Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 10

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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am zehnten Sonntage nach Trinitatis.

1. Cor. 12, 1–11.
1. Von den geistlichen Gaben aber will ich euch, liebe Brüder, nicht verhalten. 2. Ihr wißet, daß ihr Heiden seid gewesen, und hingegangen zu den stummen Götzen, wie ihr geführet wurdet. 3. Darum thue ich euch kund, daß Niemand JEsum verfluchet, der durch den Geist Gottes redet; und Niemand kann JEsum einen HErrn heißen, ohne durch den heiligen Geist. 4. Es sind mancherlei Gaben, aber es ist Ein Geist. 5. Und es sind mancherlei Aemter, aber es ist Ein HErr. 6. Und es sind mancherlei Kräfte, aber es ist Ein Gott, der da wirket alles in allem. 7. In einem jeglichen erzeigen sich die Gaben des Geistes zum gemeinen Nutzen. 8. Einem wird gegeben durch den Geist zu reden von der Weisheit; dem andern wird gegeben zu reden von der Erkenntnis, nach demselbigen Geist; 9. Einem andern der Glaube, in demselbigen Geist; einem andern die Gabe gesund zu machen, in demselbigen Geist! 10. Einem andern Wunder zu thun;| einem andern Weißagung; einem andern Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Sprachen; einem andern die Sprachen auszulegen. 11. Dies aber alles wirke derselbige einige Geist, und theilt einem jeglichen seines zu, nachdem er will.

 DArum, daß du nicht erkanntest die Zeit, da du heimgesucht bist“ – das sind die Worte, mit welchen der Mund der Wahrheit im heutigen Evangelium den Grund und die Ursache von all dem unaussprechlichen Weh und Leid angab, welches über Jerusalem kommen sollte und auch kam. Jerusalem erkannte seine Heimsuchung nicht, darum gieng es schrecklich unter. Wenn nun Jerusalems Bestrafung uns zum Vorbild und zur Warnung geschah, wie wir nicht werden leugnen dürfen, so fragt sich vor allem, was denn die Heimsuchung ist? Die Antwort auf die Frage ist im Evangelium klar. Jerusalem war heimgesucht, angesehen, Gnade und Erbarmen ihm angetragen durch die Gegenwart JEsu, durch Seinen fleißigen Besuch, durch Seine Predigten und Wunder, welche Er vor allem Volke that. Unsre Heimsuchung ist anders. Der HErr tritt nicht mehr sichtbar in die Welt hinein, redet nicht mehr mit eigenen Lippen; sondern Er hat Seinen heiligen Geist und deßen Wirkungen nachgelaßen, wie Elias seinen Mantel, und Seine Heimsuchung ist nichts anders, als die Erweisung und die Gaben Seines Geistes. Es gibt noch eine heilige, wunderbare Heimsuchung, nemlich die in dem heiligen Sacramente, namentlich dem des Altars. Wir können uns nicht enthalten, auch an sie zu erinnern. Aber wir werden doch durch die Verhältnisse der Textwahl gemahnt, zunächst nicht von der bleibenden, immer wiederkehrenden Heimsuchung gewordener Gemeinden, sondern von der Heimsuchung zu reden, welche der Heimsuchung Jerusalems durch JEsum ähnlich war, – nemlich von der Heimsuchung zur Gründung und zum ersten Bau der Gemeinden. Diese aber geschieht, wie gesagt, durch das Hereintreten eines nicht weltlichen, sondern himmlischen neuen Geistes in die Welt, durch die wunderbaren Wirkungen des Geistes JEsu, der zur Rechten des Vaters erhöht ist. Von dieser Heimsuchung redet die Epistel – und stellt also der Heimsuchung Jerusalems bedeutungsvoll die Heimsuchung der Welt, wie sie seit dem ersten Pfingsten vorhanden ist, zur Seite. Diese Heimsuchung faßen wir ins Auge, nicht als eine vergangene Sache, denn sie vergeht nie völlig, auch wo die Heimsuchung des Sacraments die vorwaltende geworden ist, – sondern als eine andauernde, ebbende, fluthende, aber doch bleibende. Wir betrachten sie und beten, daß wir erkennen mögen die Zeit unserer Heimsuchung, auf daß es uns nicht gehe wie Jerusalem, der großen Königsstadt, über welche die Augen JEsu thränen, über welcher sich aber auch, da Seine Augen thränten, Schalen des göttlichen Zornes füllten.

 Daß unser epistolischer Text von den Gaben des heiligen Geistes handelt, das kann niemand bezweifeln. Er bildet den Eingang von jenem berühmten Unterricht St. Pauli über diesen Gegenstand, welcher sich durch drei Kapitel des ersten Briefes an die Corinther hindurchzieht, nemlich durch Kapitel 12–14, und kündigt das Thema des ganzen Unterrichts, also auch unsers Textes gleich in dem ersten Verse unverkennbar an. „Von den geistlichen Gaben, lieben Brüder, will ich euch nicht verhalten“ oder will ich euch nicht in Unwißenheit laßen. So leitet der Apostel die Belehrung ein. Diese Einleitung oder dieses Thema bedarf zur Erläuterung kaum eines Wortes. Man könnte höchstens bemerken, daß jenes Wort, welches Luther mit dem Ausdruck „geistliche Gaben“ übersetzt, nichts von unserm Worte „Gabe“ in sich hält, sondern weiter, allgemeiner ist, etwa so viel, als wenn wir sagten: „Von dem, was des Geistes ist, will ich euch nicht in Unwißenheit laßen“. Indes ist dem griechischen Worte durch die Uebersetzung eine unverwerfliche bestimmtere Faßung und Deutung gegeben, die sich zum Inhalte schickt.

 Da übrigens die drei Kapitel und schon unser Text einen Unterricht geben und die apostolische Weisheit in wenig Worten viele heilige Gedanken zusammenordnet; so verläuft auch dieser Vortrag diesmal nicht in der gewohnten Weise des neunzehnten Jahrhunderts, nach welcher man einer Predigt am liebsten drei Theile gibt, die man möglichst nach dem Ellenmaße abtheilt. Ich muß, um euch den Ueberblick des Textes zu geben, wenigstens sechs Fragen lösen, die ich euch benennen will, deren Sinn und| Meinung euch jedoch erst aus der Antwort klar werden kann. Die Fragen sind folgende:
1) Wer hat keine geistlichen Gaben?
2) Wer kann sie haben?
3) Welcherlei sind sie?
4) Wozu werden alle verliehen?
5) Welcherlei sind insonderheit die Charismen oder die Gnadengaben?
6) Worin ist die Verschiedenheit der Begabung der Christen begründet?

 Zu der Manchfaltigkeit der Theile verleihe uns jetzt der HErr Kürze und Deutlichkeit und Klarheit, euch aber Lust und Freudigkeit, hinzunehmen, was euch heute Gottes Wort darbeut.


 Wer hat keine geistlichen Gaben?“ Meine Antwort ist: die Heiden haben keine geistlichen Gaben. Die Wirkungen des heiligen Geistes sind sehr verschieden, denn Er wirkt in der Natur und im natürlichen Zustande der Menschen, eben so wirkt Er aber auch besonders in dem Reiche der Gnaden und in der neuen Creatur, dem beßeren Theile des wiedergeborenen Menschen. Der Geist schwebte über den Waßern der Schöpfung und gab allen einzelnen Geschöpfen Maß, Form und Verhältnis; Er ziert und schmückt auch jetzt noch alljährlich die Natur; der „Hauch des göttlichen Mundes“ gibt, wie im Anfang so jetzt noch allen Dingen ihre Anmuth. Eben so wirkt der Geist im natürlichen Menschen. Er schuf die Gesetze, in denen wir denken, die wir nicht verlaßen und nicht verlaßen können, ohne die Bahn der Wahrheit zu verlieren. Er ist der Meister aller Sprachen, der mit dem Sinne Laut und Ausdruck wunderbar vereinigt. Er ist es, der „die Rede kennt“, der wahre Sprach-Meister der Welt. Er lehrt Zeit und Raum faßen und begrenzen, der Formen Schönheit, der Farben Glanz. Und was alles kann und muß man Ihm sonst noch im Reiche der Natur und im Leben des natürlichen Menschen zuschreiben. Aber diese allgemeinen, den Heiden, Juden und Christen gemeinsamen Gaben, diese Wohlthaten der allgemeinen Liebe des heiligen Geistes nennt man nicht „geistliche Gaben“. Unter diesen versteht man Gaben der besondern Liebe des heiligen Geistes, die nur in Christo JEsu und nur denen gegeben werden, die sich mit Christo verknüpfen und ins Reich der Gnaden des Königs JEsus einführen laßen. Die Heiden, die außerhalb Christo sind und bleiben, haben keine geistlichen Gaben. Alles Herrliche, was an ihnen erkannt und gepriesen wird, gehört nicht zum Schatze der geistlichen Gaben, welche kein Heide, überhaupt keiner haben kann, der sich zu Christo nicht sammeln läßt. Man kann den Heiden, den alten Römern, Griechen, Aegyptern und Indern alles laßen, was ihnen der Geist gegeben hat, – aber die Gebiete und Schätze des Geistes vermengen und vereinen darf man nicht. Kein Heide, kein ungläubiger Jude oder Muhammedaner kann geistliche Gaben empfangen, so lange er ist und bleiben will, was er ist. Das die erste Antwort auf die erste Frage. Darum sagt St. Paulus Vers 2 zu den Corinthern: „Ihr wißet, daß ihr Heiden waret, dahingetrieben zu den stummen Götzen, wie ihr geführt wurdet.“ Die Welt vor dem Zeitalter der Corinther und die Welt um sie her war ein treibender, führender, mächtiger Strom einer Tradition, welcher sich die Menschen, wie sie gewöhnlich waren, nicht entziehen, nicht erwehren konnten. Alles strömte zu den Götzen – alles folgte dem Zuge – auf dem breiten Wege der Heiden, im Strome des Götzendienstes: da war kein heiliger Geist, der besondere Gnaden und Gaben austheilte. Auch die Corinther hatten in ihrer heidnischen Zeit nichts Geistliches – waren bettelarm an Gütern eines höhern Lebens und wußten es nicht. Heiden und geistliche Gaben – das sind geschiedene Gebiete. So lange man dem Fluße heidnischer Traditionen folgt, hat man keine Geistesgaben.


 Damit ist nun die Antwort auf die zweite Frage nicht bloß vorbereitet, sondern eigentlich schon gegeben. „Wer kann die geistlichen Gaben empfangen oder haben?“ fragten wir, und die Antwort ist: „Die Christen können sie haben“. Ich hätte die Frage stellen können: „Wer hat sie?“ und die Antwort: „die Christen haben sie“. Ich würde damit nichts Falsches gesagt oder gesetzt haben. Aber durch die unbestimmtere Faßung wollte ich vor Eure Ohren wie eine Warnung bringen; ihr seid ja Christen, irgendwie, in irgend einem Maße; aber müßt ihr deshalb mit geistlichen Gaben gesegnet sein? Könnet| ihr nicht noch in irgend einem Sinne und den Heiden gegenüber Christen sein, ohne deshalb geistliche Gaben zu besitzen? Könntet ihr sie nicht verloren haben? Ihr könnet sie vielleicht, ja höchst wahrscheinlich wieder haben; aber könnet ihr nicht gegenwärtig doch leer und verlaßen sein? Der Geist ist doch nicht genöthigt, Seine Gaben zu verleihen! Daher laßt euch nur die unbestimmte Antwort auf die zweite Frage gefallen: „Kein Heide kann geistliche Gaben besitzen, aber die Christen können sie besitzen.“

 Man könnte diese Antwort mit dem Spruche erörtern: „Wer da hat, dem wird gegeben“. Der Christ, der es irgendwie ist, der hat etwas, was die gleichartigen, wenn auch doch besondern Gaben des heiligen Geistes nach sich ziehen kann; er hat einen Anfang, der nach Fortsetzung aussieht. Er hat schon etwas Herrliches von dem heiligen Geiste dahin genommen, welches wie ein Garten in Eden ist, in welchem nun die Bäume des Paradieses von Gott gepflanzt werden können; erst muß der heilige Boden da sein, ehe die heiligen Bäume entstehen. Das lehrt uns St. Paul so schön im dritten Verse. „Ich thue euch kund, sagt er, daß niemand, der im Geiste Gottes redet, JEsu flucht, und niemand JEsum HErr heißen kann, als im heiligen Geiste.“ Die Heiden, namentlich welche es blieben und zu bleiben vorzogen, auch nachdem ihnen das Evangelium gepredigt war, haßten Christum und legten auf Ihn und Seinen heiligen Namen das Anathem, den Fluch. Sie verschmähten die Segnungen JEsu, indem sie Ihn verfluchten. Sie hatten keinen Herzensboden, auf welchem die Gaben des heiligen Geistes hervorwachsen konnten. Anders die Christen. Sie erkannten JEsum als HErrn der Welt und als ihren HErrn, und indem sie in das Verhältnis der Unterthänigkeit zu Ihm traten, wurden sie auch Erben Seines Geistes und aller Güter desselben. Erst lehrte sie der heilige Geist, was ohne Ihn niemand lernt, daß es nemlich ein Reich Christi, einen allmächtigen König JEsus Christus gibt; dann führte Er sie ein ins Reich des Königs durch die Taufe, und dann gab Er ihnen die mancherlei Gaben, deren reichen Schatz Er nach Seinem göttlichen Ermeßen verwaltet. Wir sehen also, daß der Grund und Boden, aus welchem heraus alle Gaben Gottes wachsen, die Anerkennung JEsu als unsers HErrn und Königs ist, und daß also die Antwort auf unsre zweite Frage: „Wer kann die Gaben des Geistes empfangen“, keine andere ist als die: „die Christen“ oder was Eins ist, die JEsum ihren HErrn nennen.

 Das lautet freilich einen Augenblick sehr tröstlich für Euch alle, unter welchen der Ausruf: „HErr JEsus“, sprichwörtlich geworden ist. Allein der HErr Selbst sagt: „Es werden nicht alle, die zu Mir sagen „HErr, HErr“ ins Himmelreich kommen“ – und was etwa der Namenchrist aus dem bisher Gesagten sich zum Troste gerechnet hat, das wird durch diesen neuangeführten Spruch wieder weggenommen. Es ist ja in unserm Texte nicht von jenem eiteln und lüderlichen „HErr, HErr sagen“ die Rede, welches allerdings unter uns gemein geworden ist, wie der niedrige Staub und Schmutz. Es ist von einem „HErr, HErr sagen“ im heiligen Geiste die Sprache. Der Vers deutet auf Adoration, auf Anbetung, – auf ernste, wahrhaftige, aus der tiefen Seele hervorkommende und aufsteigende Andacht in und bei dem Namen JEsu. Auf einer Reife, die mich der Beruf des Leidens führte, gerieth ich in die Gemeinschaft derer, die JEsum einen HErrn nennen, Ihn anbeten und anrufen, aber dennoch von Seinem Worte und Wege vielfach weichen. Ich saß in der Gemeinschaft anbetender Christen, welche nicht zur wahren Kirche gehören. Ich fühlte in mir den Wiederspruch gegen ihre falschen Lehren und wurde dennoch mit ihnen zur Anbetung JEsu hingerißen. Mein Geist gieng empor zu dem gegenwärtigen JEsus, ich nannte Ihn innerlich „meinen HErrn“. Da hieß es, wie bei Thomas: „Mein HErr und mein Gott.“ Ich ward erinnert an den Spruch unsers Textes, daß man nur im heiligen Geiste JEsum einen HErrn nennen könne. Ich verstand den Text und meine Seele betete an Den, der mich thatsächlich, mitten in fremder Umgebung thatsächlich den Spruch gelehrt hatte. Unser Text redet von dem „HErr, HErr sagen“ der Anbetung. Wer anerkennend, betend, glaubend JEsum Seinen HErrn nennt und sich Ihm zu Füßen legt, der hat, wovon die Rede ist, die Wirkung des heiligen Geistes, welche der Austheilung besonderer Gnadengaben vorausgehen muß, – die Wirkung, welche alle Christen haben und erfahren sollen, – ohne welche der Geist des HErrn nach| Seiner heiligen Regel keine besondere Gnade des neuen Testamentes wirkt, keine gibt, keine in die Herzen legt.
 Nachdem wir nun unsere beiden ersten Fragen dem Texte gemäß gelöst haben, gehen wir zu der dritten Frage über: Welcherlei sind die geistlichen Gaben? Die vorigen Fragen konnten wir so beantworten, daß wir zuerst die Antwort gaben und sie zuletzt aus Gottes Wort bestätigten. Sie ließen sich schon aus allbekannten christlichen Grundsätzen beantworten, bedurften nur die willkommene Bestätigung aus dem Texte. Mit der dritten Frage ist es anders. Wir haben aus allgemein christlichen Grundsätzen kaum Muthmaßungen: nur Offenbarung und Text des göttlichen Wortes kann uns Licht bringen. Dankbar gehen wir daher sogleich zu unserm Texte selbst. Der belehrt uns nun aber, daß zu den geistlichen Gaben oder beim Worte des Grundtextes, welcher sich hier geltend macht, zu bleiben, zu dem, was des Geistes ist, dreierlei gehört: „erstens Charismen oder Gnadengaben im eigentlichen Sinne, zweitens Aemter und Dienste, drittens Wirkungen oder wie Luther übersetzt Kräfte.“ Charismen, Aemter und Wirkungen stehen in einem innigen Zusammenhang. Das Charisma ist die innere Befähigung; das Amt ist die Berechtigung und Befugnis, die Befähigung auszuüben, es bringt zur Anlage den Beruf, – und die Wirkung ist nichts anderes als, was das Wort sagt und wie es lautet, der segensreiche Einfluß der im Amte geltend gemachten Gnadengabe. Man könnte zwar sagen, daß nicht jedes Charisma ein entsprechendes Amt habe; allein wir dürfen nur statt des deutschen Wortes Amt das andere „Dienst“ setzen und wir werden zugeben, daß ein Charisma ohne von Gott geschenkte Weitschaft zur Ausübung, zum Gottesdienste nichts ist. Das deutsche Wort Amt ist etwas enger als das griechische Wort Diaconie, welches die wohlbestellten Aemter der heiligen Kirche gewis einschließt, aber auch alle Befugnis und jeden göttlichen Beruf zur Ausübung einer Gnadengabe, eines Charisma’s mit einfaßt. Im Abschnitt Vers 28–30 können wir am deutlichsten sehen, daß diese unsre Deutung richtig ist, denn dort werden die Aemter und Dienste aufgezählt, die hier in den Namen der Diaconieen zusammengefaßt werden. Die Charismen oder göttlichen Befähigungen, die Aemter und deren segensreiche Wirkungen sind es nun, welche St. Paulus unter dem versteht, was „des Geistes ist“ oder unter den geistlichen Gaben. Wenn wir vielleicht geneigt oder gewohnt waren, unter den geistlichen Gaben bloß die Charismen zu verstehen, so müßen wir uns eben zurechtweisen und von St. Paulo belehren laßen. Die Aemter, die Dienste, die auf Charismen gegründeten heiligen Berufe und die gesammte Einwirkung derselben – sie alle gehören zu dem, was des Geistes ist, sind allesammt köstlich, des Dankes und des Preises Gottes werth. – – Die Charismen, Aemter und Wirkungen sind aber „mancherlei“ oder verschiedene Arten. Das griechische Wort, welches hier steht, deutet nicht bloß auf die größere Anzahl und deren Verschiedenheit, sondern auch auf die Zusammengehörigkeit, Verwandtschaft und den gleichen Ursprung hin. So wie von einer Brunnenstube mancherlei Canäle und Röhren, von einem Baume mancherlei Zweige ausgehen, so gehen die mancherlei verschiedenen Charismen, Aemter und Wirkungen von Einem Ursprung aus. Dieser Gedanke der Unterthänigkeit aller unter Einen Ausgangspunkt ist im Texte noch kräftiger ausgesprochen, wenn St. Paulus sagt: „Es sind unterschiedene Arten der Charismen, aber der Geist (von dem sie stammen), ist derselbe; und es sind unterschiedene Arten der Aemter, aber derselbe HErr; und es sind verschiedene Arten der Wirkungen, aber derselbe Gott, der das alles zusammen wirket in allen.“ Es sind also alle Charismen dem einen Geiste, alle Aemter demselben HErrn, alle Wirkungen demselben Gotte zugeschrieben – und, wer Augen hat zu sehen, wird merken, wie die Einheit aller Gaben dem Ursprunge nach festgehalten werden soll. Man wird hiebei von zweierlei überrascht, nemlich erstens daß die Gaben dem Geiste, die Aemter dem HErrn, d. i. Christo, die Wirkungen Gott, d. i. dem Vater zugeschrieben sind, also nicht bloß die großen Werke der Schöpfung, Erlösung und Heiligung je einer besondern göttlichen Person zugeeignet werden, sondern auch innerhalb der Kirche und in ihrem gesammten geistlichen Leben einer jeden göttlichen Person ihr besonderer heiliger Antheil gehört – zweitens aber, daß dann doch alle Werke der drei Personen unter dem Namen „geistliche Gaben“ oder „das, was des Geistes ist“, zusammengefaßt werden. Die Schöpfung,| welche dem Vater zugeschrieben wird, ist ein Anfang aller Dinge, die Erlösung eine Befreiung und Wiederbringung, die Heiligung ein Wirken von Innen nach Außen. Wie nun in der Schöpfung nicht bloß der Vater, sondern auch der Sohn und Geist, in der Erlösung nicht bloß der Sohn, sondern auch der Vater und Geist wirksam sind, so sind auch in der Heiligung, zu welcher alle Charismen, Dienste und Aemter und Wirkungen gehören, nicht bloß der Geist, sondern auch, wie unser Text lehrt, Vater und Sohn wirksam. Die Heiligung und Führung der Kirche hier auf Erden ist vornehmlich des Geistes Werk und was auf ihrem Gebiete geschieht ist daher in Summa mit demselben Rechte geistlicher Gabe, „das, was des Geistes“ ist, genannt, wie die Erlösung des Sohnes, die Schöpfung des Vaters Werk sind. Dennoch aber wirken alle Personen zu Einem Ziele: der Geist beginnt durch Charismen, der Sohn führt sie in Dienste und Aemter, der Vater gibt Gedeihen und Wirkung. Feuer, Licht oder Strahl und endlich Wärme sinnbilden den Fortschritt und Zusammenhang der geistlichen Gaben. Wir aber neigen uns vor dem HErrn und erkennen dankbar, was Er uns als geistliche Gaben zeigt.

 Da wißen wir nun, woran des Geistes, des Sohnes, des Vaters Anwesenheit in der Gemeinde erscheint, nämlich an Charismen, Aemtern und Wirkungen. Wer die Gegenwart des Dreieinigen sucht, der achte auf Seine Zeichen. Wo ER ist, sieht man die Wolken- und Feuersäule Seiner geistlichen Gaben. Es ist genug Beweis, daß ER da ist, wenn man diese Seine Zeichen inne wird. Was will Er aber? Was sollen Seine Zeichen? oder mit den Worten unsrer vierten Frage zu reden: „Wozu werden alle geistlichen Gaben verliehen?“ Darf einer sein Charisma als persönliche Auszeichnung betrachten und damit in die Stille gehen, sich selbst drin spiegeln, von andern etwa bloß Anerkennung des verliehenen Pfundes verlangen? Dient der heilige Geist der Selbstsucht? Wird Er dem geistlichen Stolze dienen? – Leichte Antwort. Indem ich vom „verliehenen Pfunde“ redete, dachte ich selbst und erinnerte ich euch an das Gleichnis von den verliehenen Pfunden. Wir wißen aber alle, wie es dem Knechte ergieng, welcher sein Pfund im Schweißtuch vergrub. Es bedarf jedoch nicht einmal der Erinnerung an andere Gleichnisse und Texte. Wir haben ja in unserm Texte gehört, daß der Geist die Charismen, die Gaben, die Pfunde, der Sohn Aemter, Dienste, Berufe, Arbeitskreise für die Gaben, der Vater Segen, Gedeihen und Wirkung gibt. Wie vertrüge sich damit ein selbstsüchtiges Behalten, Begraben, und Bewahren eines Charisma’s? Vorwärts führt Gott Seine Heiligen: erst Fähigkeit – dann Beruf – dann Erfolg; so geht man in der Kirche Gottes. Wenn geschrieben steht: „Wer Korn inhält, dem fluchen die Leute“; so wird wohl Gottes Fluch den treffen, der geistliche Gaben inhält. Damit man aber für diese Antwort auf unsre Frage, die sich so leicht gibt und festhält, ja nicht im Zweifel sei, so heben wir den 7. Vers des Textes in die Höhe und verkündigen das Wort Pauli, der da sagt: „Einem jeden aber wird die Erweisung des Geistes gegeben zum gemeinen Nutzen“ oder, wie Luther übersetzt: „In einem jeglichen erzeigen sich die Gaben des heiligen Geistes zum gemeinen Nutzen.“ Hier steht es unzweifelhaft und klar, wozu alle Gaben, Aemter und Wirkungen gemeint sind. Die Kirche ist ein Leib, in welchem jedes Glied für das Wohl des ganzen Leibes arbeitet. Die Kirche ist eine Gemeinschaft vieler, deren jeder für seine Brüder lebt. Jeder hat den Lebensberuf, zu dienen. Wer nicht dient, des Leben ist eitel, – dem gerathen die verliehenen Gaben zur Last, zur Anklage, zur Verdammnis. Da gibt es keine, die sich absondern dürfen, wenn nicht die Sonderung zum gemeinen Nutz ist; – keine Einsiedler gibt es, es müßte denn sein, daß sie in ihrer Stille den gemeinen Nutzen am besten schafften; – kein Versenken des Samens des einzelnen Lebens in die stille Erde, es müßte denn dafür eine reiche Aehre für den gemeinen Nutzen zu erwarten stehen. Kurz, man empfängt weder das Leben, noch irgend eine natürliche, noch irgend eine Gnadengabe zu anderem Zwecke, als allen zu dienen. Wer sich selbst mit höchstem Fleiße dient, ist ein Müßiggänger und Faullenzer im Reiche Gottes; wer sich verzehrt und opfert für den Segen aller, ist Christi Weg gegangen, hat sich und andern am besten gerathen und seines irdischen Lebens heilige irdische Absicht erreicht. Das merke sich jeder und achte sich darnach.


|  Nach dem Ablauf von vier Fragen, die ich Eingangs erwähnte, habe ich euch nun, meine lieben Brüder, die größere Hälfte unsers Textes vorgelegt. Die kleinere Hälfte löst sich mit der Beantwortung der zwei letzten Fragen. Unter den geistlichen Gaben stehen an erster Stelle, wie wir vernommen haben, die Charismen, die Gaben des heiligen Geistes. Diese faßt nun im Verlauf der Apostel ins Auge und zeigt uns, was wir von uns selbst und aus Verfolg allgemeiner christlicher Grundsätze nicht wißen können, nemlich welcherlei die Charismen oder Gnadengaben des heiligen Geistes sind? Richtet, meine Freunde, richtet, wie es rechten Hörern ziemt, das Auge in Vers 8–11 des Textes und gebt wohl Acht, ob ich auch alle und jede Charismen aufzähle, welche St. Paulus nennt. Er führt an: 1) das Wort der Weisheit, 2) das Wort der Erkenntnis, 3) den Glauben, 4) die Charismen der Heilungen, 5) die Wirkungen der Kräfte, 6) die Prophetie oder Weißagung, 7) die Unterscheidung der Geister, 8) die verschiedenen Arten der Zungen, 9) deren Auslegung.

 Man kann diese neun Charismen wieder zusammenordnen in vier Classen, deren erste, dritte und vierte je zwei, die zweite aber drei Charismen zusammenfaßen. – Die erste Classe umfaßt das Wort der Weisheit und das Wort der Erkenntnis. Das Wort der Weisheit ist von allen Charismen das erste, weil es das nöthigste ist; es ist die eigentliche Gnade der Hirten, welche das Volk zum ewigen Heile weisen und leiten, denn die Weisheit weist den Weg zum Himmel. Nach diesem ersten Charisma folgt das würdige zweite, das Wort der Erkenntnis, wodurch man in alle Wahrheit, in den Zusammenhang der einzelnen Wahrheiten und deren Tiefen hineingeführt wird. Beide Charismen zusammen sind Ein heiliges Paar, sind der Kirche Gottes immer zur Hand, fehlen niemals. Auch unterstützt eine die andere, sintemal die Erkenntnis nichts anderes lehrt als das Wort der Weisheit und die Weisheit jede neu geschenkte Förderung der Erkenntnis zum gleichen Zweck und Ziele, Seelen sicher zur Ewigkeit zu führen, benützt. – Die zweite Classe von Charismen schließt drei ein: zuerst den Glauben, nemlich den Wunderglauben, welcher den Wundergaben und Wunderthätern sich vermählt, wie das Weib dem Manne. Wo niemand ist, dem Gott den Wunderglauben schenkte, da wird wohl auch schwerlich einer sein, welcher die Gabe der Heilung oder der Wunderkräfte hat. Darum ist der Wunderglaube, als Bedingung und Vorbereitung, vor den Heilungs- und sonstigen Wundergaben erwähnt. Merkwürdig ist es, daß der Apostel den Ausdruck gebraucht: „die Gnadengaben der Heilungen“, damit also andeutet, daß es verschiedene Heilungen und für die verschiedenen Heilungen verschiedene Gaben gebe, so daß also der eine die, der andere jene Gabe haben kann, der eine diese, der andere jene Krankheit wegzunehmen bevollmächtigt wird. Eben so merkwürdig ist der apostolische Ausdruck „Wirkungen der Kräfte“. Wer sich andere Stellen aufschlägt, in denen dieselben Worte gebraucht sind, wird sich leicht überzeugen, daß hier von Wunderkräften die Rede ist. Die Gnade zu heilen ist von den übrigen Wunderkräften verschieden und deshalb auch unterschieden. Der heilige Geist verleiht verschiedene Kräfte zu verschiedenen Wirkungen, nicht einem alle, sondern verschiedenen verschiedene.

 Sind nun in dieser zweiten Classe der Charismen mit dem Wunderglauben Heilungs- und andere Wundergaben zusammengefaßt; so erscheint uns in der dritten Classe ein edles, durch Gott verbundenes neues Paar: die Prophetie und ihr zur Seite die Unterscheidung und Beurtheilung der Geister der Propheten. Es gibt allerlei Propheten, Propheten Gottes und Propheten des Teufels: aus jenen redet der HErr, der alles Glaubens und Vertrauens werth ist, aus diesen aber der Geist der Lüge, welcher so gerne den Schein des heiligen Geistes und lichter Engel borgt. Weil nun der Propheten mancherlei sind und der Satan seine Propheten gibt, wo Gott die Seinen; so schenkt der heilige Geist die Gabe der Unterscheidung der Geister da, wo Propheten auftreten, und verzäunt dadurch den Weg der Heiligen. – Die vierte Classe der Charismen ist ähnlich wie die zweite eine Vermählung und Ergänzung zweier einzelnen Charismen. Wie neben dem begeisterten Propheten das wache, nüchterne Auge des Kenners der Geister, so geht neben dem glückseligen Zungenredner, dem Lobsänger Gottes in fremden Sprachen der edle fromme Hermeneut, der Dolmetscher, der was allen andern oder vielen andern unverständlich,| zum Gemeingut aller macht und so mit dem Zungenredner nach einem Ziele ringt. Denn der Zungenredner vereinigt in sich selbst, was Gott bei Babel trennte, die verschiedenen Sprachen; der Hermeneut thut durch die Auslegung den gleichen Dienst zum Besten aller. Beide zeigen, wie Gott einst allgemein die Gedanken und Sprachen aller Völker versammeln wird zur Einigkeit des Geistes.

 Da habt ihr, meine theuern Brüder, des Einen Geistes mancherlei Charismen, so weit sie in unserm Texte aufgeführt sind, zusammengefaßt in vier Classen, und meine fünfte Frage ist damit beantwortet.


 Wie aber der letzte Vers unsers Textes in dem engsten Zusammenhang mit dem vorausgegangenen steht und nur Einen Schlußgedanken für sie bildet; so ist auch meine letzte Frage: „Worin ist die Verschiedenheit der Begabung der Christen begründet?“ mit der vorausgegangenen fünften Frage eng verbunden und nur ein Schlußstein von und zu ihr.

 Während ich nun zur Beantwortung meiner letzten Frage schreiten will, ist es mir, als merkte ich euer etlichen einen Mangel an Befriedigung ab. Die Mehrzahl unter euch harrt, wie gewöhnlich, mit Sehnsucht auf den Schluß des Vortrags: was kümmert sie die Rede der Weisheit und der Erkenntnis; sie will baldmöglichst entlaßen sein und zur geschäftigen Nichtsthuerei dieser Welt zurückkehren. Manche aber, mögen sie auch mit den andern den Wunsch theilen, fertig zu werden, könnten sich doch durch die Beantwortung der vorigen Frage unbefriedigt fühlen. Die Aufzählung der Gaben ist geschehen, durch die Zusammenordnung aller in vier Classen merken sich die einzelnen beßer; bei dem ersten Paare ist die Bemerkung gemacht, daß sie der Kirche niemals fehlen noch fehlen dürfen. Dagegen aber sind nun die drei andern Classen aufgezählt – ohne Bemerkung, daß sie in der Gegenwart nicht vorkommen, ohne Erörterung warum, ohne Trauerbezeigung über den Mangel, ohne Hoffnung auf Erstattung, und das in einer Zeit, wo doch gerade diese Fragen vielfach die Geister bewegen und eine oftmalige Erwägung und Beantwortung sich von selbst rechtfertigt, ja erheischt ist. Das aber ist, könntet ihr sagen, ein offenbarer Mangel der Antwort auf die fünfte Frage. Allein, meine Brüder, mit der Beantwortung meiner sechsten Frage erledigt sich die Sache. Was ihr wünschet und wollet, werdet ihr finden, wenn ich meine Antwort kurz und textgemäß gegeben habe.

 Worin beruht der Unterschied der Begabung in der Kirche Gottes? Es ist ja ein Unterschied. Der letzte Vers der Epistel sagt ja ausdrücklich: „Das alles aber wirkt der eine und derselbe Geist, der einem jeglichen besonders (oder das Seine) zutheilt. Wenn er einem jeden besonders zutheilt, so hat also ein jeder seine eigene, seine besondere Gabe, – und es gibt also in der Kirche bei Verschiedenen verschiedene Gaben. Ist nun aber ein jeder an seinem Mangel schuldig? oder kann man ihm, was er hat, zum Verdienste anrechnen? Antwort: wenn auch manchmal ein Mangel verschuldet sein kann und sein wird, sintemal ja der HErr des Menschen und Christen Misverhalten durch Entziehung von Gaben strafen kann; so ist doch keinem von seiner Begabung ein Verdienst zuzuschreiben, denn es heißt ausdrücklich (und das ist eben das Wort, das ich betone): „Er theilt einem jeden besonders zu, je nachdem ER will.“ Wer theilt aus? Eine ewige, hochverständige Person: der Eine und derselbe Geist. Wie theilt ER aus: „je nachdem ER will.“ Denk dir die Gemeinde von Corinth, an welche St. Paulus schreibt; denk dir die Fülle ihrer Gaben, von welcher St. Paulus selbst mit Anerkennung redet; denk dir die Verschiedenheit in der Begabung der Einzelnen: Woher kam sie? Aus dem Willen des heiligen Geistes. ER ist der HErr, ER thut, was Ihm wohlgefällt. ER hat Seine heimliche Weisheit, Seine heiligen, wenn auch verborgenen Absichten. ER läßt sich nicht drein reden; Er thut, was ER nach dem Abgrund Seiner göttlichen Barmherzigkeit und Weisheit will.

 Wohlan! Da hast du auch die Antwort auf deine Fragen. Hat der HErr gesagt, ER wolle die drei letzten Classen der Charismen bloß in den apostolischen Zeiten der Gemeinde schenken, die doch allezeit einerlei Beruf auf Erden hat, nicht bloß durchs Wort, sondern auch durch Wunder, Weißagung und allerlei Außerordentliches, die Ungläubigen auf die ordentliche Bahn der Buße und des Glaubens zu| führen? Er hat es nicht gesagt. Hat die spätere Zeit verschuldet, daß sie so wenige Charismen hat? Gewis, auch! Aber was ists, daß wir Mangel haben, so weit wir nemlich Mangel haben? Der HErr theilt einer jeglichen Zeit, wie jedem Menschen Seine Gabe zu, wie Er will. Wir verdienen nichts. Unser Verdienst ist Strafe. Aber auch andere Zeiten verdienten nichts als Strafe, verscherzten in Sünden Gottes Güter und empfiengen dennoch Gaben und Kräfte: warum? Weil Er wollte. ER weiß, was Er thut, die Classen Seiner Charismen bleiben – und die Zeiten können sich wenden, daß ER gibt, was man nicht verhoffte, und Seine Heilbrunnen und Wunderbrunnen wieder rinnen, strömen und fluthen.

 Indes steht, wie die Säulen Boas und Jachin, am Tempel Salomonis das hohe Gabenpaar, Weisheit und Erkenntnis, auch in dieser Zeit, ja auch an Euern Pforten. Auch regt sich Licht und Stimme der Weißagung: die alten Propheten und der heilige Theologe Johannes reden von den letzten Tagen. Die Weisheit, die Erkenntnis, die Prophetie laßen Ihr Wort erschallen und rufen die nahende Mitternacht aus. Die klugen Jungfrauen schmücken die Lampen und singen vor Dem, der da kommt; – im Chor singt die Braut, die da schwarz ist und doch lieblich: „Komm bald, HErr JEsu!“ Wahrlich, man darf in dieser Zeit dankbar singen: „Er ist bei uns wohl auf dem Plan mit Seinem Geist und Gaben“. –

 Wenn aber die Weisheit, die Erkenntnis, die Prophetie der Alten, die klugen Jungfrauen, die Braut Euch umsonst sagen und singen, ihr aber, wie zur Zeit Christi Jerusalem, nicht auf die Zeit achtet, da ihr heimgesucht seid? Wenn ihr, wie die Gemeinden um euch her, zwischen denen und euch doch einiger Unterschied ist, die breite Bahn der Verdammnis und väterlicher Gewohnheit wandelt? Wenn ihr bei jeder Gelegenheit der Mehrzahl nach beweiset, daß ihr nicht neue Menschen, sondern die alten sündigen Gewohnheitsmenschen seid, die gehalten sein wollen, wie alle, nicht wie man Leute halten muß, die billig die schmale Bahn gehen sollten, weil sie mehr als andere Ruf und Nöthigung dazu haben? Wißt ihr, was mit euch der HErr thun wird? Soll ichs euch aus dem Evangelium sagen und aus meiner weitentlegenen Ferne in Eure schwerhörigen tauben Ohren schreien? – – Ich habe es euch oft gesagt. Ich faße es heute kurz. Ich zeige mit meiner Rechten ins Evangelium, mit meiner Linken auf das brennende Jerusalem, und sage, wiederhole, predige, betheure: „Wer das Wort verachtet, verderbet sich selbst. Die Sünde ist der Leute Verderben. Die Gabe Gottes ist das ewige Leben. Amen.




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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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