Ein Königshof vor hundert Jahren

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Autor: A. R.
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Titel: Ein Königshof vor hundert Jahren
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 460,462–464
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein Königshof vor hundert Jahren.
Zur Beherzigung für heute.

Jeder unbefangene Beurtheiler wird den Kopf schütteln, wenn er die socialistischen Umstürzler unserer Tage mit dem Wirthshauspathos der Phrase über Elend, über unerträglichen Druck, über Aussaugung durch die höheren Classen, „welche sich vom Schweiße des Arbeiters nähren“, declamiren hört. Daß der arbeitende Mann nichts zu wünschen übrig hätte, wird Niemand behaupten; daß er seine Lage zu bessern trachtet, wird ihm Niemand verdenken. Aber daß jene aufgebauschten Phrasen nichts als ein künstliches Aufwiegelungsmittel sind, um Kraftanstrengungen hervorzubringen, welche die wirkliche Lage der Dinge natürlich und von selbst nimmer erzeugen würde, das liegt doch für Jeden der sehen will, auf der Hand. Um indessen vollkommen zu begreifen, wie übertrieben jene Klage über Aussaugung durch die bevorzugten Gesellschaftsschichten über den Luxus und Prunk oben und das Elend unten in Wahrheit sind, muß man sich in eine Zeit zurückversetzen, welche die Mutter jener Phrase gewesen ist, in eine Zeit, in der dieselben noch keine Phrasen waren, sondern einer traurigen Wirklichkeit entsprachen. Wir meinen die Zeit Voltaire’s und Rousseau’s, welche die französische Revolution gebar und deren allgemeines Bild in unserem Artikel über Voltaire („Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte“ Nr. 1.) in großen Zügen dargestellt ist. In wie ganz unglaublichem Grade der damals bestehende Contrast von Oben und Unten von der Lage der Verhältnisse in unserer Zeit absticht, wie sehr unsere Socialdemokraten der geschichtlichen Vergangenheit gegenüber im Ganzen Ursache haben, ihr Dasein erträglich zu finden, das mag die folgende Schilderung der französischen Hofhaltung vor hundert Jahren bezeugen, zu welcher des Franzosen Taine Buch „Les Origines de la France contemporaine“ das Material geliefert hat.

Wahrlich, ein buntes Leben war es, das Leben am Hofe zu Versailles! Nicht der König allein hielt Hof; jeder Prinz, jede Prinzessin, die hohen Adelspersonen, die geistlichen Würdenträger, jede reiche oder bedeutende Persönlichkeit sammelte ihren eigenen Hof um sich. Sobald ein Prinz oder eine Prinzessin fünf oder sechs Jahre alt war, wurde ein eigener Hofstaat gebildet. Wenn ein Prinz sich verheirathete, erhielt die Prinzessin ihren eigenen Hofstaat. Und unter dem Worte „Hofstaat“ muß man sich eine Bedienung vorstellen, die aus fünfzehn oder zwanzig verschiedenen Abtheilungen bestand: Marstall, Jägerei, Officianten der Hauscapelle, Hausärzte, Hausapotheker, Kammer- und Garderobediener, Tafeldienst, Bäckerei, Küche, Kellerei, Obstamt, Pelzbewahrer, Rechnungskammer etc. Ohne diese Umgebung fühlte man sich nicht als Prinzessin.

Bei der Schwester des Königs gab es zweihundertzehn verschiedene Aemter; bei der Gräfin von Provence zweihundertsechsundfünfzig; bei dem Herzoge von Orleans zweihundertvierundsiebenzig; bei der Königin vierhundertsechsundneunzig. – Monsieur, der älteste Bruder des Königs, hatte einen Civilhofstaat von vierhundertzwanzig Personen und hundertneunundsiebenzig Mann Haustruppe. Der Hofstaat des Grafen von Artois, bekanntlich eines jüngeren Bruders des Königs, bestand aus sechshundertdreiundneunzig Personen. Der größte Theil dieser Angestellten war nur des Gepränges wegen vorhanden.

Wenden wir aber unsere Blicke ab von den Gestirnen zweiten Ranges und richten wir sie auf die königliche Sonne! Der König brauchte eine Wache, Fußvolk und Reiterei. Und jeder Theil des Palastes, jeder Theil des Zuges, wenn der König ausfuhr oder ausritt, oder wenn er sich aus einem Gemache in ein anderes begab, hatte eine besondere Garde: Leibgarde, französische Garde, Schweizer-Garde, Hundertschweizer, Gensd’armen-Compagnie, Thürwächter, im Ganzen, nachdem im Jahre 1775 eine Verminderung stattgefunden, neuntausendundfünfzig Mann, die jährlich sieben Millionen sechshunderteinundachtzigtausend Franken kosteten.

Als Edelmann war der König natürlich auch Reiter, und ein verhältnißmäßiger Marstall war unentbehrlich. Er hatte tausendachthundertsiebenundfünfzig Pferde und zweihundertsiebenzehn Wagen zu seiner Verfügung. Die Angestellten jeder Art, mehr als tausendfünfhundert, die der König kleidete, kosteten ihm jährlich an Livréen fünfhundertvierzigtausend Franken. Unter diesen Angestellten waren zwanzig Professoren und Hofmeister für die Pagen und etwa dreißig Aerzte und Apotheker. Vor der Reform befanden sich dreitausend Pferde in des Königs Ställen. Im Ganzen beliefen sich im Jahre 1775 die Ausgaben für diese Posten auf vier Millionen sechshunderttausend Franken und im Jahre 1787 waren sie auf sechs Millionen zweihunderttausend Franken gestiegen. Man vergesse dabei nicht, daß nach dem jetzigen Geldwerte diese Summe wenigstens das Doppelte oder das Dreifache betragen würde.

Um in damaliger Zeit als ein vollkommener „Cavalier“ angesehen zu werden, mußte man auch ein tüchtiger Jäger sein. Die Jagd nahm jährlich ungefähr eine Million zweihunderttausend Franken in Anspruch und beschäftigte außer den Pferden des Marstalls noch zweihundertachtzig andere Pferde. Natürlich war eine Meute für die Saujagd, eine andere für die Hirschjagd, eine andere für die Wolfsjagd vorhanden, und Beizvögel für die Elstern- oder die Hasenjagd durften auch nicht fehlen. Im Jahre 1783 wurden über zweiundfünfzigtausend Franken für die Nahrung der Hunde verausgabt.

Die ganze Umgebung von Paris, zehn Stunden in die [462] Runde, war dem Könige als Jagdrevier vorbehalten. Wehe Dem, der dort auf irgend ein Wildpret schoß! Die Rebhühner waren so zahm, daß sie bei der Annäherung des Menschen gar nicht flohen, sondern ruhig weiter fraßen. Bei Fontainebleau begegnete man nicht selten Rudeln von sechszig bis achtzig Hirschen. Von 1743 bis 1774 hetzte Ludwig der Fünfzehnte nicht weniger als sechstausendvierhundert Hirsche. Im Jahre 1780 soll Ludwig der Sechszehnte im Ganzen zwanzigtausendfünfhundertvierunddreißig Stück geschossen haben, eine Zahl, welche an das bekannte „Jägerlatein“ gemahnt, aber die einige Wahrscheinlichkeit erlangt, wenn es wahr ist, was dieser König am 31. August 1781 in sein Tagebuch schrieb: Heute vierhundertsechszig Stück geschossen.

Jeder Prinz, jede Prinzessin hatte eine Facultät, das heißt eine Anzahl Heilkünstler, sowie eine Hauscapelle mit Geistlichen, Musikern und Sängern. Die Hauscapelle des Grafen von Artois zählte zwanzig, die seiner Gemahlin neunzehn Angestellte, die Facultät des ersteren achtundzwanzig, die der letzteren siebzehn. Mit einer so kleinen Anzahl hätte sich der König natürlich nicht begnügen können. Seine Hofcapelle zählte fünfundsiebzig Capläne, Beichtväter, Sänger und Musiker; seine Facultät achtundvierzig Doctoren, Wundärzte, Augenärzte, Fußärzte, Apotheker, Destillirer und Scheidekünstler. Vergessen wir die profane Musik nicht: einhundertachtundzwanzig Sänger, Tänzer oder Sängerinnen und Tänzerinnen und Instrumentisten; dann auch die Bibliothek mit dreiundvierzig Custoden, Vorlesern, Uebersetzern; hierzu noch zweiundsechszig Herolde, Ceremonienmeister etc., ohne einer großen Anzahl anderer Bedienten zu gedenken.

Ein großes Haus erkennt man besonders an der Küche; werfen wir also einen Blick in jene Räume! Der ganze Küchendienst war in drei Abtheilungen getrennt: die erste für den König und seine jüngern Kinder; die zweite, die sogenannte Cavalierküche, für die Tafel des Oberhofmeisters, für die des Oberstkämmerers und für die Prinzen und Prinzessinnen, die bei dem König wohnten; die dritte, die Marschallsküche, für die zweite Tafel des Oberhofmeisters, für die der Haushofmeister, für die der Almoseniere, für die der dienstthuenden Edelleute, für die der Kammerdiener. Im Ganzen dreihundertdreiundachtzig Mund- und andere Köche, einhundertdrei Küchenjungen und über zwei Millionen Franken Ausgaben. Dazu kommen noch etwa vierhunderttausend Franken für die Tafel der Madame Elisabeth und über eine Million für die Schwestern des Königs. Der Weinhändler liefert jährlich für dreihunderttausend Franken Wein, und der Hoflieferant für eine Million Wildpret, Fleisch und Fische. Nur um in Ville d’Avray frisches Wasser zu holen, wurden fünfzig Pferde für siebzigtausend Franken jährlich gemiethet.

Noch einen Schritt weiter, und wir befinden uns im Heiligthume, in den Gemächern des Königs. Zwei Großwürdenträger walten dort, und jeder hat eine gewisse Anzahl von Untergebenen zu leiten und zu überwachen: einerseits der Oberstkämmerer mit seinen Kammerherren, Kammerjunkern und Kammerdienern, Barbieren etc., andererseits der Großmeister der Kleiderkammer mit einem Heere von Dienern, Schneidern, Waschmeistern, Wäschestärkern. Für jede Dienstleistung gab es besondere Angestellte: zum Herbeitragen des Mantels oder des Stockes, zum Kämmen, zum Abtrocknen, zum Umlegen der Halsbinde u. s. f.

Fügen wir hinzu, daß der König auch noch andere Residenzen hatte, Marly, Trianon, Meudon, St. Cloud, Rambouillet, ohne den Louvre und die Tuilerien zu zählen, daß dort auch Schloßhauptleute, Aufseher, Gärtner etc. erforderlich waren, und daß jährlich auf den Unterhalt dieser Residenzen zwei bis drei Millionen verwandt wurden! Im Ganzen nahmen die Ausgaben des Hofes vierzig bis fünfzig Millionen in Anspruch, den zehnten Theil der damaligen Einkünfte des Staates.

Welch einen Anblick mußten die Königssäle darbieten, wenn sie von der Menge angefüllt waren! Damals war der schwarze Frack noch unbekannt. Neben den Damen, die mit Gold, Silber, Perlen, Edelsteinen, künstlichen Blumen und Früchten bedeckt waren, bildeten die Herren keinen grellen Abstand. Mit ihren gepuderten Frisuren, ihren breiten Bandschlingen, ihren Handkrausen aus Spitzen, ihren gold- und silbergestickten Kleidern aus hellbrauner, rosenrother oder himmelblauer Seide waren die männlichen Trachten ebenso kostbar und buntglänzend als die weiblichen.

Unter all diesen Menschen war allerdings der König nicht der Beneidenswertheste. Wenn er sich auch nicht gar zu viel um die Regierungsgeschäfte bekümmerte, so mußte er doch zu jeder Stunde persönlich herhalten, sogar wenn er aufstand oder sich niederlegte.

Morgens zur bestimmten Stunde weckt der erste Kammerdiener den König; alsbald werden nach einander fünf verschiedene Rangclassen eingeführt, um dem König ihre Aufwartung zu machen. Zuerst erscheinen die Prinzen und Prinzessinnen der königlichen Familie und die beiden ersten Leibärzte. Hernach findet der Zutritt statt für die Kronbeamten, einige Personen des höchsten Adels und die besondern Günstlinge des Königs, wie auch die Barbiere, Schneider und Kammerdiener. Unterdessen wird dem König ein wenig Weingeist über die Hände gegossen; man reicht ihm das Weihwasser; er bekreuzigt sich und spricht ein Gebet. Vor den Blicken der Versammelten verläßt er hierauf sein Bett und schlüpft in seine Pantoffeln. Der Oberstkämmerer und der erste Kammerherr reichen ihm den Schlafrock dar; man zieht ihn an, und er setzt sich in den Lehnstuhl, auf welchem er angekleidet werden soll. In diesem Augenblicke wird die Thür zum dritten Mal geöffnet; die andern hohen Hofbeamten treten ein. Während die Kammerdiener sich dem König nähern, um ihn anzukleiden, nennt der erste Kammerherr die Namen der Großen, die vor der Thür warten. Der vierte Zutritt, den man den Zutritt der Dienstthuenden nennt, erfolgt; er ist viel zahlreicher als die früheren. Indessen wäscht sich der König die Hände, und die eigentliche Toilette beginnt. Zwei Pagen nehmen ihm die Pantoffeln ab; der Großmeister der Kleiderkammer ergreift den rechten Aermel der Nachtjacke, der erste Kammerdiener den linken, um sie abzuziehen. Während sie dieselbe einem andern Kammerdiener übergeben, wird das Hemd gebracht, das in einen Umschlag von weißem Taffet gehüllt ist. Jetzt nahet der feierlichste Augenblick, der Höhepunkt der Ceremonie. Die fünfte Rangclasse, eine wahre Fluth, drängt sich herein. Für das Hemdanziehen besteht eine höchst genaue Ordnung. Die Ehre, das Hemd darzureichen, ist den Brüdern oder Neffen des Königs vorbehalten oder, wenn keiner von diesen anwesend war, den anderen Prinzen von Geblüt oder, in Ermangelung dieser, dem Oberstkämmerer oder dem ersten Kammerherrn. Der letzte Fall ist jedoch selten; die Prinzen waren verbunden, dem Morgenempfang des Königs beizuwohnen, wie die Prinzessinnen dem der Königin. Während dem König das Hemd angezogen wird, halten zwei Kammerdiener den Schlafrock vor dem König ausgebreitet, anstatt eines Wandschirmes. Hierauf nimmt das Ankleiden seinen Fortgang. Jeder Gegenstand wird von einem besondern Diener herbeigebracht. Wenn der König endlich angekleidet ist, so kniet er neben seinem Bette nieder, um sein Gebet zu verrichten, während ein Hauscaplan mit leiser Stimme auch ein Gebet spricht. Nachdem der König sich wieder erhoben hat, schreibt er die Tagesordnung vor und begiebt sich mit den Höchsten seines Hofes in ein Cabinet, wo er manchmal Audienzen ertheilt, während die Menge in den Gallerien wartet, um später den König in die Messe zu begleiten.

Das ist le lever, der Morgenempfang des Königs, ein Schauspiel in fünf Aufzügen. Man hätte nichts Besseres erfinden können, um die Leere im Leben einer müßigen Aristokratie auszufüllen. Hunderte von den Gliedern des höchsten Adels haben mehrere Stunden damit zugebracht – sie sind gekommen, haben gewartet, haben sich in Ordnung gestellt, sind an dem König vorbeigegangen, und ihr immer unterthänigst lächelndes Gesicht hat in größter Glückseligkeit geleuchtet, wenn nur der geringste Strahl der königlichen Sonne auf sie fiel. Die Vornehmsten unter ihnen gehen hierauf in die Gemächer der Königin, um auch dort ihre Aufwartung zu machen.

Die Königin frühstückt im Bette, und nur zehn bis zwölf Personen erhalten Zutritt. Die Prinzen und Kronbeamten dürfen erst eintreten, wenn die Toilette beginnt. Für das Anziehen des Hundes herrscht dasselbe Ceremoniell, wie bei dem König.

Die beim Lever betheiligte Menge folgt dem Könige immer und überall, wenn er sein Reitkleid oder sein Abendgewand anzieht, und wenn er sich niederlegt. Wenn er speist, ist die Zahl der Zuschauer noch größer, weil dann auch der niedere Adel und selbst Bürgerliche Zutritt erhalten.

Zwei oder dreimal wöchentlich besuchte der König das Theater; einmal fand gewöhnlich ein Ball statt; jeden Abend wurde bei [463] dem König, bei der Königin, bei den Prinzessinnen gespielt; dazu kamen noch die Jagden. Man darf sich daher nicht wundern, wenn der österreichische Gesandte von Ludwig dem Fünfzehnten sagte, seine Art und Weise zu leben lasse ihm keine Zeit, sich mit etwas Ernsthaftem zu beschäftigen. Trotzdem wußte es Ludwig der Sechszehnte möglich zu machen, der Schlosserei einige Stunden zu widmen. Sein Hauptvergnügen war indessen die Jagd. Die Tage, an denen er nicht gejagt hatte, zählten nicht für ihn.

Er schrieb in sein Tagebuch:

11. Juli 1789. Nichts; Abreise des Herrn Necker.
12. Juli. Abendgottesdienst. Abreise der Herren von Montmorin, von St. Priest und von la Luzerne.
13. Juli. Nichts.
14. Juli. Nichts.
29. Juli. Nichts. Rückkehr des Herrn Necker.
4. August. Hirschjagd im Walde bei Marly; einen gehetzt; hin und her zu Pferd.

Und das war die Zeit, als die Nationalversammlung ihre stürmischen Sitzungen hielt! Anfangs Juli hatte der König dem Drängen der Höflinge nachgegeben, Truppen herbeigezogen, Necker verbannt. Da wurde am 14. Juli die Bastille, die Zwingburg der Stadt Paris, vom Volke erstürmt und damit das alte Regierungssystem gestürzt, und der König schreibt in sein Tagebuch: 14. Juli. Nichts! – Der Minister Necker mußte zurückgerufen werden; 29. Juli. Nichts! – Am 4. August erklärt die Nationalversammlung allgemeine Gleichheit, persönliche Freiheit und Volkssouverainetät als unentbehrliche Menschenrechte; 4. August. Hirschjagd!

Es war dem Könige gelungen, fast den ganzen Adel an den Hof zu ziehen, und die Vasallen, die ein Jahrhundert vorher es noch gewagt hatten, gegen die königliche Macht Krieg zu führen, waren die unterthänigsten Kammerdiener des Königs geworden. Um aber unter der Menge zu glänzen oder nur ordentlich Figur machen zu können, war großer Gehalt und großes Vermögen unentbehrlich. Die Besoldungen der hohen Würdenträger waren viel beträchtlicher, als heutzutage. Der Herzog von Duras bezog als Gesandter in Madrid zweihunderttausend Franken und fünfhunderttausend Franken geheime Fonds; dazu erhielt er einmal eine Vergütung von dreihunderttausend Franken, und es wurden ihm für vier- bis fünfhunderttausend Franken Möbel geliehen, von denen er später die Hälfte für sich behielt. Wenn sich ein Minister oder ein Kronbeamter zurückzog, erhielt er eine sehr bedeutende Pension; wenn sich die Tochter eines solchen verheirathete, gab ihr der König gewöhnlich ein Hochzeitsgeschenk von zweihunderttausend Franken. Aber ohne ein großes Privatvermögen wären die Großen des Hofes doch nicht im Stande gewesen, solche Ausgaben zu machen, wie man sie sich damals erlaubte. Als der berühmte Marschall von Sachsen in Chambord wohnte, wurde immer an zwei Tafeln gespeist, die eine zählte sechszig Gedecke, die andere achtzig. Er hatte vierhundert Pferde in seinen Ställen und unterhielt ein Ulanenregiment als Leibwache. Seine Theatertruppe kostete jährlich mehr als sechshunderttausend Franken. Frau von Matignon schloß einen Vertrag, nach welchem ihr für vierundzwanzigtausend Franken jährlich jeden Tag ein neuer Kopfputz geliefert wurde. Schneiderrechnungen von hundertachtzigtausend Franken waren nichts Seltenes. Die bedeutendsten Summen aber wurden im Spiele vergeudet. In einer einzigen Nacht verlor Herr von Chenonceaux siebenhunderttausend Franken. Er und sein Bruder brachten in kurzer Zeit an acht Millionen durch. Im Alter von sechsundzwanzig Jahren hatte der Herzog von Lauzun, nachdem er das Capital von dreihunderttausend Franken Rente verzehrt hatte, zwei Millionen Schulden.

Wie sah es aber mit dem Volke aus?

Schon im Jahre 1689 hatte La Bruyère geschrieben: „Man sieht auf den Feldern gewisse wilde Thiere, Männlein und Weiblein; sie sind schwarz oder fahl, von der Sonne verbrannt; sie durchwühlen die Erde mit unermüdlicher Beharrlichkeit. Sie haben auch eine gewisse Sprache, und wenn sie sich aufrichten, so erblickt man ein menschliches Gesicht, und in der That, es sind Menschen. Des Nachts ziehen sie sich in Höhlen oder Löcher zurück, wo sie von schwarzem Brod, von Wasser und Wurzeln leben. Sie ersparen den anderen Menschen die Mühe des Ackerns, des Säens und des Erntens und verdienen dadurch, daß es ihnen nicht an dem, was sie hervorbringen, an Brod fehlen sollte.“ Diese Schilderung wäre ein Jahrhundert später noch schlimmer ausgefallen.

Die Steuern hatten außerordentlich zugenommen, während anderntheils die Erträgnisse des Landes abnahmen. Im Jahre 1757 betrugen jene 283,156,000 Franken, im Jahre 1789 dagegen 476,296,000 Franken. In manchen Provinzen bezog der König mehr als fünfzig Procent von dem Ertrage der steuerpflichtigen Felder; die Geistlichkeit nahm einen weiteren Theil des Ertrages in Anspruch, und oft hatte der Adel auch noch alte Rechte auf das Grundstück. So kannte man Fälle, in welchen dem Eigenthümer von einem Ertrage von hundert Franken nur achtzehn Franken neunzehn Centimes übrig blieben. Die vom Volke bezahlten Steuern beliefen sich aber weit höher, als die in den königlichen Schatz fließenden Summen. Die Steuern waren verpachtet, und die Generalpächter und ihre Angestellten waren nur darauf bedacht, von den Steuerpflichtigen so viel Geld wie möglich zu erpressen. Es bestand eben keine Finanzverwaltung, sondern nur eine Ausbeutung. Die Pächter wollten natürlich nicht nur den Pachtzins wieder herausbringen, sondern auch einen mehr oder minder beträchtlichen Gewinn. Und wenn man weiß, welchen Aufwand diese Pächter machten, so muß der Gewinn bedeutend gewesen sein.

Ebenso lästig wie die Steuern selbst waren die unzähligen Plackereien, welche die Eintreibung der Steuern im Gefolge hatte. – Man denke einmal an die Salzsteuer! Nach dem Decret von 1680 muß jeder über sieben Jahre alte Einwohner jährlich sieben Pfund Salz kaufen, das Pfund zu dreizehn Sous, nach unserem Geldwerthe ungefähr ein und eine halbe Mark. Dabei bestand das strengste Verbot, den geringsten Theil der sieben Pfund zu etwas Anderem zu verwenden, als für den Kochtopf und für das Salzfaß. Wenn etwa ein Bauer etwas Salz erspart und es zum Einsalzen von Schweinefleisch verwenden will und die Steuerbeamten erfahren es, so wird das Fleisch weggenommen und eine Strafe von dreihundert Franken über den Schuldigen verhängt. – Wer ein Schwein einsalzen wollte, mußte sich auf’s Salzamt begeben, von seinem Vorhaben Anzeige machen und eine bestimmte Menge Salz kaufen. Er erhielt dann einen Schein, den er beim Nachfragen der Salzsteuerbeamten vorzuweisen hatte.

Leicht begreiflich ist, wie sehr die Schmuggelei im Schwange ging. Nur wegen Salzschmuggel wurden jedes Jahr durchschnittlich viertausend Beschlagnahmen vorgenommen, dreitausendvierhundert Personen zum Gefängniß und fünfhundert zum Staupbesen, zur Verbannung oder zur Galeerenstrafe verurtheilt.

Was aber die Steuern noch drückender machte, war, daß es den Reichsten gelungen war, sich denselben ganz zu entziehen.

Der Adel und die Geistlichkeit sind befreit nicht nur von der Kopfsteuer, sondern auch von den Abgaben für die Grundstücke, die sie selbst bebauen oder die sie verwalten lassen. Von der Einkommensteuer hat sich die Geistlichkeit durch die einmalige Bezahlung einer gewissen Summe losgekauft, und der Adel hat es auch verstanden, sich davon frei zu machen oder wenigstens diese Steuer für sich zu verringern. Manche Städte hatten auch ähnliche Freiheiten. Es gab Provinzen, in denen die Gruppe der armen Landbewohner zehnmal so viel Steuern bezahlte, wie die Gruppe der Reichen. Die Zahl der Privilegirten betrug ungefähr zweihundertsiebenzigtausend, wovon hundertvierzigtausend dem Adel angehörten, die übrigen der Geistlichkeit. In Hochburgund, im Elsaß, im Roussillon war die Hälfte des Grundbesitzes in den Händen der Geistlichkeit, im französischen Hennegau und in der Grafschaft Artois drei Viertel desselben. Und alle diese Grundstücke waren steuerfrei. Auch der Adel besaß kolossale Reichthümer. Die Prinzen von Geblüt hatten zusammen bis fünfundzwanzig Millionen Einkünfte; der Herzog von Orleans hatte elfeinhalb Millionen.

Ob die Könige das Elend des Volkes kannten?

Wir besitzen einen Brief, den der berühmte Fenelon im Jahre 1693 an den König schrieb und in dem es heißt: „Sire, Ihr Volk stirbt vor Hunger. Der Anbau der Felder ist vernachlässigt oder fast ganz aufgegeben. Stadt und Land entvölkern sich. Handel und Gewerbe liegen darnieder. Ganz Frankreich ist nur noch ein großes trostloses Hospital.“ Man darf aber [464] nicht glauben, daß dieser Brief dem König vorgelegt wurde. Der freimüthige Prälat wäre für seine Kühnheit bestraft worden. Als später der Marschall Vauban, der große Festungsbauer, es wagte, auf gleiche Weise an den König zu schreiben, und es versuchte, eine Steuerreform hervorzurufen, fiel er völlig in Ungnade, was ihn so sehr betrübte, daß er sich darüber zu Tode grämte. Unter der Regierung Ludwig’s des Fünfzehnten geschah nichts, um den Uebelständen abzuhelfen. Noch wurde jeden Tag Te Deum gesungen und, wie Voltaire sagt, das Volk starb haufenweise dahin unter den Klängen der Lobgesänge.

Wenn man diese Zustände ein wenig genauer kennt, so begreift man leicht, daß eine Katastrophe durchaus unvermeidlich war; aber, wir wiederholen es, und angesichts des Vorstehenden ist vernünftiger Weise ein anderes Urtheil nicht gestattet: wer heute in den gesellschaftlichen Verhältnissen zureichende Gründe finden will, um den gewaltsamen socialen Umsturz zu predigen, der muß das Bild dieser gesellschaftlichen Verhältnisse fälschen. Vergleichen wir die oben geschilderten politischen und gesellschaftlichen Zustände der civilisirten Welt mit den heutigen, so finden wir, daß dazwischen eine Geschichte liegt, deren Ziel und eigentlichstes Wesen in einer versöhnenden Ausgleichung bürgerlicher Unterschiede, einer Ausfüllung von Klüften zwischen den Eigenthums- und Bildungszuständen der verschiedenen Gesellschaftsclassen besteht. Dieser Entwickelungsproceß ist noch nicht beendigt, aber er zeigt sein Wirken bereits in mächtigen Verbesserungen der menschlichen Lagen und in einem lebenskräftigen Werden. Weder ein revolutionärer Fanatismus, welcher dem Fortschritte gewaltsam seine Bahnen vorschreiben, noch eine reactionäre, eine feudale oder hierarchische Interessirtheit, die uns gern in jene alte Knechtschaft zurückschrauben möchte, werden den Gang des geschichtlichen Gesetzes, die allmähliche Wendung zum Besseren unterbrechen können, so lange der große Mittelstand unseres Volkes seines Rechtes und seiner Macht sich bewußt bleibt, jedem Plan eines verhängnißvollen Umsturzes von oben oder von unten her die Spitze abzubrechen.

A. R.