Eine Leonore

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Autor: Elise Polko
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Titel: Eine Leonore
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 192-195
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Erstaufführung Beethoven’s Oper „Fidelio“
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Eine Leonore.
Skizze von Elise Polko.
 Ueber das Herz zu siegen, ist groß – ich verehre den Tapfern;
 Aber wer durch sein Herz siegt, der gilt mir noch mehr!
 Schiller

Die fröhlichen Bewohner der schönen Kaiserstadt Wien, so geschäftig und ruhelos sie auch immer von einem Tage in den andern eilen, so wechselnd sie sich oft zeigen in ihren Neigungen, so vergnügungsdurstig sie erscheinen, haben sie doch zu allen Zeiten in einer Empfindung einen tiefen Ernst und eine rührende Innigkeit an den Tag gelegt: in der Empfindung für ihre großen Musiker. Der Wiener war und ist auf solche Erscheinungen eben so stolz als auf seinen Kaiser und – auf seinen Prater. Daß sich die Wiener damals nicht gerade darum sorgten, ob ihr lieber Haydn, Mozart und Beethoven auch tagtäglich „Backhahndel“ zu verzehren hatten, ob ihre Wohnungen behaglich, ihre Beutel gefüllt waren, das konnte und durfte man ihnen nicht übel nehmen, jedes ächte Wiener Kind hat „halt“ gar zu viel mit sich selber zu tun. Jeder aber freute sich von Herzen und strahlte ordentlich, wenn er wieder ein neues Stück von seinen Lieblingen hörte, ließ sie dann auch hoch leben, d. h. mit dem Glase in der Hand, und zog gewiß den Hut bis zur Erde, wenn Einer oder der Andere jener berühmten Männer ihm einmal zufällig in den Weg kam. – Lächelt nicht! Das ist schon sehr viel! Wie mancher große Geist in schlichter Körperhülle ging an den Menschen vorüber, ohne daß ihn Einer warm anschaute, ohne daß ihm Einer dankte für das, was er geschaffen. – Und doch trifft eben solch’ ein Anschauen und Danken die Seele wie ein Frühlingssonnenstrahl, und kein Mensch, so erhaben er auch sei, so hoch über Alle er auch stehe, vermag solches ohne Schmerzen zu entbehren.

In dem ungewöhnlich schönen Monat Juni des Jahres 1822 konnte man täglich genau zu derselben Nachmittagsstunde auf dem sogenannten Wasserglacis einen hochgewachsenen Mann einsam auf und abwandeln sehen, dem jeder Begegnende ehrerbietig auswich. – Keine Minute früher noch später erschien dieser düstere Spaziergänger,

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Wilhelmine Schröder-Devrient und Beethoven.

weder Gluth noch Regenschauer vermochten seinen Schritt zu beschleunigen, keine Blume, keine Menschengestalt sein Auge zu fesseln, langsam, sicher und stolz schritt er daher, den Blick gesenkt, die Hände auf den Rücken gekreuzt. Graues Haar drängte sich um die prächtige gedankenschwere Stirn, er merkte es nicht, wenn der Frühlingswind es ihm neckend aufwirbelte oder in die Augen trieb. Niemand konnte an dieser Erscheinung achtlos vorüberstreifen, der Stempel des Außergewöhnlichen war ihm allzu frappirend aufgedrückt, die überwältigende Hoheit des Genies zog sich wie ein Nimbus um dies gebeugte Haupt. – Jedes Kind wußte aber auch: „das ist Ludwig van Beethoven, der so viele wunderschöne Musik gemacht hat,“ hörte auf zu spielen, hielt rasch die Kugel an, die dem Meister vor die Füße rollen wollte, klatschte auch nicht mit der Peitsche, und stieß schnell den Brummkreisel um, wenn der ernste Mann daher kam. Alt und Jung, Hoch und Niedrig trat bei Seite oder begnügte sich, ihn voll Ehrfurcht zu grüßen, ohne auf eine Erwiederung zu hoffen. Kohlenträger mit schwerer Bürde belastet, hielten geduldig still bis der wunderbare Träumer vorbei gegangen, Jeder, aber auch Jeder, ehrte ihn auf seine Weise.

Gerade damals zeigten freilich die Wiener ein erhöhtes Interesse an der finstern Erscheinung des Vielgepriesenen; Beethoven hatte nämlich vor einigen Monaten schon seine erste und einzige Oper, Leonore (später nannte er sie Fidelio) vollendet, weigerte sich aber hartnäckig, sie zur Aufführung bringen zu lassen. – Eigensinnig [194] taub gegen alle Bitten, hielt er die kostbare Partitur in seinem Pult verschlossen.

„Ich finde keine Leonore wie ich sie brauche,“ sagte er zu seinen Freunden, die nicht müde wurden, ihn um die Aufführung zu bestürmen. „Sängerinnen giebt’s freilich zur Genüge, aber keine für mich. Meine Leonore soll keine Triller schlagen, auch nicht über allerlei Rouladen den Hals brechen, sie braucht nicht zehnmal die Kleider zu wechseln, auch nicht sonderlich schön zu sein: aber Eins muß sie haben außer ihrer Stimme, und diese Eine verrathe ich Euch nicht, Ihr würdet den „tollen“ Beethoven doch nur auslachen. – Laßt die Oper ruhig bei mir liegen und bekümmert Euch nicht um sie!“

Aber die Ungeduldigen ließen nicht ab von ihm, quälten den großen Musiker Tag für Tag, schickten ihm eine Sängerin nach der andern über den Hals, und fingen endlich an, ihm ernstlich zu zürnen. – Beethoven blieb lange geduldig, wunderbarer Weise. Eines Abends jedoch drang man besonders heftig in ihn und erzählte ihm Wunderdinge von dem Debut der jungen Sängerin, die damals ganz Wien von sich reden machte. Sie war die Tochter der berühmten Schauspielerin Sophie Schröder, kaum siebzehn Jahre alt und mit ihren Aeltern seit Kurzem von Hamburg nach der Kaiserstadt übergesiedelt. Als Mozart’s Pamina hatte sie alle Herzen entzückt durch den Reiz ihrer Stimme und Gestalt, man prophezeihte ihr einstimmig eine große Zukunft, und dies Alles eben theilte man dem Meister mit und verhehlte ihm nicht, wie man hoffe, er werde dieser schönen Hand gestatten, den verborgenen Schatz seiner letzten Schöpfung zu heben. – Da fuhr Beethoven auf:

„Was, einem Kinde, einem kaum der Schule entwachsenen Dinge soll ich mein heiliges Kleinod anvertrauen?“ fragte er heftig. „Ich glaube, Ihr träumt oder Eure Neugierde macht Euch sinnlos. Nein, für ein siebzehnjähriges Mädchen hat Ludwig van Beethoven seine Leonore doch nicht componirt – Aber ich bin nun der Quälereien müde und erkläre Euch ein für allemal, daß ich meine Oper verbrennen werde, wenn Einer von Euch es wagen sollte, wieder nach ihr zu fragen!“

Er war so imponirend in seinem Zorn, sein Auge blitzte so vernichtend, seine Stimme klang so grollend, auf seiner breiten Stirn standen noch so viele Wetterwolken – daß Einer nach dem Anderen still hinausschlich – und fortan war von der „Leonore“ vor den Ohren des Meisters nie wieder die Rede.

Seit einiger Zeit nun traf es sich, daß dem großen Musiker auf dem Rückwege von seinem täglichen Spaziergang regelmäßig kurz vor der Stadt ein junges blondes Mädchen entgegen trat. – Sie trug meist ein einfaches weißes Kleid, einen kleinen zierlichen Strohhut und ein schmaler dunkelrother Shawl fiel über ihre schönen Schultern. Wie alle Andern, die dem Sinnenden begegneten, wich auch sie ehrerbietig zur Seite, dies geschah aber, wenn auch langsam und zögernd, doch mit einer hinreißenden Grazie, sie heftete dabei ihre großen Augen fest auf das Antlitz des Meisters.

Das waren aber Augen, die wohl die Macht besaßen, zu binden und zu lösen, eine träumende Seele aufzurütteln, an sich zu ziehen, festzuhalten, Augen von wunderbar dunklem Blau mit den köstlichsten Wimpern und Brauen, leidenschaftlichem Aufschlag und unergründlicher Tiefe. Nur der Träumer Beethoven konnte diesem zauberisch-innigen Blicke so lange widerstehen, der ihn immer und immer wieder traf, er ging achtlos viele Tage an dem schlanken Mädchen vorüber, ohne sie zu bemerken. – Ihre feinen Lippen bebten immer, wenn er an ihr hinstreifte, es war als wolle sie reden und doch schwieg sie, sah ihm nach mit einem Ausdruck von Bewunderung und Schmerz und wandte sich dann, um in die Stadt zurückzukehren

Da zog denn eines Tages, eben in der fünften Nachmittagsstunde ein Gewitter am Himmel auf. Der Donner rollte näher, einzelne Blitze zuckten durch die Luft, ängstlich flatterten die Vögel, und die Menschen, die eben draußen waren, eilten, ihre schützenden Wohnungen zu erreichen. Einzelne Windstöße erhoben sich, aber kein Regentropfen milderte die drückende Schwüle, – immer lauter tönte die Stimme des Donners, immer wilder jagten sich die Blitze. – Da schritt Ludwig von Beethoven von seinem Spaziergange zurückkehrend wie ein Seher daher. – Das Haupt hoch emporgerichtet, die Stirn heller als sonst, schien er sich des ernsten Schauspiels zu freuen. Er allein schien jene großartige Sprache dort oben zu verstehen, denn er lächelte im Rollen des Donners und schaute kühn und ungeblendet in das Leuchten der Blitze. – Für ihn war das Gewitterbrausen nur der mächtig anschwellende Posaunenton einer gewaltigen Natursymphonie, der Wind, der in seinen Haaren wühlte, schien ihn zu heben und zu tragen, und als der ernste Mann jetzt die Arme emporhob in seltsamer stummer Begeisterung, da war es als erwarte er, daß ein Engel niederfahre zu ihm auf den Flügeln der Blitze. O, daß er ihm eine Riesenharfe brächte, damit er sie ausstürme jene seltsamen Melodien, von denen die Seele des Begeisterten so übervoll! – Beethoven wähnte auch wirklich einen Engel zu sehen, eine weiße Gestalt stand vor ihm, er starrte auf sie hin, eines Wunders gewärtig. – Aber der vermeintliche Engel zitterte, streckte ihm die Hände entgegen, murmelte hastig einige unverständliche Worte und sah ihn flehend an. – Ueberrascht blickte der Meister in ein erblaßtes Mädchengesicht. – Eine Erinnerung kam ihm an dies liebliche Antlitz – an diese reizende Gestalt – hatte er sie nicht schon oft gesehen – war sie nicht an ihm vorübergegangen? – Im Traume vielleicht! – Er wußte es nicht.

„Kind!“ sagte er endlich und beugte sich zu dem jungen Mädchen nieder, „in solchem Unwetter bist Du noch im Freien? Hast Du Dich verspätet, bist Du fehl gegangen?“

„Ich wollte nur zu Euch!“ antwortete fest und weich zugleich eine süße Stimme.

„Zu mir? Was kannst Du von mir wollen?“

„Eure – Leonore!“

Beethoven fuhr zurück.

„Wie heißt Du?“

„Wilhelmine Schröder. Ich stand schon viele Tage mit meiner heißen Bitte hier, erst heute wagte ich zu reden!“

„Und sahst Du nicht, wie das Wetter heranzog, fürchtest Du Dich nicht?“

„Ich fürchte nur Eins: daß ihr meine Bitte abschlagen werdet!“

Der Meister antwortete nicht – unerwartet blickte er in die blauen Augen des Mädchens. – Sie senkte sie nicht zu Boden, sie erröthete heiß, aber sie sah ihn an. – Da streckte Beethoven die Hand aus, faßte kräftig die kleinen Hände des lieblichsten Geschöpfs athmete tief und erquickt auf und sagte mild:

„Komm morgen früh zu mir, mein Kind, und sei muthig. – Ich glaube, ich habe meine Leonore gefunden. – Jetzt aber fort von hier – ich will Dich nach Haus führen!“

Und sie hing sich an seinen Arm mit einem seligen Lächeln auf den Lippen, ihre Wange glühte, ihr Körper zitterte, ihr Herz klopfte ungestüm – die Erfüllung ihres brennendsten Wunsches war nah. – Der Sturm hatte aufgehört, die Blitze zuckten schwächer, aber ein erfrischender Regen tropfte nieder. Am Thore der Stadt hob Beethoven das junge Mädchen mit väterlicher Sorgfalt in einen eben vorüberfahrenden Wagen, und Wilhelmine Schröder bezeichnete die Wohnung ihrer Mutter. – In kindlich überströmender Begeisterung küßte sie zum Abschiede die Hand des Meisters, er wandte sich, zu gehen. Noch einmal mußte er zurückblicken, und da sah er, über den Wagenschlag hinausgelehnt, das reizendste Mädchengesicht zu ihm hingewandt. Es war erblaßt vor innerer Bewegung, die junge ernste Stirn eingefaßt von goldnen Haaren, neigte sich vor ihm, sanft grüßten und lächelten die magischen Augen. Ludwig van Beethoven fühlte eine wundervolle Wärme an sein Herz strömen, eine selig-wehmüthige Ahnung durchquickte ihn, er sagte sich leise: „Dies Weib wird noch einen Sonnenstrahl auf deinen Weg werfen – den letzten!“


Und am folgenden Morgen stand Wilhelmine Schröder, die junge Sängerin, neben Beethoven am Clavier. Vor ihm aufgeschlagen lag die Partitur seiner Leonore. Er hatte dem blonden Mädchen kurz den Inhalt der Oper erklärt, der sie mächtig anzog, ging dann flüchtig über die ersten Nummern Jaquino’s und Marcellina’s hinweg und intonirte, leise summend, mit der einen Hand streng den Tact marquirend, mit der andern die Accorde der Begleitung greifend, die Leonorenstimme des Quartetts: „Mir ist so wunderbar.“ Das Mädchen folgte jedem Tone mit gespannter Aufmerksamkeit. Bei dem Terzett: „Muth, Söhnchen, Muth,“ leuchteten die blauen Augen leidenschaftlich auf, als sich aber das Prachtgemälde der großen Arie: „Abscheulicher, wo eilst du hin!“ vor ihrer Seele entfaltete, da flog ein Beben tiefster Erschütterung durch den zarten Körper. Mit jeder Nummer wuchs die Erregung der halb athemlosen [195] Zuhörerin, immer begeisterter spielte und intonirte der Meister, sie hörte nicht wie gebrochen und hart die Stimme klang, die ihr alle diese Herrlichkeiten in’s Ohr und in die Seele trug. – Sie wußte auch nicht, daß beim Duett des zweiten Actes: „Nur hurtig fort, nur frisch gegraben,“ die Thränen langsam und schwer über ihre Wangen rollten, sie wandte den Blick nicht ab von dem wunderbaren Manne, der da vor ihr saß und den sie so inbrünstig verehrte. – Welch’ ein eigenthümlich fesselndes Bild in dem engen Rahmen des schlichten Zimmers waren sie, diese beiden Gestalten, der reiche ernste Herbst und der lächelnde Frühling. – Der Meister selbst im weiten pelzverbrämten Hausgewand mit blitzenden Augen und leuchtender Stirn, ganz versunken in seine Schöpfung, dann und wann tief-ernst aufblickend zu dem Antlitz seiner Hörerin. Frühlingsfrische war ausgegossen über jene Mädchengestalt an seiner Seite, über jenes Angesicht mit seinen köstlich reinen Linien, und Sonnenlichter zitterten in den schweren blonden Haaren, die sich an die zarten Wangen schmiegten und im stolzen Nacken einen goldenen Knoten bildeten.

„An diesem jugendlichen Haupte hingen
So viele Hoffnungen, als an den Zweigen
Im wonnevollen Maimond hängen Blüthen.“

Beethoven ging rasch und immer rascher weiter, seine Hand eilte über die Tasten:

„Jetzt kommt die Stelle höchster Erhebung,“ sagte er. „In ihr sammeln sich die Lichtstrahlen der ganzen Oper, gieb Acht auf diesen Ruf, auf ihn kommt’s an, mein Kind, hier wirst Du zeigen, ob ich mich in Dir getäuscht oder nicht!“

Und nun intonirte er mit erschütternder Begeisterung jenen berühmten Schrei: „Tödt’ erst sein Weib!“ – Wilhelmine Schröder erkannte nun erst die Riesenaufgabe, nach der sie selbst die Hand ausgestreckt, sie faltete bebend die Hände, Glück und Wangen zugleich erfüllten ihre Brust. „Tödt’ erst sein Weib!“ dieser eine Ruf tönte ihr in den Ohren – sie hörte nichts weiter, das glänzende Finale ging an ihr vorüber wie ein Traum. – Als aber Beethoven sich erhob und die Partitur zuschlug, näherte sie sich ihm mit wankendem Schritt.

„Segnet mich zur That, die ich wagen will – damit sie mir gelinge,“ – sagte sie feierlich und neigte tief das Haupt.

Und der Meister legte seine Hand gedankenvoll auf den blonden Scheitel, und ein Lächeln der Befriedigung glitt wie ein herbstlicher Sonnenstrahl über sein ernstes Angesicht.

Ehe das junge Mädchen aber an diesem Abend einschlief, faltete sie die schönen Hände und schloß ihr Nachtgebet mit den Worten: „Gott, laß mich eine Leonore werden wie er sie geträumt, damit ich seinem Herzen noch eine Freude bringe.“


Wenige Wochen nach dieser Scene trat Wilhelmine Schröder in der Oper Fidelio in Wien auf, und verkörperte jenes Ideal höchsten Lebensheroismus, das dem Geiste Beethovens vorgeschwebt. Der Componist selbst saß in einer kleinen dunklen Loge dicht bei der Bühne. Ach, die süßen und doch kraftvollen Töne, wie sie die Brust der jungen Sängerin ausströmen ließ, sie drangen ja nur schwach und gebrochen in sein damals schon fast ganz verschlossenes Ohr, aber er sah doch die von Gluth und Hingebung getragene Erscheinung, er sah diese Augen voll Leidenschaft und Begeisterung, – und der ausbrechende Jubel der hingerissenen Menge umbrauste ihn wie ein fernes Meer. – Und der zweite Act entfaltete sich, das schöne Weib stieg hinab in den dunklen Kerker, reichte dem hungernden Gatten das Brot, durchlief alle Stadien der Seelenmartern, bis endlich jener wunderbare Lichtpunkt kam, jener mächtige Aufschrei: „Tödt’ erst sein Weib!“ Beethoven richtete sich fieberisch erregt auf als der Accord einsetzte, sein Athem stockte, die Riesengestalt zitterte, seine Blicke bohrten sich fest an die Lippen der Sängerin. – Eine Secunde lang war’s als ob sie zagte – plötzlich aber richtete sie sich auf in wahrhaft großartiger Schönheit, und schmetterte das in höchster Leidenschaft vibrirende b in die Seelen der erschütterten Hörer. – Und das Wunder geschah: dieser eine gewaltige beseelte Ton durchbrach alle Schranken und drang wie eine lichte Verkündigung in das verschlossene Ohr des Meisters. – Es wurde plötzlich so hell in ihm, ein golden Tonwellen überströmte ihn, der stille Traum, seine Leonorenschöpfung sang und klang laut, in dem herrlichen überwaltigenden b, das er gehört, spiegelte sich das Ganze wie das All sich in einem klaren Tropfen spiegelt. – Namenlose Freude – ungebändigtes Entzücken ergriff ihn – er hatte sich in dieser Leonore nicht getäuscht! – er hätte dies junge Mädchen an sein Herz reißen – in seinen Thränen baden mögen, – längst begrabene Wünsche, längst entschlafene Hoffnungen standen auf aus ihrer Todesruh und sahen ihn lächelnd an. Aber Körper und Seele waren nur an Schmerzen gewöhnt, das unendliche plötzliche Glücksgefühl überwältigte den nur im Leiden und Entbehren starken Mann: Ludwig van Beethoven sank ohnmächtig zurück.


Diese Darstellung des Fidelio war in der That die letzte, aber vielleicht auch der blendendste Sonnenstrahl, der auf den dunklen Weg des erhabenen Tonschöpfers fiel.

Aber was war es wohl, was Ludwig van Beethoven von der Darstellerin seiner Leonore verlangte, und was er in den blauen Augen eines jungen Mädchens gefunden? –

Wilhelmine Schröder trug die Leonore hinaus in die Welt. – Wer hätte wohl je ohne die nachhaltigste Erschütterung den Fidelio von ihr gehört, wer könnte sie, gerade sie in dieser Erscheinung vergessen? – Hundert Sängerinnen haben nach ihr uns auch die Leonore gesungen, vermochte je Eine von Allen so die Seele gefangen zu nehmen, wie sie? – Aber war denn Keine so schön wie Wilhelmine Schröder-Devrient, hatte Keine eine so mächtige Stimme, eine so entzückende Grazie? – O gewiß! Reizende Frauen hüllten sich in das schlichte Männerkleid Fidelio’s, großartige Stimmen sangen uns die Arie: „Abscheulicher, wo eilst Du hin!“ Meisterinnen der Darstellungskunst erschöpften sich an dieser Erscheinung, aber schwebte je von einer Lippe der Ruf: „Tödt erst sein Weib!“ großartiger, hinreißender, als von den Lippen jener blonden Frau? – Und warum wohl? – Hier folgt die Lösung aller Fragen. – Wilhelmine Schröder-Devrient besitzt jenen seltnen Zauber, der die Welt überwindet, jenen räthselhaften Reichthum, der in unserer kühlen und matten Zeit immer mehr zur Sage wird, jenen kostbarsten Schatz der Erde, jene schönste Segnung des Himmels: ein heißes Herz!