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Eine traurige Geschichte aus London

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Titel: Eine traurige Geschichte aus London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 31–32
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[31] Eine traurige Geschichte aus London. An einem Spätsommerabende dieses Jahres ging ich in Begleitung meiner Frau durch einen der zahlreichen öffentlichen Plätze im Westen von London. Der Ausdruck „öffentlicher Platz“ bedarf in etwas der Modifikation: die Squares in London sind bekanntlich nur insoweit als öffentliche Plätze anzusehen, als die Wege, von denen sie eingefaßt sind, in Betracht kommen; der eigentliche freie Platz ist mit einem etwa 5 Fuß hohen eisernen Gitter umgeben und nur denen zugänglich, welche in dessen nächster Nachbarschaft wohnen und gegen Bezahlung einer gewissen monatlichen Summe einen Schlüssel und damit das Recht erhalten, die meist recht hübschen Gartenanlagen als Promenade zu benutzen. Es war bereits spät, kurz vor 10 Uhr Nachts, und nur wenige Spaziergänger belebten noch die nicht zu dem geräuschvollsten Theile Londons gehörenden [32] Straßen. An das Eisengitter gekauert, nur sehr dürftig bekleidet, auf den Steinplatten des Trottoirs liegend, fanden wir vier Kinder im Alter von fünf bis ungefähr elf Jahren. Wir waren unter den Vorübergehenden wohl so ziemlich die Einzigen, welche durch diesen Anblick in ihrem Wege aufgehalten wurden; der Londoner ist durch den täglichen – was sage ich!– stündlichen Anblick des maßlosesten Elends bereits so völlig erkaltet, so gleichgültig geworden und so abgestumpft, daß eben etwas das Gewöhnliche unendlich Uebersteigendes dazu gehört, um ihn nur so lange von seinem eiligen Geschäftswege abzuhalten, als genügt, einen oberflächlichen Blick auf das neue Capitel menschlichen Elends und Jammers zu werfen. Dann geht er weiter und hat bald den „üblen Eindruck“ vergessen. Nicht so der Deutsche; in ihm regt sich, trotz aller Täuschungen, denen sein von Natur meist gutes und mitleidiges Herz hier ausgesetzt ist, zunächst der Wunsch, Hülfe zu leisten, sei es auch eben nur durch guten Rath, wenn seine Lebensstellung ihm die wirksamere Hülfe nicht gestattet.

Auch auf mich machte der Anblick dieser hülflosen Kinder in so zartem Alter einen tiefen, schmerzlichen Eindruck und ließ mich wieder einmal fühlen, daß Diejenigen, die gern fremdes Leid lindern möchten, es in der Regel nicht können. Das Einzige, was ich thun konnte (und auch that), war, die Aufmerksamkeit des nächsten Polizei-Constables, den ich traf, auf die Kinder zu lenken, hoffend, daß dieser für deren Unterkommen – für die bevorstehende Nacht wenigstens – im Armenhause des Districts sorgen werde. Allein was geschah? – Der Polizist trieb die armen Geschöpfe aus ihrem Ruheplatze fort und so lange vor sich her, bis es ihm gelungen war, sie aus dem seiner Controle unterworfenen Bezirk zu entfernen. Damit hatte er sich ihrer entledigt, und es war nun Sache eines andern seiner Kollegen, sich (in gleicher Weise wahrscheinlich) weiter mit den Unglücklichen zu beschäftigen.

Doch, wird man fragen, wie kann so etwas in einer Stadt vorkommen, die von Wohlthätigkeits-Anstalten aller Art förmlich wimmelt, in der Millionen von Pfunden Sterling Jahr aus Jahr ein unterzeichnet und gezahlt werden für milde Zwecke aller Art, wo unzählige Armen- und Waisenhäuser, Hospitäler und milde Stiftungen durch die öffentliche Wohlthätigkeit unterhalten und neue Anstalten derselben Art fortwährend gegründet werden?

Das ist nun eine ganz natürliche Frage und ihre Beantwortung doch nur für Diejenigen leicht, welche London, seine Gesellschaft, seinen Schwindel, seine Lüge und seine Wahrheit kennen und sich Zeit und Mühe nicht verdrießen lassen, theils durch eigene Anschauung, theils durch fortgesetzte und namentlich vergleichende Lectüre der Tagesblätter mit der Zeit in gewissen Dingen klar zu sehen.

Ich gehöre einigermaßen zu diesen Beobachtern und stellte die Behauptung auf, daß, wenn nur die Hälfte der jährlich zu wohlthätigen Zwecken in London bewilligten Mittel wirklich im Sinne der Geber verwendet würde, es ganz anders mit dem Elende stehen müßte, dessen Anblick oft genug geeignet ist, dem Beschauer das Blut nach dem Herzen zu treiben. Wenn hier eine öffentliche Wohlthätigkeits-Anstalt in’s Leben tritt, so ist das Erste, was geschieht, die Einsetzung eines zahlreichen und sehr gut salarirten Beamten-Personals, dessen Gehaltszahlung natürlich aus den durch milde Beiträge zusammengeschossenen Fonds bestritten wird; ja, es ist Thatsache, daß manche derartige Anstalten eben nur in der Absicht fundirt wurden, um gewissen, den besseren Classen der Gesellschaft angehörenden Personen, die in ihren Verhältnissen zurückgekommen sind, eine ebenso dauernde als lucrative Versorgung zu gewähren, indem man sie zu Directoren oder Secretärien derselben ernannte. Nachdem nun reichlich für den Comfort und die gute Bezahlung der „Officials“ gesorgt und die regelmäßigen jährlichen Beiträge der fettesten Protectoren einer solchen Wohlthätigkeits(?)-Anstalt gesichert sind, – dann wird daran gedacht, den verbleibenden Rest in dem Sinne zu verwenden, in welchem Alles gegeben ward!! – Das ist eine Thatsache! –

Nun möge man aber nicht glauben, daß dieser Rest rückhaltlos und ohne Ansehen der Person, nur mit alleiniger Rücksicht auf das Bedürfniß gegeben und verwandt wird: – weit entfernt! In neunundneunzig von hundert Fällen sind erst noch Empfehlungen und dergleichen unerläßlich, um einer Wohlthat theilhaftig zu werden. Außerdem sind diese Anstalten fast ausschließlich der Controle eines Geistlichen der anglikanischen Kirche unterworfen. Diese Herren, welche ein Vorbild christlicher Milde und Duldung sein sollten, sind in der Regel ausgezeichnet durch ihren Zelotismus und ihre Unduldsamkeit! Wehe dem Armen, der, um Hülfe suchend, nicht ein Attest mitbringt, das ihn unzweifelhaft als eifrigen und regelmäßigen Kirchenbesucher stempelt! Wehe ihm ferner, wenn er einer Dissenter-Gemeinde angehört; es wäre dies schlimmer für ihn, als wenn er sich de facto als Juden, Mohammedaner oder Heiden einführte. Nicht zu reden von den obligatorischen Büß- und Betübungen, die stets unzertrennlich sind von einem solchen Londoner Wohlthätigkeits-Institut, welcher Art es auch sein und welchem Genre es angehören mag. Heuchelei und Augendienerei sind einmal hier an der Tagesordnung und werden es bleiben, bis die jetzt nur noch schwachen Versuche im Parlament, die Macht und den Einfluß des englischen Klerus zu schwächen, mehr und festeren Boden gewinnen und kräftigerer und nachhaltiger betrieben werden.

Was wird nun aus jenen eingangserwähnten vier Kindern geworden sein? fragt der solcher Möglichkeiten ungewohnte deutsche Leser weiter; und wie konnten dieselben überhaupt zu einem solchen Grade von Verlassensein kommen?

Was aus ihnen geworden sein wird? – Du lieber Gott! – mit Gewißheit kann ich es nicht sagen, doch mit an Gewißheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Von Ecke zu Ecke und von Straße zu Straße getrieben, von einem Constable in das Revier des andern hinüber gescheucht, sind sie endlich in später Nacht oder am frühen Morgen Einem in die Hände gefallen, der vielleicht selbst Kinder hat und der nun, ein Gefühl des Mitleids spürend, die elenden Geschöpfe unter das einzige Obdach bringt, das er zu vergeben hat – unter das der nächsten Polizeistation. Dort bringen sie den Rest der Nacht zu und stehen am nächsten Vormittag um 10 Uhr vor dem Districts-Polizeirichter unter der Anklage des „obdachlosen Umhertreibens“. Niemand kennt, Niemand reclamirt die Kleinen; der Richter schickt sie in’s Armenhaus, wo sie schlecht behandelt und jämmerlich gespeist werden, und das ungeachtet der drückenden Abgaben, welche jeder Hausbesitzer, außer den vielen anderen Taxen, speciell gerade für dieses Institut zahlen muß. Doch hier kommen wir wieder auf den alten faulen Fleck: wenn nur die Hälfte dieser Abgaben den Armen wirklich zu Gute käme! – Die physisch und psychisch unerträgliche Lage verleitet die Kinder endlich zur Desertion aus dem Armenhause; auf’s Neue ist die Straße, der öffentliche Park ihre Heimath. Sie haben weder Geld, noch Obdach, noch Freunde. Hunger und Noth führen zum Diebstahl, zum Broddiebstahl, zur Polizeistation, zum Gefängniß, zur Correctionsanstalt für jugendliche Verbrecher u. s. f., bis endlich Newgate mit seinem Galgen oder die Alles beschließende Tracht aus zweierlei Tuch in Portsea oder Millbank die Carriere enden.

Und wie ist es möglich, daß Kinder in so zartem Alter überhaupt so exponirt sein konnten? – Das ist die Folge der großen individuellen Freiheit, deren das britische Volk genießt. Die rechtmäßige Ehe ist leichter zu schließen, als irgendanderswo, ein wildes Zusammenleben von Mann und Weib ohne legales Hinderniß in’s Werk zu setzen. Nach kurzem Traume läuft dann oft der Vater hierhin und die Mutter dorthin auseinander, und die armen Geschöpfe, denen sie das Leben gaben, hungern und lungern nun auf den Gassen umher, bis endlich das Verbrechen sie aufnimmt oder die Geschworenen bei einer Leichenschau ihren Tod durch Hunger und Entbehrung constatiren.

Hungertod ist eine jetzt in den Londoner Zeitungen so alltäglich gewordene Rubrik, daß man die einzelnen Fälle nicht mehr liest. Der Beamte einer öffentlichen, durch die Einnahme des Kirchspiels unterhaltenen Armenanstalt verweigerte einer armen, alten, allein in der Welt stehenden Frau kürzlich die Aufnahme, weil sie noch einiges Mobiliar (ich glaube eine Matratze, einen Tisch und einen Stuhl) besaß. Wenige Tage darauf fand man die greise, hülflose Frau todt in ihrem Dachstübchen. Der die Leiche secirende Arzt erklärte, daß sie Hungers gestorben sei. Jedenfalls hatte sie nicht heuchlerisch die Augen zu verdrehen verstanden!

Das ist eine traurige Geschichte aus London, wo der Philanthropist noch ein gar reiches Feld für seine Thätigkeit und für seine Studien allnächtlich finden kann; wo die Menschen auf der öffentlichen Straße verhungern, weil sie im Augenblicke der höchsten Noth, und als Mangel und Verzweiflung mit deutlichen Zügen ihnen im Gesicht geschrieben waren, es wagten ohne Empfehlung an die Pforten einer öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalt zu klopfen, die ja doch nur den Empfohlenen geöffnet werden und deren oft, ja meist, reiche Fonds hauptsächlich zur Bildung von Sinecuren für die Schützlinge vornehmer Herren vorhanden sind.

Hier mag man erst Besserung schaffen, ehe man – wie neulich ein Herr Henry Mayhew – in frecher Ignoranz sich unterfängt, von einer ganzen großen Nation, unserer deutschen, als von „einem Volke von uncivilisirten, schmutzigen und betrunkenen Bettlern“ zu sprechen. Auf welcher Seite die wahre Civilisation gesucht werden muß – nur John Bull’s hochmüthiger Eigendünkel kann darüber eine Minute in Zweifel sein.