Eine sympathetische Cur

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Autor: Von einem preußischen Beamten
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Titel: Eine sympathetische Cur
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aus: Die Gartenlaube, Heft 31/32, S. 496–499
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Eine sympathetische Cur.
Von einem preußischen Beamten.


Am letzten Tage des vorigen Jahres erhielt ich gleichzeitig zwei Haftbefehle. Der eine war für den Todtengräber des Orts, der andere für ein Fräulein v. K. ausgestellt. Beide standen miteinander in Verbindung. Ich konnte darüber keinen Augenblick in Zweifel sein, denn dem erstgedachten Befehle war die Weisung beigefügt, den Todtengräber H. so zu placiren, daß ihm jede Communication mit Fräulein v. K. unmöglich gemacht werde. Wie aber mochte diese Gemeinschaft entstanden sein?

Der Todtengräber H. war ein Mensch, der im Orte von Jedermann gemieden wurde, nicht allein weil er Todtengräber, sondern auch weil er ein Trunkenbold war und durch Faulheit und liederliches Wesen heruntergekommen und verarmt sein sollte. Fräulein v. K. dagegen genoß allseitig die höchste Achtung. Man hielt sie für eine freundliche, liebenswürdige, mildthätige und auch für eine fromme Dame. Ich hatte vielfach gehört, daß sie die Wohnungen der Armen, Schwachen und Kranken aufsuchen und hier durch Wort und That Trost und Hülfe bringen sollte. Man sagte ihr auch nach, daß sie keine Predigt versäume, daß sie Mitglied des Missions- und anderer frommen Vereine sei, und daß sie sogar in ihrem Hause mit gleichgesinnten Freunden und Freundinnen regelmäßige Betstunden halte. Hinzufügen muß ich noch, daß Fräulein v. K. nicht mehr jung ist, daß sie einige vierzig Jahre alt sein mag und einen eigenen Hausstand hielt, da sie weder im Orte noch sonst wo Verwandte haben sollte.

Die Verschiedenheit in der Lebensstellung dieser beiden Personen war zu groß, um die Ursachen, welche die Genossenschaft erzeugt haben mußten, mit Leichtigkeit aufzufinden. Die Persönlichkeiten der beiden Gefangenen waren mir zwar bekannt, ich war jedoch noch mit keiner in nähere Berührung gekommen. Mein Amt fesselte mich an das Haus. Und wenn ich ja eine freie Stunde erübrigen konnte, so benutzte ich diese, um mich im Kreise meiner Familie und mit dieser in einem Spaziergange durch Feld und Wald zu erholen. Namentlich war ich den Kreisen fern geblieben, in welchen sich Fräulein von K. bewegte. Ich hatte niemals ein Bedürfniß gefühlt, die Kirche außerhalb des Gefangenen-Hauses zu besuchen, oder an anderen religiösen Erbauungsstunden Theil zu nehmen; mir genügte der Gottesdienst in der Gemeinschaft der Gefangenen. Nach dem Verkehr mit sogenannten frommen Leuten hatte ich noch keine Sehnsucht gehabt, vielleicht deshalb nicht, weil ich in einer Reihe von Jahren schon mehrfach Gelegenheit gehabt hatte, den inneren Werth derselben kennen zu lernen. Die Erfahrungen, die in meiner Stellung gesammelt werden können und die ich gesammelt habe, führen zum Mißtrauen und zur Vorsicht. Im Gefängnisse hat der Schein und die Heuchelei ein Ende, wenigstens bietet das Frommthun dort keinen Deckmantel mehr für eigennützige Bestrebungen. Ich war genöthigt gewesen, Leute einzuschließen, die keine Predigt versäumt, die Augen stets nach oben gerichtet, und nur mit dem Gebetbüchlein in der Tasche Besuche gemacht, sich aber trotzdem nicht gescheut hatten, Unrecht zu thun, nicht nur die Gebote Gottes, sondern auch die Gesetze der Menschen zu übertreten und, des eigenen Vortheils wegen oder um eine vermeintliche Kränkung zu rächen, ihren Nächsten zu benachtheiligen und ihm wehe zu thun. Der allgemeine Ruf konnte mich daher niemals bestechen, ich suchte mich jederzeit selbst zu überzeugen, ob mein Gefangener zu der Classe der Heuchler und Scheinheiligen gehörte, oder nicht. In diesem Falle aber konnte ich eine gewisse Neugierde nicht unterdrücken. Zwischen beiden Gefangenen bestand eine Kluft, die nur ganz besondere und ganz außerordentliche Beweggründe ausgefüllt haben konnten.

Der Todtengräber H. erschien zuerst, und zwar in einem Zustande, der ihn mehr als halb besinnungslos machte. Seine Verhaftung war in einem öffentlichen Locale, in welchem er den größten Theil des Tages zu verkehren pflegte, erfolgt. Er zeigte sich auffallend gesprächig, aber confus und unverständlich. Das Raisonnement beschäftigte sich abwechselnd mit Einzelnheiten aus seinen früheren glücklichen Verhältnissen und dann wieder mit Vorwürfen, die er seiner verstorbenen Frau und einem „vornehmen Manne“ machte. Den Namen dieses Mannes nannte er nicht. Das Ganze waren indeß nur Bruchstücke, abgerissene Sätze ohne Verbindung und ohne Zusammenhang. Ich hörte lange Zeit mit großer Geduld zu, weil ich hoffte, irgendwelche Aufschlüsse zu erhalten, ich vermochte jedoch zu keinem Verständnisse zu kommen. Der Mann war jedenfalls geistig krank, vielleicht ohne eigene Verschuldung. [497] Es kam mir so vor, als habe er sich nur deshalb dem Trunke ergeben, um, wenn auch nur zeitweise, Vorwürfe zu betäuben, die er sich, oder auch, die er Anderen zu machen hatte. Für den Augenblick war mit ihm nicht zu verhandeln, ich mußte ihn einschließen und im Gefängnisse bis zur Ankunft des Untersuchungsrichters seinen Rausch ausschlafen lassen.

Fräulein von K. war nicht durch die Polizei, sondern durch einen Gerichtsbeamten verhaftet worden. Ich hatte ihrer Ankunft mit einer für mich ganz ungewöhnlichen Spannung entgegengesehen und mich auf Außerordentliches gefaßt gemacht. Meine Erwartungen blieben in diesem Falle nicht bei den täglichen Erfahrungen stehen, sie gingen über Wehklagen und Thränen hinaus und verirrten sich sogar bis zu Ohnmachten. Der Gefängnißbeamte darf sich von solchen Zufälligkeiten nicht überraschen lassen und nach den zur Beseitigung derselben nothwendigen Mitteln nicht lange zu suchen haben. Ich hatte mich indeß vollständig getäuscht. Fräulein v. K. hatte sich eines Wagens bedient, um den Weg von ihrer Wohnung bis nach dem Gefangenen-Hause zurückzulegen. Sie wollte vielleicht das Aufsehen des Fußtransports vermeiden, oder sie wollte die peinlichen Erwartungen bis zu ihrer Einschließung abkürzen. Bei ihrem Eintreten in mein Zimmer war sie vollständig ruhig. Aber das Gehen war langsam und schwer und das Aussehen verrieth eine große Ermattung, eine ungewöhnliche Schwäche. Das Aussteigen aus dem Wagen und das Gehen bis zu meinem Zimmer schien ihre Kräfte vollständig erschöpft zu haben; ich mußte sie sofort niedersetzen und ihr zur Erholung einige Zeit lassen. Der Gerichtsbeamte war bereits fortgegangen, ich befand mich mit der Gefangenen allein. Um diese nicht zu beunruhigen, nahm ich an meinem Arbeitstische Platz und wollte mich eben mit Schreiben beschäftigen, als ich meine Gefangene sagen hörte:

„Ach, Herr Inspector, haben Sie nur noch ein ganz klein Wenig Nachsicht. Ich bin schwer krank gewesen, ich war dem Tode nahe. Vor wenigen Tagen noch würde es mir nicht möglich geworden sein, meinen alten Körper hierher zu schleppen. Es geht aber jetzt besser, und ich hoffe, in Ihrem Hause bald vollständig gesund zu werden.“

„Soll ich den Arzt rufen lassen?“ fragte ich überrascht, aber theilnehmend.

„Nein, nein,“ fiel Fräulein v. K. mir rasch in’s Wort, „ich bedarf keines Arztes.“

„Aber Sie klagen über Unwohlsein.“

„Das hat jetzt nichts mehr zu bedeuten,“ versetzte die Gefangene lächelnd, „die Krankheit ist, Gott sei Dank, gehoben, ich habe an mir eine Parforce-Cur ausgeführt und jetzt nur noch ein wenig Schwäche zu überwinden. Von meinen Leiden während meiner Krankheit machen Sie sich keine Vorstellung, sie sind nicht zu beschreiben. Wissen Sie, Herr Inspector, was Todesangst ist?“

Diese Frage überraschte mich, ich konnte sie auch aus eigener Erfahrung nicht beantworten, denn ich war noch nie in eine Lage gekommen, in welcher mein Leben ernstlich gefährdet gewesen wäre. Dagegen hatte ich in meinem Amte schon mehrmals Verbrecher auf ihrem letzten Gange begleiten müssen. Ich hatte da gesehen, wie das trotzige Wesen schnell ein Ende nahm, wie die kälteste Härte weich und die freche Kraft gebrochen wurde, wie die Glieder zuckten und zitterten, der Körper den Halt verlor, daß er sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte, und wie zuletzt auch die geistige Kraft erlahmte. Allein ich hatte das nicht für Todesangst, sondern nur für Furcht gehalten, und zwar nicht für Furcht vor dem Tode, sondern vor dem, was nach dem Tode erwartet wurde. Sollte ich mich hierin geirrt haben? Sollte das wirklich der Ausdruck solcher Angst gewesen sein, von der Fräulein v. K. gesprochen hatte? Ich dachte hierüber nach und vergaß, eine Antwort zu geben. Mein Schweigen brachte die Gefangene auch nicht in Verlegenheit. Sie schien dies sogar nicht ungern zu sehen, denn sie fuhr nach einer kleinen Pause eifriger fort:

„Danken Sie dem lieben Gott, daß Sie nichts davon wissen; es ist ein entsetzlicher, ein grauenhafter Zustand. Wenn Sie ein wenig Zeit haben und mir Gehör schenken wollen, so will ich versuchen, Ihnen ein ungefähres Bild zu entwerfen. Sie müssen mir aber gestatten, etwas weit auszuholen und Sie zuerst ein wenig mit mir bekannt zu machen. Lassen Sie sich sagen, Herr Inspector, daß ich mir die Aufgabe gestellt habe, mich an Entbehrungen zu gewöhnen und meine Bedürfnisse auf ein geringes Maß einzuschränken, und daß ich dies deshalb thue, um mit den so gemachten Ersparnissen die Sorgen Anderer zu mindern. Ich kann ja in anderer Weise meinen Nebenmenschen mich nicht nützlich machen. In diesem Streben bin ich alt geworden und lange Zeit glücklich gewesen, denn ich sagte mir an jedem Abend, daß ich den Tag nicht umsonst verlebt habe.“

Man kann sich kaum eine Vorstellung von der liebenswürdigen Einfachheit machen, mit welcher Fräulein v. K. dies sagte. Es war ein Bekenntniß frei von jeder Heuchelei, es war der Ausdruck überzeugender Wahrhaftigkeit.

„Nicht wahr, lieber Inspector,“ begann die Gefangene nach einer kleinen Pause vertraulich weiter plaudernd, „bei solchen Grundsätzen und bei einer solchen Lebensstellung konnte und durfte ich erwarten, daß alle Menschen mit mir wenigstens freundlich sein würden? Ich habe ja mein Lebtage nichts gethan, wodurch Neid und Bosheit geweckt und genährt zu werden pflegen; ich habe auch wissentlich keinem Menschen wehe gethan oder eine Kränkung zugefügt. Die Menschen sind aber wunderliche Geschöpfe. Es ist Thorheit, durch Wohlthaten sich Freunde erwerben zu wollen. Der Eine empfängt nicht zur rechten Zeit, der Andere nicht in dem gewünschten Umfange, es werden immer Wünsche unerfüllt bleiben, und dies soll stets derjenige vertreten, von dem die Erfüllung des Wunsches begehrt worden ist. So ist es mir ergangen, ich habe diese Erfahrung gemacht. Ich überschüttete ein Frauenzimmer mit Wohlthaten, ich gab derselben weit mehr, als ich in meinen Verhältnissen geben durfte. Das Alles war aber nicht genug. Das Weib begehrte immer mehr, und als ich dies nicht gewähren konnte, da nahm es widerrechtlich was ich verweigert hatte. Als ich die Frau auf böser That ertappte, als ich sie durch das Gericht in die Strafanstalt bringen, als ich sie durch die Strafe für alle Zeit ehrlos machen, sie vor der Welt brandmarken konnte: da ließ ich mich durch Bitten, durch Thränen und Wehklagen bewegen, ihr zu verzeihen; ich nahm sogar nichts zurück, ich ließ ihr Alles, was sie mir gestohlen hatte. Und wissen Sie, wie diese Frau mir dankte? Sie beschloß, mich zu ermorden.“

Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

„Was?“ schrie Fräulein v. K. erregt, „Sie glauben mir nicht? Sie halten heut’ zu Tage eine solche Schändlichkeit nicht für möglich? Der liebe Gott möge es gnädig verhüten, daß Sie jemals den Glauben so in die Hände bekommen, wie dies bei mir der Fall gewesen ist. Ja, gewiß und wahrhaftig, die Frau hatte mir den Tod geschworen. Der Plan war teuflisch. Sie gebrauchte keine Gewalt, sie verwendete auch kein Gift; Gift und Gewalt hinterlassen Spuren, die zum Verräther werden. Das wußte die Frau. Darum griff sie auch zu einem andern Mittel, das eben so sicher, wenn auch langsam wirkt, dessen Gebrauch aber kein Mensch zu erweisen im Stande ist, dessen Vorhandensein vielleicht nur Wenige kennen. Sie gebrauchte – Sympathie!“

Ich lachte laut auf. Mord durch Sympathie! Das war für mich etwas Neues, zugleich aber auch etwas so unsinnig Komisches, daß ich nicht ernst bleiben konnte. War meine Gefangene schwachsinnig? Darüber sollte ich bald Gewißheit erhalten.

„Ich sage es ja,“ sagte Fräulein v. K., indem sie aufstand und sich dicht vor mich stellte, „Sie glauben mir nicht, vielleicht halten Sie mich sogar für verrückt oder von einer fixen Idee befangen, was am Ende dasselbe ist. Aber ich versichere hoch und theuer, daß ich bei vollem Verstande bin, daß kein Wahn mich befangen hält und daß ich Ihnen nur Erlebtes, thatsächlich Empfundenes mittheile. Hören Sie mir ruhig zu. Wollen Sie noch lachen, wenn ich fertig bin, so will ich Ihnen das in keiner Weise übel nehmen, ich hoffe aber, daß Sie von selbst davon zurückkommen werden.“

Meine Gefangene war vollständig ruhig, das Auge klar und rein, die Stimme fest; nichts wies auf eine Störung der Geisteskräfte hin. Und dennoch mußte das der Fall sein. Das kümmerte mich aber nicht; ich war es gewohnt, den Gefangenen als geistig krank anzusehen, ich machte darin keinen Unterschied und gab mir nur Mühe, den Sitz der Krankheit aufzufinden, um eine Heilung wenigstens versuchen zu können. Das Interesse war geweckt, die Neugier rege gemacht. Ich wollte bei meiner Gefangenen die schwache Seite auffinden, die angegriffen und verkümmert sein mußte, bekämpfte deshalb auch die Lachlust, und indem ich versuchte, die ernsthafteste Miene anzunehmen, veranlaßte ich Fräulein v. K., wieder Platz zu nehmen und in ihren Mittheilungen fortzufahren.

[498] „Die Frau,“ erzählte die Gefangene ruhig weiter, „die mich so abscheulich bestohlen hat, deren Namen ich nicht nennen mag, war etwa sechs Wochen von mir fort, da fühlte ich mich eines Tages plötzlich unwohl. Eine Veranlassung zu diesem Befinden war nicht vorhanden, denn ich lebe den einen Tag wie den andern, einfach und regelmäßig. Der Kopf, die Hände und die Füße waren mir mit einem Male eine Last geworden, namentlich die Füße, die ich kaum noch fortbringen konnte. Der Arzt, den ich rufen ließ, sagte mir, daß ich mich erkältet haben müsse. Mir wollte das nicht in den Kopf. Die verordneten Mittel hatten auch keine Wirkung, die Schwere oder die Ermattung nahm von Tag zu Tag zu. Ich fühlte ganz deutlich, wie jede Stunde einen Theil meiner Kräfte hinwegnahm, wie ich über sie in immer beschränkterem Maße verfügen konnte. Es war kein jähes Absterben, aber ein ruhiges, sich stets gleichbleibendes, unaufhaltsames Aufhören der Lebenskräfte. Der Geist blieb dabei gesund wie zuvor. Ich vermochte mit derselben Schärfe zu denken und zu urtheilen, ich erinnerte mich mit derselben Treue dessen, was ich vor Jahren erlebt und gelernt hatte, und lernte genau mit demselben Interesse und mit derselben Leichtigkeit das, was ich behalten wollte. Anfangs beruhigten mich die Versicherungen meines Arztes über die Ungefährlichkeit meines Zustandes. Als aber kein Mittel zur Besserung führte und ich nach einigen Wochen so weit gekommen war, daß ich nur noch gestützt mich aufrecht erhalten und kaum noch fortbewegen konnte, da lernte ich mich fürchten, nicht eigentlich vor dem Tode, sondern vor einem langen und qualvollen Krankenlager. Eine Freundin gab mir endlich ein Mittel an die Hand, das mich zur Erkenntniß meines Zustandes führen, die Ursache desselben mir bekannt machen sollte. Sie ertheilte mir den Rath, eine sogenannte kluge Frau um Rath zu fragen.

„Ach, bitte, bitte, unterbrechen Sie mich nicht,“ warf Fräulein v. K. ein, als ich Miene machte, hierauf etwas zu erwidern. „Ich berichte Ihnen nur Thatsachen und bin damit bald zu Ende. Nach einigem Widerstreben ließ ich mir die Frau zuführen. Ich übergehe den Hokuspokus, den die Frau mit mir vorzunehmen für gut fand, weil Sie dies doch nur lächerlich finden würden, und gebe daher nur das Resultat wieder.

‚Sie haben eine Feindin,‘ sagte die Frau, nachdem sie mit Aufmerksamkeit die vor mir ausgebreiteten Karten geprüft hatte. ‚Die Person steht tief unter Ihnen, aber sie sucht Ihnen Schaden zuzufügen. Herr Gott‘, schrie das Weib mit einer schrecklichen Stimme, ‚die Person will Ihren Tod! Das ist schändlich, das ist himmelschreiend! Ihre Krankheit, gnädiges Fräulein, ist durch diese Person erzeugt. Warten Sie, ich muß dahinter kommen. Ja, so ist es,‘ fuhr sie fort, nachdem sie einige Zeit mit verdoppelter Aufmerksamkeit die Karten übersehen hatte, ‚die Leiche hier sagt es mir deutlich. Sie müssen sterben, gnädiges Fräulein, wenn es Ihnen nicht gelingt, sich von dieser Leiche loszumachen. Da kann kein Doctor helfen, Sie selbst müssen sich Hülfe schaffen.‘ ‚Aber wie soll ich das thun?‘ fragte ich unwillkürlich. ‚Still, still,‘ erwiderte mir die Frau, ‚ich suche schon. Hier der Diebes-Junge und daneben der Galgen. Wie reimt sich das? Nun sehe ich klar,‘ begann die Frau nach einer kleinen Pause, in welcher sie mehrere Vergleichungen angestellt hatte. ‚Sie sind bestohlen worden. Der Dieb ist Ihre Feindin. Er will sich rächen, er will Ihr Leben, und um dies zu erreichen, hat er die gestohlenen Sachen zur Bekleidung der Leiche verwendet und dieser mit in das Grab gegeben. Das ist niederträchtig. Denn in demselben Verhältnisse, in welchem die Verwesung der so bekleideten Leiche unaufhaltsam vorwärts schreitet, vermindert sich auch Ihre Lebensfähigkeit, reifen Sie selbst für das Grab. Das ist Mord!‘ schrie das Weib mit einer so eigenthümlichen Gewalt, daß ich zusammenschreckte. Einige Minuten herrschte in dem Zimmer eine Grabesstille. Ich war unfähig, irgend etwas zu thun, während die Wahrsagerin regungslos vor dem Tische stand und die darauf ausgebreiteten Karten anstarrte.

Endlich sagte sie leise: ‚Sie müssen sich losreißen von der Todten, diese Bindung darf nicht länger fortdauern, sie muß sobald als möglich gelöst werden. Verschaffen Sie sich Ihr Eigenthum wieder, die Leiche darf davon nicht das Geringste behalten. In dem Augenblicke, in welchem auf diese Weise die sympathetische Gemeinschaft aufgehoben wird, werden Sie Ihre Gesundheit wieder erhalten, kein Haar wird Ihnen mehr wehe thun, Sie werden munter sein wie ein Fisch. Noch einen Fingerzeig will ich Ihnen geben. Es ist dies nöthig, damit Sie nicht vergeblich suchen und nicht fehlgreifen. Die Karten sagen, mir, daß die Leiche eine Blutsverwandte Ihrer Feindin ist.‘ Bei den letzten Worten raffte die Frau die Karten eiligst zusammen und schritt, ohne zu grüßen und ohne sich nach mir umzusehen, zur Thür hinaus.

Ich war allein, und zwar allein gelassen mit den wunderlichsten Gedanken, die es nur geben kann. Auf der einen Seite widersprach es meinen Grundsätzen, an derlei widernatürliche Dinge zu glauben, auf der andern Seite aber schien auf dem mir angedeuteten Wege das einzige Mittel zu meiner Rettung zu liegen; ich empfand Unwillen und sogar Abscheu vor dem Gebrauch dieses Mittels, und doch vermochte ich die Stimme nicht zum Schweigen zu bringen, die tief in meinem Innern mir unausgesetzt von Hoffnung redete. Es war ein Kampf, der mehrere Tage dauerte und meinen Zustand verschlimmerte. Die Hoffnung oder vielmehr die Liebe zum Leben trug endlich den Sieg davon. Ich hatte mir eingeredet, daß das Mittel untrüglich sei, und hielt mich daran fest, wie der Ertrinkende an den Strohhalm. Dem Entschlusse folgte die Ausführung auf dem Fuße. Der Todtengräber, den ich zu mir kommen ließ, bestätigte mir zunächst, daß genau zu derselben Zeit, in welche die Entstehung meines Krankseins fiel, eine Verwandte meiner Feindin beerdigt worden war; er bestätigte aber auch, daß mein Leben gefährdet sei, wenn die Leiche Sachen, die ich getragen, mit in das Grab erhalten habe. Meine Bitten um Oeffnung des Grabes lehnte er lange Zeit mit Entschiedenheit ab, und erst, als ich eine ansehnliche Summe Geld als Entschädigung bot, sagte er zu.

Damals dachte ich nicht entfernt daran, daß ich etwas Unerlaubtes und Strafbares forderte, daß ein Dritter die mir gehörigen Sachen nicht aufzufinden im Stande war und daß ich daher selbst mich bei der Handlung betheiligen müsse, weil das Verbleiben auch nur eines Gegenstandes die geheimnißvolle Verbindung ja nicht auflösen sollte. Allein ich schreckte vor meinem Vorhaben auch nicht zurück, als ich bei einer späteren Unterredung mit dem Todtengräber von der Nothwendigkeit meiner Gegenwart und möglicherweise auch meines Thätigseins bei der Ausführung des Unternehmens überzeugt und als ich gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht wurde, daß das Oeffnen des Grabes und die Wegnahme der Sachen heimlich, das heißt zur Nachtzeit, bewirkt werden müsse, weil kein Mensch davon Kenntniß erhalten dürfe. Ich suchte nur Hülfe, nur Rettung, denn mein Zustand hatte sich inzwischen so verschlechtert, daß ich nicht mehr gehen, nicht einmal mehr stehen und auch die Hände nicht mehr gebrauchen konnte. In diesen Tagen lernte ich die Todesangst kennen.

An dem verabredeten Abend ließ ich mich erst in die Wohnung des Todtengräbers und von da nach dem Friedhofe tragen. Es war eine wundervolle Nacht, kalt zwar, aber ruhig und fast tageshell, der Himmel wolkenleer und mit Millionen Sternen besät. Die tiefe Stille auf dem Friedhofe hatte für mich nichts Schauerliches, das bereits geöffnete Grab nichts Abschreckendes, meine volle Aufmerksamkeit richtete sich auf den Sarg, der noch geschlossen war und dessen Oeffnung ich mit einer Spannung entgegensah, welche meine gesammten geistigen Kräfte in Anspruch nahm. Ich war keines Wortes, keines Gedankens mächtig, regungslos saß ich am Rande des Grabes und starrte auf den Sarg hernieder.

Nach vielfachen vergeblichen Anstrengungen des Todtengräbers fiel endlich der festgenagelte Deckel polternd zur Seite herab, die Leiche lag bloß vor meinen Augen. Ein jäher Schreck durchzuckte jedes meiner Glieder. Dies Gefühl war aber so schnell vorübergehend, daß es kaum eine Secunde ausfüllte. Und doch übte dasselbe auf mich eine außerordentliche, eine wunderbare Wirkung. Vergessen Sie nicht, Herr Inspector, daß ich bis zu diesem Augenblicke weder Hände noch Füße gebrauchen konnte. Der Anblick der Leiche riß mich mit gewaltiger Kraft von meinem Sitze in die Höhe; ich trat näher an den Rand des Grabes heran, ich beugte mich sogar in dasselbe hinab, um genauer sehen zu können, bezeichnete dem Todtengräber jeden einzelnen Gegenstand, der früher mir gehört hatte und den dieser der Leiche wegnehmen mußte, und nahm diese Sachen, so wie sie mir gereicht wurden, fest in meine Hände und in meine Arme. Ich war im Stande, mich in dieser unbequemen Stellung zu erhalten, mich ohne Hülfe aufzurichten, aufrecht zu stehen und fortzubewegen; ich war im Stande, die Hände zu gebrauchen, nicht nur damit festzuhalten, sondern [499] auch eine Last zu tragen; ich fühlte mich nicht mehr schwach, meine alten Knochen waren nur noch ungelenk und steif, sonst aber wieder kräftig geworden; ich drückte die alten, schmutzigen und werthlosen Kleidungsstücke fest an meine Brust, und ein Gefühl unaussprechlichen Wohlthuns und Behagens durchschauerte mich, als ich ohne Stütze aus dem Friedhofe hinausschritt und in meine Wohnung zurückzukommen suchte.

Die Verbindung zwischen mir und der Leiche ist gelöst, die sympathische Gemeinschaft aufgehoben, ich bin von da ab wieder gesund. Aber ich bin eine Verbrecherin geworden. Indem ich mich aus Liebe zum Leben von der Leiche losriß, verwirkte ich das Zuchthaus, denn ich verleitete den in Eid und Pflicht stehenden Todtengräber durch eine Summe Geldes zu einer Handlung, die eine Verletzung seiner amtlichen Pflicht enthält und mit Zuchthaus gestraft wird. Ich weiß jetzt, daß ich Theilnehmerin an dieser Handlung bin und daß mich als solche dieselbe Strafe trifft, die der Hauptthäter zu gewärtigen hat. Glauben Sie nicht, Herr Inspector, daß die Zukunft des von mir verführten Mannes mir gleichgültig ist und daß ich mich über meine eigene Zukunft einer Täuschung hingebe; ich fühle schwer, daß ich eine große Schuld auf mich genommen habe. Allein ich bin in meinem Gewissen ruhig, ich habe nichts Böses gewollt, nichts Ehrloses verübt. Der liebe Gott und die Menschen werden mein Unrecht milder beurtheilen und ich werde mir Mühe geben, dasselbe gut zu machen. Aber mein lieber Inspector,“ unterbrach Fräulein v. K. ihre Mittheilung, „Sie lachen ja nicht. Nicht wahr, Erlebnisse solcher Art sind doch zu ernst, um lächerlich gefunden zu werden?“

Das waren sie auch in der That, nur in anderer Weise, als die Gefangene meinte. Ich hielt diese wie alle meine Gefangenen für geistig krank, sogar für schwer krank. Der Aberglaube wurzelt tief, wo er überhaupt Wurzeln schlägt, und diese bis auf die letzte Faser herauszureißen macht nicht nur ungewöhnliche Kräfte, sondern auch beharrliche und unermüdliche Ausdauer in der Verwendung dieser Kräfte nothwendig. Daß der Aberglaube zu den beklagenswerthesten und zu den traurigsten Verirrungen führt, war mir natürlich bekannt, innerhalb des Gefangenenhauses aber hatte ich mit dieser Art geistiger Befangenheit noch nicht zu thun gehabt, und ich würde dieselbe im Jahre 1865 auch gar nicht für möglich gehalten haben, wenn mir Fräulein v. K. nicht gegenüber gestanden und wenn ich das Bekenntniß nicht aus ihrem Munde vernommen hätte. Die Heilung dieser Krankheit schien äußerst schwierig zu sein; ich wollte sie aber dennoch versuchen, ich wollte die Thatsachen nicht in Zweifel ziehen, mir nur Mühe geben, den natürlichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nachzuweisen. Erst aber sollte die Patientin einige Tage hinter Schloß und Riegel verweilen; ich hoffte dann leichtere Arbeit zu finden.

Der Todtengräber hatte am Nachmittag seinen Rausch ausgeschlafen. Er war vollständig nüchtern, ich konnte mit ihm über seine Angelegenheiten sprechen. Der Ruf dieses Mannes war, wie ich bereits erwähnte, schlecht. Man hielt ihn allgemein für einen sittlich verwahrlosten Menschen, man sagte auch, daß er durch eigene Verschuldung in seine bedauerlichen Verhältnisse gekommen sei. Ich suchte ihn auf, um ihm eine Strafpredigt zu halten, und hatte mir vorgenommen, ihn tüchtig abzukanzeln. Dazu kam es jedoch nicht. Der Mann erwies sich besser als sein Ruf.

„Ach, Herr Inspector,“ redete er mich bei meinem Eintreten an, „es ist gut, daß Sie kommen, die Zeit ist mir schon erschrecklich lang geworden. Was wollen Sie denn mit mir altem Kerl eigentlich anfangen? Lassen Sie mich wieder laufen. Es ist ja nicht so sehr schlimm, was ich gethan habe, ich habe es ja auch nicht in böser Absicht gethan, obgleich ich dazu allen Grund gehabt hätte. Sehen Sie, Herr Inspector, der Vater des alten Fräuleins hat mir mein Weib verführt und mich dadurch elend gemacht. Ich hätte also Ursache gehabt, mich zu rächen, ich hätte die Schuld des Vaters an das Kind zurückzahlen können. Weiß Gott, ich wollte das auch thun. Als ich aber sah, wie elend das Kind bereits war, da wurde es in meiner Brust lebendig; das Mitleid kehrte ein, ich entsagte der Rache und versprach zu helfen.“

„Hat nicht das Geld Sie dazu bestimmt?“ fragte ich, als der Gefangene eine Pause machte.

„Das Geld?“ versetzte er, „nein, das hat es nicht gethan. Halten Sie mich für einen Lump, der ich auch bin, aber halten Sie mich nicht für schlecht. Ich habe das Geld allerdings angenommen, ich dachte dabei an meine arme kranke Schwester und an ihre hungernden Kinder, ich dachte, daß denselben mit dem Gelde ein Theil ihrer Noth und Sorge abgenommen werden könnte und daß das alte Fräulein den Verlust nicht besonders empfinden würde. Das Alles bestimmte mich, das Geld nicht zurückzuweisen.“

„Versprachen Sie sich denn einen Erfolg?“ fragte ich, um auch in dieser Richtung auszuforschen.

„Weiß Gott, nein; ich hielt das Ganze für Unsinn, aber ich dachte, daß vielleicht Angst und Schreck dem Fräulein wieder auf die Beine helfen könnten.“

„Und das Geld, wo ist das geblieben?“

„Das hat von Heller zu Pfennig meine Schwester erhalten. Ach, wie glücklich war sie!“

Der alte Mann sagte das mit nassen Augen. Konnte ich ihm Vorwürfe machen? – Ich ging still aus der Zelle hinaus und schloß still hinter mir zu.

Die Strafe war für beide Gefangene eine milde. Bei dem offenen Geständnisse derselben wurde ohne Zuziehung der Geschworenen verhandelt und von der Staatsanwaltschaft und dem Gerichtshofe das Vorhandensein mildernder Umstände angenommen. Ich behielt die Gefangenen vom Tage ihrer Verurtheilung noch sechs Monate in Gewahrsam, arbeitete rüstig und unausgesetzt an ihrer Bekehrung und wurde darin auch von dem Anstalts-Geistlichen unterstützt. Ob aber die Cur gelungen ist, darüber habe ich keine Gewißheit erhalten können.