Eine Knaben-Armee unter Waffen

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Autor: K. N.
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Titel: Eine Knaben-Armee unter Waffen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 636-638
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine Knaben-Armee unter Waffen.
Von K. N.

Die Olivenpflanzungen Elihu Burritt’s haben nicht gedeihen wollen. Die Welt kann sich nicht überzeugen, daß die Friedfertigen sich von den Händelsuchern müssen mit Füßen treten lassen. Sehr einsam stehen noch immer die Manchestermänner, welche verwundert fragen: „ob man nicht auch unter französischer Herrschaft Baumwolle spinnen und Geld machen würde?“ Jedes Volk, das sich nicht selbst aufgibt, hält es mit dem guten alten: „Ehrhaft, wehrhaft!“ Und wenn denn Europa wirklich ein Karpfenteich ist, wie Professor Leo meint, so wollen auch wir Deutsche lieber Hechte als Karpfen sein und uns in die gehörige Verfassung setzen, um jeder auswärtigen Macht etwaige freche Gelüste vertreiben zu können.

Sicheres und mustergültiges Mittel zu solchem Zwecke ist das Milizsystem, wie es in der Schweiz ausgebildet ist. Es verbürgt zugleich die innere Freiheit und äußere Unabhängigkeit. Neigung und Pflicht ist da Eins. Das friedlichste und arbeitsamste Volk der Erde ist zugleich das gerüstetste und kriegerischste. In der schweizerischen Anschauung ist Bürger und Soldat untrennbar, weil sonst der Bürger zum Unterthan eines einheimischen oder fremden Herrn herabsinken würde. Folge dieser Anschauung ist, daß die Schweiz kein stehendes Heer hat und doch in jedem Augenblick an Bundesauszug, Reserve und Landwehr (ohne die unorganisirte Landwehr und den Landsturm zu rechnen) gegen 200,000 waffengeübte Männer, mit einiger Anstrengung noch weit mehr, in’s Feld stellen kann. Auf diesem Fuße, der mit 4 bis 5 Millionen Francs eidgenössischer und kantonaler Ausgaben, also mit dem siebenten Theil der Militairkosten anderer Länder erzielt wird, könnte Deutschland gleichfalls acht Procent der Bevölkerung, also 3½ Millionen Streiter aufbringen und brauchte keine Welt in Waffen zu fürchten.

Als Voraussetzung oder doch wesentliche Erleichterung des Milizsystems muß allerdings gelten, daß fast die Säuglinge schon schießen lernen und die Jugend nicht blos im Turnen, sondern auch im Waffenwerk geübt werde. So ist es in der Schweiz. Dem zarten Knaben schon wird der Gedanke geläufig, daß er vor allen Dingen sich zum Vaterlandsvertheidiger ausbilden muß. Und fürwahr, zu dem Schönsten, was ein Menschenauge schauen kann, gehört die heranwachsende, frische Jugend in Wehr und Waffen. Dem denkenden Angehörigen dieser oder jener großen und breiten Nation von 30, 40 und mehr Millionen zuckt es krampfhaft durch die Brust und sein Auge verdüstert sich, wenn er im freien Alpenlande die wohlgeordneten Schaaren junger Soldaten mit blitzenden Bajonneten und wallenden Fahnen, mit rauschender Musik oder rasselnden Trommeln vorüberschreiten sieht und dann – der Heimath gedenkt! – –

Das schweizerische Cadettenwesen darf nicht nach deutschem Sprachgebrauch aufgefaßt werden; es ist nicht etwa ausschließlich dem Adel und den Officierssöhnen vorbehalten, sondern eine wirklich demokratische Einrichtung. Das erste bewaffnete Knabencorps finden wir schon gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts in der Stadt Bern. Doch erlangte die Waffenübung der Jugend erst allgemeinere Verbreitung, seit die helvetische Militairgesellschaft vor 80 Jahren anfing, auf Bildung von Cadettencorps hinzuwirken; die ausgezeichnetsten und berühmtesten Officiere widmeten sich der Sache mit Liebe und Sorgfalt. Ihre ersten Schöpfungen waren die Corps in Aarau, Sursen und Olten. Aarau hatte lange Zeit hindurch das schönste, größte und geübteste Corps; überhaupt ist das Cadettenwesen im Kanton Aargau am tiefsten eingewurzelt, und man trifft dort in allen größeren Ortschaften (Zofingen, Lenzburg, Brugg, Baden und noch einem Dutzend anderer) gut eingerichtete Corps. In den drei Vororten Zürich, Bern, Luzern war es Sitte, daß die Cadetten zu Ehren der Tagsatzung aufmarschirten, wie man denn auch sonst gern bei feierlichen Gelegenheiten diese Hoffnung des Vaterlandes bewaffnet vorführt. In Zürich bestand schon 1770 ein Knabencorps von Infanteristen und Artilleristen; seit Ausgang des vorigen Jahrhunderts schlief die Einrichtung zeitweise etwas ein, ist aber nach der Gesammtverjüngung des Kantons vom Jahre 1830 eifrig gepflegt worden. Außer der Hauptstadt gibt es Corps in Winterthur, Uster, Wald, Stäfa, Meilen, Horgen, Wädenswyl und andern Ortschaften am See. Bern, Biel, Thun, Burgdorf und viele andere Berner Städte üben seit 30 bis 40 Jahren ihre Schuljugend in den Waffen; von Staatswegen wird auch auf der Universität Bern und den beiden Lehrerseminaren für militärische Ausbildung gesorgt. Die Kantone Luzern, Solothurn, Baselstadt und Baselland, Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen, Appenzell-Außerrhoden, Glarus, Graubünden, Tessin, Waadt, Freiburg, Neuenburg erfreuen sich sämmtlich eines oder mehrerer Cadettencorps.

Fast in allen diesen Kantonen wird an den höhern und Mittelschulen (die Ausdehnung auf sämmtliche Schulen wird nicht lange ausbleiben) die Waffenübung gleich dem Turnen als Unterrichtsbestandtheil betrachtet und für jeden Schüler, den nicht körperliche Gründe verhindern, verbindlich gemacht. Die Cadettenzeit fängt mit vollendetem eilften Jahre an und dauert bis zum Alter von achtzehn und neunzehn Jahren. Der Exercirunterricht wird von kantonalen oder eidgenössischen Officieren und Instructoren ertheilt, gewöhnlich an zwei Nachmittagen wöchentlich, für die Reiferen einmal in der Woche. So lernt schon die Jugend Mannszucht; doch nicht blos im Gehorchen, auch im Befehlen wird sie geübt. Jedes Corps ist nämlich mit Officieren und Unteroffizieren aus seiner eigenen Mitte versehen; sie machen eine vortreffliche Schule durch, um später als Officiere in das eidgenössische Heer einzutreten. Alle gewesenen Cadetten, sowie sie zur Miliz übergehen, sind gesetzlich vom Recrutenunterricht befreit. Die Waffen werden vom Staat oder der Gemeinde geliefert; für die Uniform, die auch außer dem Dienst getragen werden darf, muß jeder Schüler selbst sorgen.

Die meisten Cadettencorps bestehen aus Infanterie (Jägern und Füsilieren); viele haben auch Artillerie, in Zürich z. B. 2 Zwei- und 2 Vierpfünder. In Aargau und einigen andern Kantonen sieht man sogar Grenadiere und Sappeure, nicht immer ohne Bart. Die Cavallerie wird überall hinzugedacht. Die Geschütze sind gewöhnlich Zwei- und Vierpfünder. Gewehr mit Bajonnet und Patrontasche, auch wohl noch Säbel und Tornister bilden die Bewaffnung und Ausrüstung der Infanteristen. In Erfindung verschiedener Uniformen hat die Phantasie das Mögliche geleistet. Durch einfache geschmackvolle Erscheinung zeichnen sich unter andern die Züricher Cadetten aus; sie tragen dunkelblauen Waffenrock mit weißen Metallknöpfen, helle blaugraue Beinkleider und dunkelblaue Mütze mit Cocarde. Jedes Corps hat eine oder mehrere Fahnen und Fähnlein. In vielen Kantonen gibt es tüchtige Musikcorps; andere, wie Zürich, nehmen billige Rücksicht auf die jugendlichen Lungen und begnügen sich mit soliden Trommeln nebst unentbehrlichem Tambourmajor.

Allenthalben ist es Sitte, das Schuljahr im Herbst mit einem Schulfest zu schließen, dessen Glanzpunkt der Ausmarsch und das Feldmanöver bildet. Die schweizerischen Jugendfeste, die auch bei den Volksschulen beliebt sind, haben sich einen wohlverdienten Namen erworben. In den Aargauischen Gemeinden ist am Cadettenfest die ganze Schuljugend, auch die weibliche in festlichem Schmucke, betheiligt. Zu den Feldübungen werden öfter Corps aus einem oder mehreren Kantonen zusammengezogen; bei solchen Gelegenheiten wogt Fröhlichkeit und Wetteifer der Jugend noch höher. So hielten die Berner Cadettencorps schon 1824 eine gemeinsame Uebung in der Nähe der Hauptstadt ab und haben seitdem fleißig damit fortgefahren. Im Jahre 1846 bezogen etwa 1000 Mann Aargauer ein Uebungslager bei Lenzburg; sie alle haben gewiß dies Cadettenfest, bei dem es überaus munter herging, in dankbarem Andenken behalten. Noch größerer Ruf ist dem heißen Kampf bei Wettingen zu Theil geworden, wo im Jahre 1821 die Aargauischen Cadetten mit den Zürichern und Winterthurern zusammen operirten. Zwei Brigaden mit 7 Geschützen, in einer Gesammtstärke von 1560 Mann, stritten dort um die Stellungen zwischen Wettingen und Baden; die ruhmvollste Affaire des Tages war die hartnäckige Vertheidigung und endliche Erstürmung der Wettinger Brücke. Alle ältern Waffenspiele dieser Art sind indeß durch das große ostschweizerische Cadettenfest vom September 1856 in Schatten gestellt worden. Dasselbe wird den vielen Tausenden activer und passiver Theilnehmer unvergeßlich bleiben, selbst wenn einmal ein vollständiger Zusammenzug sämmtlicher Cadettencorps der Schweiz zu Stande kommt. Zehn Kantone waren damals betheiligt: Aargau stellte 974 Mann, Zürich 805, St. Gallen 472, Schaffhausen 186, [637] Graubünden 166, Außerrhoden 155, Luzern 148, Thurgau 111, Glarus 60, und selbst Tessin sandte eine Abordnung von 84 über den Gotthard. So zogen denn nicht weniger als 3161 junge Helden in den mannichfaltigsten, meist kleidsamen Uniformen, mit Musikcorps, 124 Trommeln, zahlreichen Bannern und 18 Kanonen von allen Seiten her in das festlich geschmückte Zürich ein. Bei Oerlikon und Schwamendingen in zwei Divisionen gegen einander aufgestellt, wiederholten sie mit Lust und Liebe das Treffen vom 4. Juni 1799, in welchem die Franzosen unter Massena von den Oesterreichern unter Erzherzog Karl geworfen wurden.

Die Jugend in Zürich, wie in andern Kantonen, kann sich nicht beklagen, daß ihr Körper über dem Geist vernachlässigt werde; zeitweise möchte sogar Uebertreibung der körperlichen Anstrengung zu besorgen sein. Die Kantonsschüler (Gymnasiasten und Industrieschüler, darunter eine Anzahl Ausländer, besonders Deutsche) turnen das ganze Jahr hindurch; ihr Soldatenleben ist jedoch auf das Sommerhalbjahr beschränkt und treibt seine schönsten Blüthen in den Monaten August, September und October. Im August findet seit alter Zeit das Knabenschießen für alle städtischen und sonstigen in der Stadt wohnenden Schüler statt. Dabei schießen die Kleineren mit aufgelegtem Gewehr, die Größeren aus freier Hand nach der Scheibe; eine große Anzahl von der Stadt und Privaten ausgesetzter Preise belohnt die Schwarztreffer und die ihnen zunächst stehenden glücklichen Schützen. Im September halten die Cadetten, sowohl Artilleristen als Infanteristen, ihr Zielschießen ab. Im October kommt das „Vorkämpfli“ und darauf das Jahresschulfest mit Turnspielen und großem Cadettenmanöver.

Beim diesjährigen Vorkämpfli, am 1. October, war der Feind, wie gewöhnlich, nur in der Einbildung vorhanden; dennoch wurde mit einem Eifer auf ihn geschossen, als wäre er von Fleisch und Blut. Es galt, einen Feind von Windikon bis zum Höckler zu verfolgen. (Für die Leser, welche in Zürich waren, führen wir die Ortsnamen an.) Man zog über die bedeckte Brücke von Außersihl aus und entsandte eine Umgehungscolonne durch die oberen Waldhöhen, während das Gros an der Sihl entlang das Gehölz und die Lichtungen säuberte. Beide Abteilungen vereinigten sich wieder bei der Höcklerbrücke und zogen dann auf die große Wollishofer Allmend, wo tüchtig im Feuer exercirt ward. Ein herrlicherer Platz für Truppenentfaltungen, als dies auf allen Seiten von Höhen umgebene tellerflache Sihlbecken, kann nicht gedacht werden; jedem Schusse antworten zahlreiche Echos. Die Züricher und eidgenössischen Truppen exerciren, schießen und lagern gleichfalls auf jener Allmend.

Das Jahresfest der Kantonsschule ging als Turntag und als Cadettentag vor sich. Das an die Schüler vertheilte Programm enthält die Reihenfolge der Begebenheiten, die Supposition des Manövers und einige nützliche Randbemerkungen in fetter Schrift: „Bahn frei! – Rauchen ist den Schülern am Feste untersagt! – Nicht hitzig! – Ladstock nicht vergessen! – Stets 120 Schritte Distanz!“ Morgens 6 Uhr wird Tagwache geschlagen von der Hauptwache aus in drei Richtungen. Das weit und breit verrufene Züricher Festwetter ist, wie schon seit ein Paar Jahren, nirgends zu blicken und vollkommen überflüssig wird die schreckliche Clausel des Programms: „Wenn bei üblem Wetter das Schlagen der Tagwache unterbleibt, so wird das Fest verschoben und ist von 8 Uhr an Schule.“ Durch die morgentlichen Herbstnebel bricht bald eine strahlende Sonne, zur Freude der Menschen und ihrer geliebten Reben; der Schlachttag ist so heiß, wie man sich ihn nur wünschen mag. Unter Leitung des trefflichen Turnlehrers Niggeler wurden am 5. October Vormittags Riegen- und Wettturnen abgehalten, Nachmittags Frei- und Ordnungsübungen ausgeführt. Gegen Abend Eröffnung des Urtheils der Kampfrichter und Vertheilung der Turnpreise.

Am zweiten Tage eilt die gesammte Mannschaft, gegen 500 Köpfe stark, in Uniform und Waffen um 7 Uhr zur Kaserne und marschirt auf den Platz beim Bahnhof, wo von 8 bis 10 Uhr der Director der Waffenübungen, Oberst Ziegler (Regierungsrath und Vorsteher des Militairdepartements, also nach monarchischer Sprachweise Kriegsminister), in Begleitung einer Abordnung der Aufsichtscommission, die große Inspektion über seine „jungen Cameraden“ vornimmt. Um 12½ Uhr sammelt sich das Cadettencorps wieder bei der Kaserne, um die Munition zu fassen, und marschirt um 1 Uhr zum Manöver aus. Es ist in zwei kleine Heere getheilt, deren jedes aus Centrum, rechtem und linkem Flügel und Reserve besteht. Der Feind rückt unter dem Befehl des Oberstlieutenants v. Escher über Riesbach und Zollikon in seine Stellung. Das eidgenössische Corps, von Commandant Nadler geführt, nimmt seinen Weg über Hirslanden und den Balgrist. Es ist nämlich auf den Höhen oberhalb Zollikon in der Gegend von Wytellikon der rechte Flügel eines auf dem rechten Seeufer gegen Zürich anrückenden feindlichen Corps angekommen und hat dort Halt gemacht, nachdem er durch die vorgesandten Recognoscirungspatrouillen und Kundschafter erfahren, daß das Burghölzli und die Höhen des Balgrist von den in und um Zürich stehenden eidgenössischen Truppen in der Absicht besetzt seien, das weitere Vordringen des Feindes über Hirslanden zu verhindern. Die Eidgenossen greifen um 3 Uhr den Feind in seiner Bergstellung an, werden aber trotz wiederholter Versuche nachdrücklich abgeschlagen und sind genöthigt, sich vor dem nunmehr über Unter- und Oberried offensiv vorgehenden Feinde zurückzuziehen, was indes; in guter Ordnung und unter mehrmaliger Bestreitung des Terrains geschieht. Zwar wird eine Seitencolonne abgeschnitten, aber der Feind muß große Opfer bringen, bis er das mörderische Feuer der auf der Oberrieder Höhe sehr günstig aufgestellten eidgenössischen Artillerie zum Schweigen bringt und sodann in der Niederung weiter vordringt.

Der Kampf bietet manche malerische Momente dar. Nirgends wird man ein so mannichfaltiges, zerschnittenes Gefechtsterrain finden, wie im schweizerischen Vorlande. Namentlich in der Gegend von Zürich hat man nur die Verlegenheit der Auswahl. Für die Jäger gibt es überall Deckungen und Verstecke, die Linie kann sich nach Bedürfniß ihre Stellungen aussuchen und der Artillerie stehen die bequemsten Höhen zu Gebote, um Thal und Ebene zu beherrschen. Beim diesjährigen Manöver haben die Führer Mühe, den ausgebrochenen Jägerketten die Schüsse im Lauf zu bannen, bis sie in gehöriger Nähe angelangt sind. Endlich fällt der erste Schuß und gibt das Zeichen für unzählige Nachfolger. Eine wahre Freude ist’s, zu beobachten, wie die Plänkler sich beim freien Vorlauf so klein wie möglich machen, wie sie geschickt jeden Vortheil des Bodens benutzen, wie sie jedem Schusse den Erfolg zu sichern trachten. Dieser oder jener dünkt uns ein hübscher kleiner Zuave. Sogar Anlagen zu Turcos entwickeln sich: Einer ladet sein Gewehr, platt auf dem Rücken liegend, ein Anderer schnellt sich im Tigersprung vorwärts. In die Jägerkette beordert zu werden, gilt für ein besonderes Glück; da gilt der Mann noch etwas, hat freie Bewegung und Patronen vollauf. Doch auch dem Gros, das festgeschlossen und in strenger Ordnung operiren muß, wird vergönnt, seinen Grimm in reichlichem Rottenfeuer und donnernden Bataillonssalven zu entladen. Mit innigem Vergnügen hören wir hundert Gewehre auf Commando einen einzigen Schuß abfeuern und schauen der wohlriechenden Pulverwolke nach. Zur Abwechslung schließen wir uns der wackern Artillerie an. Zwar hat sie noch keine gezogenen Kanonen, aber darum ist sie nicht minder beflissen, kaltblütig zu zielen und den Feind von ihrem Dasein gründlich zu überzeugen. Ab- und aufgeprotzt wird so flink, wie in erwachsenen Armeen auf schwierigem Gelände schleppen die stämmigen jungen Kannoniere selbst ihre Stücke.

Der „Cadettenvater,“ Oberst Ziegler, begleitet als Unparteiischer die Schlacht und geht auf der Wahlstatt hin und her, schmunzelnd, wenn einer Abtheilung ein rechter Schlag gelungen. Sobald die „sich rückwärts concentrirenden“ Eidgenossen bei ihren günstigen Aufnahmepositionen angelangt sind, halten sie gebührend Stand und bieten jedem fernern Angriff Trotz. Der Feind überzeugt sich, daß die eidgenössischen Streitkräfte den seinigen vollkommen gewachsen sind und ein weiteres Vordringen nicht möglich ist. Er macht Halt und bricht das Gefecht ab. Selbstverständlich muß zu guter Letzt immer das weiße Kreuz im rothen Felde Meister bleiben.

Schon manches Manöver ist ohne allen Unfall abgelaufen, heute aber ist wieder einmal ein tückischer Ladstock stecken geblieben und einem Cadetten durch den linken Oberarm gefahren, glücklicher Weise so, daß schlimme Folgen nicht zu befürchten sind. Die jungen Hitzköpfe finden gar leicht, daß bei den 150 Schritt Entfernung eine Null zu viel stehe. Auch ein Zuschauer hat durch einen zweiten desertirten Ladestock eine leichte Verletzung davongetragen; das bei dem beliebten Volksfeste zahlreich versammelte Publicum mischt sich eben sorglos in’s Schlachtgetümmel. Sogar die europäischen Diplomaten, die seit acht Wochen in Zürich mit vereinigten Kräften dem Nichtsthun obliegen, sind ziemlich vollzählig zugegen und werden ohne allen Zweifel ihren Regierungen mit glühender [638] Bewunderung vom Cadettenthum berichten und dessen Einführung dringend empfehlen.

Nachdem die Parteien sich Angesichts der Alpen und des Sees anderthalb Stunden herumgeschlagen und eine Weile ausgeruht, marschiren sie, brüderlich vereint, jeder Mann einige Zoll höher, theils unter Trommelschlag, theils patriotische Lieder singend, von den Höhen abwärts zur Seestraße und ziehen in Tiefenbrunnen ein. Auf der grünen Matte dieses gastlichen Vergnügungsortes werden die Gewehre in Pyramide gestellt. Dann geht es nach des Tages Last und Hitze mit beflügeltem Schritt und scharfem Appetit in den reizend am See gelegenen Garten des Wirthshauses, um einem zweiten Feinde, der auf langen Tischen in Gestalt von Broden, Würsten und weingefüllten Gefäßen harrt, eine entscheidende Niederlage beizubringen. Der Staat trägt ja großmüthig die Kosten. Die Taschenmesser, welche nicht zu vergessen das Programm ermahnt hat, sind in der That nicht vergessen worden. Jubelnde Hoch’s würzen den Labebecher. Es ist Nacht geworden, und bei Fackelschein, nachdem die jungen Soldaten wieder unter’s Gewehr getreten, verliest und vertheilt Oberst Ziegler die Schießprämien. Der Name jedes Siegers wird mit Trommelwirbel und Hochrufen begleitet. Die Ergebnisse des Zielschießens sind nicht so befriedigend wie voriges Jahr: die Artillerie hat 65 Procent Treffer, die Infanterie mit ihren Musketen 28, gegen die vorjährigen 86 und 33 Procent im Durchschnitt aller Entfernungen. Die beiden ersten Preise der Infanterie fallen wieder Glarnern zu; dies Völklein, durch seine Scharfschützen berühmt, hat seit sieben Jahren auf den ersten Preis Beschlag gelegt.

Endlich wird der Rückmarsch angetreten. Unter heiteren Gesängen durchzieht das Cadettencorps die Seefeldstraße und wird auf dem Münsterhof entlassen, um zu Hause auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Die Officiere, Instructoren und Lehrer, obwohl sie bereits in Tiefenbrunnen der Jugend beim Abendimbiß Gesellschaft geleistet, zechen und toastiren dann noch gemüthlich zusammen bis Mitternacht oder etwas darüber.

Wir sind keine Freunde des Soldatenspielens, wie es in Deutschland beliebt wird, aber ähnliche Feste wünschen wir recht bald der geliebten Jugend unseres großen, schönen Vaterlandes!