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Eine Augencur in der fränkischen Schweiz

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: F. B.
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Titel: Eine Augencur in der fränkischen Schweiz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 88
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[88] Eine Augencur in der fränkischen Schweiz. Wie glänzend der Unfug, welcher mit den sogenannten Hausmitteln getrieben wird, noch blüht, besonders in jenen düstern Strichen unseres Vaterlandes, wo religiöser Fanatismus das Scepter führt, dafür diene das folgende Geschichtchen als Beispiel!

Ich war eines Sommertages so recht in der Quere herumgelaufen, als ich endlich bemerkte, das auf diesem Wege mein Ziel, das Städtchen G…, unmöglich zu erreichen sei. Außerdem erinnerte mich mein knurrender Magen daran, daß die Mittagsstunde längst geschlagen haben müsse, und richtig, der kleine Zeiger meiner Uhr deutete auf zwei.

Also fünf Stunden bergauf und -ab gelaufen und noch immer kein Dorf, nicht einmal ein Bauernhof oder Forsthaus zu erblicken! Schöne Aussichten! Im Stillen ärgerte es mich schon, daß ich mich durch das herrliche Sonntagswetter hatte verleiten lassen, die kurze Reise per pedes anzutreten. Doch glänzte dort, über der sanft verlaufenden Hügelkette, nicht das goldene Kreuz einer Kirchthurmspitze im Sonnenschein? Bim, bam bam! – Melancholisches Glockengeläute; L–bach lag vor mir.

Munter setzte ich den Fuß in’s Thal, mich schon im Voraus auf das solenne Mittagsessen freuend, welches ich dort unten im Pfarrdorfe zu bekommen hoffte. Ich trat in das erste Wirthshaus; die Stube war vollständig leer; nur ein kleines Mädchen saß vor der Thür.

„Wo ist der Wirth?“ fragte ich.

„Nicht daheim – sind Alle bei der Procession.“

Procession im Dorfe! Die Aussicht auf ein Mittagsessen wurde ziemlich wankend. „Nun, vielleicht bekomme ich in einem andern Wirthshause etwas zu essen,“ tröstete ich mich selbst. Aber so wie es mir in dem ersten ergangen war, erging es mir auch in den beiden andern Wirthshäusern, und mißmuthig lenkte ich meine Schritte weiter.

Am äußersten Ende des Dorfes vor einem großen, wohlhabend aussehenden Gebäude saß ein kleiner Knabe auf der Steinbank. Und seltsam – was er für eine Brille auf den Augen hatte! Zwei Nußschalen durch einen Bindfaden verbunden, welcher auf dem Hinterkopfe fest zusammengeknüpft war! Anfangs glaubte ich, der Kleine dürfe nicht in den hellen Sonnenschein blicken und die Nußschalen sollten die mangelnde dunkle Brille ersetzen; ich mußte lachen über die naive Auffassung, sollte aber bald eines Schrecklichen belehrt werden.

Als ich näher kam, hörte ich den Knaben wimmern und klagen, und was hatte das zu bedeuten? Die Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt.

„Thun Dir die Augen weh?“ fragte ich.

„O, die Spinnen – die Spinnen! Macht’s los! Ich halt’ es nicht mehr aus,“ jammerte er.

In den Schalen waren kleine Löcher eingebohrt, und aus dem einen streckte sich eben ein langes dickes Spinnenbein hervor. Rasch zog ich mein Taschenmesser und durchschnitt den Faden. Die Brille fiel, und zwei wahrhaft gemästete Kreuzspinnen suchten zu entkommen.

Die Augen des Kindes fürchterlich entzündet, das Weise dunkelroth unterlaufen, die Ränder und Lider dick mit Spinnenkoth bedeckt – es war ein entsetzlicher Anblick.

Plötzlich erhob sich ein zorniges Geschrei hinter mir. Eine robuste Bäuerin, das silberbeschlagene Gebetbuch unterm Arm, stand da und ließ eine ganze Fluth Schimpfwörter und Verbalinjurien über mich hinrollen, weil ich die Spinnen zertreten, welche sie mühsam in der Kirche hinter dem Altar gefangen hatte. Ich wollte der Frau das Unnatürliche ihrer Handlung vorstellen, aber sie ließ mich gar nicht zu Worte kommen.

Indessen kam der Mann derselben herbei. Diesem suchte ich nun die Sache aus einander zu setzen, stets unterbrochen durch das laute Schelten der Frau, welche das Kind mit Schlägen in’s Haus trieb.

„Ja, lieber Freund, das verstehen Sie nicht,“ meinte der Mann in wichtig jovialem Ton; „das Kind hat ein Gerstenkorn (kleines Geschwür) am Auge, und die Spinnen müssen dieses Korn fressen, natürlich nur solche, welche in der Kirche hinter dem Altar gefangen worden sind. Dann ist es vorbei und kommt nie wieder.“

O sancta simplicitas, o bodenloser Blödsinn!“ konnte ich nur ausrufen.

Der Bauer lachte mich aus. Durch das laute Schimpfen der Frau hatten sich bald viele Männer und Weiber des Dorfes um uns versammelt, und Jeder wollte darauf schwören, die Cur sei unfehlbar.

Der Bader des Ortes, ein sehr vernünftiger Mann, nahm mich bei Seite.

„Lassen Sie es gut sein!“ sagte er leise. „Aendern können Sie es doch nicht; nur Unannehmlichkeiten kann es Ihnen eintragen. Solcher Hausmittel, die einem die Haut schaudern machen, haben die Leute noch mehr in der ganzen Gegend, und alte Weiber spielen die Doctoren dabei. Das Gerstenkorn wäre ohne jedes Mittel längst vergangen – so aber wird das Kind vielleicht blind, wie es schon viele durch diese scheußliche Cur geworden sind.“

Als ich das Dorf verließ, saß vor der Thür des großen Hauses wiederum das Kind, es hatte abermals den gräßlichen Schmuck auf den Augen; die Frau stand dabei und sah mir drohend nach. Ich suchte schleunigst das nächste Dorf zu erreichen, aber der Appetit war mir vergangen.

F. B.