Ein Winter-Asyl für geistige Handwerker-Ausbildung

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Autor: Jul. O. Wesinger
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Titel: Ein Winter-Asyl für geistige Handwerker-Ausbildung
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 715–717
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Winter-Asyl für geistige Handwerker-Ausbildung.


Der Neuzeit war es vorbehalten, in Verfolg rationeller volkswirthschaftlicher Anschauungen die Gewerbe von den Zunft-, Innungs- und Gildegesetzen zu befreien, welche selbst im Schooße des Handwerks nur von den Schwachen als Stütze, von den Kräftigen aber als gleichgültige Schranke, in vielen Fällen als Fesseln angesehen wurden und welche aufzuheben das allgemeine Interesse sowohl, als die zeitgemäße Entwickelung der Gewerbthätigkeit, auf Grund des Bedürfnisses, längst verlangten. Eine große Anzahl deutscher Regierungen hat bereits das Gewerbe, freilich mehr oder weniger beschränkt, freigegeben. Fast alle aber haben, ähnlich wie bei der Ausübung einer auf strenges, wissenschaftliches Studium sich stützender Praxis, z. B. der der Aerzte und Juristen, den Betrieb des Bauhandwerks, unter welchem vornehmlich das der Maurer und Zimmerer zu verstehen ist, von einer zu bestehenden Prüfung abhängig gemacht.

Durch die Einführung dieser Prüfungen wurden die jungen Baugewerke genöthigt, insofern sie das Meisterrecht ausüben wollten, neben der Erlangung praktischer Fertigkeiten auch auf die wissenschaftliche und künstlerische Seite ihres Faches ihr Augenmerk zu lenken. Damit ihnen dies möglich werde, errichtete man, neben Industrie-, Gewerbe-, Handwerker-, Sonntags- und Feiertags- Schulen für das vorbereitende und allgemeine Bedürfnis; sogenannte Baugewerkenschulen.

Solcher Schulen giebt es in Deutschland viele und besonders in denjenigen Theilen unsers großen Vaterlandes, in welchen man vor der zunehmenden Volksbildung nicht erschrak, sondern sie als ausschließliche Bedingung des Volkswohlseins eifrig förderte. Diese Schulen sind größtentheils Regierungsanstalten und kosten dem Staate, da das Schulgeld gering gestellt werden muß, und Klostergüter etc. zur Dotirung dieser jungen Anstalten nicht mehr disponibel sind, nicht unbedeutendes Geld. Die Frequenz ist gewöhnlich nicht in die Augen fallend; sie erstreckt sich durchschnittlich auf 50 Schüler in den Wintermonaten.

Die Beschreibung einer solchen Schule würde kaum von allgemeinem Interesse sein. Wir wollen keine dieser gewöhnlichen Baugewerkschulen beschreiben, wie sie Baiern seit 30, Sachsen seit 20, die sächsischen Herzogthümer, Hannover etc. seit 15 und 10 Jahren aufzuweisen haben. Wir wollen auf eine außergewöhnliche derartige Anstalt aufmerksam machen, die jährlich von über fünfhundert Schülern besucht wird, die nicht durch die Absicht einer Regierung, sondern durch die Einsicht und Energie eines Mannes entstand und die, eine verhältnißmäßig geringe Staatsunterstützung abgerechnet, durch sich selbst besteht.

Es sind dies ziemlich viel Leute: fünfhundert junge rüstige Arbeiter, die den Sommer über, mitunter bei kargem Lohn und harter Arbeit, Hammer und Kelle, Axt, Säge und Hobel, Feile und Pinsel handhabten, die auf schwindelndem Gerüste, in Sonnenhitze und Regen Stein, Holz und Eisen zu Behausungen für Haus- und Landwirthschaft, für Industrie, Handel und Wissenschaft zusammenfügten und die Ende October jedes Jahres „nach Handwerks Gebrauch und Gewohnheit“ ihre Schritte nach der kleinen braunschweigischen Stadt Holzminden lenken, um da „des Zirkels Kunst und Gerechtigkeit“ kennen zu lernen.

Daß dieser Ort, den der freundliche Leser auf mancher Karte von Deutschland und in mancher Schulgeographie umsonst suchen dürfte, an einem Flusse und in einer holzreichen Gegend liegt, läßt sich aus dem Namen schließen. Dieser Schluß ist auch richtig. Holzminden, ein Städtchen von ungefähr 4000 Einwohnern, liegt an der Weser und zwar an der sogenannten Oberweser, deren Ufer mit ihren Bergen von Kalk und buntem Sandstein, den tief eingeschnittenen Thälern und dem entzückenden Laubschmucke mächtiger Buchen- und Eichenwaldungen dem Naturfreunde eine bisher viel zu wenig benutzte Fülle der lohnendsten Partien bietet.

Von der Stadt selbst läßt sich nicht viel sagen. Außer einigen Beamten und Kaufleuten, die im Gegensatze zum allgemeinen Plattdeutsch ein ziemlich schriftgemäßes Hochdeutsch sprechen und sich von der eigentlichen Masse der Bewohner in einer für den Süddeutschen auffälligen Weise fernhalten, giebt es einige Gewerbtreibende, die aber, wie der zahlreich vertretene Ackerbürger, in Feldbau und Viehzucht ihren Haupterwerbszweig erblicken. Das blaue Oberhemd und die Gamasche, der Schinken, die Schlackwurst und der „Schluck“, das kummtlose Geschirr der Pferde, die Einrichtung der Häuser mit ihrer „Dele“ – die Ein- und Durchfahrt, Hausflur, Dresch- und Futtertenne, Wagenschuppen, der Salon und Tummelplatz der Kinder und der kleineren Hausthiere zugleich ist – der fast stereotype Ausdruck in den Gesichtern, das starre Festhalten an dem Althergebrachten – Alles zeigt an, daß man bei Aufsuchung von Immermann’s westphälischem Dorfschulzen auf der rechten Spur ist.

Außer einem ziemlich lebhaften Betrieb von Sandsteinbrüchen besitzt Holzminden keine nennenswerthe Industrie. Dagegen hat es neben der „Baugewerkschule“ ein Gymnasium, dessen hohes Alter von einigem Interesse ist.

Nach diesem anspruchslosen Städtchen „walzen“ im Spätherbste Maurer-, Zimmer-, Tischler-, Schlosser-, Maschinen- und Mühlenbauer-, Dachdecker- und Stubenmaler-Gesellen vor Allem aus dem nördlichen Theile von Deutschland, als: Braunschweig, Preußen, Mecklenburg, Hannover, den Hansestädten, Schleswig und Holstein, dann aus Dänemark und Schweden, weiter aus den sächsischen Herzogthümern, Oesterreich, der Schweiz, ja selbst aus Amerika, Rußland und der Türkei.

Die Meisten verdienen sich mit ihrer Hände Arbeit erst das Geld, mit Hülfe dessen es ihnen möglich werden soll, sich geistig auszubilden. Ihre Hände tragen sehr oft beim Eintritte in die Schule noch die Schwielen, die Zeichen handkräftiger Thätigkeit, so daß ihnen das Halten und Regieren der Feder und des Stifts nicht eben leicht wird. Ungeachtet dessen und des ungewohnten Sitzens im engen Raume und bei Gaslicht während der langen Winterabende – ungewohnt für sie, die den Sommer über in der freien Luft und im Sonnenglanze sich bewegten – wird dann gearbeitet, nicht blos einige Stunden, sondern den ganzen Tag und die halbe, oft den größten Theil der Nacht. Der Unterricht beginnt früh 61/2 Uhr und dauert mit wenig Unterbrechung bis Abends 91/2 Uhr. Während dieser Zeit gilt es auch, fleißig zu sein, denn der mitgebrachten Kenntnisse sind oft wenige, die Zeit ist kurz und das zu bebauende Feld groß. Beispiele, daß dem übertriebenen Fleiße aus Gesundheitsrücksichten Einhalt gethan werden mußte, kommen oft vor.

Was bewegt aber diese große Anzahl Jünglinge, ihre Groschen, Grote und Schillinge im Sommer und den verführerischen Genüssen der Seestädte gegenüber zu sparen, im Herbste die Aussicht auf weiteren Verdienst, ihre Bekannten und alle gewohnten Verhältnisse zu verlassen, sich in Holzminden fünf Monate lang unter Zeichnungen und Büchern zu vergraben und sich dabei anzustrengen, mehr als bei Aufhebung eines mächtigen Steinblocks oder eines Stammes Holz? –

Sie wollen vorwärts auf der Bahn geistiger Ausbildung; sie haben mit richtigem Gefühle die Nothwendigkeit herausgefunden, daß man die Zeit nicht mehr befriedigen könne durch Wiederkäuung althergebrachter Formen, und daß es nicht mehr blos darauf ankomme, daß, sondern wie man arbeite, und daß endlich immer noch die Capitale, welche die Motten und der Rost nicht fressen, die am besten zinsentragenden sind. Mag auch bei Vielen die stricte Nothwendigkeit, die Berechtigung zu einer besseren Lebensstellung, zum Meisterwerden, auf diese Weise zu erwerben, dem Streben hauptsächlich zu Grunde liegen – immer erscheint die Baugewerkschule zu Holzminden in ihrer außerordentlichen Ausdehnung und in dem sich durchgehends äußernden Streben ihrer Schüler als ein interessantes Moment der Zeit, das den Zeitgenossen vorgeführt zu werden verdient.

Wie entstand diese Schule, die so, wie sie jetzt ist, einzig in Deutschland dasteht? –

Nach Einführung der Gilden-Ordnung vom 13. November 1821 im Herzogthume Braunschweig war die Ausübung des Meisterrechts bei den Bauhandwerkern von einer unter Zuziehung des Districts-Baumeisters zu bestehenden Prüfung abhängig gemacht. Um den Gesellen die Erlangung der hierbei beanspruchten Bildung zu ermöglichen, ertheilte der damalige Kammer-Bauconducteur, jetzige Kreisbaumeister Friedrich Ludwig Haarmann in Holzminden, einzelnen Gesellen unentgeltlichen Privatunterricht im Zeichnen und in den Anfangsgründen der Mathematik. Dieser Unterricht dehnte sich bald so aus, daß im Winter 1830 sieben Schüler [716] unter Zuziehung anderweiter Lehrkraft unterrichtet und im Winter 1831 ein besonderes Local für fünfzehn Schüler gemiethet, im nächsten Winter aber bereits Abtheilung der Schüler in Classen nothwendig wurde. Die braunschweigische Regierung gewährte der jungen Anstalt Schutz, Aufmunterung und einige Unterstützung, und „so“ – schreibt der verstorbene braunschweigische Oberbaurath Liebau – „entstand, durch offenkundiges Bedürfniß hervorgerufen und darum auf der festesten Grundlage beruhend, die Baugewerkschule zu Holzminden.“

Die Anstalt blühte rasch empor. Im Jahre 1840 zählte sie bereits 151, 1850 224, 1855 393, 1857, bei ihrem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum, 480, 1860 531 Schüler. Die Lehrkräfte stiegen von 5 auf 33 Personen. Bei der angegebenen Schülerzahl darf nicht unerwähnt bleiben, daß besondern in den letzten Jahren wegen mangelnder Localitäten Hunderte von Angemeldeten abgewiesen werden mußten.

Die Baugewerkschule zu Holzminden.

Die Anstalt zerfällt in drei Classen, denen seit einigen Jahren eine sogenannte Meister- (Repetenten-)Classe und eine Parallelabtheilung für Maschinen- und Mühlenbauer beigeordnet ist. Die Classen selbst sind bei der bedeutenden Schülerzahl ebenfalls in parallele Abtheilungen gesondert. Eine Prüfung in Betreff der Aufnahme findet nicht statt, und es läßt sich bei der sehr verschiedenen Kenntnißstufe der Eintretenden ein fruchtbarer Unterricht in vielen Zweigen nur dadurch erreichen, daß weniger durch allgemeine Vorträge, als auf jedes Individuum einzeln gewirkt wird. Dieses Princip ist bisher, freilich nur mit einer verhältnißmäßig großen Lehrerzahl, im Allgemeinen von erfreulichen Erfolgen begleitet gewesen.

Gelehrt werden neben den gewöhnlichen Elementarkenntnissen und Fertigkeiten niedere Mathematik, die Grundsätze der Mechanik und Physik, darstellende Geometrie, Bauconstructionen, Entwerfen und Veranschlagen von Gebäuden, freies Handzeichnen (dieses sehr und, wie wir glauben, mit Recht betont), die gewöhnlichen ästhetischen Formen der Baukunst, Modelliren von Constructionen in Holz und Gyps, sowie Bossiren von Ornamenten in Thon. Die Schule gewährt – und das ist das Eigenthümliche an ihr, was alle Beachtung des Pädagogen und Volkswirths gerade in Bezug auf derartige Hochschulen verdienen möchte – außer dem eigentlichen Unterrichte freie Wohnung, Heizung und Licht, Mittag- und Abendtisch, Wäsche, Schreib- und Zeichenmaterialien, ärztliche Pflege etc. Der Preis dafür belauft sich derzeit auf 60 Thaler für die fünf Wintermonate.

Im Sommer ist die Schule geschlossen. Mit den im Frühjahre aus Süden kommenden Zugvögeln wandert der Schüler in die Fremde, um bei lustigen Hammer- und Axtschlägen wieder zu erholen von dem langen angestrengten Sitzen, zugleich aber auch um den Seckel wieder zu füllen, der den Winter über trotz aller Sparsamkeit ziemlich leer geworden. Hierbei giebt es noch der Anklänge viele an die so vielfach und mit ebensoviel Unrecht als Recht verschrieenen Handwerks-Brüderschaften, die bei allem leeren Formenkrame und vielfachen Mißbräuchen immer noch den erwärmenden Geist erkennen lasten, der viele Jahrhunderte früher die Genossen der freien königlichen Kunst vereinte.

Der Gründer der Anstalt, Friedrich Ludwig Haarmann, steht derselben noch jetzt mit regem Eifer und in unermüdlicher Thätigkeit vor. Er wird sich diesem Berufe, nachdem er den Mittheilungen des letzten braunschweigischen Landtags zufolge ausschließlich mit der Direction der Anstalt betraut werden wird, ungetheilt hingeben können.

Dem erfreulichen Stande der Schule sieht man es nicht an, daß auch sie ihre Kämpfe nicht blos hatte, sondern noch hat, und daß es der Sorgfalt eines Vaters bedurfte, der das Leben seiner Kinder hütet, um die Stürme abzulenken, welche die Anstalt in ihrer Entwickelung bedrohten. Wir glauben hierbei beispielsweise erwähnen zu müssen, daß der Vorsteher die Ausgaben für eine so unbedingt nöthige Gasanstalt, die er nach wiederholt abgeschlagenen Bitten aus eigenen Mitteln bestritt, erst nach Jahren von der Regierung zurückerstattet bekam; ferner daß zu Anfang der vierziger Jahre die von Freunden der Anstalt beim Landtage gestellten Bitten um reichlichere Unterstützung aus Staatsmitteln, die durch das Blühen der Anstalt und durch die bedeutenden Unterstützungen andrer Schulen hinlänglich motivirt waren, an dem vorgeschützten Umstände scheiterten, daß weder der Director Theolog sei, noch die Anstalt unter Aufsicht des Consistoriums stehe.

Und doch ließe sich mit einigen Tausenden von Thalern zum noch größern Aufschwung der Anstalt unendlich viel thun. Wird aber die braunschweigische Regierung, bei einem Besuche der Schule von nur 30 Landeskindern, diese Summe auf dem Altare des größeren Vaterlandes niederlegen? Oder ist zu erwarten, daß die Staaten, denen nachweislich das größere [717] Contingent der Schüler angehört, sich mit der braunschweigischen Regierung zur Verbesserung der äußeren Einrichtungen der Schule einigen werden? Und wenn dieser gute Wille vorhanden, wann dürften die darüber zu pflegenden Verhandlungen zum Abschluss und wann endlich zur Ausführung kommen? –

Euch Allen aber im großen deutschen Vaterlande mag das Vorgeführte als Beleg dienen, daß Einigkeit und Einheit nicht blos den Franzosen, Russen und zur Abwechselung einmal den Japanesen gegenüber noth thut, sondern daß es auch im Lande der kleinen Angelegenheiten genug giebt, die der Abhülfe warten. Ist doch das Einschlagen eines Nagels im Hause mitunter nothwendiger, als das Abputzen der Außenwände und das Auflegen eines neuen Daches!

Jul. O. Wesinger.