Ein „Paulus“ und ein „Johannes“

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Autor: Wilhelm Künstler
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Titel: Ein „Paulus“ und ein „Johannes“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 483–484
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[483] Ein „Paulus“ und ein „Johannes“. (Erinnerung an zwei Verstorbene.) Es mochte zur Sommerzeit des Jahres 1805 sein, als eines schönen Nachmittags zwei Männer Arm in Arm die Parkanlagen von Sans-souci langsam durchschritten. Ihr ganzer Habitus zeigte, daß sie dem Fürstenstande nicht angehörten. Für Diplomaten oder dergleichen wird sie wohl auch Niemand gehalten haben; denn dazu gebrach es ihnen an jener elastischen Geschliffenheit, die Excellenzen der Art mehr oder minder eigen zu sein pflegt. Auch sprachen sie zu laut, zu viel – und was die Hauptsache – sie sprachen Alles zu warm und zu innig, als daß ein Beobachter in ihnen einen Talleyrand oder Metternich en miniature hätte ahnen sollen. Militairs konnten sie aber vollends nicht sein: das sah jedes Kind, namentlich ein preußisches, auf den ersten Blick.

Wer aber waren sie denn?

Ihr schlichter schwarzer Anzug ließ in ihnen zwei Candidaten der Gottesgelahrtheit vermuthen, zu welcher Annahme überdies ihr ganzer Ductus berechtigte. Demungeachtet und trotz ihrer Jugend – denn Beide waren erst angehende Dreißiger – empfingen sie doch von jedem der ihnen begegnenden Gardisten einen äußerst respectvollen Gruß. Während der eine Lustwandler diese Honneurs bisweilen übersah, aber mit einem Air, als wollte er sagen: „ich weiß, sie gelten allein meinem Freunde,“ erwiederte [484] der Andere sie alle mit herzgewinnender Freundlichkeit, wie denn überhaupt über das Wesen des Letzteren eine warme Milde ausgegossen war. Hatte Jener vermöge der Energie seiner Züge etwas von einem Paulus, so erinnerte dieser in seiner ganzen Erscheinung an den Jünger, der an der Brust des Herrn gelegen. Namentlich war es das Auge, was ihm diese Aehnlichkeit verlieh. Ja: dieses große Auge mit dem keuschen, sanften Blicke verbreitete über sein etwas bleiches Antlitz einen Schimmer, der der Verklärung nahe kam, mit welcher die genialsten Meister der italienischen Schule ihre Johannes-Gemälde auszustatten gewußt.

Wie interessant das Gespräch auch sein mochte, welches zwischen den beiden Freunden während des Promenirens gepflogen wurde, so konnte es einem aufmerksamen Beobachter doch nicht entgehen, daß unser Johannes seine Aufmerksamkeit dabei auch noch einem anderen Gegenstande zuwandte. Es war dies ein blühendes Kind von ungefähr neun Jahren, ein Knabe mit langen blonden Locken und großen seelenvollen Augen. Dieser Kleine blieb nur selten auf den breiten, frisch geharkten Wegen; denn lebhaft, ja fast wild, wie alle an Leib und Seele wahrhaft gesunden Jungen, sprang er bald rechts, bald links ins Gebüsch, entweder einem Schmetterlinge nachjagend oder nach einem Vogelneste spürend. Doch wurde er hierbei von Johannes immer im Auge behalten und ein einziger sanfter Ruf von diesem genügte, daß er wieder in die Nähe der beiden Männer zurückkehrte.

Ein Mal aber schien er gänzlich verschwunden zu sein. Johannes rief, aber – er erhielt keine Antwort; er und Paulus suchten, suchten immer von Neuem, aber – sie fanden ihn nicht, bis er denn endlich aus einem ziemlich entfernten Bosquet heraussprang und – eine Libelle triumphirend emporhaltend – mit Gejauchz auf sie zueilte.

„Aber,“ sagte Johannes mit sanftem Ernst und mit einer gewissen Betrübniß, „mich so in Angst zu versetzen!“

Und der Kleine antwortete:

„Angst?! Wer braucht da Angst zu haben, wenn ich jage! Dieses Thier hier mußte ich heute haben und hätte ich es sollen bis auf den späten Abend verfolgen! Denken Sie sich: ich habe es schon gestern und vorgestern verfolgt und immer, wenn ich es eben greifen wollte, entwischte es mir! Aber nun soll es mir nun und nimmermehr entschlüpfen!“

Johannes, nachdem er zärtlich besorgt dem erhitzten Kinde die Schweißtropfen von der Stirn gewischt, betrachtete aufmerksam das schmucke schlanke Insect mit den feinen netzförmigen Flügeln, dabei äußernd, daß dasselbe seine Eier in’s Wasser lege und ein Jahr lang in diesem Elemente als Larve zubringe. Dann sagte er, der Knabe möge dem Thierchen nun seine Freiheit wiedergeben.

„Ich?! Diese Libelle freigeben, diese Wasserjungfer, die mich zwei Tage lang genarrt hat?! – Nun und nimmermehr!“

Johannes wiederholte seine Anweisung.

Keine Antwort.

Der dritten Mahnung kam der Knabe endlich nach; aber man merkte es ihm an, wie ungern er dies that. Hierauf nahmen die beiden Männer das Kind in ihre Mitte und gingen mit ihm nach einer Baumgruppe, in deren Schatten sie von den Erfrischungen genossen, die so eben von einem Lakai in königlicher Livree dort aufgetischt worden waren.

Kaum hatte der Knabe angefangen etwas von den Delicatessen zu sich zu nehmen, als er, unverrückt nach dem Wipfel eines der Bäume schauend, erst auf den Stuhl und dann sogar auf den Tisch stieg. Als Johannes ihm dies verwies, sprang er zwar sogleich herab; aber schon nach wenigen Minuten war er wieder auf dem Tische. Johannes gebot ihm jetzt, herabzusteigen. Aber der Knabe, noch immer den Baumwipfel fixirend, hörte nicht und hörte auch dann noch nicht, als dieser Befehl noch zwei Mal wiederholt worden.

Da erhob sich endlich Paulus, indem seine Stirnader mächtig anschwoll, und die Hand des kleinen ergreifend, rief er diesem mit seiner energischen Stimme zu:

„Haben Sie nicht gehört, daß Sie heruntersteigen sollen? Den Augenblick verlassen Sie den Tisch!“

Da schwoll aber auch die Stirnader des Knaben mächtig an und obgleich er keinen Laut von sich gab, so zeigte doch sein ganzes Wesen, was in ihm vorging. Seine Augen schossen feurige Blitze, seine Lippen zuckten, seine Hand ballte sich zur Faust. So blieb er auf dem Tische stehen, ein junger, gereizter Löwe, und sein Aussehen war dabei so imponirend, daß Paulus wie erschrocken seine Hand schnell wieder zurückzog. Jedoch schon nach ein paar Secunden hob derselbe wieder an: „Prinz! Ich und Millionen danken dem lieben Gott, daß er Sie mit Gaben ausgestattet, vermöge deren Sie – das hoffen wir zu ihm, dem Gnadenreichen und Allwaltenden – ein biederes und treues Volk einst glücklich machen werden. Ein künftiger Herrscher aber muß vor Allem erst selbst gehorchen lernen! Und wie sehr muß Sie Ihr eigenes Herz treiben, den Anordnungen des Mannes nachzukommen, der Sie so unendlich liebt? Werden Sie jetzt dem Gebote meines Freundes Folge leisten?!“

Und der Knabe – noch vor wenigen Augenblicken ein kleiner zürnender Mars - stieg, demüthig sein Haupt senkend, vom Tische herab, und eilte dann in die Arme unseres Johannes, indem er – feuchten Blicks und im Tone eines reuigen Sünders stammelte:

„O, verzeihen Sie mir gütigst nur dieses Mal noch!“

Der Knabe aber war der jetzige Preußen-König Friedrich Wilhelm IV., und Johannes war dessen und des jetzigen Prinzen damaliger Erzieher Delbrück.[1]

Und Paulus?

Nun, Paulus war der Garnisonschullehrer Hahn von Berlin, der eben wieder einmal seinen alten Freund Delbrück aufgesucht hatte. –

Durch den verewigten König, dem das eben erzählte Benehmen des jungen Pädagogen gegen seinen Kronprinzen „sehr zugesagt,“ erhielt Hahn darauf das Amt eines Erziehers des Prinzen Wilhelm zu Solms-Braunfels (Stiefsohn des vorigen Königs von Hannover). Im Jahre 1810 wurde er Mecklenburg-Strelitz’scher Hofrath. Von Frietrich Wilhelm III. 1817 in preußische Dienste zurückberufen, wirkte er als Schul- und Regierungsrath in Erfurt, bis er 1826 in gleicher Eigenschaft nach Magdeburg versetzt ward.

Auch König Friedrich Wilhelm IV. erinnerte sich noch nach langer Zeit des ehemaligen Garnisonschullehrers. Als er nach seiner Thronbesteigung Magdeburg das erste Mal besuchte und er unter den zu seiner Begrüßung aufgestellten Beamten auch Hahn bemerkte, reichte er ihm sogleich freundlich die Hand und unterhielt sich längere Zeit mit ihm auf das Huldreichste. Dann äußerte er zu einem seiner Adjutanten:

„Dieser Herr hat sich frühzeitig um mich verdient gemacht, indem er mir einmal während meiner Knabenzeit eine Lection gegeben, und zwar darüber, wie man Ordre pariren muß.“

Auch ernannte er ihn bald zum Oberregierungsrath und verlieh ihm den rothen Adlerorden zweiter Classe. –

Hahn war in seinen jüngern Jahren ein eben so fruchtbarer als geachteter Schriftsteller, namentlich auf dem Gebiet der Pädagogik. Die meiste Anerkennung unter seinen Werken hat die „Familie Bendheim“ gefunden. Als er in spätern Jahren gefragt wurde, weshalb er die Schriftstellerei so bald aufgegeben, antwortete er:

„Ein gewissenhafter Schulrath hat keine Zeit, die Werke alle zu lesen, mit denen er vermöge seiner Stellung doch nothwendig bekannt sein muß. Ja, es gibt eine ungeheure Menge pädagogischer Bücher und leider nicht lauter gute. Ueberdies habe ich den Vorzug kennen gelernt, den eine mündliche Unterhaltung zwischen meinen Lehrern und mir darbietet. Da lerne ich jedes Mal etwas und auch die Lehrer – wie ich glaube – profitiren wenigstens mehr, als wenn ich nur durch dickleibige Bücher zu ihnen spräche. Das ist der Segen des geistigen Widerschlags. In Betreff der Methoden endlich ist alle Theorie grau. Hier verlangt die Anschauung ihr ganzes Recht.“

Es ist nicht Aufgabe dieser Zeilen, Hahn in seiner ganzen Wirksamkeit als Schulrath zu schildern; aber gesagt soll noch von ihm werden, daß die Lehrer seines Departements mit inniger Liebe an ihm hingen. Sie sahen in ihm nicht sowohl den „viel vermögenden Revisor“ (wie sich einer seiner Collegen selbst zu nennen pflegte), sondern vielmehr den väterlichen Freund und Rathgeber, und wußten, daß er es als eine der wichtigsten Aufgaben seines Amtes ansah, sie auch zu vertreten. Nur gegen die „Liebediener“ zeigte er eine gewisse Barschheit. Ich selbst habe vor mehreren Jahren, als ich als Gast eines seiner Söhne, des nun bereits auch heimgegangenen Obergerichts-Assessors Wilhelm Hahn, einige Tage bei ihm in Magdeburg wohnte, zufällig einmal einer Scene beigewohnt, wo er einen jungen Landschullehrer aus der „Kategorie der gleißnerischen, de- und wehmüthigen Ohrenbläser“ in einer Art und Weise anließ, die an Härte streifte. –

Karl Heinrich August Hahn war geboren den 17. Januar 1778 zu Zeitz und starb den 10. April 1854 zu Wanzleben. Seit dem Jahre 1850 war er nach funfzigjähriger segensreicher Dienstzeit in den Ruhestand zurückgetreten.

Friede seiner Asche!
Wilhelm Künstler.
  1. Starb als Geheimer Rath und Stifts-Superintendent zu Zeitz, woselbst ihm auf dem Gottesacker seine hohen Zöglinge ein würdiges Denkmal haben setzen lassen. –
    Anmerk. des Verfassers.