Ein bekehrter Poet

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Autor: Wilhelm Goldbaum
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Titel: Ein bekehrter Poet
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 845-847
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Besprechung des „Odilo“ von Oscar von Redwitz
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Ein bekehrter Poet.

Im Schiller-Hofe zu Meran lebt seit mehreren Jahren im ausschließlichen Verkehre mit seiner Muse ein deutscher Dichter. Es gebricht ihm weder an äußeren Glücksgütern noch an innerer Sammlung; nur bisweilen gemahnt ihn ein tückisches Körperleiden an menschliche Unzulänglichkeit. Bevor ich ihn persönlich kannte, lebte er in meiner Vorstellung als ein blasser, blonder, schmalschulteriger Mann mit verschwimmenden blauen Augen und weich modellirtem Gesichte. Da begegnete ich ihm eines Tages, und ich traute meinen Blicken kaum, als man mir sagte, es sei Oscar von Redwitz, der Dichter der „Amaranth“, der da vor mir stehe. Groß und breischulterig, mit dunkel gefärbtem Antlitze, auf dem eine Schmarre glänzte, schwarzen Haares und dunkeläugig – schier wie ein Südländer war er anzuschauen. Unwillkürlich fragte ich mich im Stillen, was diese männliche Gestalt mit dem Walther in der „Amaranth“, mit süßlich-frommem Versgeklingel, mit tausend unnatürlichen Gefühlszierereien und dogmatischen Visionen zu schaffen habe, und herb überkam mich die Erinnerung an Hamlet’s grausames Wort: „Gott gab euch ein Gesicht, und ihr macht euch ein anderes.“ Aber schnell siegte in mir die Zuversicht, daß hier noch nicht das letzte Wort gesprochen sein könne, ja daß einst zur freudigen Ueberraschung Aller, welche von der „Amaranth“ sich mit Recht abgewendet hatten, aus dieser Mannesseele ein Bekenntniß hervordringen werde, tapfer und wahrhaftig, wie etwa David Friedrich Strauß ein solches zuletzt in seinem „Alten und neuen Glauben“ abgelegt hat.

Und ich habe mich nicht getäuscht, denn das jüngste Gedicht Oscar von Redwitz’, „Odilo“ mit Namen, ist eine befreiende That, befreiend nicht blos für ihn, sondern für Alle, welche es lesen. Versunken und zerronnen ist der Nebel dogmatischer Gläubigkeit, der über der „Amaranth“ lagerte, und was schon in dem „Lied vom neuen Reich“ aufklang wie jubelnder Sieg der vaterländischen Gesinnung über unheimliches Gespinnst einer fremden feindseligen Ascese, das ist diesmal zu einem Hohenliede der Menschlichkeit, schlechthin zu einem Hymnus auf die welterlösende Liebe geworden, die mehr bedeutet, als aller Buchstabenwust und despotische Formelkram.

Wie er war, zu weiland „Amaranth’s“ Zeiten, das weiß Redwitz vielleicht selbst nicht mehr. Darum sei ihm die Selbsttäuschung nicht angerechnet, welche in Gestalt eines poetischen Vorwortes seinen „Odilo“ einleitet. Da heißt es:

Als Zwanziger ich einst die „Amaranth“,
Den „Odilo“ ich jetzt als Fünfz’ger schrieb.
Und hab’ ich auch zu diesem zweiten Lied
Mein Harfenspiel wohl vielfach neu bespannt,
Bleibt doch mein erstes mir noch gleichfalls lieb.
Denn trotz der beiden Lieder Unterschied
Sind innerlich sie dennoch tief verwandt,
Und auch ich selbst mir darin treu verblieb,
Der ich in beiden, wie mein Herz mich trieb,
Mein inn’res Leben gleich getreu bekannt.

Verwandt? Nun ja, verwandt in der Form, die auch in jenem Liede vom römischen Dogma feinhörige Ohren schon entzückte. Aber im Geiste? O nein, denn verworfen wird hier, was dort gepriesen; im „Odilo“ siegt die Liebe über den Wahn; in der „Amaranth“ herrschte der Wahn über die Liebe.

Es ist wohlfeil, rückwärtsschauend zu enthüllen, was war und nicht mehr ist. Es waren die finsteren Tage der Umkehr, als Oscar von Redwitz mit seiner „Amaranth“ unter die Leute kam, der Umkehr in Wissenschaft, in Glauben, in Politik und Poesie. Und wie die anderen sie in Leitartikeln und gelehrten Büchern predigten, so verkündigte er sie in Rhythmus und Reim. Das löscht kein Vorwort aus, und wäre es noch so wohlgemeint. Weshalb hätten sie ihn sonst auch stracks nach Wien berufen, den kaum zum Manne Erwachsenen, auf daß er als Professor lehre, was er als Poet gesungen? Nach Wien, wo auch so mancher Andere eingefangen worden in die Netze tödtlicher religiöser Mystik, der wilde Zacharias Werner ebenso wie der arme weichgefügte Hippolyt Schauffert! Daß er den argen Vogelfängern entschlüpft ist und den Weg zum reinen Aether emporgefunden hat, daß er sich loswand von der Irrung, Roms Glorie auf Kosten seines deutschen Vaterlandes zu besingen, das ist es ja eben, was sein Verdienst verdoppelt, und wenn er es dennoch leugnen wollte, daß nicht mehr Thomas a Kempis, sondern Homer und Kant auf seinem Tische liegen, so würde das Motto seines eigenen Gedichtes gegen ihn zeugen, welches lautet: „Der Menschheit Höchstes ist die Liebe.“

Warum er seinen Helden „Odilo“ getauft hat, das freilich ist mir unerfindlich, denn die Geschichte, die er erzählt, ist durch und durch modern. So nennt ein deutscher Arzt von heute doch schwerlich seinen einzigen Sohn, wenn er nicht etwa durch ein Testament oder Gelübde dazu gezwungen ist. Der Vater Odilo’s aber ist ein deutscher Arzt katholischen Bekenntnisses, der mit seinem Weibe Walburg, einer strengen Protestantin, in gemischter Ehe lebt. Er stirbt an der Schwindsucht, noch ehe sein Sohn zum Jüngling herangereift ist, und sein Mund flüstert, ehe er auf immer verstummt, gleichsam als Vermächtniß das schöne Wort: „Der Menschheit Höchstes ist die Liebe.“ Unweit von Odilo’s väterlichem Hause steht das Kloster Mariagnaden; dorthin wandelt täglich der Knabe, um sich für’s Leben seinen Schulsack zu füllen. Der Abt Johannes ist ein duldsamer, wohlgemuther Mann, einer von dem Schlage der Benedictiner, in denen allezeit der Geist menschlicher und nationaler Gesinnung sich aufgebäumt hat gegen die klirrende Kette düsteren Pfaffensinnes. In einem solchen Augenblicke inneren Zwiespaltes braust er auf:

Was, diese windigen Romanen,
Nur schlau in Formen und Chicanen,
Die von dem deutschen Geist soviel
Als wie der Hund vom Flötenspiel
In ihren seichten Köpfen ahnen,
Die uns Exempel sein? Ha, nie!
Doch dreimal eher umgekehrt!
In unsern Kirchen lernen sie,
Wie man voll Andacht Gott verehrt.
Und glaub’ ich auch ganz sicherlich,
Daß jeder deutsche Priester sich –
Sofern er noch ein Deutscher ist –
An innerlichem Christensinn
Mit Menschenlieb’ und Wahrheit drin,
Doch keiner Spur von Pfaffenlist,
Mit jedem dieser Wälschen mißt.
Dies ist einmal ein deutsches Kloster.
Und ist es auch römisch-katholisch,
Wie Petri Stuhl echt apostolisch,
Ich dennoch nicht begreifen kann,
Warum ich als ein deutscher Mann
Mich über Rom nicht ärgern darf,
Wo’s irgend unserm Volk nur Steine
In seines Wachsthums Wege warf.
Und denk’ ich nur an dieses Eine:
Wie’s unsern Mahnruf einst verlachte,
Im Glauben uns zerrissen machte,
Den dreißigjähr’gen Krieg uns brachte
Und all den spätern Glaubenshader –
Herrgott, wenn da mit deutscher Ader
Und nur ein bischen Menschenliebe
Das Herz davon ganz ruhig bliebe!

Der Verkehr mit einem solchen Priester mag unschwer in der Seele eines phantastischen Knaben den Wunsch rege machen, sich ebenfalls in den kühlen Klosterfrieden zu flüchten. Frau Walburg bebt, als sie ihr Kind auf diesem Wege sieht, aber sie läßt es gewähren. Nur leider sind die Tage des Abtes Johannes gezählt; der finstere Eiferer Innocenz tritt an dessen Stelle, und nun beginnt ein fürchterliches Bekehrungswerk, zuerst an dem Sohne, dem noch zu hell der Jugendmuth aus den Augen leuchtet, und dann durch ihn an der armen Mutter, der, als sie widerstrebt, ihr eigenes Kind die ewige Verdammniß ankündigt. Es ist eine grauenhafte Stunde, da Frau Walburg aus dem Kloster hinweggewiesen wird, als Ketzerin, deren Herz nicht schlagen dürfe in der Nähe dessen, den sie geboren hat. Aber es kommt auch eine erlösende Stunde, mit Feuer und Flammen im Gefolge. Da flackert es aus dem Dache des Klosters, und die Funken lecken an dem wunderthätigen Marienbilde, bis sie es verzehren, und Abt Innocenz schreit seinen Mönchen umsonst zu, daß sie es retten, indessen diese, von menschlicherem Gefühl getrieben, es vorziehen, die kranken Klostergenossen aus Rauch und Brand zu schleppen.

Das Kloster Mariagnaden ist zerstört; Abt Innocenz hat sich ein anderes tiefer im Walde gezimmert. Aber nicht Alle, die ihm sonst gehorchten, sind ihm in die neue Zufluchtsstätte gefolgt; auch Odilo ist fortgeblieben, um fortan in weltlicher Wissenschaft [846] sein Heil zu suchen. In wenigen Jahren ist er Arzt. Er erweitert seinen Gesichtskreis durch eine Reise und kehrt dann heim, um seine Kunst im Dienste der Kranken und Gebrechlichen zu erproben. Da steht an der Stelle des einstigen Klosters Mariagnaden ein stattliches Irrenhaus, dessen Leiter dem Vater Odilo’s ein getreuer Freund gewesen ist. Die Wahl ist schnell getroffen. Der junge Arzt widmet sich den armen Creaturen, welche der Wahnsinn gefangen hält. Und wie schmerzlich ihm auch die tägliche Begegnung sein mag mit diesen irren Seelen, welche Habgier, verschmähte Liebe, Größenwahn oder unbefriedigter Wissensdrang aus ihrer natürlichen Bahn gelenkt haben, es ist ein Lohn für ihn vorhanden: die Liebe zu Angelica, der Tochter seines Meisters, und ihre Gegenliebe.

Es wäre schön, wenn damit Odilo’s Leidensgeschichte endete, aber so gut wird es den Menschen nur selten. Neben jedem Glücke wandelt im Leben ein mißgünstiger Dämon. In einer Nacht wird Odilo von einem Blutsturz befallen, und nun ist sie da, die furchtbare Erinnerung an den Tod seines Vaters und an die Vererbung der Lungensucht. Ein innerer Kampf beginnt, so schwer und schwerer als Stillehalten im Kugelregen der Schlacht. Entsagung oder Vererbung eines frühzeitigen Todes – die Wahl ist tödtlich, aber sie muß getroffen sein, und die Entscheidung fällt gegen die Liebe. Was kann weiter folgen? Odilo stirbt, nachdem er in seinem Berufe noch erhebende Probe seines Opfermuthes abgelegt, unter den Klängen seines Lieblingsliedes, das Angelica singt.

Das ist der Roman eines edlen, aus dumpfer Verirrung zum Lichte emporsteigenden Lebens, welchen Oscar von Redwitz erzählt, – in Versen erzählt, ohne den Leser auch nur für einen Augenblick zu ermüden. Die Kunst wäre groß, wenn nichts weiter gesagt zu werden brauchte. Sie ist doppelt groß, weil die Erzählung nicht Selbstzweck, sondern blos das Mittel ist, um einer wahrhaft erlösenden Weltanschauung zum dichterischen Ausdrucke zu verhelfen. Und zu welchen Ergebnissen gelangt diese Weltanschauung? Das mag der Dichter mit seinen eigenen Worten sagen, wie sie bald hier, bald dort im Gange des Gedichtes sich zu knappem Bekenntnisse zusammenfassen. Eine dieser Stellen lautet:

„Was nützen strengste Glaubensnormen,
Was alle regelrechten Formen
Und aller Cultus tiefsymbolisch,
Wenn Liebe nicht echt apostolisch
Des Christenthums fruchtbarer Kern?
Nur sie bringt uns dem Himmel nah’,
Sonst bleibt uns ewig himmelfern
So Bethlehem wie Golgatha.“

Eine andere:

„Wenn nur der Einen Liebe Band
Die Herzen alle gleich umschlingt,
Wenn nur in gleichem Opferbrand
Jedweder nach Vollendung ringt,
Zu seines wie des Nächsten Frieden
Von jedem Glaubenshaß befreit,
Dann wird – trotz Glaubensunterschieden –
Im großen Dom der Menschlichkeit
Der Liebe Gottgemeinschaft sein,
Und siegreich kehrt auf Erden ein
Der Welterlösung neue Zeit.“

Ich gestehe, zur Mäkelei am Einzelnen keinen Muth zu finden angesichts der Wirkung, welche ich von dem Ganzen empfangen habe. Man nimmt ein Gedicht von Redwitz zur Hand mit dem stillen Argwohn, es werde da ein Klang und dort ein Ton an die halbvergessene „Amaranth“ erinnern, und geräth in ein tiefdurchdachtes, mit allem Wissen und Denken moderner Tage reichlich durchtränktes Kunstwerk hinein, in welchem von religiöser Befangenheit keine Spur, von mystischem Dämmerlichte keine Ahnung ist, wohl aber der helle Sonnenstrahl reinster Humanität über allen Blättern liegt. Da steife sich, wer mag, auf kleine Gebrechen in der Form, auf etliche falsche Reime, etliche übelgerathene Ausdrücke, etliche geschraubte Wendungen und künstliche Wortstellungen! Nein, dieser „Odilo“ will aus einem höheren Gesichtspunkte betrachtet sein; er ist eine Confession, an der Jeder von uns sich betheiligen kann. Die Zeit, in der wir leben, ist die Kanzel, von der hier gepredigt wird, und fürwahr, es ist nicht Alles so bestellt, daß wir keiner Predigt bedürften. Wenn David Friedrich Strauß zu dem Ergebnisse gelangte, daß unser Glauben wohlberechtigter Weise ein Nichtglauben sei, so hat er wenigstens Jenen damit nicht aus der Seele gesprochen, denen zum Leben die Vorstellung eines Fortlebens über das Grab hinaus nöthig ist. Diese finden in Redwitz ihren beredten Sprecher. Auch ihm ist es in diesen wirrsam forthastenden Tagen, in denen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft mit einander in heißem Kampfe liegen, recht schwül und unheimlich zu Muthe; auch er sieht nicht ab, wohin es kommen soll, wenn die Philosophie von der Theologie verketzert, die Theologie von der Philosophie verlacht und beide zusammen von der Naturwissenschaft roh bei Seite gestoßen werden, als wäre jedes winzigste Experiment die Schwelle zu einem neuen Evangelium. Man höre, wie er über den handfesten Materialismus der Gegenwart klagt:

„Ach, unsre Zeit, durch Schwertgeklirr
Und Zungenstreit so müd’ und wir,
So abgehetzt durch Dampfeshast,
Durch Neidesgroll und Goldesgier,
Wie schwerer Nothdurft Sorgenlast –
Wohl ist dein Geist so stark wie nie.
An Wissen reich, erfinderkühn,
Voll Freiheitsdrang und Thatentriebe,
Doch ach, dein Herz wird krank, denn sieh’,
Dir fehlt’s trotz all des Geistes Müh’n
An inn’rem Frieden und an Liebe.“

Aber ihm bleibt eine Hoffnung auf Lösung doch wieder nur im Sinne des nimmer ruhenden Fortschrittes; das Jenseits des Einzelnen ist die Fortdauer in der Cultur der Zukunft, in dem, was kommende Tage von den unseren übernehmen. Das Individuum entsagt; das Ganze siegt.

„Doch all der Geist im Völkerleben,
Nach der Vollendung all sein Streben
In Sitte, Wissen und in Kunst,
Der ganze Weltschatz der Cultur,
Das Werk solch ries’gen Menschensfleißes,
So werth allew’gen Seins und Preises –
Das Alles fiel’ ohn’ alle Spur
Anheim einst ewiger Vernichtung? –
Wie einst die Lösung sei? Wer weiß es,
Will er nicht blos mit Worten spielen
In noch so hoch erhab’ner Dichtung?
Doch einer höh’ren Welt Erscheinung
Mit immer höh’ren ew’gen Zielen –
Der Völker Trost seit allen Zeiten –
Wer in beweisender Verneinung,
Wer übernimmt’s, sie wegzustreiten?“

Eine Frage freilich liegt mir schwer auf dem Herzen. Es hat Redwitz gefallen, die Verirrungen unserer Zeit an den Krankheitsgeschichten der Insassen eines Irrenhauses zu symbolisiren. Dagegen mag an sich nichts einzuwenden sein, zumal diese Krankheitsgeschichten meisterhaft vorgetragen werden. Hier ein Beispiel. Ein Kranker hält sich für die „Urlichtsphantasie“ und baut ein Kartenhaus als Tempel für dieselbe; dann ruft er:

„So schauet her, ihr Zeitgeistkinder
Und doch des eignen Geists Regirer,
Sterngucker ihr und Hirnsecirer,
Steinklopfer und Karnickelschinder,
Ihr Knochen- und ihr Pilzefinder
Und pantschende Retortenschmierer!
Die nie ihr andern Geist erweckt,
Als den ihr seht und riecht und schmeckt,
Und ganz noch in der Urschleimwindel
Mit eurer Affenweisheit steckt!
Schau her, du Stoff- und Kraftgesindel,
Du Wechselbalg der Wissenschaft:
Durch diese vierfach mag’sche Spindel
Beweg’ ich alle Kosmoskraft!“

Aber wenn schon unter all dem Wahne die Welt sich schier wie ein Narrenhaus ausnimmt, muß dann auch denen noch, welche Herz und Geist dem Idealen offen gehalten haben, die Entsagung so bitter gemacht werden, daß sie von der Liebe in dem Augenblicke wegsterben, in dem sie dem Lohne ihres Ringens nahegekommen zu sein scheinen? Warum darf Odilo nicht weiterleben an der Seite eines geliebten Weibes? Ist die Selbstlosigkeit idealen Strebens so dornenvoll, daß sie sich noch am Tode zu erproben hat? Mich dünkt, hier könne man von Redwitz sagen: summum jus summa injuria. Die Liebe ist der Menschheit Höchstes - gewiß, und auch daß sie in der Kraft der Entsagung sich am leuchtendsten bewährt, ist unbestreitbar. Aber die Entsagung darf nicht Selbstzweck werden, wie bei Odilo, sonst geräth auch [847] sie unversehens unter die fixen Ideen. Das Gedicht tönt schrill aus, während es ohne Schaden für die Intentionen des Dichters wohlthuend und mild hätte verklingen können und dann erst recht ein Hoheslied der Humanität gewesen wäre.

Dieser Fehler, vielleicht durch die körperlichen Nöthe des Dichters verschuldet, wiegt mir schwerer, als alle formalen Ausstellungen, obgleich ich den letzteren keineswegs ihre Berechtigung abstreite. Er macht, daß eine Dissonanz entsteht, wo man einen harmonischen Abschluß erwartete. Der Dichter ist nicht gehalten, Systeme zu gründen, derer Daseinsbedingung die Folgerichtigkeit ist; auch scheint es nicht, daß die Vererbung der Schwindsucht hinreicht, um unverdientes Menschenschicksal zu motiviren und die Freiheit des Poeten zu schmälern.

Es ist ein reizendes Fleckchen Erde, auf dem Redwitz sein Heim hat. Milde Lüfte wehen aus Wälschland herüber, und schützend vor dem rauhen Hauche des Nordens stehen die Riesenhäupter der Alpen. Aber es ist auch ein trauriges Fleckchen Erde, denn jahraus jahrein dient es jenen hoffnungslosen Menschenkindern zum Aufenthalte, denen an ihren kranken Lungen der Todeswurm nagt. Meran ist die Zuflucht der Schwindsüchtigen aus aller Herren Ländern. Daraus erklärt sich vielleicht der triste Schluß in dem neuesten Gedichte Oscar von Redwitz’. Er beeinträchtigt die Thatsache, daß „Odilo“ ein Triumph zeitgenössischer Poesie, aber er hebt sie nicht auf. Und wenn es wahr ist, daß sich selbst zu besiegen der größte Sieg sei, so gebührt dem „bekehrten Poeten“ ein doppelter Lorbeerkranz, der eine für seinen endgültigen Bruch mit seiner dichterischen Vergangenheit, der andere für die siegreiche Probe, mit der er sich eingereiht hat in die Zahl derer, welche als wahre Humanitätsapostel von ihren Zeitgenossen verehrt werden.

Wilhelm Goldbaum.