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Ein Autograph

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Textdaten
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Autor: Marie Knauff
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Titel: Ein Autograph
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 398–399
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Autograph.
Bühnenerinnerung von Marie Knauff.


Der tarpejische Felsen war in Rom dicht beim Kapitole, und so liegen auch im schauspielerischen Leben die Extreme, Erfolg und Mißerfolg, nahe beisammen. Der allen Schicksalsmächten preisgegebene Darsteller glaubt sich oft berufen, einen entscheidenden künstlerischen Trumpf auszuspielen. Die Aussichteu sind glückverheißend, die Hände greifen schon nach dem sicheren Lorbeer … aber sieh da, sämmtliche Berechnungen täuschten, das Facit bleibt ein Manko, denn (so schließt Laube seine Karlsschüler) der Erfolg ist Gottes Gericht!

Als zur Zeit der Intendantenwirksamkeit Dingelstedt’s in Weimar die ersten Aufführungen der sieben großen historischen Dramen Shakespeare’s, welche den Kampf der weißen und rothen Rose darstellen, geplant waren, und, um der geistvollen dramaturgischen Bearbeitung mit ihren gewaltigen Wirkungen auf das Publikum den größten Zuschauerkreis zu sichern, an Künstler und Kunstfreunde aller Orten feierliche Einladungen ergingen, wurde mir von Seiten des Intendanten der die Feierlichkeit einleitende Prolog anvertraut. Jedenfalls hätte ich mich dieser Ehre nicht zu erfreuen gehabt – da ich damals noch zur Kategorie der „talentvollen, jungen Anfängerinnen“ zählte und viel Würdigere und Gereiftere sich unter dem Schauspielpersonale Weimars befanden – wäre ich nicht das einzige Mitglied gewesen, welches in der Vorstellung des ersten Festtages, „Richard der Zweite“, unbeschäftigt blieb. „Nehmen Sie den Prolog mit Jemand durch!“ befahl Dingelstedt, „mir gebricht’s an Zeit; ich stecke bis über den Kopf in Arbeit; auf der Generalprobe höre ich Sie dann; studiren Sie mit einem Kollegen!“

Gut gesagt – aber welcher Kollege hatte jetzt Zeit, sich dieser Mühe zu unterziehen? Die ersten, wohlrenommirten Künstler Grans und Lehfeldt widmeten jede freie Stunde den Rollen, welche sie in den Historien übernommen hatten.

Ich erinnerte mich Gutzkow’s, der meinen künstlerischen Interessen immer freundlich gesonnen war, zuweilen ein Gläschen Chartreuse in meiner Wohnung annahm und mir erst unlängst ein dickes, ihm zur Beurtheilung übermitteltes Manuskript zurückgeschickt hatte, mit den allerdings etwas zweifelhaften Zeilen: „Der Sendung allerbesten Dank! Ich war seit letzter Zeit wieder recht melancholischer Laune, aber ihrer fünfaktigen Tragödie gelang es, mich in die heiterste Stimmung zu versetzen!“ Schadet nichts! sagte ich zu mir in jugendlichem Optimismus; man erobert sich die Kritik nur schrittweise; es ist immerhin ein kleiner Anfang gemacht! Als ich Gutzkow aber von dem Dingelstedt’schen Shakespeare-Prologe sprach, wies er mich mit einer Entschiedenheit ab, die bereits auf eine Animosität der beiden zeitgenössischen schriftstellerischen Größen Weimars deutete, indem er sagte: „Wenden Sie sich lieber an einen Andern; ich würde Ihnen wenig nützen; die Dingelstedt’schen Prologe haben nicht meinen Beifall, sie sind gar zu pomphaft! Reden Sie mit Herrn Genast!“

Ich ging nun zum alten Genast. Aber o weh! Dieser lag wieder mit geschwollenen Händen und Füßen an der langweiligen Gicht danieder. „Was?“ rief er aus, nachdem ich meine Bitte, den Prolog mit mir durchzugehen, bescheidentlichst vorgetragen, „ein sechs Seiten langes Dingelstedt’sches Gedicht und dabei – Reißen in allen Gliedern? Das ist zu viel! Doch beginnen Sie nur!“

Kaum aber hatte ich die ersten Verse gesprochen:

„O eine Feuermuse, die hinan
Zum höchsten Himmel aller Dichtkunst stiege!“

als mich der alte Herr auch schon kläglich mit dem Schmerzensrufe unterbrach: „Au, au! das verwünschte Zipperlein! Es steigt auch wie eine Feuermuse! Ein anderes Mal! Heute geht’s nicht!“ und so mußte ich – da die feierliche Shakespeare-Woche immer näher rückte – mich ganz selbständig an das Studium des Prologes machen.

Weimar füllte sich allmählich mit dem geladenen Festpublikum. Man erblickte im Parke wie in den Straßen die charakteristischen Physiognomien bedeutender Menschen, renommirter Journalisten, geistreicher Kunstdilettanten, großer Künstler.

Die Sorge um den Prolog trat nun bei mir ganz in den Hintergrund. Eine gewaltige Leidenschaft bemächtigte sich jetzt nämlich des größten Theiles der Bühnenmitglieder und auch meiner: man sammelte, angeregt durch die Anwesenheit so vieler Berühmtheiten in Weimar, aufs Eifrigste – Autographen! Meine Kollegen ergriff die bekannte „Stammbuchmanie“, und welch’ reizende Verschen, Epigramme, witzige Einfälle – alle von bedeutenden Federn niedergeschrieben – hatten sich auch wirklich schon in einzelnen Goldschnittsbüchelchen angesammelt! Vorzüglich excellirte Charlotte von Hagen, die liebenswürdigste aller Schauspielerinnen, welche in bewährter Freundschaft und Verehrung für Dingelstedt auch zu den Festaufführungen herbeigeeilt war, in Impromptus; sie zeichnete sich in den schauspielerischen Stammbüchern durch kleine launige und schmeichelhafte Einfälle ganz besonders aus. Unserem Regisseur Heinrich Grans schrieb sie z. B. nach den Vorstellungen auf ein Gedenkblättchen: „Empfangen Sie den aufrichtigsten Dank für den prachvollen ‚Grans‘ Shakespeare’scher Könige, den Sie uns dargereicht haben, und verzeihen Sie einen orthographischen Fehler meiner warmen Verehrung für Ihr Künstlerthum!“ Gott! tönte es in mir, zehn Jahre meines Lebens gäb’ ich darum, ein solch schmeichelhaftes, schriftliches Wort von Charlotte von Hagen zu besitzen! So oft ich aber auch mit der Künstlerin zusammentraf, nie wagte ich mich mit einer Bitte heraus, dieses Autograph blieb die geheime Sehnsucht meines Herzens.

Endlich kam der Tag der ersten Vorstellung und des Prologs: offen gestanden, fühlte ich mich recht unsicher; auf der Vormittagsprobe arbeitete der Souffleur meinetwegen noch mit vollen Lungen, und Dingelstedt ermahnte in seiner kurzen, herrischen Weise: „Prolog muß fester lernen! Noch durchlesen! Nicht immer Hilfe im Kasten suchen!“

Ich hatte als Muse, im weißwollenen Gewande, geschmückt mit einem grünen Lorbeerkranze zu erscheinen; der Letztere sollte durch die herzogliche Hofgärtnerei geliefert werden, aber – o Himmel! als mir am Abende, eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung mein Kopfschmuck in der Theatergarderobe überbracht wurde, erblickte ich das grauenhafteste Ungethüm von Formlosigkeit! Es war ein thurmhoher, grüner, undefinirbarer Wulst, welcher etliche Dutzend Kaninchen gesättigt hätte, wären seine Blätter nur der edlen Kohlart entstammt! Kein Orpheus der bekannten Operette würde jemals mit einer solchen Lorbeerkarikatur nach der Unterwelt gestiegen sein!

Ich brach in Thränen aus; aber was half’s? Das letzte Klingelzeichen hatte man bereits gegeben; ein anderer Kranz war nicht zur Stelle; ich mußte hinaus, und in dem ärgerlichen Bewußtsein, ein förmliches Ungeheuer von Gewinde auf dem Kopfe zu tragen, ohne jegliche Sammlung, mit dem beängstigenden Gefühle, vor einer ganz auserlesenen kritischen Versammlung zu sprechen … schritt ich todesmuthig – nach des Verfassers Vorschrift – mit zum Himmel erhobenen Armen, in heftiger Erregung, schnell aus der ersten Koulisse rechts, vor bis an die das Podium säumenden Lampen … und begann mit folgenden begeisterungsvollen Worten meinen Prolog:

O, eine Feuermuse, die hinan
Zum höchsten Himmel aller Dichtkunst stiege!
Ein Reich zur Bühne – Kön’ge drauf zu spielen!
Dann –0 – dann –0 – dann –0

Weiter kam ich nicht! Nach diesen drei vergeblichen Ansätzen blieb ich, unter beginnender Todesangst und perlenden Schweißtropfen, stecken, vollkommen stecken; mir fiel buchstäblich keine Silbe mehr ein!

[399]000 Lieber Leser, kannst du dir vorstellen, was bei Schauspielern „Steckenbleiben“ bedeutet?

Steckenbleiben entwickelt sich stufenweise! Es ist zuerst nur das plötzliche Vergessen eines Wortes; dann wird es durch Schreck verursachte Lähmung des Erinnerungsvermögens, ferner Aufhebung aller Verstandeskräfte … schließlich, im letzten Stadium, Hilflosigkeit neugeborener Kinder. Ein unsichtbarer Dämon ist schnell in die feinen Triebräderchen unserer Gehirnthätigkeit mit einem Halt! eingesprungen; das Gedächtniß ist geschwunden! Ganz geschwunden! Jede Erinnerung!

Ich hörte nichts mehr! Nicht die Stimme des Souffleurs im Kasten nicht die Stimme Dingelstedt’s in der Loge, nicht die Stimme des Regisseurs in der ersten Koulisse; Alle bemühten sich vergeblich, mir die fehlenden Worte laut und vernehmlich, vernehmlich für das ganze Publikum, zuzurufen!

Ich blieb momentan taub! Es war ein so ausgesprochenes, so vollkommenes Steckenbleiben, wie nur eines in den Annalen der schauspielerischen Unglücksfälle verzeichnet sein kann! –

Wie lange die Pause währte, bis ich wieder zum Bewußtsein kam und in der Recitation des Prologs fortfuhr:

„Dann stiege wohl der Geist des großen Todten
Zu uns hernieder“ u. s. w. u. s. w.

wußte ich selbst nicht zu beurtheilen; ich glaube – sie war so lang wie der Tag vor Johanni; denn Dingelstedt versicherte mir später: die Birch-Pfeiffer wäre im Stande gewesen, während meiner Pause einen Roman zu dramatisiren, und Eugen Sue, die „Geheimnisse von Paris“ zu schreiben!

Wer war unglücklicher als ich! Eine große schauspielerische Auszeichnung war mir durch Anvertrauung des Prologes zugedacht; ich trug eine Fülle von Lorbeern auf dem Haupte, die schon allein ruhmverheißend sein mußte; Keiner im Publikum zweifelte, daß ich mich mit meinen auch in Weimar geschätzten, vielversprechenden Qualitäten eines jungen Talentes überaus günstig der gewordenen Aufgabe entledigen würde – und doch, so nahe beim Kapitole ward mir der tarpejische Felsen! Eine moralische Zerschmetterung!

Nach Schluß des Prologes und nach dem Fallen des Vorhanges applaudirte man stürmisch. Dingelstedt stand bereits in der ersten Koulisse und rief mir zu: „Wenn aufgezogen wird, verbeugen Sie sich mit einer sehr deutlichen Handbewegung nach meiner Loge hin!“

Ich verstand ihn wohl; das sollte heißen: der Hervorruf gilt nicht Dir! Der Dank des Publikums richtet sich selbstverständlich heute nur an die Adresse des Autors. O weh!

Am andern Tage sprach Alles von dem fürchterlich dicken Lorbeerkranze und dem fürchterlichen Steckenbleiben. Mein Gott! Für den ersteren war der Hofgärtner verantwortlich, und was das Steckenbleiben anbelangt – je nun! ich will den erdgebornen Schauspieler sehen, der sich so frei fühlt, den ersten Stein auf mich zu werfen. Ich ging allerdings eine Zeit lang allen Bekannten wiederum aus dem Wege.

Aber Charlotte von Hagen, die liebenswürdige, theilnehmende Künstlerin, sandte mir nach der Prologaffaire eine kleine Visitenkarte mit folgenden Worten:

„Verzweifeln Sie nicht! Es kann Einem ja nichts Besseres passiren – als in so viel Lorbeeren stecken zu bleiben!“

Ich hatte nun plötzlich mein Autograph! Ob es mich aber so ganz mit Genugthuung erfüllte? Diese Frage habe ich immer – auch für mich – offen gehalten!