Ein kirchliches Characterbild

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Titel: Ein kirchliches Characterbild
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 715–717
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein kirchliches Charakterbild.

Die große, freisinnige, religiöse Bewegung in Baden, welche seit fast zehn Jahren dort neben einem politischen Fortschritt vor sich geht, hallt aus den süddeutschen Blättern zu uns herüber. Aus diesem religiösen Kampfe klingt jedoch der Name Schenkel am meisten an unser Ohr. Ueber diesen Namen spricht die religiöse Reaction ihr Anathema und der Fortschritt schreibt ihn auf seine Fahne, und da die religiöse Bewegung mit dem Namen Schenkel verflochten ist und aus der deutschen Presse nachklingt, so wird den Lesern der Gartenlaube ein Charakterbild dieses Mannes wohl nicht unwillkommen sein.

Schenkel, der Professor der Theologie zu Heidelberg, der badische Kirchenrath, der Seminar-Director und erste Universitäts-Prediger, dessen Verdienst es ist, daß die Annahme des Concordats mit Rom abgewiesen wurde, der die freisinnigste Kirchenverfassung für Baden entworfen und der, dem badenschen politischen Umschwung gegenüber, auch einen freieren Spielraum in dem Kirchenwesen des Badener Landes heraufbeschworen hat, ist ein echtes Charakterbild der modernen evangelischen Freiheit oder der freisinnigen Vermittelung. Und als er vor Kurzem, neben Strauß und Renan, mit seiner Schrift: „Das Charakterbild Jesu“, aufgetreten, die schon in wenigen Monaten in dritter Auflage erschienen ist; als bei dieser Gelegenheit eine mächtige klerikale Parteiversammlung sich zu einem Ketzergerichte aufgeworfen und die Behörden zu Gewaltschritten aufgefordert – da hat sich die langjährige, freisinnige Vermittelungsrolle Schenkel’s als segensreich, die Reactionspartei der Kirche als ohnmächtig erwiesen.

Seit fünfundzwanzig Jahren ist Schenkel bestrebt, für die evangelische Freiheit auf praktischem Wege zu kämpfen, um durch das System der Vermittelung, in gleicher Entfernung von dem Traditionsglauben und der Orthodoxie wie von der rücksichtslosen, die Masse erschreckenden Negation, einen Einfluß auf den Gang der kirchlichen Reform zu behalten. Dieser Weg allein, wie er auch durch die beiden extremen Parteien ein dornenvoller wurde, hat den Fortschritt der badischen Kirche bewirkt. Wenn wir auf Preußen schauen, wo man von oben herab die starre Orthodoxie in Kirche und Schule, den religiösen Rückschritt und die evangelische Unfreiheit dem Volke durch Regulative und Maßregeln einzuimpfen sucht, die nur vom politischen Absolutismus übertroffen werden; wenn wir auf Hannover sehen, wo die zähe Strenggläubigkeit der Regierung fort und fort die constitutionellen Rechte und die religiöse Freiheit des Volkes bedroht: so müssen wir auf Baden mit Genugthuung hinblicken, wo durch Schenkel die kirchliche Bewegung begann und die Regierung auf der Seite des Fortschritts steht.

Und der Kampf und der Widerstand von Seiten der Verblendeten des Volkes, sowohl gegen die fortschreitende Regierung, als gegen Schenkel, ist nicht ausgeblieben. Ein großer orthodoxer Theil der Geistlichkeit und des ihr vertrauenden Volkes widersteht fanatisch dem Fortschritte und sucht in jeder Weise der Regierung Hindernisse in den Weg zu legen. Für das freisinnige Schulgesetz, welches den katholischen Klerus in Aufruhr gebracht, hat die Regierung nur mühsam die Mehrheit der Stände gewonnen, um es zu veröffentlichen. Und gegen Schenkel und gegen sein Buch, „das Charakterbild Jesu“, erhob die Schaar der Finsterlinge einen Schrei der Verdammung. Nach einer fanatischen Agitation unterzeichneten einhundert und siebenzehn Geistliche einen Protest, worin sie Schenkel für unfähig erklärten, ein theologisches Lehramt zu bekleiden, die oberste Kirchenbehörde darin aufforderten, ihn aus seiner Stellung als Seminardirector, als Professor und als Kirchenrath zu entfernen. Nur die hinter ihm stehende freisinnige Regierung und oberste Kirchenbehörde waren im Stande, durch Herbeiführung einer Conferenz zu Durlach und durch eine Entscheidung des obersten Kirchenraths, ihn dem Märtyrerthum zu entziehen. Daß die Regierung und oberste Kirchenbehörde auf freisinniger Bahn wandeln; daß letztere entschieden hat, „das Vertrauen der Gemeinde zum Christenthum könne nur geschwächt werden durch jeden Versuch, dasselbe der freien Forschung zu entziehen“, ist Schenkel’s Werk. Das Princip der Lehrfreiheit, wenn auch in einem kleinen Theile der protestantischen Kirche, bleibt unter allen Umständen ein Sieg, und diesen Sieg erfocht Schenkel.

Die Bedeutung der Schenkel’schen Wirksamkeit, die der Urheber dieses Charakterbildes hier gezeichnet, ist aber nicht blos eine Phrase, sondern eine von allen Parteien anerkannte. Die traditionsgläubige, orthodoxe Geistlichkeit mit ihrem Anhange möchte ihn dieser Wirksamkeit wegen aus seiner Stellung stoßen. Der freisinnigen extremen Partei geht er in seinem Wirken nicht weit genug und gern möchten sie ihn bis zur Isolirung drängen; die Berliner Hoftheologen mit ihrem Kreuzzug, Hengstenberg an der Spitze, sehen in ihm den Antichrist. Nur die freisinnige Regierung weiß ihn als aufgeklärten badischen Landestheologen zu schätzen, der bei aller Schonung für das kirchliche Bewußtsein der Gemeinde die Reaction zu brechen versteht. Diese Anerkennung zollt ihm auch der Herzog Ernst von Coburg, indem er Schenkel bei Gelegenheit seiner neuesten Schrift, „die protestantische Freiheit im Kampfe mit der kirchlichen Reaction“, gratulirte, daß er „sowohl der verdammungssüchtigen Orthodoxie, wie auch dem wohlfeilen Spott der Fanatiker des Unglaubens“ entgegen getreten.

In einem andern Lichte muß uns aber Schenkel’s Charakterbild erscheinen, wenn wir ihn als theologischen Schriftsteller betrachten. Als Schriftsteller ist Schenkel, wie sein Gegner Strauß mit Recht sagt, wirklich nur ein Halber. Obgleich er von Strauß die Anregung empfangen, auf demselben freien Standpunkt steht und vor der Orthodoxie in gleicher Verdammniß ist, hat er dennoch, um seine kirchliche und akademische Stellung nicht zu verlieren und einen Freibrief für seine praktische Wirksamkeit zu haben, sein Vorbild in dem Aufsatze „das Christenthum und die Humanitäts-Religion“ verleugnet und im Kampfe gegen den kirchlichen Wahn und den religiösen Aberglauben nicht die ungetheilte Wahrheit gesagt. Und kann man auch nicht mit Strauß, bei dessen Verstandeseinsamkeit und Isolirung, darin einstimmen, daß Schenkel’s Charakterbild Jesu ein verschwommenes, vermittelndes und also charakterloses Buch sei, so können doch seine besten Freunde vom schriftstellerischen Standpunkte aus diesem Buche keine Entschiedenheit [716] und keinen Charakter zuschreiben. Ueber die biblischen Wunder bei dem „Christus des Glaubens“ stimmt er im Princip mit Strauß überein, wenn er sagt: „Jede einzelne Wundererzählung der evangelischen Geschichte verfalle dem unerbittlichen Gerichte der Kritik; in jedem einzelnen Falle habe nicht der Glaube, sondern der auf’s Strengste prüfende Verstand zu entscheiden.“ Bald jedoch sucht er den Wundergeschichten durch täuschende Umschreibungen eine geschichtliche Grundlage zu geben oder sie zu Thatsachen abzuglätten, um nicht als Ketzer verschrieen zu werden, oder endlich sie in einer rednerischen Figur verschwimmen zu machen. Eine solche nichtssagende Redefigur ist z. B. der schönklingende Satz: „Die Gottheit ist mir das Wunder der Wunder; Gott ist mir der Geist der Geister; wunderbar ist mir das Leben des Geistes schon in dem ersten Stammeln des Kindes, wie vielmehr in den Heldengestalten geistiger Kraft und sittlichen Muthes, in den heiligen Vorkämpfern auf dem mit Schweiß und Blut getränkten Wege der Erlösung der Menschheit von Sünde, Knechtschaft und Qual.“ Darin ist aber der biblische Wunderglaube in der Schwebe gehalten. In der allgemeinen kirchlichen Darstellung des „Versöhnungstodes Jesu, des Gottmenschen, als Bild und Bürgschaft der Begnadigung und Seligkeit und als Erlöser“, theilt Schenkel ganz die Meinung von Strauß, daß diese Vorstellung eine unwissenschaftliche und daher unberechtigte sei, weil aus der unphilosophischen Idee von einem sühnenden, blutigen Opfer hervorgegangen. Er sieht vollständig ein, daß dieser Begriff aus dem A. T. herübergekommen ist. Und doch umschreibt er sodann diese kirchliche Ansicht zu Gunsten des gläubigen Volkes, indem er sagt: „Jesus habe die Menschheit von den Irrthümern des Heidenthums und Judenthums befreit, von der dumpfen Gewalt der Sünde, von den verderblichen Mächten der Sinnlichkeit und Selbstsucht losgemacht und ihr das ewige Wesen der Gottheit, die heilige Liebe, durch das höchste Opfer, welches die Geschichte aufweist, geoffenbart“. Als Schriftsteller, welcher die Wahrheit rücksichtslos ausspricht, hätte er aber die Unwürdigkeit der Vorstellung des Sühnopfers und das Willkürliche von einem zürnenden Gott darlegen müssen.

Daniel Schenkel.


Und mußte er nicht den Einwurf der Nüchternen – die im Glaubensgefühl Lebenden kommen hier nicht in Betracht – gewärtigen: Welches sind die heidnischen und jüdischen Irrthümer, und ist die Menschheit davon erlöst? Ist wirklich die Gesellschaft von der Gewalt der Sünde, der Sinnlichkeit und der Selbstsucht befreit? Schenkel sagt ausdrücklich im Vorwort zu seinem „Charakterbild Jesu“, daß seine Untersuchungen nur geschichtlicher Natur und nicht aus dem kirchlichen Dogma geschöpft seien, daß seine Zeichnung des Charakterbildes nur von der erweisbaren Seite ausgegangen sei, und doch hat er in der Sucht, das Historische mit dem Kirchenglauben zu vermitteln, die alten theologischen Formeln nicht verschmäht, das Wunderhafte und Uebermenschliche, womit Sage und Dichtung das Geschichtliche durchflochten, seiner Schilderung des Heilands beigegeben und dadurch das Natürliche und Menschliche geschädigt. Das Wunder der Auferstehung, der Wiederauflebung des Gekreuzigten, sowie die Annahme eines Scheintodes hat Schenkel mit Recht entschieden abgewiesen und den erzählten Vorgang in den Evangelien als rein psychologischen im Innern der Jünger angesehen. Und neben diesem Freimuth, der bekanntlich einen Sturm der orthodoxen Partei erregt hat, behauptet dann Schenkel die „persönliche Verklärung des Gekreuzigten nach seinem Tode in einem höheren realen Dasein und die geistvermittelte Einwirkung der verklärten Persönlichkeit auf die Jüngergemeinde“, oder „die reale Manifestation seiner aus dem Tode lebendig und verklärt hervorgegangenen Persönlichkeit Jesu“, gleichsam um durch diese phantastischen Redensarten den erregten Sturm zu beschwichtigen.

Von solchen und ähnlichen Gegensätzen ist Schenkel’s „Charakterbild Jesu“ voll. In seinem historischen Gewissen übt er zwar eine strenge rücksichtslose Kritik, aber um den allgemeinen Kirchenglauben des Volks zufrieden zu stellen, verbrämt er die Kritik mit hochklingenden, weihevollen Phrasen. Das ist die schriftstellerische Vermittelung, die sich durch alle Arbeiten Schenkel’s zieht. Aber diese verschafft ihm das Vertrauen der Regierung und der Bessern der Gemeinde, durch diese hat er seinen Einfluß auf die freisinnige kirchliche Entwickelung Badens bewirkt, und um dieser hochwichtigen Wirksamkeit willen stehen erleuchtete Männer, wie Bluntschli u. A., zu ihm. Die praktische und reale Wirksamkeit, der Einfluß nach oben und unten ist das vorzüglich Berechtigte in Schenkel’s Thätigkeit, ist Grundzug seines eigenen Charakterbildes und war das Strebeziel in seinem Leben. Er ist sich so sehr dieses einzigen Zieles bewußt und dieses ist so ganz mit seinem Denken verwachsen, daß er mit Bedauern auf die Himmelsstürmer hinabsieht, welche in schrankenloser Consequenz sich alles Einflusses begeben, in schroffer Aussprache ihrer Gedanken die Welt von sich stoßen und von den religiösen Fortschritten sich fern halten. In diesem Sinne ruft Schenkel seinem Gegner Strauß mit Bedauern zu, daß er „in seiner Verstandes-Einsamkeit allen Einfluß auf den Gang der Ereignisse verliere“, ohne zu bedenken, daß es Märtyrer giebt, die sich für die erkannte Wahrheit opfern und der Nachwelt die Wirkung ihrer Gedanken überlassen.

Eine kurze Skizze von Schenkel’s vielbewegtem Leben wird uns den Zug seines Strebens erklären. Geboren den 21. December 1813 in einem Dorfe des Cantons Zürich, wo sein Vater Landgeistlicher war, kam er erst 1828 in eine Schule zu Basel, wo er nächst classischen Studien auch die deutsche Literatur studirte, an Herder, Lessing und Goethe sich heranbildete. Erst der Baseler [717] Krieg von 1831 riß den achtzehnjährigen Jüngling aus seinen stillen Studien und führte ihn auf drei Jahr in das Baseler Jägerbataillon, um als Zunftbürger in Schaffhausen, der schon sein Vater gewesen, gegen die Uebergriffe der Landgemeinden Partei zu nehmen. Nach Schweizer Art wurde er früh schon auf das Praktische hingeleitet. Als er 1833 ein Berufsfach wählen mußte, da wählte er durch den Einfluß des freisinnigen de Wette die Theologie, und die liberal-rationalistische Richtung de Wette’s blieb der theologische Grundzug Schenkel’s. In Göttingen wurde er nicht nur in derselben theologischen Richtung durch Lücke und Gieseler bestärkt, sondern auch zur Erforschung der älteren Kirchengeschichte und des Urchristenthums angeregt. Von 1838 bis 1841 wirkte er als Privatdocent in Basel, als Lehrer am dortigen Gymnasium und als Redacteur der Baseler Zeitung im politisch und kirchlich liberalen Sinne und durch die Kämpfe mit der katholisirenden Partei in Schaffhausen kam er als erster Prediger und Kirchenrath an das Münster daselbst. Hier mußte er als Vorsteher des Schulwesens, Ephorus des Gymnasiums und als Kirchenhaupt nur auf praktische Wirksamkeit bedacht sein; ein freisinniges Schulgesetz und die Oberleitung einer radical gesinnten Gemeinde bildeten die nächste Thätigkeit, und die Kirchen-Reformen, wie die Abschaffung des Eides auf die helvetische Confession, die Errichtung einer demokratischen Kirchenbehörde, folgten nach. Das erste große dreibändige Werk Schenkel’s: „Wesen des Protestantismus (1847)“ verschaffte ihm 1850 einen Ruf als Professor nach Basel, im Jahre 1851 nach Heidelberg, wo er sich noch befindet und in freisinniger Weise wirkt. Die Versuche Bethmann-Hollweg’s, des Mannes der Schulregulative, Schenkel für Bonn zu gewinnen, scheiterten; er glaubte in Heidelberg besser am Platze zu sein, wo er durch seine vermittelnde Richtung die noch damals herrschende kirchliche Reaction zu besiegen hoffte. Und dieser Sieg ist ihm gelungen. Nach vier Jahren des Kampfes mit den kirchlichen Versammlungen (1851 bis 1855) ist es ihm von 1855 bis 1865 gelungen, eine freisinnige Strömung innerhalb der badischen Kirche herbeizuführen, das Concordat zu beseitigen, die Lehrfreiheit herzustellen, das Christenthum der aufgeklärten Anschauung näher zu bringen und auf Regierung und Regierte einen wohlthätigen Einfluß zu üben.