Ein amerikanischer Wahltag

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Autor: Otto Ruppius
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Titel: Kleine amerikanische Sittenbilder. 2. Ein amerikanischer Wahltag
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 8–11
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Kleine amerikanische Sittenbilder
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Kleine amerikanische Sittenbilder.

2.0 Ein amerikanischer Wahltag.

Es war ein dunkeler, milder Abend, und im Herzen der Stadt M. wogte es durch die erleuchteten Straßen wie in einem Bienenstock, der schwärmen will. Vor dem Courthause (Gerichtshause) hat sich eine unruhige Menge gesammelt und horcht theilweise den Worten eines schon heiser geschrienen Redners auf den Stufen des Gebäudes, während ein anderer Theil sich mit Privat-Discussionen beschäftigt, bis deren anschwellende Laute des Redners Worte zu verschlingen drohen, ein hundertstimmiges brüllendes „Ruhe!“ eine nur noch stärkere Opposition schafft und die Versammlung in’s Chaos überzugehen droht.

Aus einer einmündenden Straße klingt Musik; heller, strahlender Lichtschein, die Gaslaternen verdunkelnd, bricht mit den Tönen um die Ecke; ein Fackelzug naht, Raketen steigen und das Hurrah der begleitenden Menge füllt die Luft; in der Versammlung am Courthause aber scheint plötzlich jeder Zwist erloschen, und wie auf Commando erklingt beim Sichtbarwerden der Nahenden ein ohrzerreißendes Gemisch von Grunzen, Bellen, Pfeifen und Zischen – nur noch stärker antwortet das Hurrah; aber der Weg scheint sich den Herankommenden zu versperren, die Fackeln gerathen aus ihrer Linie, werden hier auf Trupps zusammengedrängt und verlieren sich dort einzeln unter der Menge; die Musik schweigt, scharfe, böse Worte durchgingen den Tumult und finden eine noch schärfere Entgegnung, ein Kampf bereitet sich vor, und die friedlichen, parteilosen Spaziergänger brechen sich Bahn nach geschützten Orten. Da erhebt sich auf den Schultern der ihn Umstehenden eine schlanke, gelenkige Gestalt, schwingt seine Fackel über der erregten Menge, daß sie einen feurigen Kreis um ihn beschreibt, und ruft, die momentan eintretende Stille benutzend: „Frieden, Bürger! Meinungsfreiheit! und wer ein ehrenhafter Amerikaner ist, der schändet nicht als Raufbold die Rechte, die er für sich selbst beansprucht! Morgen am Wahlkasten ist es die Zeit sich zu messen!“

„Frieden, Frieden!“ klingt es unter der Menge, während der Sprecher verschwindet.

„Und Hurrah für einen freien Schluck Whiskey!“ ruft eine schnapsselige Stimme dazwischen; ein jolendes Gelächter bricht los und der Friede ist gesichert, die Fackeln ordnen sich, und unter der wiederbeginnenden Musik setzt sich der Zug von Neuem in Bewegung.

Es ist ein tiefeingreifendes Interesse, was heute, am Abend vor der Wahl, die Bürger in die Straßen treibt und zu gegenseitigen Demonstrationen veranlaßt. Die städtischen Abgaben sind hoch und doch die öffentlichen Zustände nichts weniger als befriedigend; die Gelder verschwinden, ohne daß ihr Verbleib sich recht begreifen, oder daß sich ein Blick in den städtischen Haushalt erlangen ließe. Jahr für Jahr schon hat eine Oppositionspartei gearbeitet, um die Männer der bisherigen Regierung bei einer Neuwahl zu stürzen, aber in genauer Kenntniß der Mittel, welche bei Abstimmungen die große Masse des Volks zu leiten im Stande ist, haben diese mit einer kleinen Zahl ergebener Anhänger Jahr für Jahr allen Angriffen siegreich Trotz geboten, und erst jetzt sind die Freunde der Reform, durch ihre Niederlagen klüger geworden, in einer Masse und Organisation zusammengetreten, die auf einen bessern Erfolg für morgen hoffen lassen. Auf der Seite der Reform steht die ganze junge intelligente Bürgerschaft; sie hat die gewöhnlichen politischen Parteiunterschiede bei Seite geworfen und auf ihre Fahne nur „Sturz der Corruptions-Verwaltung!“ geschrieben. Auf Seite der herrschenden Partei stehen alle die Männer, welche seit langen Jahren aus der Politik eine Profession gemacht und von den erlangten Aemtern gelebt haben, stehen die Lieferanten und Contractoren, die, mit der bisherigen Regierungspartei unter einer Decke, sich Reichthümer erworben, steht die irländische Bevölkerung, die blind nach dem Commando ihrer geistlichen und politischen Führer stimmt. Die Reform vertraut auf ihre gute Sache und eine ehrlich zu erringende Mehrheit am Stimmkasten; die Partei des bisherigen Systems auf ihre Schlauheit und Erfahrung, auf die Macht des Geldes und den Einfluß ihrer Mitglieder auf die abhängigere Arbeiterbevölkerung. Die Reform hat Namen für die zu besetzenden Aemter aufgestellt, welche bis jetzt nur im bürgerlichen Geschäftsleben einen guten Klang haben; die alte Partei bringt Männer, welche die Bevölkerung noch nie anders, als in Verbindung mit einer amtlichen Stellung gekannt. –

In einem geräumigen Zimmer des im Mittelpunkte der Stadt gelegenen Hotels schreitet ein Mann mit raschen Schritten auf und ab, dem das Wohlleben aus den rosigen Hängebacken und dem wohlgerundeten Bauche redet. Auf dem Sopha lehnt eine zweite Gestalt, einen Fuß auf dem Tische vor sich, den zweiten auf einem Stuhle zur Seite ruhen lassend, rauchend und der Cognac-Mischung vor sich zusprechend.

„Ich wollte, Sir, ich hätte ein Bein gebrochen, als ich zum ersten Male für ein Amt lief!“ beginnt der Erstere plötzlich stehen bleibend. „Wenn morgen die Geschichte schief geht, bin ich ein zu Boden geschlagener Mann, der kaum wieder an’s Aufstehen zu denken braucht!“

„Aber wenn Sie durchkommen, haben Sie auch binnen zwei Jahren Ihr Schäfchen im Trocknen! “ erwidert der Andere phlegmatisch.

„Ja, wenn –! ich glaube dieses Mal nicht daran. Ich habe bei meinen kleinen Aemtern nicht einsacken können wie die Uebrigen, und was sich hat machen lassen, ist für die Kosten zu der neuen Wahl wieder drauf gegangen. Aus dem regelmäßigen Geschäfte ist man heraus, wäre auch kaum mehr im Stande, selbst anzufassen wie früher, dazu habe ich sechs Kinder, und wenn morgen –“ er hält inne und stampft mit dem Fuße auf den Boden.

„Mit dergleichen Jammer gewinnt sich keine Wahl, Sir!“ wirft der Andere hin, gleichmüthig sein Glas leerend.

„Richtig, und ich denke, es ist gethan worden, was sich nur thun läßt – wenn man sich aber eine Schuldenlast aufgeladen hat, wie ich, um den ersten großen Schlag zu wagen, wenn man sieht, daß die Gegner arbeiten wie die Teufel, daß man von dem alten bekannten Boden kaum mehr weiß, worauf zu rechnen, so überläuft den Menschen wohl einmal ein Gedanke –“

Das geräuschvolle Oeffnen der Thür unterbricht den Sprechenden, dessen Mienen plötzlich den Ausdruck einer lächelnden Zuversichtlichkeit annehmen. „Nun, Bonner, wie steht’s?“ ruft er dem Eintretenden, einem Manne in Arbeitstracht, entgegen.

„Ich denke, die erste Ward[1] steht fest, Sir!“ erwidert dieser, ein verschmitztes Auge hebend, „wir brauchen aber noch etwas Whiskey-Zuschuß, die Irländer scheinen alle doppelte Löcher im Magen zu haben, und die Wirthe fangen an, etwas schwierig zu werden – es wird hart von der anderen Seite gearbeitet –!“

Nur ein kaum merkliches Zucken geht über des Gesicht, als er das mit Papiergeld gefüllte Portemonnaie zieht. „Zehn Dollars genug?“ fragt er sich halb wegwendend.

„Ein paar Dollars mehr wären besser – aber wie Sie wollen!“ ist die Antwort, bei welcher sich von Neuem die Thür öffnet und einen sichtlich erregten jungen Mann einläßt.

„Aber, Liebster, das ist doch ein unverzeihlicher Bock, der da [9] begangen worden,“ ruft er, kaum in’s Zimmer gelangt; „der Schuhmacher Price ist einer der einflußreichsten Männer in der fünften Ward, und Niemand hat an ihn gedacht. Er ist im Stande, uns noch heute den Rücken zu kehren und seinen ganzen Anhang umzustimmen, wenn er nicht sofort engagirt wird, für uns am Wahlkasten zu arbeiten.“

Ein neues Klappen der Thür, welchem der Eintritt zweier anderen Persönlichkeiten folgt, läßt den Angeredeten seine Antwort verschieben. „Ah, Gentlemen!“ ruft er mit einem Lächeln des Willkommens, „nur einen Augenblick Entschuldigung, hier sind Brandy und Cigarren, bedienen Sie sich!“ und zieht sodann den früher Eingetretenen hinter die Vorhänge des Fensters. „Die 5. Ward kostet mich schon mehr für einflußreiche Männer, als ich allein fast ermöglichen kann,“ sagt er hier, seine Stimme zum halben Flüstern dämpfend, „mögen die Anderen auch etwas Uebriges thun, ich kann nicht mehr!“

„Aber die Anderen sind zerstreut in allen Wards, und Sie sind hier, um das Hauptquartier zu halten,“ klingt die ebenfalls halblaute Antwort; „berechnen Sie sich nach der Wahl mit den Uebrigen, aber wenn nicht sofort das Nöthige geschieht, so stehe ich morgen für nichts!“

Noch folgt ein leiseres gegenseitiges Flüstern; dann treten Beide hinter der Umhüllung vor; der junge Mann einige Banknoten in der Hand zerknitternd, der Andere einen Schatten bleicher geworden.

„Ich habe Ihnen nur eine kurze Meldung zu machen!“ beginnt jetzt Einer der letzt Angekommenen, den Empfangenden wieder in die Fenstervertiefung führend. „Sie können,“ fährt er hier murmelnd fort, „auf 400 Eisenbahnarbeiter, die ich morgen selbst nach der Stadt bringen werde, rechnen; Mayor Reynolds hat mir die nöthigen Fonds dafür angewiesen, er überläßt aber Ihnen die passendste Verwendung, da ihre Stimmen wahrscheinlich in der deutschen Ward am nöthigsten gebraucht werden mögen. Wollen Sie mir morgen früh ein Wort im Gasthaus „zur Sonne“ gleich am westlichen Ende der Stadt hinterlassen, so werde ich rechtzeitig auf dem Platze sein können.“

„Soll bestens geschehen, dank’ Ihnen, Sir!“ erwidert Jener, mit einem Athemzuge der Erleichterung den sich Entfernenden nach der Thür geleitend. „Und Sie kommen aus der deutschen Ward?“ wendet er sich dann an den letzten der Fremden.

„Mr. Cox läßt Ihnen sagen,“ meldet dieser, „daß kaum viel zu hoffen sein würde, wenn nicht noch ein eindringlicher Schlag geschähe. Ihr Gegencandidat von der Reform, Mr. Simmers, arbeitet dort selbst und hat den größten Theil der Stimmberechtigten am Faden. Mr. Cox läßt fragen, wie es mit dem morgenden Maueranschlag stände.“

„Es würde Alles besorgt werden,“ ist die Antwort, aus der es wie eine Art Grimm klingt, „und wir wollten die deutsche Ward gewinnen, wenn auch noch zehn solche Menschen sich gegen mich zusammenthäten!“ Und als Jener das Zimmer verlassen, verschließt er die Thür und wendet sich an den Mann im Sopha. „Dieser Reformcandidat ist derselbe Mensch, der meiner Aeltesten auf Tritt und Schritt nachging, den ich aber gründlich heimschickte. Er ist ein Deutscher so gut als ich, hat aber nichts und stand immer in der Politik auf der andern Seite. Jetzt meint er mich stürzen zu können, und möglicherweise bin ich morgen Abend ärmer, als er es gewesen; aber umsonst soll er nicht gegen mich aufgetreten sein! Hier ist noch etwas zu thun für Sie, das ich nicht gut Jedermann anvertrauen kann!“ fährt er fort, ein zusammengelegtes Papier aus der Brusttasche ziehend, „es ist deutsch und englisch, und ich denke, es soll ziehen. Es muß diese Nacht noch gesetzt und gedruckt, morgen vor Tagesgrauen aber an allen Ecken angeschlagen sein. Lassen Sie in die Druckerei ein Faß Bier bringen und sorgen Sie, daß die deutsche Ward mit dem Anschlag reichlich bedacht wird. Ich will gehen und nach anderen Dingen sehen, sonst wird mir hier, ehe eine Stunde vergeht, noch der letzte Dollar abgenommen!“

Das war Capt. Bitter, welchen die Regierungspartei in diesem Jahre zum Candidaten des Schatzmeisteramtes aufgestellt – mit seinem derzeitigen Adjutanten Jim Sullivan, der das ganze Jahr nur von dem lebte, was er sich bei den einzelnen Wahlen durch seine Local- und Personalkenntniß heraus zu schlagen wußte.[WS 1]

Die Führer der Reformpartei aber durchwandern währenddem die einzelnen Wards. Gerüchte von einem Verzweiflungsschlag, welchen die Partei der alten Verwaltung zu führen beabsichtige, sind im Umlaufe. Die Irländer, heißt es, sollen gegen die Deutschen gehetzt werden, um deren Stimmabgabe möglichst zu verhindern, an anderen Orten aber jeder Reformmann eine gewaltsame Zurückhaltung vom Wahlkasten erleiden. In allen Wards finden noch Versammlungen voll enthusiastischer Reden statt. Vigilance-Committees, welche vom Tagesgrauen an ihren Stimmplatz besetzen, unrechtmäßiges Stimmen verhindern und für den Schutz des Reform-Stimmzettels sorgen sollen, werden ernannt und Verabredungen für alle sonst möglichen Fälle getroffen; noch spät nach Mitternacht findet sich Simmers, der junge Schatzmeister-Candidat der Reform, auf der Straße, aus der letzten entfernten Ward nach seiner Wohnung heimkehrend. Er ist überall mit Jubel empfangen worden, denn von seiner bekannten strengen Geschäftsrechtlichkeit hofft die jüngere Bürgerschaft eine Aenderung der bisherigen schreienden Mißbrauche. Noch liegt er indessen keine Stunde auf seinem Lager und hat soeben erst die Augen geschlossen, als ihn ein heftiges Pochen an seiner Hausthür wieder auffahren läßt. „Auf, Simmers, es giebt Arbeit!“ hört er, und bald tritt schweißtriefend ein junger Handwerker ein, breitet ein Papier vor das schnell entzündete Licht und sagt: „Hier, lesen Sie, dies wird soeben an allen Ecken angeschlagen!“ In des jungen Kaufmanns Augen starrt eine Schmähschrift, die ihn beschuldigt, mit unterschlagenem Gelde nach Amerika gekommen zu sein und damit sein kleines Geschäft begründet zu haben; die Beweise werden versprochen, sobald sie verlangt werden; die Bürger werden gewarnt, den Stadtschatz nicht einem Manne anzuvertrauen, der, im Kleinen nicht getreu, es um so weniger im Großen sein könne. – Allerdings ist keine Unterschrift vorhanden; der Eindruck aber, den eine so bestimmte Beschuldigung am Morgen der Wahl hervorrufen muß, ist kaum zu berechnen. Simmers erbleicht leicht beim ersten Durchblicken der Zeilen – dann beginnt er schärfer jeden einzelnen Satz zu prüfen. „Capitain Bitter hat das nicht geschrieben,“ sagt er endlich, wie in Beantwortung eines eigenen Gedankens; „aber er mag seine Hände im Spiele gehabt haben. – Nun, wir wollen dem vorbeugen, und ich danke Euch, Freunde, für Euere Wachsamkeit,“ wendet er sich an den Ueberbringer, „heute Abend sprechen wir weiter zusammen.“ Dann nimmt er einen Streifen Papier von seinem Schreibtische, schreibt darauf: „Neue Lüge der Corruptions-Partei!“ und klebt dies über den Kopf des Maueranschlags. Aus einem verschlossenen Kasten aber zieht er ein anderes, wohlverwahrtes Papier, fügt es an das Ende des Schmähschrift, und der Handwerker liest mit leuchtenden Augen:

„Mr. Henry Simmers ist sieben Jahr, zuletzt als Disponent, in unserm Geschäfte thätig gewesen und obgleich er uns nur mit so viel Mitteln verläßt, als ihm Sparsamkeit und streng geregelte Lebensweise zu erübrigen erlaubten, so hat er doch jeden zu gewährenden Credit bei uns, und wir sind gern bereit, bei unseren Geschäftsfreunden für ihn einzustehen.“ Eine wohlbekannte New-Yorker Firma bildet die Unterschrift, und mit einem: „Hurrah, mir jetzt um Gotteswillen rasch!“ erhebt der Lesende den Kopf.

„Ich gehe nach unserer Druckerei, es wird dort die Nacht durch gearbeitet,“ erwidert Simmers, „sorgen Sie nur binnen einer Stunde für eine Anzahl treuer Leute, die jeden Maueranschlag mit dem rechten Kopfe und Schwanze versehen, und der Spieß ist umgedreht.“ –

Es ist kaum sieben Uhr früh, aber Capitain Bitter ist bereits auf den Beinen, um sich nach dem Hauptquartiere zu begeben und dann, zur Ueberwachung der getroffenen Maßregeln, wie zur Ermuthigung seiner Partei, die Runde bei den Stimmkasten in den verschiedenen Wards zu beginnen; kaum betritt er aber die Straße, als ihm auch der nächtlich angeheftete Maueranschlag mit einem dreifachen „Lüge“ versehen entgegenstarrt, eine gedruckte Riesenhand auf die Widerlegung der Beschuldigung deutet und ihm eine plötzliche Schwäche in die Beine kommt. Er sieht, wie die Vorüberpassirenden zu kurzem Lesen stehen bleiben, sich dann aber lachend entfernen, und er dreht den Kopf weg, um nicht erkannt zu werden.

Im „Hauptquartier“ sind bereits alle die Führer der alten Partei versammelt, aber eine gedrückte Stimmung liegt sichtlich auf den Anwesenden. Nur hier und da fällt eine kurze Bemerkung und wird ebenso beantwortet. „Die Kerls müssen es mit dem Teufel halten!“ ruft Bitter, kaum eingetreten, als sei er froh, den innern Grimm herauslassen zu können, und damit scheint sich [10] eine Art Bann von den Uebrigen zu lösen; ähnliche Aeußerungen fallen und halblaute Gespräche entspinnen sich, bis eine Stimme, die anderen übertönend, laut wird. „Ich habe wohl schlimmere Aussichten für einen Erfolg gesehen und nicht verzweifelt; ich denke, Gentlemen, wir gehen auf unsere Posten und arbeiten, so viel sich noch thun läßt. Wenn nichts versäumt wird, sehe ich noch kaum einen Grund zu besonderer Sorge!“ Aber nur langsam treten einzelne Gruppen zu kurzen Verabredungen zusammen, sich dann auflösend und geräuschlos entfernend.

In den Straßen ist es stiller als gewöhnlich; die zahlreichen Trinklocale sind geschlossen, und nur in der Nähe der einzelnen Stimmplätze läßt sich durch die immer dichter stehenden Menschengruppen die Bedeutung des Tages erkennen. Bitter hat sich mit Jim Sullivan dem nächsten Spritzenhause, wo der Wahlkasten der Ward zwischen den vereidigten Wahltrichtern aufgestellt ist, zugewandt. „Hurrah für das reguläre Ticket!“[2] werden schon von Weitem vereinzelte Stimmen laut, kein Oppositionsruf antwortet, und Bitter’s Gesicht beginnt sich etwas aufzuklären. „Es sind meist Arbeiter aus den großen Werkstätten!“ bemerkt Jim mit einem scharfen Blicke in das sich entwickelnde Menschengewühl, welches die Straße völlig sperrt, „sie haben einen halben Tag frei und bekommen ihn bezahlt, ich traue aber trotzdem dem Frieden noch nicht! – Halloh, Bob, wie steht’s?“ ruft er einen der ihm entgegen kommenden Tickets-Vertheiler an.

„Curios genug!“ erwidert dieser, sich in den Haaren kratzend, „genug Leute da, aber Keins rührt sich. Es können noch keine zwanzig Stimmen gefallen sein. Am Stimmkasten stehen einige von den großen Meistern und controliren Jeden, der nicht offen sein Ticket zeigt; das scheint die Arbeiter kopfscheu zu machen!“

Bitter drängt sich rasch zwischen den Gruppen hindurch, nach allen Seiten hin freundlich nickend und herabhängende Hände drückend. „Vorwärts, Kinder, woran liegt’s? Je eher wir fertig sind, desto eher kommen wir zum Biere. Flott, immer flott!“

Da schiebt sich plötzlich ein muskulöser Arm fest unter den seinigen, und „Flott, immer flott, Jungens!“ wird eine Stimme neben ihm laut. „Hier ist Capitain Bitter, der gern eine Hand in unserm Gelde hätte, aber: Hurrah für die Reform! und wer kein Feigling ist, der thut’s mir nach!“

Bitter sieht plötzlich eine Bewegung im die Masse kommen; einen Augenblick öffnet sich ihm die Aussicht nach dem Stimmkasten, wo er einzelne von den erwähnten großen Meistern zu erkennen glaubt; aber im gleichen Momente fegt auch eine Menschenwoge dort jedes bekannte Gesicht hinweg: „Hurrah für die Reform!“ klingt es lachend und schreiend; wie durch einen Zauber sieht er das feindliche Ticket in allen Händen um sich her und ist froh dem Gewühle zu entkommen, das ihn zu erdrücken droht. Jim ist abhanden gekommen, und mit einem grimmig gemurmelten: „Lumpenpack! bis Mittag wird’s hier anders pfeifen!“ macht sich der Schatzmeister-Candidat auf seinen weitern Weg.

Er gelangt in einen feinern Stadttheil und nach einer Viertelstunde sieht er einen neuen Stimmplatz vor sich. Hier geht’s wunderbar ruhig und ordentlich zu. Glatt rasirte Gesichter und stehende Vatermörder bezeichnen die Haute volée der Geschäftswelt, überall scheint das „reguläre Ticket“ zu regieren, aber auch wo sich die „Reform“ blicken läßt, wird nirgends eine Demonstration laut. Bitter fühlt sich hier in ruhigem Fahrwasser, und sein Aeußeres erhält wieder Selbstvertrauen, bis er eines Gesichts aus dem „Hauptquarter“ ansichtig wird und darauf lossteuert. „Wie steht’s anderwärts?“ fragt er eifrig. „Die irische Ward bleibt sicher wie immer,“ ist die Antwort, „wenn’s auch noch vor Mittag blutige Köpfe geben wird. Die Reformer werden nicht zum Stimmkasten gelassen, scheinen sich aber nicht geduldig fügen zu wollen. Indessen müssen die deutsche und die beiden Arbeiterwards vor allen übrigen den Ausschlag geben, und dort soll Vieles faul sein!“

„Werden bald bessere Luft hineinbringen!“ nickt Bitter energisch. „He, Jim –!“ ruft er, als er den Genannten durch die Menschen streichen sieht, „einen Wagen genommen und hinaus nach der „Sonne“. In einer Stunde müssen die Eisenbahnarbeiter in der deutschen Ward sein – ohne Fehl, ich erwarte sie dort!“ setzt er leise hinzu. Mit einem Blicke des Verständnisses fliegt der Adjutant davon, und Bitter wandert in die Straßen hinein, um irgend eine Hinterthür zu suchen, durch welche sich, trotz des Verbotes, zu einer geistigen Stärkung gelangen läßt. Möbelwagen mit einem Musikcorps an der Spitze und der großen Inschrift: „Hurrah für das reguläre Ticket!“ rasseln über seinen Weg; sie sind dazu bestimmt, aus den entfernten Stadttheilen die säumigen Stimmgeber, die Kranken und Lahmen zum Wahlkasten zu bringen, und der Capitain winkt mit seinem Stocke den Führern einen ermunternden Gruß zu; in einer Stärke von halben Compagnien werden Trupps von jungen Fremdgeborenen nach dem Courthause geführt, um zu amerikanischen Bürgern gemacht zu werden und dann nach dem ihnen eingehändigten Wahlzettel zu stimmen, die alte Partei bezahlt heute für Jeden, der sie unterstützt, das Bürgergeld; an den Ecken stehen discutirende Menschenhaufen, und Bitter erkennt in den Sprechern wohlbekannte Gesichter; überall sieht er eine rastlose Thätigkeit sich entfalten, und mit gehobenerem Herzen schlüpft er endlich in eine enge Seitengasse, um hinter dem Glase die nächste Stunde für seine eigene weitere Thätigkeit abzuwarten.

Als er endlich, einen Feldzugsplan in seinem Kopfe umherwälzend, die Richtung nach der deutschen Ward einschlägt, kommt ihm im raschen Einspänner Simmers entgegen. „Halloh, Capt’n!“n ruft dieser, ihn bemerkend, „wir bleiben Freunde, so oder so!“

„Geh zur Hölle!“ brummt der Angerufene und wendet das Gesicht ab, rascher seinem Ziele zuschreitend. Schon als er dem letztern naht, bemerkt er zahlreiche Gestalten unter der Menge, die ihm zeigen, daß seine Bundesmacht angekommen. Vorsichtig wendet er sich durch den Menschenknäuel und läßt plötzlich ein energisches: „Hurrah für das reguläre Ticket!“ ertönen. Wie die zum Gliederfeuer angeschlagenen Gewehre, die nur des Commando’s geharrt, wiederholen neben und um ihn brüllende Stimmen den gleichen Ruf; bis zum fernen Ende der Menschenmasse klingt er wieder, und zugleich kommt unter diese eine wilde, wogende Bewegung. Von allen Seiten drängen sich rauhe, kräftige Gestalten dem Stimmkasten zu, der bald durch sie von der übrigen Menge völlig abgeschlossen zu sein scheint. Da aber wird vorn eine klingende Stimme laut: „Wer sind die neuen Wähler? Ich mag keinen Verdacht aussprechen, aber ich verlange, daß Jeder, den wir nicht kennen, durch Eid seine Rechtmäßigkeit darthue!“ – „Bravo!“ – und „Hurrah für die Reform – fort mit den importirten Stimmen!“ tönt es von hinten; Bitter, welcher seinen Verbündeten sich nachgedrängt, sieht zwei junge Deutsche neben dem Wahlplatze sich dem Andränge der Eisenbahnarbeiter entgegenstellen, sieht die Ersteren durch zehn plumpe, sich hebende Fäuste weggestoßen, aber zugleich auch die Linie seiner Hülfsmacht von hinten durchbrochen und die Bedrohten von muskulösen Gestalten umgeben. Da fällt ein Faustschlag, und in der nächsten Secunde verbirgt ein wirrer, kämpfender Menschenknäuel den Stimmplatz. „Drauf! Nieder mit den Betrügern!“ klingt es von der Rückseite der Masse, und Bitter fühlt sich in ein wildes Durcheinander hineingerissen, ein Schlag klatscht in sein Gesicht, der ihm halb die Besinnung raubt; Geschrei, Flüche und Anfeuerungen zum Kampfe tönen von allen Seiten in seine Ohren; ohne zu wissen wie, sieht er sich endlich aus der Menschenmenge erlöst, sinkt aber, seiner Sinne nicht mehr mächtig, auf den Stufen eines Hauses nieder.

Wie im Traume nur fühlt er sich endlich fortgeführt; er weiß, daß er in ein bekanntes Trinklocal geleitet wird, daß sich helfende Hände um ihn bemühen und er begierig die ihm gereifte Stärkung einschlürft, aber eine unbesiegliche Müdigkeit läßt ihn bald Alles in dem ihn überkommenden Schlafe vergessen.

Als er erwacht, ist es Abend, und bald stehen alle erlebten Vorfälle wieder klar vor ihm. Ein einzelnes bekanntes Gesicht ist über den Tisch, unweit des Divans, auf welchem er liegt, gebogen. „Wie steht’s mit der Wahl?“ fragt er.

„Schlecht,“ erwidert der Dasitzende, ohne aufzublicken, „wir brauchen nicht einmal die Stimmzählung abzuwarten. Die deutsche Ward, welche die importirten Eisenbahnarbeiter mit blutigen Köpfen heimgeschickt, hat unserer Sache noch den letzten Gnadenstoß gegeben.“

Der Daliegende erhebt sich langsam, nimmt Hut und Stock und entfernt sich wortlos, den Weg nach seiner Wohnung suchend. An der nächsten Ecke aber bleibt er stehen und blickt wie unschlüssig nach den verschiedenen Richtungen. „Es wäre vielleicht am besten, ich ginge gleich in den Fluß!“ murmelt er; dann aber, wie in einem zweiten Gedanken, schüttelt er den Kopf und sagt: „Hätte ich doch ein Bein gebrochen, als ich das erste Mal für ein Amt lief!“

[11] Langsam, den Kopf gesenkt, wandert er nach Hause und zieht die Glocke. Ein bleiches, schönes Mädchengesicht mit dunklem Haar und tiefen, großen Augen blickt ihm beim Oeffnen entgegen. „Wie steht’s, Vater?“ fragt sie, in seltsamer Spannung zu ihm aufsehend. Er wendet sich halb nach ihr, als wolle er antworten, schüttelt aber dann den Kopf und geht schweigend in sein Zimmer.

Am andern Mittag liegt Capitain Bitter noch in seinem Bett. Er hat sich früh nur die Zeitung bringen lassen, die Wahlberichte durchgesehen und dann sich wieder herumgedreht, jeden Zuspruch von sich weisend. Er fühlt, daß er am liebsten gar nicht mehr aufstehen möchte – eine Frau, sechs Kinder, einen Berg von Wahlschulden und keine Aussicht, einen Cent zu verdienen, das ist seine nächste Zukunft.

Da bringt seine Frau einen Brief und legt ihn auf sein Bett. „Vater, Du müßtest dies lesen,“ sagt sie, ihn ängstlich betrachtend.

„Von wem ist es?“ fragt er barsch, ohne aufzublicken.

„Von Mr. Simmers!“

„Er soll zur Hölle gehen!“

„Aber Du müßtest es schon Deinethalber lesen, läßt er Dir sagen!“

Zweimal bewegt er den Kopf, wie zum Aufblicken, und legt ihn wieder zurück. Endlich schiebt er die Nachtmütze von der Stirn, reißt das Couvert auf und liest:

„Sir! Ich bin überzeugt, daß Sie die verbreitete Schmähschrift gegen mich nicht verfaßt haben, und um Weiteres kümmere ich mich vorläufig nicht. Die Stimme des Volks hat zwischen uns entschieden, aber den Vater einer Tochter, welche mit Recht als der Stolz unserer deutschen Bevölkerung gilt, werde ich nicht fallen lassen und ich biete Ihnen von Herzen den Posten des mir nöthigen Stellvertreters mit 1000 Dollars Fixum an, wenn Ihr Haß gegen mich es erlaubt, Ihr Interesse mit dem meinigen zu vereinen. Lassen Sie mich ein Wort wissen, ob ich Sie heute Abend besuchen darf.“

Es währt eine lange Weile, ehe Bitter den Blick von den Zeilen hebt, während seltsam in seinem Gesichte die Farbe kommt und geht.

„Der Teufel mag sich weigern, wenn es an den Hals geht!“ Damit zieht er wieder die Decke über den Kopf, seiner Frau den Brief und die Antwort überlassend.

Zwei Tage darauf ist die Partei der Reform in neuer Aufregung, daß der gewählte Schatzmeister seinen geschlagenen Rivalen, den Mann der Corruptions-Partei, zu seinem Stellvertreter ernannt, während doch schon so Viele, die sich zu Jenes persönlichen Freunden gerechnet, auf Uebertragung des Postens gehofft; Simmers aber begegnet allen Vorwürfen mit der Entgegnung, daß er für den Mann verantwortlich sei, und erst als acht Tage später die neue Mähr die Stadt durchläuft, daß Simmers die Tochter des Capitain Bitter heirathe, löst sich das bisherige Räthsel. Bitter aber erklärt seinen Freunden, daß er nur, um sich an die Arbeit zu gewöhnen, die Stellung angenommen habe, im Uebrigen indessen sich nie wieder um ein politisches Amt bekümmern werde.

O. R.     

Anmerkungen

  1. Stadtviertel
  2. Ticket wird bei Wahlen kurz der Zettel mit den Namen der aufgestellten Candidaten einer Partei genannt, welcher zur Erleichterung des Stimmens in zahllosen gedruckten Exemplaren ausgegeben wird.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Unleserliche Stellen korrigiert nach MDZ München