlicht und [870] reichte es ihm. Dann kehrte sie in die Stube zurück, während Dori die Kellertreppe hinunterstieg. Als er drunten die Kraxe auf die Fliesen gestellt hatte, lauschte er nach dem Hausflur empor, nickte befriedigt vor sich hin und brachte aus der Kraxe ein zierliches Sträußchen von Edelweißblüthen zum Vorschein. „Ich steck’s ihr hinter d’ Thürschnallen ’nein, nachher findt sie’s gleich in aller Früh,“ flüsterte er mit listiger Freude vor sich hin, streifte die Schuhe von den Füßen, huschte lautlos hinauf in den Hausflur und der Treppe zu, die nach dem oberen Stocke führte. Inmitten der Treppe hielt er erschrocken inne – er sah an Veverl’s Kammer die Thür offen und drinnen auf der Kommode den Leuchter mit der brennenden Kerze stehen. Schon wollte er geräuschlos den Rückzug antreten, da hörte er über sich aus einer Ecke des Ganges eine leise zischelnde Stimme: „Und ich rath’ Dir’s im Guten, daß kein Muckser net thust, ehvor ich net draußen bin aus’m Haus!“ Das Blut wollte ihm gerinnen beim wohlbekannten Klange dieser Stimme. Er starrte durch die Geländerstäbe der Richtung zu, aus der er sie gehört – sah Veverl zitternd in eine Ecke gedrückt und vor ihr die dunkle Gestalt des Burschen, den er an der Stimme erkannt hatte, noch eh’ er in dem halb gebrochenen Dunkel die scharfen Züge und den lang niederhängenden Schnurrbart gewahrte. „Lump – Lump – is noch net g’nug am Gidi – willst auch noch der Veverl ’was anhaben?“ so fuhr er mit gellenden Schreien auf und stürzte die Treppe empor. Doch eh’ er noch die oberste Stufe erreichte, warf sich Valtl schon über ihn her – dem Dori brachen unter der Wucht dieses Anpralles die Kniee, im Stürzen aber riß er den Burschen mit sich nieder, und so rollten sie über einander hin mit dröhnendem Gepolter die Treppe hinunter bis auf die Steinplatten des Hausflurs. Unter kreischenden Hilferufen eilte Veverl der Treppe zu, hörte einen stöhnenden Aufschrei, den nur Dori ausgestoßen haben konnte, und sah, wie Valtl sich in die Höhe zerrte, die Hausthüre aufriß, und wie ihm, bevor er noch das Freie gewinnen konnte, Dori mit beiden Händen schon wieder am Halse hing.

Da flog die Stubenthüre auf, und Mariann’ erschien mit einem Lichte in der Hand auf der Schwelle. „Ja um Gotteswillen, was is denn? Was is denn –“

„Der Dori und der Valtl –“ stammelte Veverl, während sie über die Treppe niederwankte, „und – in mei’m Kammerl bin ich g’wesen, und da hab’ ich gleich schon g’meint, ich hätt’ an Schritt g’hört über mir am Boden droben – und nachher is mir’s g’wesen, als ging’ wer ’runter über d’ Bodenstieg’ – und so will ich nachschaun – und wie ich d’ Thür’ aufmach’, steht der Valtl vor mir da und halt’ mir ’s Messer hin –“

„O Jesus, Jesus, Jesus –“ stotterte die Bäuerin, eilte zur Hausthüre hinaus, sah einen dunklen Knäul über den Hof hin der Straße sich zuwälzen, hörte Dori’s röchelnde Schreie: „Du willst der Veverl ’was anhaben – Du – Du – Du willst der Veverl ’was anhaben!“ – und zitternd vor Angst und Sorge schrie sie in die Nacht hinaus: „Leut’! Leut’! Um Gotteswillen! Leut’! Leut’!“

Da stürzten sie auch schon herbei, aus dem Gesindehause, aus allen Nachbarhöfen, mit Stöcken, mit Lichtern – alle rannten sie der Straße zu, geleitet von Dori’s gellenden Worten – und da fanden sie den Valtl ausgestreckt im Staube, das blutige Messer in der seitwärts gestreckten, zuckenden Faust, am Halse gewürgt von Dori’s Händen, der über ihm lag mit dem ganzen Gewicht seines Körpers. Die Weiber kreischten und schrieen, während die Männer und Bursche sich über die Beiden warfen – die einen rissen das Messer aus Valtl’s Fingern, die andern suchten den Dori emporzuzerren – der aber hing wie angewachsen mit seinen Händen an Valtl’s Kehle, und unablässig schrillte es von seinen Lippen: „Du willst der Veverl ’was anhaben – Du – Du –“ und diese seine Schreie verstummten auch nicht, als es den Männern endlich gelang, ihn emporzureißen und fortzuzerren gegen den Straßenrain. Da stürzte sich nun ein Theil der Bursche über Valtl hin, um ihn dingfest zu machen; erschrocken aber fuhren sie zurück, als er keinen Finger zur Abwehr regte. Leblos lag er zu ihren Füßen – – erdrosselt von Dori’s Händen.

Und jetzt erloschen auch Dori’s Worte in gurgelndem Stammeln, über den wirren Lärm hörte man eine Frauenstimme aufkreischen: „Jesus Maria – es reißt ihn um!“ – und einer der Männer schrie: „No freilich – no freilich – so schauts nur g’rad her – es rinnt ja ’s Blut von ihm in helle Bacherln!“

„Holts den Pfarrer! Laufts um an Dokter! Tragts ihn ’nein ins Haus! Reißts ihm doch ’s G’wand auf!“ schrie und kreischte es in schauerlichem Wechsel aus der Gruppe der Leute, die den Todwunden umstanden.

„Mich laßts durch – mich laßts durch!“ schrie der Schmied vom Finkenhofe, drängte sich durch den Kreis, schlang die Arme um Dori’s Körper, hob ihn von der Erde und trug ihn hastigen Laufes hinein in die Gesindestube. Hier legte er ihn auf die Kissen und Kotzen nieder, die aus der Mägdekammer herbeigeschleppt und über die Dielen gebreitet wurden.

Die Bäuerin rannte in das Wohnhaus hinüber, um Tücher und Wasser herbeizuschaffen. Aber Veverl kniete an Dori’s Seite, zitternd und weinend, und hielt seine Hand umschlungen mit beiden Händen.

Ein mattes Lächeln lag auf Dori’s Lippen, und ein schimmernder Glanz war in den Augen, mit denen er an Veverl’s schreckensbleichen Zügen hing.

„Mußt net weinen, Veverl,“ klang es mit mattem Stammeln von seinem Munde, „Mußt net weinen – es is Dir ja nix g’schehen, Veverl – is Dir ja nix g’schehen!“

„Dori, Dori, mein lieber Dori!“ schluchzte das Mädchen auf.

„Ah mein – geh’ – mußt Dich net sorgen, Veverl, net sorgen um mich! Das macht sich schon wieder! Ich därf ja jetzt leben – ich hab’ mir mein’ Leben ja wieder g’wonnen! Heut’ erst, Veverl – heut! Denn daß ich Dir’s sag’ – ja – weißt –“ und Dori’s Stimme dämpfte sich zu tonlosem Flüstern, „weißt – selbigsmal in der Nacht – eh’ d’Hann’ heim’bracht worden is – da hab’ ich an Streit g’habt – mit ’m Valtl, weißt – und nach ’m Beten, wie ich – nimmer da dran ’denkt hab’ – da – da bin ich zur Stuben, ’naus – und da hat er mir – aufpaßt g’habt und is mir nach – ja – derwischt aber hat er mich net – weißt – auf an Baum bin ich ’nauf – ja – drent’ beim Haus – und – in der Hanni ihrem – ihrem Stüberl – da hab’ ich Dich g’sehen – ja – und ang’rufen hab’ ich Dich – ganz stad – und wie das Schüsserl nachher zum Fenster g’stellt hast – und den Wecken – da – da hab’ ich g’meint – es g’hört’ für mich – und – und –“

In einem Röcheln erstickten seine Worte, schwer hob sich seine Brust, ein schmerzvolles Zucken flog über sein Gesicht, und tief drückte er den Kopf in das Kissen, so daß die kalkweiß abstehenden Ohren fast die blutleeren Wangen berührten.

Mit starrem Entsetzen hingen Veverl’s Blicke an Dori’s brechenden Augen, an seinen erschlaffenden Zügen und an seinen bläulichen Lippen, die nun wieder unter flüsternden Worten müde sich bewegten.

„Sorg’ Dich net, Veverl, – sorg’ Dich net – ich weiß schon – es war a Sünd’, a fürchtige Sünd’ – es war ja – an Armeseelenmahl – aber – aber mein’ Sünd’ is ’büßt und ich därf wieder leben – und därf net sterben – und – d’rum kann ’s mir nix schaden – na – gar kein bißl net! Ich hab ja an Menschen vom Tod derrett’ – ja, Veverl – heut’ erst – heut’ um Mittag – da hab’ ich ’s Müllerbüberl – aus ’m Wasser ’zogen – und so hab’, ich mir wieder mein Leben g’wonnen – und muß net sterben – na – na – jetzt – jetzt – jetzt därf ich leben – leben – –“ Müder und leiser von Wort zu Wort war seine Stimme geworden, um in gurgelndem Stöhnen zu erlöschen, ein Zittern überrann seinen Körper, die Hände griffen nach dem Herzen, der schwere Kopf schien zwischen seinen Schultern zu versinken – so lag er wenige Sekunden regungslos – nun streckte er sich mit einem ächzenden Seufzer – „leben – leben –“ hauchte es noch von seinem Munde, dann blieben seine Lippen regungslos, und über seine Augen legte sich die Starre des Todes.

„Dori! Dori! Armer Dori!“ schrie Veverl schluchzend auf, indeß die Anderen, die den Todten umstanden, mit murmelnden Stimmen zu beten begannen.

Als dann der Arzt erschien, den man gerufen, blieb ihm nichts Anderes zu thun mehr übrig, als die Todesursache festzustellen. Er fand in Dori’s Brust und Schultern sieben Stiche.

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Zwei Tage vergingen, Dori wurde zu Grab getragen, und das war ein Leichenzug, als würde der reichste Bauer des Thales zur ewigen Ruh’ gebracht, nicht der ärmste Hüterbub’ des Dorfes.

[871] Dann wieder kehrte Tag um Tag im Finkenhof ein, doch keiner brachte den Jörg. Gleich am dritten Tage nach seiner Verhaftung war eine Botschaft an die Mariann’ gekommen: seine Sache wäre in Ordnung – um welchen Preis! – aber sie sollte ihn nicht erwarten. Die Ungewißheit über Ferdl’s Schicksal ließe ihm keine Ruhe, und so wollte er nach München gehen und dort verbleiben, bis in Ferdl’s Sache etwas entschieden wäre. Weiter war nicht die geringste Nachricht mehr gekommen!

Fast wußten die Leute im Dorfe mehr von Jörg und Ferdl, als im Finkenhofe die Mariann’ und noch eine Andere, die niemals die Lippe zu einer Frage öffnete, allmorgendlich aber mit einem bangen, flehenden Blicke ihrer traurigen Augen an dem Gesichte der Bäuerin hing. Aus den „Münchener Blatt’ln“ hatten die Leute die erste Nachricht von Ferdl’s Auferstehung und Rettung gelesen und hatten dabei erfahren, daß jener böse Verdacht, in dem er gestanden, durch eine Aussage des jungen Herrn Grafen völlig von ihm genommen wäre, so daß nun Ferdl einzig noch dem Spruche des Militärgerichtes unterstand, von dem ihm die Leute freilich wenig Gutes prophezeiten. In allen Stuben und auf allen Straßen wurde die Sache mit unermüdlichem Eifer verhandelt.

Bei diesen Plauderstündchen war Veverl nur selten zugegen. Fast die ganzen Tage saß sie in ihrem Kämmerchen mit einer Näharbeit beschäftigt – und ach, wie viele Seufzer und Thränen stichelte sie da hinein! Das änderte sich freilich mit dem Morgen, an welchem Mariann’ von Jörg einen Brief erhielt – einen Brief voll Jubel und Freude. Alles, alles wäre gut, das Militärgericht hätte seinen Spruch gethan, in Rücksicht auf Ferdl’s frühere glänzende Führung, auf seine im Kriege bewiesene Tapferkeit, auf den Umstand, daß seine Dienstzeit ohnehin zwei Tage später zu Ende gewesen wäre, und in Erwägung der Thatsache, daß er sich selbst wieder gestellt hätte, wäre seine Flucht nicht als Desertion aufgefaßt worden, sondern nur als „willkürliche Absentirung vom Regimente, begangen im Zustande hochgradiger Aufregung über den plötzlichen Tod einer nahen Anverwandten“. Und der Brief schloß mit den Worten: „Ja, und darum hat er kein’ andere Straf’ net ’kriegt, als wie fünf Tag’ Mittelarrest. Nachher muß er seine zwei letzten Tag’ noch ausdienen. Und mich laßt’s net fort aus der Stadt, ich muß d’rauf warten, bis er frei is, damit wir mitanander heim können.“

Vor Freude und Vergnügen glänzte das Gesicht der Bäuerin, als sie diesen Brief in Veverl’s Hände legte. In Furcht und Bangen begann dos Mädchen zu lesen – aber es war mit dem Briefe noch nicht zu Ende, da schlug es schluchzend schon die Hände mitsammt dem Blatte vor das Gesicht.

„Aber Veverl, Veverl, geh’, mußt doch auslesen,“ lachte Mariann’, „da schau, ganz unten am Brief steht noch ’was dran g’schrieben.“ Und da blickte Veverl unter fließenden Thränen wieder auf das Blatt und las: „Gelt’, Mariann’, schau fein Deine Kästen nach, ich mein’, es wird bald Hochzeit geben im Finkenhof.“ Mit scheuen Augen schaute Veverl auf, und als sie den lachenden, zwickernden Blicken der Mariann’ begegnete, färbten sich ihre Wangen mit glühendem Roth, und unter seligen Zähren barg sie das Gesicht an der Brust der Bäuerin.

Von dieser Stunde an blühte sie auf wie eine Rose unter der Junisonne. Mit all ihrem Denken und Empfinden hing sie an diesem einen wonnesamen Gute, das sie für ihr Herz gefunden und erworben, während jene ganze traumhafte Welt, in der sie bislang gelebt und geathmet, jählings in Trümmer brach. Die Königsblume ohne Macht und Wirkung! Kein Edelweißkönig! Kein Alfenreich! Nicht Wunder noch Zauber! Alles, alles die natürlichste Wirklichkeit! Und der Dori dahin, trotz der Sühne, die er der um ihr Mahl verkürzten armen Seele geleistet! Jedes dieser Worte, jeder dieser Gedanken hatte eine klaffende Bresche in die Schutzwehr ihrer Geisterwelt gerissen – und endlich waren sie ausgetrieben, die Alfen und Wichte, die Feen und Waldweiblein, und wo sie sonst gehaust mit sicherem Behagen, da herrschte jetzt der irdische Tag mit seinem hellen, lachenden Himmel. Nur Liebe noch und Sehnsucht war Veverl’s ganzes Denken und Fühlen. Und wie glücklich war sie bei äll diesem Bangen und Harren, ob manchmal auch das traurige Erinnern an den guten Burschen, der nun draußen lag in kühler Erde, ihr Glück zu trüben kam, sowie ein Wolkenschatten dahinhuscht über sonnige Wiesen.

Dann war es eines Abends – Veverl saß in der Stube bei den Kindern – da stürzte die Mariann’ herein: „Veverl! Sie kommen! Sie kommen!“ – flog wieder hinaus in den Hof, und hinter ihr einher die beiden Kinder. Veverl fuhr in die Höhe, stand regungslos, blaß und zitternd, hörte die näherkommenden Tritte und Stimmen – und jetzt erschienen sie unter der Thüre, der Jörgenvetter und die Marian’, und ihnen voran ein schmucker, strammer Soldat mit blühendem Gesichte, mit lachendem Munnde und glänzenden Augen. Er stand und streckte dem Mädchen die beiden Hände entgegen, und als ihn Veverl noch immer anstarrte ohne Laut und Bewegung, da frug er: „Ja, Veverl! – han – hast denn für mich jetzt gar kein bißl a Grüß Gott!?“

Da rann ein Zittern über ihre Schultern, da warf sie die Arme auf, flog ihm entgegen und hing mit Weinen und Stammeln an seinem Halse.

Mit glückseligen Augen schaute Jörg auf die Beiden, dann winkte er die Mariann’ zu sich, nahm die Kinder bei der Hand und verschwand mit ihnen in der Kammer. Dort beschwichtigte er die drängenden Fragen der beiden Kleinen und begann der Mariann’ zu erzählen, alles, was er nur zu erzählen wußte, und Luitpolds Name klang dabei wohl hundertmal von seinen Lippen.

Als Jörg sich endlich erhob und unter die Stubenthür trat, sah er den Ferdl am Tische sitzen und Veverl an seiner Seite, das Köpfchen an seine Brust gelehnt. Mit leuchtenden Augen schaute sie zu ihm empor, unter den zitternden Worten: „Na! na! Schier kann ich ’s net glauben! Is denn alles auch wahr? Bist denn auch g’wiß a Mensch – a richtiger Mensch?“

„No – schau – man kann ja net wissen,“ lächelte Ferdl zu ihr nieder, „’leicht bin ich dengerst a Geist – und – was meinst? Soll ich verschwinden?“

„Na, na, um Gotteswillen net!“ fuhr Veverl auf in stammelndem Schreck, und wie in ängstlicher Sorge schlug sie die beiden Arme um den Hals des Geliebten – –

Vier Monate später wurde im Dorfe zu einer Doppelhochzeit gerüstet: für Ferdl und Veverl – für Gidi und Emmerenz. Am Morgen der Hochzeit strömten die Leute aus dem ganzen Thale zusammen, so daß die Kirche kaum die Menge zu fassen wußte. Als die beiden jungen Ehepaare unter schmetternden Klängen aus dem Kirchenportale über den Friedhof zogen, stockte plötzlich der Zug – Ferdl und Veverl standen vor Dori’s Grab. Neugierig drängten die Leute näher, reckten die Köpfe und sahen wie Veverl den bräutlichen Rosmarinstrauß, den sie am Mieder trug, mit zitternden Fingern löste und von der ausgestreckten Hand niedergleiten ließ auf den mit welkenden Blumen bedeckten Hügel. Dann schaute sie zu dem Gesichte ihres Mannes auf, als wollte sie ihn mit Blicken fragen, ob sie auch recht gethan – Ferdl nickte ihr zu mit innigem Lächeln und feuchten Augen – und wieder setzte sich der Zug in Bewegung. Und während die Böller krachten, daß die Berge widerhallten, thaten die Musikanten ihr Bestes, bis das mit Fahnen und Tannenkränzen geschmückte Wirthshaus erreicht war, in welchem das Mahl bereitet stand.

Von all den geladenen Gästen waren nur zwei nicht erschienen. Der eine war Herr Simon Wimmer. Der Aufenthalt in dem Dorfe hatte für ihn, wie man so sagt, einen Haken bekommen; er hatte um seine Versetzung nach einem anderen Posten nachgesucht, aie war ihm gewährt worden, und da hatte er seine Abreise gerade auf den Hochzeitsmorgen festgesetzt, ein „Rache-Akt“, durch den er die allgemeine Festesstimmung wesentlich erhöhte.

Aber auch ein Anderer war fern geblieben, den man sehnlichst erwartet hatte und schmerzlich vermißte – Luitpold. Er hatte dem Gidi die herzlichsten Glückwünsche gesandt, und dazu den „gräflichen Förster“ mit entsprechender Gehaltserhöhung. Dem Ferdl hatte er geschrieben, wie gern er gekommen wäre, wenn er nicht gefürchtet hätte, durch die trübe Stimmung, die der Anblick all des vielen Glückes in ihm erwecken müßte, die Freude und den Frohsinn der Anderen zu stören.

Diesem Briefe war ein Brautgeschenk für Veverl beigelegt: der Schmuck, den sie am Halse trug – sechs kleine, blitzende Topase, im Kreis umringt von spitziggeflammten, aus mattweiß schimmernden Perlen gebildeten Zacken – ein Edelweiß mit dreißig Strahlen!


  1. Ein Taschenmesser mit kurzer, breiter Klinge.
  2. empfindsam, schwermüthig.
  3. Tollheiten, Bubenstreiche.
  4. knallen.
  5. vorhanden, anwesend sein.
  6. vor Schluchzen gestoßen.
  7. verlangen, sehnen.
  8. Klatschbase.
  9. wahrhaftig; schwäbischer Dialekt.
  10. hielte.
  11. Der Wagen, welcher die Aussteuer trägt.
  12. anschmachten.
  13. Die dünne Weidenruthe, mit welcher die geweihten Zweige zu einem Bündel gebunden werden.
  14. Kamm.
  15. zerschlagen, gebrochen.
  16. Terrasse.
  17. Daumen.
  18. Dann kann man ihn erst mähen.