Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 08

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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am achten Sonntage nach Trinitatis.

Röm. 8, 12–17.
12. So sind wir nun, liebe Brüder, Schuldner, nicht dem Fleisch, daß wir nach dem Fleisch leben. 13. Denn wo ihr nach dem Fleisch lebet, so werdet ihr sterben müßen; wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tödtet, so werdet ihr leben. 14. Denn welche der Geist Gottes treibet, die sind Gottes Kinder. 15. Denn ihr habt nicht einen knechtlichen Geist empfangen, daß ihr euch abermal fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! 16. Derselbige Geist gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind. 17. Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben, und Miterben Christi; so wir anders mit leiden, auf daß wir auch mit zur Herrlichkeit erhaben werden.

 VOn den falschen Propheten, vor denen sich die Angehörigen JEsu hüten sollen, und von den Früchten beider, der guten und der faulen Bäume im Garten des HErrn, handelt das Evangelium. Nicht im Gegensatz, sondern das Evangelium vervollständigend, handelt die Epistel von den Kindern Gottes, ihrem Geiste und deßen Wirken in ihnen und aus ihnen. Bliebe man im Gleichnis des Evangeliums, so könnte man sagen: die Epistel zeigt, wie man zum guten Baume wird und welche besten und schönsten Früchte Gottes Bäume bringen sollen. Redet nun gleich die Epistel nicht von Lehrern, ist es allgemeiner; so erleidet es doch eine volle Anwendung auf die Lehrer; wie das Evangelium verallgemeinert auf| jeden Menschen angewendet werden kann, so kann man den Sinn der Epistel durch die Anwendung beschränken. Jedenfalls greifen die beiden Texte wohl zusammen und zeigen uns das Christenleben von innen und außen. Will man sich aus beiden das innere und äußere Bild eines heiligen, mit Segen gekrönten Lehrers bilden und es mit allem ausschmücken, was einem solchen ziemet; so liefern unsere Texte allen Stoff dazu – und wir können uns im frommen Lehrer das hehre Vorbild aller Christen vor Augen stellen. Doch wollen wir bei diesem Vortrage nicht zunächst darauf ausgehen, im Lehrer den Christen zu zeigen, sondern wir überlaßen das dem, der es thun will, und legen uns einfach den Inhalt des epistolischen Textes vor.

 Der Text beantwortet uns aber zwei innig zusammengehörende Fragen von großer Wichtigkeit. Die erste Frage ist: „Welche Menschen sind Gottes Kinder?“ Die andere innigst mit der ersten durch die Beantwortung derselben verbundene ist diese: „Welche Menschen haben den heiligen Geist?“ Die gedoppelte Antwort auf die gedoppelte Frage euch vorzutragen, verleihe mir armen Lehrer der heilige Geist Sein Licht und Seine Kraft.

 Die erste Frage ist also diese: „Welche Menschen sind Gottes Kinder?“ Die Antwort auf diese Frage ist leichter und kürzer zu geben, als die auf die zweite, zumal wenn wir der Predigt das Maß nach dem Texte meßen. Es ist, so wie die Sachen in unserm Texte liegen, die erste Frage und ihre Antwort nur wie ein Eingang und eine Vorbereitung für die zweite Frage und deren Antwort. So wollen wir sie faßen, nichts anderes erwarten als was sie demnach geben und bieten soll. Also: welche sind Gottes Kinder? Antwort:

1) die, welche den Geist Gottes haben;
2) die, welche Gottes Erben und Miterben JEsu sind.

 Diese Antwort ließe sich ebensowohl mit Sprüchen unsers Textes geben und ist ja auch so, wie ich sie gab, in Wort und Ausdruck unsers Textes eingehüllt. Im 14. Verse des Texteskapitels lesen wir: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ Ist das im Grunde etwas anderes, als unsre Antwort: „die sind Gottes Kinder, welche den Geist Gottes haben?“ Es fällt mir nicht ein zu sagen, der Ausdruck „den Geist Gottes haben“ und „vom Geiste Gottes getrieben werden“ sei einerlei und völlig gleichbedeutend. Ich hoffe den Ausdruck „vom Geiste Gottes getrieben werden“ auch selbst noch in diesem Vortrage zu erläutern. Aber kann ich vom Geiste Gottes getrieben werden, ohne diesen Geist zu haben? Ist der Trieb des Geistes etwas Aeußeres, wie das Wehen eines Windes, oder etwas Inneres? Wenn aber etwas Inneres, so muß ich doch erst den Geist haben, in mir haben, einwohnend haben, ehe ich, um mit Vers 11 unsers Textkapitels zu reden, von ihm getrieben werden kann. Es wird also wohl ohne Zweifel wahr sein, wenn ich sagte: „die sind Gottes Kinder, welche den Geist Gottes haben“. Gottes Kinder haben ihres hohen Vaters Art, aber nicht von Natur, sondern durch die Wiedergeburt; es ist der Geist ihres Vaters, an welchem sie sich als Seine Kinder erkennen. Unter dem Geiste des Vaters ist nun aber nicht irgend eine von dem Vater geschaffene Regung zu verstehen, die man nach einer Redefigur auch „Geist des Vaters“ nennen könnte, sondern der persönliche Geist Gottes, die dritte Person in der Gottheit, welche von dem Vater und Sohne ausgeht und gesendet wird in die Herzen der Gläubigen auf eine übernatürliche, wunderbare Weise. Daher ist auch von einem Wohnen des Geistes und so vielen andern persönlichen Geschäften desselben in unserem Texte und sonst in der Schrift die Rede. – Laßen wir also alles, wie gesagt ist: Gottes Kinder sind die, welche ihres ewigen Vaters ewigen, persönlichen Geist einwohnend haben.

 „Einwohnend“ sagte ich. Es ist ja nicht von einem vorübergehenden Besuche des heiligen Geistes die Rede, sondern von einer bleibenden, ja ewigen Einkehr, von einer Verbindung, die nach der göttlichen Absicht nie und nimmer gelöst werden soll, Wenn auch der Mensch sie lösen kann durch Frevel seiner Sünde. Denken wir uns nun den Menschen in dieser innern geistigen, ja geistlichen Verbindung, so können wir uns daraus gewis leicht abnehmen, welch eine hohe Würde für ihn darinnen beruht, und wir werden ihm, wenn er sie gefunden, den Namen eines Kindes Gottes mit allem Recht zugestehen dürfen und müßen. Wir werden dann aber auch die zweite Antwort auf unsre Frage: „welche sind Gottes| Kinder“ für recht erkennen. Wir sagten nemlich auch: die seien Gottes Kinder, welche Seine Erben und Miterben Christi seien. Diese Antwort aber ist getreu aus Vers 17 des Textes genommen, wo wir lesen: „Seid ihr aber Kinder, so seid ihr auch Erben, nemlich Gottes Erben, Miterben aber Christi.

 Diese zweite Antwort auf unsre Frage weist allerdings eben so auf die Zukunft, wie die erstere auf die Gegenwart. Den Geist müßen wir hier schon haben, er ist, wie die Schrift sagt, „das Pfand unsers Erbes“. Das Erbe, das Erbe Gottes und Miterbe JEsu aber liegt über diese Zeit und die gegenwärtige Weltperiode hinaus, wir warten darauf. Es ist daher diese zweite Antwort für viele gar keine; denn wenn sie fragen: „welche sind Gottes Kinder“, so fragen sie eben so wenig nach deren verborgenen, ihnen aufbehaltenen Zukunft, als nach ihrer wesentlichen Beschaffenheit, sondern nach den Kennzeichen. Sie sind kaum mit der ersten Antwort zufrieden, weil sie da erst wieder fragen müßen, wer hat den heiligen Geist? Die zweite Antwort ist ihnen gering. Wir hingegen, die wir Gottes Kinder nicht erst suchen, sondern uns unserer eigenen Herrlichkeit nur völlig klar und bewußt werden wollen, wir freuen uns beider Antworten, auch der zweiten, die unsre Hoffnung stärkt, indem sie von ihr spricht und uns innerlich derselben gewis macht, indem sie uns die äußere Bestätigung des göttlichen Wortes von ihr bringt. Wir faßen uns, heben unsre Augen auf, sehen auf die Taufe als den Anfang des Christenlaufes und verfolgen denselben, so weit es immer möglich, in die unabsehbaren Fernen der Ewigkeit, und urtheilen von dem Ganzen, das wir meinen, in dem wir sagen: die sind Gottes Kinder, welche hier das Pfand, den Geist, dort aber das Erbe Gottes, das Miterbe JEsu haben.

 Es könnte nun etwa einer erwarten, daß ich sofort auslegen werde, was Erbe Gottes, Miterbe JEsu sei. Allein das ist ein Gegenstand von so hinreißender Macht, daß man, wie er selbst unendlich ist, auch der Worte kein Ende zu finden in Gefahr ist. Ich lege nicht aus, ich faße höchstens alles in die Worte zusammen „ewige Seligkeit, ewige Herrlichkeit“. Diese sagen kurzen Lautes was die Propheten, was St. Johannes in der Offenbarung, was die heiligen Apostel, wenn sie gewürdigt werden den Vorhang zu lüften, der jene Welt verhüllt, mit überströmenden Worten sagen. Ich möchte in meinem heutigen Gedankengang auch weniger das Wort Erbe und Miterbe betonen, als die Worte Gottes, Christi, Erbe Gottes, Miterbe Christi. Wen beerben Gottes Kinder? Mit wem erben sie? Der alte Gott ist es, den wir beerben, der aber selbst nicht aufhört zu besitzen, wenn Seine Millionen von Kindern in’s Erbe eintreten, – der ewig jung und ewig reich bleibt, wenn vor Seinem Angesichte die Schaar der Kinder sich mehrt. Und mit wem erben sie? Wer ist der Erben neidloser Erster und Herzog? Der, mit welchem zu leiden schon Seligkeit genannt werden kann, wie viel mehr der gemeinsame Eintritt in den ewigen Besitz und die gemeinsame Freude des Besitzes. Wahrlich, wenn Gottes Kinder Gottes Erben und Miterben des Messias oder Christus sind, so ist das etwas mächtig zur Kindschaft Ziehendes und Lockendes. Denn der Mensch hungert nach einem ewigen Loose – und gewis, so findet er es herrlicher, als ers ahnen und hoffen konnte. So ziehe denn und locke das Erbe so viel es kann, und die gedoppelte Antwort vom Besitz des Geistes hier und dazu dort des ewigen, unvergänglichen Erbes erfülle uns alle mit der rechten Ehrerbietung vor der Würde eines Kindes Gottes.

 Wir hätten füglich noch eine dritte Antwort auf unsre Frage aus unserm Texte nehmen können. Der 17. Vers sagt nemlich: „Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nemlich Gottes Erben und Miterben Christi, so wir nemlich mitleiden, auf daß wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.“ In diesen Worten ist ja unwiderleglich ausgesprochen, daß wir, daß die, welche Gottes Kinder und Erben und JEsu Miterben sind, hier in dieser Welt auch mit Ihm und wie Er leiden müßen. Wir werden miterben, sofern wir auch mitleiden, – wir sollen mit Ihm leiden, auf daß wir mit Ihm zur Herrlichkeit erhoben werden. Also ist Herrlichkeit und Leiden, Erbe und Leiden, Kindschaft und Leiden verbunden. Warum also habe ich dennoch nicht das Leiden um der Sache JEsu willen, Haß und Verfolgung der Welt als dritte Antwort auf unsre Frage aufgestellt? Nicht deshalb, weil ich es nicht wirklich für die größte Ehre hielte, mit Christo| zu leiden, wenn wir der Leiden gewürdigt werden; wohl aber darum, daß viele Gottes Kinder und Erben sind, ohne zu leiden, – und deshalb, weil ich auf diese einen Schatten und eine Trübnis brächte, unter welcher der Satan das Netz der Anfechtung auswerfen könnte und unnöthiger Weise arme Seelen plagen. Denkt an die Kinder, an die jungen Leute, ja an so viele Alte, die in christlichen Gemeinden aufwachsen, leben und sterben, die keinen Haß, keine Verfolgung der Welt zu leiden haben und doch zur Herrlichkeit kommen, und doch den Geist schon hier haben. Man kann mir allerdings einwenden, daß sich auch das gewöhnliche Leid und traurige Lebensschicksal des Christen zum Kreuz verkläre, daß ein christlich Leidender sich als mit Christo leidend ansehen könne; auch könnte man sagen, wenn man recht lebe, wie es Christus wolle, gebe es auch allenthalben etwas um Christi willen zu leiden. Ich weiß das, ich wollte es „ausstreichen“, wenns nöthig wäre; aber davon redet eben der Apostel nicht, und es ist eben doch wahr, daß es Menschen gibt, die, nicht berufen um Christi willen zu leiden, friedlich und still ihres Glaubens dahinleben bis in den Tod und bis sie zur Herrlichkeit gehen. Es ist doch das Kreuz, das Leiden um Christi willen nicht ausnahmlos wie Geist und Erbe Eigentum und Zeichen aller Gotteskinder. Drum bleibe alle Wahrheit, namentlich die des Kreuzes in ihrer Würde, aber ihr, lieben Brüder, laßet euch auch meine nur zweifache Antwort auf die zuerst gethane Frage gefallen.

 Schon in dem, was ich bisher sagte, ist daran erinnert – vorübergehend wenigstens, daß die erste Frage: „Wer ist Gottes Kind“ und deren erste Antwort, von welcher auch die zweite abhängt, eine neue Frage errege, die nemlich: „Wer hat den Geist?“ – Gottes Kind ist, wer den Geist hat. Wer hat den Geist? – Würde man diese Frage für Ungläubige beantworten, so würde man die volle Herrlichkeit unsers Textes nicht enthüllen dürfen, man müßte mehr nach Weise des heutigen Evangeliums auf die Früchte der guten Bäume, in Betrachtung der Epistel aber nur auf die letzte von den drei Antworten weisen, welche wir zu geben haben. Die Welt will ja sehen, hören, sinnliche Warnehmung machen. Allein wir geben unsre Antwort mehr für Kinder Gottes selbst, für welche auch St. Paulus seinen Text geschrieben hat. Kinder Gottes aber tragen innere Spuren des Geistes und seiner Anwesenheit, welche die Welt nicht sieht, von welchen sie selbst erst göttliche Belehrung empfangen müßen, damit sie ihr eigenes mit Christo in Gott verborgenes Leben ein wenig mehr im Lichte faßen. So mögen denn wir, soferne wir Gottes Kinder sind und den neuen Sinn empfangen haben, der Gottes Wege und Werke erkennt, die volle Antwort aus unserem Texte hören und nehmen, andere aber aus diesem weiteren Vortrage nehmen, was sie für wahr und richtig anzuerkennen vermögen.

 Unsere Antwort ist eine dreifache. Den Geist der Kindschaft hat:

1) wer innerlich den Ruf Abba, lieber Vater,
2) das Zeugnis des Geistes von der Kindschaft,
3) den Trieb des Geistes hat.
 Ihr habt nicht empfangen den Geist der Knechtschaft, daß ihr euch abermals fürchten müßtet, sondern ihr habt empfangen den Geist der Kindschaft, in welchem wir schreien Abba, lieber Vater.“ So sagt St. Paulus und zeigt damit ganz deutlich, was der Geist im Herzen der Gläubigen wirkt. Er führt dieselben dahin, daß sie Gott den Allmächtigen und Heiligen mit dem Vaternamen anzurufen sich getrauen. Diese Wirkung des heiligen Geistes scheint im Auge vieler eine sehr allgemeine zu sein. Christus hat uns beten lehren „Vater unser“ – und Millionen und aber Millionen rufen nun schon seit achtzehnhundert Jahren Gott als Vater an. Und nicht das allein, es ist in allen Gebeten von Alters her nichts gewöhnlicher, als Gott im Himmel mit dem Vaternamen anzurufen, eben so ist im gemeinen Leben unsers gesammten Volkes nichts gewöhnlicher als Gott den Vater im Himmel zu nennen; in unserer heimathlichen Gegend wird kaum ein Ausdruck gewöhnlicher und vielgebrauchter sein, als der Name Gottes „Vater“; alles ruft bei Schmerz und Leid: „O lieber Himmelsvater“. Dennoch wird niemand versucht sein, alle diejenigen als Kinder Gottes anzusehen, die Gott im Gebete JEsu und in anderen Gebeten als Vater anrufen und so oftmals ihrer Stoßseufzer sich mit diesem Ausrufe entladen. Es handelt sich nicht von frevelem Wortgebete und eitlem Plappern, sondern| vom Gebet im Geist und Wahrheit. Das zeigt sich ja schon im Worte Pauli: „Ihr habt empfangen den Geist der Kindschaft, in welchem wir rufen Abba, lieber Vater.“ Es muß vom heiligen Geiste gegeben sein, den Vaternamen zu brauchen: der Ausruf und Anruf der Frevler und Gewohnheitsmenschen ist eitel. Im Lichte des heiligen Geistes, in Seiner Kraft, mit voller Wahrhaftigkeit sagen können: „Abba, lieber Vater“, das ist, meine Brüder, eine hohe Lebensstufe, eine gnädige Wirkung des heiligen Geistes. Wer immer es darf und kann, der hat für sich ein Zeichen, daß Gottes Geist in ihm ist und wohnt, daß er, mit unserem zweiten Thema zu reden, den Geist Gottes hat.
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 Es werden hiebei mehrere menschliche Zustände in Betracht gezogen werden dürfen und müßen; der erste ist der Zustand der Sicherheit, der andere der Zustand der Knechtschaft oder der Furcht, der dritte der Zustand der Kindschaft. Der erste ist unser natürliches Leben und Wesen, in dem wir weder Furcht noch Liebe zu Gott haben, die ganze Religion nur in Meinungen, vorübergehenden Ahnungen, Gefühlen und Regungen des Willens besteht, in welchem man aber keinen festen Grund, keine Zuversicht, geschweige Lust und Liebe zu Gott hat. In diesem Zustande leben und sterben die meisten. Der zweite Zustand ist nicht natürlich, sondern erfordert schon eine Einwirkung Gottes und Seines Geistes. Es ist das der Zustand der Knechtschaft, der knechtischen, sclavischen Furcht. Wenn die Stimme Gottes vom Sinai ergeht und die Posaunen des Weltgerichts erschallen und die Erde mit ihren Bergen bebt und hüpft, wenn Gott das Volk Israel in dem Lauf seiner Geschichte mit Strafwundern angreift und es ihnen durch Erweisung Seiner Allmacht zu verstehen gibt, daß Er Gott sei, da erwacht freilich ein Abhängigkeitsgefühl, man fühlt sich im Nichts, im Unrecht, in dem Rechte und der Gewalt des Allerhöchsten. Dieser Zustand ist der der reinen, durch keine evangelische Erweisung gemilderten Gesetzlichkeit, der sich nicht bloß bei alttestamentlichen Juden, sondern auch bei neutestamentlichen Menschen und getauften Christen findet. Wenn Gott einem Menschen durch Seinen Geist die Augen über sich selbst und sein Verhältnis zum Allerhöchsten öffnet, da gibts oft ein Grauen, eine Furcht, eine Knechtschaft, die hart genug lastet. Sie ist keine Sicherheit und ohne Vergleich beßer als diese, sie ist aber wie die grauenvolle Nacht, bevor es dämmert, schwarz, schaurig, aber doch nicht ohne Hoffnung. Der dritte Zustand ist nun eben der des Evangeliums, des Tages, wo man, erlöst von Furcht und Schrecken des Gesetzes, durch den Geist des HErrn vertraut gemacht wird mit dem in Christo JEsu vollendeten Heil. Was vor achtzehnhundert Jahren geschehen, was die Kirche bekennt und lehrt von unserer Freiheit und Frieden in Christo JEsu, das wird durch eine unaussprechliche Wunderwirkung des Geistes Gottes in das Herz als Eigentum gelegt. Aus dem allgemeinen Heil entsprießt das Heil der einzelnen, eigenen Seele, und gelehrt, ermuthigt und gestärkt von dem Geiste des HErrn nennt man nun auch die Erlösung JEsu, die allgemeine, das Eigentum des glücklichen, einsamen, eigenen Herzens. Man lernt mit Demüthigung und Erhöhung sagen „Mein JEsu“ – und in Folge deß „Mein Vater“, „Abba, lieber Vater“. Das fühlt und erkennt sich dann als eine hohe That, nicht als ein bloßes Wort; und in dem Recht und der Macht, so beten, also ,Vater unser‘ im Geiste und in der Wahrheit beten zu dürfen, begreift man dann, daß der Geist in uns ist, daß wir Gottes Kinder sind. Trautes, süßes, aber auch heiliges, hehres Leben, wenn Einer, ein Mensch, der Staub und Asche dem Leibe nach, der Seele nach aber ein kleiner Geist gegen den unermeßlichen Abgrund des göttlichen Wesens ist, sprechen kann zu diesem unermeßlichen Wesen: „Abba, lieber Vater“. Man kann sagen was man will, man kann die Würde, die Ahnung, Sehnsucht, die noch vorhandene Kraft des Menschen erheben, so viel und hoch man will: wer aber bist du, wer sind wir alle – vor Ihm! Stille vor Ihm alle Welt! Aber Seine Kinder sind nicht stille und sollen es nicht sein, sondern es löst sich von ihrem Herzen immerzu der Ruf, der Schrei: „Abba, Vater“. Das ist Rauchwerk vor dem Altar, das steigt auf, das wird gewürdigt im Himmel – und erkannt und gefühlt von denen auf Erden, welchen es gegeben ist. Und wenn sich die Rauchwolken der Anrufung des Vaters im Geiste und der Wahrheit mehren, da mehrt sich im Herzen der Gläubigen die Gewisheit, daß sie den Geist haben und Kinder Gottes sind. – Das ist freilich gar nichts für das Urtheil der Welt, gar| kein Beweis, daß Gottes Geist in Gottes Kindern ist. Es solls auch nicht sein. Aber der feste Bund Gottes besteht und hat dies Siegel: „Der HErr kennt die Seinen“, – und ebenso kennen sie Ihn und rufen Ihn und haben in dieser seligen Bekanntschaft und Verwandtschaft für sich Siegel und Gewisheit genug, zu wißen, wem sie angehören und wes Geistes Kinder sie sind.

 Uebrigens wirkt der Geist Gottes nicht bloß in Gottes Kindern den süßen Abbaruf, das kindliche freudige Beten zu dem ewigen Vater, sondern Er gibt ein zweites: dem Ruf der Kinder, die da Vater schreien, antwortet aus dem himmlischen Heiligtum die Stimme des Vaters, welche uns den süßen Kindesnamen zuruft. „Er selbst, der Geist, gibt Zeugnis unserem Geiste, daß wir Gottes Kinder sind.“ So sagt St. Paulus. So wirkt dann der Geist ein Doppeltes: er löst den heiligen Ruf anbetender Kinder vom Herzen dieser und vertritt ihn vor Gott, wenn sie darin unaussprechliche Tiefe finden, und zweitens, ER bringt uns Gottes angenehme Antwort in die Seele. Oder willst du lieber den ersten Ruf, der uns Kinder nennt, Dem zuschreiben, der uns in allem zuvorkommt, der uns zuerst geliebt hat, – und unsern Abba-ruf als Antwort auf den Zuruf des allmächtigen und allerliebsten Vaters nehmen? Oder willst du beides, Gottes Ruf und deine Antwort, deinen Ruf und Gottes Antwort zusammenfallen laßen und darein Eine zusammengreifende Doppelwirkung des heiligen Geistes setzen? Immerhin bleibt doch der selige Ruf und Gegenruf, und der Geist Gottes wirkt doch nach unserem Texte beides, die himmlische Versicherung, daß du Gottes Kind seiest, und Muth und That und Kraft und Glück des kindlichen Gebetes. Wer nun dies Doppelte erfährt, die Versicherung des Geistes von der Kindschaft und die Macht des kindlichen Gebetes, der hat für sich ein doppeltes Zeugnis, daß er ein Kind Gottes und Gottes Geist in ihm sei.

 Wir sind indes mit diesem unserm 16. Textesverse noch nicht fertig. Es fragt sich, worin das Zeugnis des heiligen Geistes bestehe, ob in einer allgemeinen, aus der heiligen Schrift genommenen, durch das Lehramt der Seele zugebrachten und auf sie angewendeten Versicherung, daß alle, die erlöst sind und glauben, Kinder Gottes seien; oder aber in irgend einer besonderen, der Seele unmittelbar eingegebenen und eingesenkten Gewisheit und Zuversicht, einem außerordentlichen Zeugnis. Das Erstere ist von manchen kirchlichen Lehrern, das Andere von solchen hauptsächlich angenommen worden, welche nach dem ihnen geschenkten Zuge auf die Vorgänge des inneren Lebens achteten. Vielleicht sind beide von einander nicht so ferne, als es scheint. Einmal ist das gewis und von beiderlei Christen nicht geleugnet, daß es sich ja um ein Zeugnis und eine Gewisheit der Einzelnen von ihrer Kindschaft und ihrem Gnadenstande handelt. Es muß also auch von keiner bloß allgemeinen, über die Köpfe hingehenden Lehre, welche Leute Gottes Kinder seien, die Rede sein, sondern von einer besondern Gnadenerweisung und einem besondern Zeugnis des heiligen Geistes, worauf sich jene Gewisheit gründen kann. Andern Theils ist aber auch gewis, daß dies besondere Zeugnis von dem allgemeinen Worte Gottes, von der Predigt nicht losgetrennt ist. Lesen wir doch eben in einem öffentlichen Briefe des großen Lehrers Paulus von der Sache und würden ohne seine allgemeine Lehre gar nichts von dieser besondern Gnade wißen, sie nicht ahnen, nicht suchen, nicht drum beten. Ob nun aber der Geist des HErrn die Predigt eines Lehrers oder ein Erbauungsbuch dazu benützt, einem Menschen die große Gnade des Zeugnisses, daß er ein Kind Gottes sei, zuzuführen, oder ob er ihn in der Stille ohne hörbares oder sichtbares Wort daran erinnert, daß er Gottes Kind und Eigentum geworden, und ihm während der Feier des inneren Vorsabbaths oder Sabbaths, d. i. der zum Gebete vorbereitenden Betrachtung, oder dem Gebete selbst, die seligste Offenbarung gibt, die es geben kann, die erstaunlichste Gewisheit verleiht, von der wir reden können, – das ist am Ende Eins. Ohne Amt und äußeres Wort ist keine in der Ordnung des Heiles geschehende innere Erweisung des Geistes. Der Geist des HErrn bringt uns ohne Wort und Mittel am Ende nichts bei. Wie jede Welle zum Meere, jeder Strahl zum Lichte, so gehört jede Gnadenstunde eines Christen zur gesammten Leitung und Segnung der Kirche Gottes; ein etwas aufmerksamer Blick wird selbst bei den unmittelbarsten Offenbarungen und Wirkungen des HErrn Amt und Wort des HErrn in der Nähe finden, wirksam finden. Der Geist des Wortes und| Amtes thut nichts also, daß Seine heiligen Stiftungen in Schatten und Unwerth gesetzt werden. – Sehe daher allerdings ein jeder Christ auf die ihm nöthige Gnadenwirkung und Versicherung aus, bete drum, laße sich fleißig an den Orten finden, wo der HErr Seines Namens Gedächtnis gestiftet hat, weil Er da Sein Volk segnen will, gebrauche alle Gnadenmittel und überlaße es dann ganz und gar dem ewigen Freund und Tröster, wie, wo, wodurch, ob plötzlich, ob allmählich, ob mit immer gleicher oder immer wachsender Gewisheit das Zeugnis seiner Kindschaft ihm gegeben werden soll. Nur hüte er sich vor Sünde und dem Frohndienste der Leidenschaft, welcher alle Gewisheit verzehrt. Denn wir können allerdings mit unsern Werken uns keine göttliche Gewisheit des Heiles schaffen, wohl aber durch böse Werke und Sündendienst jede göttliche Gewisheit stören, ja verstören und zerstören, und wer das Zeugnis des Geistes unangefochten bewahren will, der bewahre seine Seele vor dem Hinsinken in Sünde und Bosheit. Nicht umsonst schreibt St. Johannes: „Wenn uns unser Herz nicht verdammt, haben wir eine Freudigkeit zu Gott.“

 Doch hier stehen wir ja bei der dritten Antwort auf unsre zweite Frage, denn diese dritte Antwort heißt ja: „die haben den Geist Gottes, welche sich von demselben treiben laßen.“ Das laßt uns nun miteinander genauer betrachten.

 „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“, übersetzt Luther. Bei dieser Uebersetzung aber kommt man des Sinnes wegen in Verlegenheit, welchen das Wort treiben haben soll. Man kann hier an ein Treiben denken, wie wir es an jenem Propheten sehen, der den König Jehu salbte, und an Jehu selbst, an ein gewaltsames, mächtiges, unwiderstehliches. Aber eben das ist es, was zum Begriffe des Wortes und Ausdrucks nicht gehört, so wenig als wenn wir von einem Triebe des Geistes reden. In dem Verstande des Hauptwortes Trieb verstehen wir die Meinung des Ausdrucks, welche ohne Zweifel auch Luther damit verbunden hat, viel beßer. Würden wir sagen: „Welche sich den Geist Gottes treiben laßen, sich von Ihm führen und leiten laßen, die sind Gottes Kinder“, so hätten wir damit den Sinn des Apostels getroffen und wir hätten damit ein Kennzeichen der Kindschaft und der Einwohnung des heiligen Geistes, welches nicht bloß für den, welcher den Geist hat, sondern oft auch für andere, welche außer Ihm leben, eine überweisende Kraft haben kann.

 Wir müßen jedoch auf die Sache noch mehr eingehen, als es hiemit geschehen ist. Wenn wir die Frage: „Wer hat den heiligen Geist?“ unter anderem auch so beantworten, daß wir sagen: „Wer sich von dem Geiste Gottes leiten und führen läßt“, so könnte man daraus nicht mit ganzem Rechte schließen: „Also wenn sich jemand von dem heiligen Geiste nicht leiten läßt, so hat er den heiligen Geist nicht“. Es muß doch der Geist erst im Menschen sein, ehe Er ihn regieren kann, und es läßt sich also wohl ein Zeitpunkt denken, in welchem der Geist bereits da ist, ohne noch den Menschen und seine Kräfte Seinem heiligen Regimente unterthänig gemacht zu haben. Auch muß man sich hüten, zu schließen: „dieser oder jener Mensch hat sich in dem oder jenem Falle vom Geiste Gottes nicht leiten laßen, also ist Gottes Geist nicht in ihm.“ Denn es ist kein Mensch, der allewege und in allen Fällen sich dem Geiste Gottes übergibt; wäre der Geist nur bei denen, welche vollkommenen Gehorsam leisten, so wäre Er bei niemand, weil niemand vollkommen dem guten Geiste folgt. Es ist der heilige Geist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue, – wenn Er in einen Menschen einzieht, so weiß Er am besten, daß Er Mühe und Arbeit, Geduld und Erbarmen, langmüthiges und großes, an uns wenden muß, weil unsre Krankheit zu schwer und groß ist und zu tief geht, als daß wir schnell und bald heil und heilig werden könnten. Es ist daher schon ein hoffnungsreicher Zustand, wenn im Allgemeinen der Wille und das treue Verlangen da ist, Christo zu dienen und Seinem Geiste zu gehorchen, und der Satz: „der Geist Gottes ist bei denen, welche sich vom Geiste Gottes leiten laßen“, muß mit derjenigen Bescheidenheit und Barmherzigkeit gefaßt werden, welche aus der Erkenntnis der menschlichen Zustände hervorgeht. Das schonungslose, böse Auge der Welt findet die heilige Regel nicht und mag sie nicht, nach welcher Gottes arme, kranke, aber dennoch Ihm angehörige, heilige Kinder gerichtet und beurtheilt werden müßen. – Ich glaubte dies sagen zu müßen, um das böse Urtheil der Menschen abzuwehren, und zum Troste derer,| die sich gerne selbst richten, im Selbstgerichte aber sich oftmals einer Strenge überlaßen, die eine eben so große Selbstplage, als ungerecht und unweise ist.

 Es muß aber auch noch etwas anderes vorsorglich gesagt werden, und das sei der Schluß und dem Ernste nach Spitze und Schärfe des Vortrags, wie es im Grunde auch Spitze und Schärfe des Textes, ja des ganzen Textes-Themas Hauptsatz ist.

 Der Brief Pauli ist an die Römer geschrieben, also an Christen, an Menschen, von welchen vorausgesetzt werden durfte, daß der heilige Geist in ihnen wohne. Solche Menschen sind nicht mit denen zu verwechseln, welche im puren Naturzustande sind. Der Mensch von Natur hat zwar „etlicher Maßen“ einen freien Willen, kann vermöge deßen auch erwählen, etlicher Maßen ehrbar zu leben, aber er hat weder Willen noch Kraft zum wahrhaft Guten. Ganz anders ist der Christ, der Getaufte, der im Bunde mit Gott und unter den Einflüßen des heiligen Geistes selbst dann steht, wenn er sich vom Ursprung seiner Wiedergeburt entfernt hat, abfällig und der Welt und Sünde dienstbar geworden ist. Der Christ kann das Gute thun, und je mehr der Geist ihm naht, oder gar einwohnt, je inniger und völliger seine Verbindung mit ihm ist, desto mehr kann er in der Kraft dieses Geistes das Gute. Er hat einen neuen Willen in sich und das Vermögen, das Gute zu thun. Aber er kann auch das Böse thun, und es ist keine Stufe des geistlichen Lebens, wo nicht die Wahl zwischen Gutem und Bösem sein tägliches Geschäft, ja seine stündliche, immer wiederkehrende Arbeit wäre. Es winkt ihm zur Rechten ein seliges Vollbringen des Guten, zur Linken die offene Pforte des Bösen. Folgt er dem Verlangen des Bösen, so erstirbt in ihm das neue Leben mit jedem Male, wo es geschieht, um eine Stufe mehr, – und eine hartnäckige, immer entschiedenere Hingabe in die Sünde hat zur Folge, daß der Geist Gottes von ihm weicht und das neue Leben in ihm stirbt. Das ist der Sinn der ernsten apostolischen Worte: „Wenn ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr sterben.“ Das haben auch Tausende leider leider erfahren; sie hatten, was sie brauchten, den guten Kampf als gute Streiter und Helden JEsu zu kämpfen, aber ihr Wille wich von ihrem Ziele – ihr Letztes wurde ärger als ihr Erstes. – Umgekehrt, wenn der Christ den guten Geist in sich herrschen läßt, des alten Menschen Regung tödtet durch die Kraft, die seinem erneuten Willen aus Gottes Unterstützung zufließt, so wird mit jedem neuen Siege sein neues Leben kräftiger und es folgt der Segen jeder Uebung im Guten, es gibt alsdann und wirkt eine Fertigkeit, eine Stärke im Guten, welche man Tugend nennt. Diese aber ist, wo sie ist, Leben. Das ist es, was St. Paulus meint, wenn er schreibt: „Wenn ihr durch den Geist des Leibes oder Fleisches Geschäfte tödtet, so werdet ihr leben.“ St. Paul redet nicht von leiblichem Tod und Leben, sondern von dem geistlichen Tode, dem geistlichen Leben und will uns sagen, daß unser inneres Leben ab- und zunimmt, lebt und stirbt, je nachdem sich unser erneuter Wille vom Geiste Gottes leiten und führen läßt oder auch nicht.

 Da haben wir also eine Antwort auf die Frage: „Welche haben den heiligen Geist?“ Sie lautet: „welche sich vom Geiste Gottes im Kampf des Lebens leiten laßen“, – oder „die ihren erneuten Willen dadurch zum herrschenden werden laßen, daß sie dem vorhandenen, im Worte und Sacramente reichlich wirkenden, das Oel der Lampe vermehrenden, im Herzen schreienden, betenden, zeugenden Geist den vollen Einfluß laßen.“

 Und diese Antwort ist scharf. Ich schließe mit den Worten, mit welchen der Text beginnt: „So sind wir nun, lieben Brüder, Schuldner, nicht dem Fleische, daß wir nach dem Fleische leben sollten.“ Das Fleisch, der Leib der Sünde, die Geschäfte dieses Leibes sind da, regen sich, leben, weben und wirken, so lange wir hier sind. Aber wir haben ihnen keine Rechnung zu tragen, wir sind ihnen nichts schuldig. Ihr Locken und Reizen nimmt oft den Schein an, als wäre ein Recht dabei, als hätten diese unsre Feinde einen Anspruch an uns. Die Sünden des Fleisches und der Genuß der Welt werden von vielen so dargestellt, als verlöre und entbehrte derjenige etwas ihm Zugehöriges, der sich ihnen nicht ergibt, als wäre nicht blos ihr Recht an uns, sondern gar ein uns gehöriges Recht an sie verletzt, wenn wir sie nicht vollführen. Gottes Wort aber zeigt und sagt uns, daß wir dem Fleische keine Schuldner sind. Wir sind Schuldner des Geistes. Der beut und schenkt uns Seine Früchte, der lockt| und zieht und treibt uns, übt an uns große Treue, wendet an uns viele Gaben. Da ist dann auch unsre Schuldigkeit, dem vorhandenen, wirkenden Geist unsers HErrn nicht bloß aus Dank, sondern von wegen des Anrechts zu folgen, das Er in Kraft des an uns gewendeten Blutes JEsu an uns hat.

 Ihr seid Gottes Kinder, denn ihr habet seit eurer Taufe den Geist Gottes. Ihr habet vielleicht seit Jahrzehenden Seiner Einwirkung widerstrebt; ihr wäret vielleicht längst reif geworden, von Ihm verlaßen und euerm Fleische überlaßen zu werden. Aber Er hat euch noch nicht ganz verlaßen; Er beut euch täglich wieder den Abba Vater, täglich neu das Zeugnis der Kindschaft, täglich erneut Er euch die Einladung, euch leiten und führen zu laßen. Nun zählet eure Tage, wachet über eure Seele und übergebet mit Begier und Andacht euern Willen Ihm, auf daß Er euer mächtig werde, ihr nicht sterbet, sondern lebet dadurch, daß ihr des Fleisches Geschäfte in euch tödtet! Amen.




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