Eine naturwissenschaftliche Vexir-Frage

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Textdaten
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Autor: R. H.
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Titel: Eine naturwissenschaftliche Vexir-Frage
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 831–832
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[831] Eine naturwissenschaftliche Vexir-Frage. Als wir neulich den Lesern der Gartenlaube ein technisches Räthsel zur Lösung vorlegten, hatten wir darauf gerechnet, daß das gebildete Publicum, wenn es auch am liebsten unterhalten und dabei belehrt sein will, es nicht verschmähen würde, auch einmal selbst über die „Natur der Dinge“ nachzudenken. Wir hatten uns nicht geirrt und haben noch immer unsere Freude an dem Interesse, welches unsere Notiz erregt hat; noch jetzt gehen uns von allen Seiten kleine Aufsätze·über den Gegenstand zu, welche beweisen, wie viele Köpfe sich eifrig mit demselben beschäftigt haben. Deswegen glauben wir im Sinne Vieler zu handeln, wenn wir auch heute wieder eine naturwissenschaftliche Frage zur Beantwortung verlegen, ist sie auch nicht von der Art, daß die Männer vom Fach selbst nicht die richtige Antwort darauf geben vermöchten. Sie kann sogar durch einen von Jedermann bequem anzustellenden Versuch sofort entschieden werden. Wir bitten daher die Leser und Leserinnen, uns zuvörderst durch Handschlag zu versichern, daß sie die Frage beantworten wollen, ohne daß sie diesen Versuch anstellen. Erst wenn sie mit sich selbst über die Antwort einig geworden sind, wollen sie den Versuch darüber entscheiden lassen, ob die Antwort richtig war oder falsch. Also aufgepaßt! Die Sache ist folgende:

„Man stelle auf die eine Wageschale einer gewöhnlichen Wage ein Glas mit Wasser und lege auf die andere Wageschale so viele Gewichte, daß vollkomenes Gleichgewicht hergestellt ist. Nun tauche man den Finger in das Wasser — Frage: wird die Wageschale mit dem Glase Wasser sich senken oder wird der Wagebalken in seinem Gleichgewicht verharren?“

Wie gesagt, der einfache Versuch entscheidet die Sache augenblicklich; aber die denkenden Leser mögen sich die Frage beantworten, bevor sie den Versuch anstellen. Was gilt die Wette, daß die Antwort der einen Hälfte „ja“, die der andern Hälfte „nein“ lauten wird?

Ehe wir uns nun die Sache näher überlegen, sei noch eine kleine Bemerkung vorausgeschickt. Wenn man den Finger in ein Glas Wasser taucht, [832] so kann dies sehr behutsam, en kann aber auch sehr schnell und plötzlich geschehen. Im letztern Falle wird die Wageschale sofort sinken, das ist keine Frage; denn der Finger vollführt einen Stoß auf das Wasser und da die Wassertheilchen dem Finger nicht schnell genug ausweichen können, so muß die Wagschale mit dem Glase tief gehen. Von einem Stoße soll aber bei unserm Versuche durchaus nicht die Rede sein, vielmehr soll der Finger so langsam und so behutsam wie möglich in die Flüssigkeit eindringen, so daß dieselbe Zeit genug hat, dem Finger Platz zu machen. Ob nun auch so die Wage noch außer Gleichgewicht kommen wird, ist eine andere Frage, die wir untersuchen wollen. Wenn der Finger direct auf das Ende des Wagebalkens drückt, so senkt sich dieser natürlich, denn er kann dem Drucke nicht anders ausweichen als dadurch, daß er sich senkt; der Finger kann aber auf das Wasser eigentlich gar keinen Druck ausüben, denn dasselbe ist so leicht beweglich, daß es dem Drucke des Fingers innerhalb des Glases ausweichen kann, auch ohne daß die Wageschale sich senkt. Wenn meine Hand einer Backe einen Streich versetzt, so ist derselbe nur wirksam, wenn die Backe mehr oder weniger still hält; weicht aber die Backe ebenso schnell aus, als meine schlagende Hand sich bewegt, so wird der Backenstreich nicht sitzen, d. h. naturwissenschaftlich ausgedrückt: die Hand wird keinen Druck auf die Backe auszuüben im Stande sein. Oder ein besseres Beispiel! Jedermann weiß, daß die Fortbewegung eines Raddampfers bewirkt wird durch den Druck der Radschaufeln gegen das Wasser. Die Radschaufeln bewegen sich so schnell, daß das Wasser ihrem Drucke nicht schnell genug ausweichen kann. Bei einer sehr langsamen Drehung des Schaufelrades wird das Schiff, wie man sich auf jedem schiffbaren Flusse leicht überzeugen kann, um keinen Zoll vorwärts getrieben, denn die Wassertheilchen haben Zeit, den Schaufeln auszuweichen. Nach alledem muß also auch die Wage beim behutsamen Eintauchen des Fingers im Gleichgewicht bleiben. Aber wie jedes Ding zwei Seiten hat, so kann man auch unsere Frage von einem andern Gesichtspunkte betrachten und dann kommt man zu einem andern Resultat.

Wenn ich mit dem Finger gegen eine Wand drücke, so wird nicht nur die Wand von meinem Finger gedrückt, sondern auch mein Finger wird von der Wand gedrückt – der Druck des Fingers ist ja auch fühlbar! Im Allgemeinen: überall, wo überhaupt ein Druck ausgeübt wird, wird er immer in zwei entgegengesetzten Richtungen ausgeübt. Nun ist es aber schon seit Jahrhunderten bekannt, daß jeder Körper, welcher in eine Flüssigkeit getaucht wird, von dieser einen Druck auszuhalten hat. Also wird auch der in das Wasserglas eingetauchte Finger vom Wasser einen Druck erfahren und nach dem oben Gesagten auch wiederum einen Druck auf das Wasser ausüben. Da aber jeder Körper, auf welchen ein Druck ausgeübt wird, diesem Drucke ausweicht, wenn er nur ausweichen kann, so hat auch unser Glas Wasser das Bestreben, dem Finger auszuweichen, und da es durch Senkung des Wagebalkens recht gut ausweichen kann, wird es auch ausweichen. Das Resultat dieser Ueberlegung ist also: die Wageschale mit dem Glase Wasser wird sich beim Eintauchen des Fingers senken – gerade das entgegengesetzte des obigen.

Nach dieser Auseinandersetzung haben wir für gewiß angenommen, daß der in das Wasser getauchte Finger einen Druck auf die Flüssigkeit und somit auch auf die Wageschale ausübt. Dagegen scheint sich denn aber doch noch ein gewichtiges Bedenken erheben zu lassen. Eine Fischverkäuferin versicherte mir einmal alles Ernstes, daß, wenn man Fische wägen wolle, man sie nicht etwa im Wasser schwimmend auf die Wagschale setzen dürfe, sondern in einem durchlöcherten Gefäß, denn wenn sie auf der Wagschale schwömmen, so wögen sie eben gar nichts. Daß dies nur eine alberne Einbildung der Fischverkäuferin war, werden mir auch die Leserinnen sicherlich zugeben.

Der schwimmende Fisch wiegt natürlich mit, und ein Stück Holz, welches in das Glas Wasser geworfen auf dessen Oberfläche schwimmt, wiegt ebenfalls mit und zwar genau so viel, als es schwer ist. Wenn ich aber meinen Finger in das Glas Wasser tauche, so wird mir doch wohl kein Mensch bestreiten wollen, daß mir mein Finger angewachsen ist und daß ich ihn selbst trage; also kann doch unmöglich die Wageschale etwas von seinem Gewichte zu tragen haben. Hiernach würde sich also die Wageschale mit dem Glase Wasser beim Eintauchen des Fingers nicht senken.

„Gut,“ sagt jetzt der freundliche Leser der Gartenlaube, „jetzt haben wir zwei Gründe, welche uns die Frage verneinen lassen, und nur einen, aus welchem wir sie bejahen könnten; da zwei Gründe aber mehr wiegen, als einer, so antworten wir mit einem Nein.“ So schnell lassen wir dich nicht los, naturforschender Leser; in der Natur sind keine Widersprüche vorhanden, sondern nur in dem menschlichen Gedanken, und diese Widersprüche müssen gelöst werden. Wenn du aber wirklich meinst, daß zwei Gründe für Nein mehr wiegen, als ein Grund für Ja, so wollen wir doch sehen, ob wir nicht noch einen stichhaltigen Grund für Ja anführen können. Und wahrhaftig, hier ist einer! Ueberlegen wir noch einmal! Es ist doch sicher, daß der Versuch ganz derselbe bleibt, mag nun unser in das Wasser getauchter Finger von Fleisch, von Eisen oder von Holz sein. Nehmen wir demnach einmal an, er wäre von Holz und wäre an der Hand nur befestigt. Also zuvörderst befindet sich die Wage im Gleichgewicht. Nun nehme ich meinen Holzfinger von der Hand ab und werfe ihn in das Wasserglas.

Wird die Wagschale sinken? Natürlich, denn jetzt wiegt ja der Holzfinger mit! Nun aber weiter! Ich bringe meine Hand mit dem schwimmenden Holzfinger in Berührung, aber nur in Berührung, ohne den mindesten Druck auszuüben – wird sich in der Stellung des Wagebalkens etwas ändern? Natürlich nein! Denken wir uns nun, daß in dieser Stellung der Finger plötzlich wieder an der Hand fest würde – würde dadurch etwas geändert? Natürlich wieder nein! So, nun sind wir fertig: der Wagebalken hat sich gesenkt und ich halte meinen an der Hand befestigten oder, (was dasselbe ist) festgewachsenen Finger in dem Wasser. Das Resultat ist also hier wieder: die Wagschale mit dem Glase Wasser senkt sich beim Eintauchen des Fingers.

Wir wollen unsere Untersuchungen nicht weiter fortführen und es dem Leser überlassen, noch Mancherlei für und wider zu denken und zu sagen. Hat er sich aber für Ja oder Nein entschieden, so erfahre er durch den Versuch, ob er Recht habe, und – was die Hauptsache ist – er widerlege sich alle Gegengründe. Die einfachsten Dinge machen manchmal die größten Schwierigkeiten!
R. H.