Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 11

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Am elften Sonntage nach Trinitatis.

1. Cor. 15, 1–10.
1. Ich erinnere euch aber, lieben Brüder, des Evangelii, das ich euch verkündiget habe, welches ihr auch angenommen habt, in welchem ihr auch stehet, 2. Durch welches ihr auch selig werdet, welcher Gestalt ich es euch verkündiget habe, so ihr’s behalten habt, es wäre denn, daß ihr’s umsonst geglaubet hättet. 3. Denn ich habe euch zuvörderst gegeben, welches ich auch empfangen habe, daß Christus gestorben sei für unsere Sünden, nach der Schrift; 4. Und daß ihr begraben sei, und daß Er auferstanden sei am dritten Tage, nach der Schrift; 5. Und daß Er gesehen worden ist von Kephas, darnach von den Zwölfen; 6. Darnach ist Er gesehen worden von mehr denn fünf hundert Brüdern auf einmal, der noch viele leben, etliche aber sind entschlafen. 7. Darnach ist Er gesehen worden von Jacobo, darnach von allen Aposteln; 8. Am letzten nach allen ist Er auch von mir, als einer unzeitigen Geburt, gesehen worden. 9. Denn ich bin der Geringste unter den Aposteln, als der ich nicht werth bin, daß ich ein Apostel heiße, darum, daß ich die| Gemeine Gottes verfolget habe. 10. Aber von Gottes Gnaden bin ich, das ich bin, und Seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet, denn sie alle; nicht aber Ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.

 DIe beiden Texte des heutigen Tages sind nicht bloß mit einander im Zusammenhang, sondern sie sind, wenn man sie einmal in Beziehung zu einander gelesen und erkannt hat, gewisser Maßen unzertrennlich. Will man den einen von beiden auslegen, so kann man es kaum, ohne im Vergleich mit dem andern zu reden. Das macht, sie lösen miteinander eine und dieselbe Frage vollständig, wenn man sie zusammennimmt; unvollständig, nicht alle Bedürfnisse der menschlichen Seele befriedigend, wenn man jeden allein, mit Absehen von dem andern, behandelt. So wenig ich daher auch heute vorhabe, das Evangelium auszulegen, so muß ich mir doch die Erlaubnis ausbitten, es nicht bloß in seiner Verbindung mit der Epistel aufzuzeigen, sondern es immer im Auge zu behalten. Es wird dagegen der gewöhnliche Eingang vom Zusammenhang der beiden Tagestexte überflüßig.

 Beide Texte zeigen den Weg zum ewigen Heil – und zwar in dreifacher Weise. Zuerst wird ein falscher Weg des Heils gezeigt, dann wird der rechte Weg im allgemeinen, der Hauptsache nach, aber eben deshalb nicht völlig klar und deutlich, vorgelegt, endlich aber tritt derselbe völlig klar und deutlich in unserer epistolischen Lection hervor.

 Der falsche Weg wird von dem HErrn an dem Pharisäer gezeigt. Der scheint den Messias, welchen doch auch Pharisäer erwarteten, in gar keine Beziehung zum ewigen Heile gesetzt, ihn bloß als einen nationalen Erdenkönig angesehen zu haben, so ganz zufrieden ist er mit sich und seinen Leistungen, sogar vor dem Angesichte Gottes. Auch weiß er von einer tieferen Deutung des Gesetzes nicht; selbst der Wortlaut mancher Gebote, wie z. B. des ersten und der beiden letzten, fordert ihn nicht auf, sein Inneres einer ernsten Prüfung zu unterwerfen. Er ist zufrieden, weil er wöchentlich zweimal fastet und den Zehenten von allem gibt, was er hat, also auch von Dingen, die nach Gottes alttestamentlichem Worte gar nicht zehentbar waren. So meint er dann schon vor Gott gerechtfertigt zu sein, weil er sich äußerlich kirchlich hält. Sein Heilsweg ist der der eitlen, strotzenden Selbstgerechtigkeit. Das aber ist, wie wir alle wißen und hoffentlich auch mit Bezug auf uns selbst überzeugt sind, ein falscher, ganz verwerflicher Heilsweg, den man viel mehr einen sichern Weg zu ewigem Unheil nennen muß.

 Gegenüber dem Pharisäer steht der arme Zöllner und Sünder. Es wird nicht gesagt, daß der gar nichts Löbliches an sich gehabt oder gethan hätte, daß an ihm nur Böses, und nichts als Böses zu finden gewesen wäre. Aber er denkt nicht dran. Er steht vor Gott und fühlt sich in seiner großen Ferne von Ihm. Ein Selbstgericht ergeht in ihm mit lebendiger, durchdringender Schärfe. Seine Augen fallen zu Boden; seine Hand schlägt die Brust, die Höhle, wo das Bewußtsein wohnt; er seufzt, und alle Rede, welche er vor Gott zu bringen weiß, ist eine Bitte um Gnade. „Gott, sei mir Sünder gnädig“, spricht er. Wie er, muß der Pharisäer und die ganze Welt sprechen, wenn sie im Lichte Gottes steht. Gnade muß man haben, oder man ist verloren. Schon wer nach Gnade schreit und um sie betet, wie der Zöllner, ist gerechtfertigt vor dem eitlen Selbstgerechten. Wer aber Gnade empfängt, mit dem stehts gut. Denn Gnade ist Königin auf dem Weg zum ewigen Heil, dieser selbst ist ein Gnadenweg. In dem Beispiel des Zöllners ist daher im Allgemeinen der Weg zum Heile gezeigt. Indem der HErr auf Seiten des Zöllners tritt und sich dem hochmüthigen Beter aus der pharisäischen Secte widersetzt, ist offenbar, daß nicht eigene, wohl gar nur äußerliche Werke, sondern Gnade und nur Gnade selig macht. Am Pharisäer zeigt sich im Lichte JEsu die finstere Verblendung, an dem Zöllner aber das offne Auge der Menschheit, wie es vom ersten Strahl der Wahrheit erleuchtet wird. Gnadensehnsucht, Gnadenhunger – das ist Morgendämmerung der Ewigkeit und ein schöner Anfang, der auf Fortgang und ein seliges Ende weißagt. Aber der Heilsweg erscheint damit erst im Allgemeinen. Ein helles, aber unbestimmtes Licht, – eine lichte Wolke, in der Gott wohnt, kommt uns| entgegen, aber es fehlt Form, Gestalt und Weise, wie man das Licht der Gnaden faßen und dadurch selig werden soll.

 Dagegen wird uns nun in der Epistel völlig genug gethan. Ehe der HErr am Kreuze vollendet hatte, redete auch Sein eigener Mund von dem Wege zum Heile nicht mit derjenigen Klarheit und Deutlichkeit, welche hernach Seinen Aposteln gegeben wurde. Das Wort Christi ist reicher, tiefer, allseitiger, vollkommener, als das der Apostel. Der den Geist ohne Maß hatte und aus der bewußten Mitte Seiner einzigen Weltstellung heraus redete, führt eine Sprache, der gegenüber auch die apostolische Inspiration nur wie ein Bach ist gegen das unermeßliche Meer. Das schließt aber nicht aus, daß uns von den Aposteln, namentlich von Paulo, dem eigentlichen Lehrer und Schriftsteller vom Wege des Heils, eine Weisung gegeben wird, welche durch ihre Deutlichkeit unserer Schwachheit erst recht zu Hilfe kommt. Christus ist Weg, Wahrheit, Leben. Der heilige Geist leitet die Apostel in alle Wahrheit, und sie hinwiederum thun es uns in der Kraft und Unterstützung des heiligen Geistes. So laßt uns nun einmal sehen, was uns St. Paulus in der Epistel sagt. Am Ende werden wir uns über den Weg des Heils ganz wohl unterwiesen erkennen.

 Die Epistel zeigt uns nun einmal die großen Heilsthaten Gottes; dann, wie wir uns aus ihnen das Heil aneignen können, und endlich das Verhältnis unsrer Werke zu dem Heile oder Heilswege. Eins nach dem andern von diesen dreien betrachten wir.

 Die Heilsthaten Gottes werden im Texte nicht alle und jede aufgezählt, sondern nur der Mittelpunkt von allen. Damit ist dann alles begriffen. Der Mittelpunkt aber der Heilsthaten Gottes ist Christi Tod und Begräbnis, Seine Auferstehung und deren Offenbarung.Unter dem Ersten, was ich euch überliefert habe, schreibt St. Paulus an die Corinther, ist das, was auch ich überliefert bekommen habe,“ nemlich überliefert von Christo. Aus diesen Worten Pauli sieht man, daß er Erstes, Mittleres und Letztes in seinem Lehrgang gehabt haben muß, daß er eine Ordnung eingehalten hat, die er für gewöhnlich nicht überschritt. Gewisse Dinge lehrte er seine Schüler gleich anfangs und vornherein; durch sie legte er als ein weiser Baumeister den Grund. Unter diesem Ersten aber war wieder das Vornehmste Christi Tod und Auferstehung, wie sich das auch in allen Reden Pauli und der übrigen Apostel in der Apostelgeschichte zeigt. Es wurde jedoch von den Aposteln der Tod und die Auferstehung Christi nicht bloß als größte Wunderthat Gottes und als Erweisung des Heiligen Gottes gezeigt, wenn sie zu den unwißenden Juden und Heiden kamen, ihnen zu predigen; sondern der Tod und damit auch die Auferstehung, wurden als Heilsthat Gottes, d. i. zugleich mit der Absicht, welche Gott dabei hatte, unser Heil zu schaffen, dargelegt. „Ich habe euch überliefert, was auch ich empfangen habe, sagt Paulus, nemlich daß Christus gestorben ist für unsre Sünden.“ Christi Tod zu unserm Heil, das ist die erste gewaltige, eingreifende Heilsthat Gottes. Das Begräbnis wird hinzugesetzt, weil dadurch die Gewisheit des Todes außer Zweifel gesetzt wird. Dann aber wird als fernere, große Heilsthat hingestellt die Auferstehung. „Ich habe euch überliefert, daß Christus begraben ist und daß Er auferstanden ist“; so lesen wir im Texte. Wie nun aber neben dem Tode JEsu Sein Begräbnis als Beweis des Todes erwähnt wird, so wird neben und nach der Auferstehung die Offenbarung derselben hervorgehoben, wie sie in den mancherlei Erscheinungen des auferstandenen Christus vor verschiedenen und vielen Zeugen gegeben ist. Christus Selbst will, daß die Jünger das Zeugnis der Weiber von Seiner Auferstehung hinnehmen und sich auf dasselbe gründen. Eben so will Er, daß sich die ganze Welt auf das Augenzeugnis der Jünger gründe. „Ich habe euch überliefert, heißt es deswegen, daß Christus dem Kephas erschienen ist, darnach den Zwölfen, dann ist Er erschienen über fünfhundert Brüdern auf ein Mal, von denen die meisten bis jetzt übrig sind, etliche aber auch entschliefen. Darnach erschien Er Jacobo, darnach allen Aposteln, zuletzt aber von allen erschien Er wie einer unzeitigen Geburt auch mir.

 Da sehen wir also die Heilsthaten Gottes. Von ihnen versichert der Apostel, daß sie „nach den Schriften“ des Alten Testamentes, also nach vorbedachtem Rathe und vorgängiger Offenbarung Gottes| geschehen seien, nicht als zufällig, sondern als Ziel und Angelpunkte aller Führungen Gottes mit Seiner Menschenwelt. Dieselben Heilsthaten heißen Evangelium, weil sie den Inhalt des Evangeliums bilden. Sie werden von Paulo mit den Worten eingeleitet: „Ich thue euch kund, lieben Brüder, das Evangelium, welches ich euch verkündigt habe“. Das sind seine einleitenden Worte zu diesem Text und zu dem ganzen herrlichen Abschnitte, den er beginnt. Diese Heilsthaten Gottes aber sind auch nach dem Evangelium des heutigen Tages mit dem Worte Gnade zu schmücken, weil in ihnen die Gnade erschienen ist, wonach den Zöllner und alle heilsbegierigen armen Sünder hungert. Wer Heil sucht, darf es nicht beim Sinai, nicht bei den Heiden von Athen, von Rom, von Aegypten, von Indien suchen, sondern bei Christi Kreuz und Grab. Außer dem Kreuze und Grabe, dem Tode und der Auferstehung Christi, außer den Heilsthaten Gottes gibts kein Heil. Es gibt sonst keine Heilsthaten, als diese. Die sind der Mittelpunkt und um sie her sammeln sich die andern. Wer die nicht will, dem entgehen alle. Alles Evangelium und alle Gnade ist hier – im Tode, in der Auferstehung JEsu Christi.

 Wie bereits oben gesagt, enthält unser Text nicht bloß die Erinnerung an die Heilsthaten Gottes, sondern auch eine Aufzählung alles deßen, was zur Aneignung des Heils nöthig ist. Die Aufzählung findet sich in den zwei ersten Versen desselben. Diese lauten also: „Ich thue euch kund, meine Brüder, das Evangelium, welches ich euch gepredigt habe, welches ihr auch angenommen habet, in welchem ihr auch stehet, durch welches ihr auch selig werdet, in welcher Weise ich es euch gepredigt habe, wenn ihr es festhaltet, es müßte denn sein, daß ihr es vergeblich geglaubt habt.“ Aus dieser Aufzählung erkennt man, daß es bei der Aneignung des Heils auf Geben und Nehmen ankommt, auf Geben durch Gott und Menschen, und auf das Nehmen von unserer Seite. – Es wäre nun wohl möglich, daß ihr in den angeführten Versen von einem göttlichen Geben nichts fändet, sondern nur von einem menschlichen. Das menschliche Geben oder Darreichen des Heils erkennt man schnell in den Worten: „Ich thue euch das Evangelium kund, welches ich euch gepredigt habe.“ Indem der Apostel predigt, gibt und theilt er mit alle Gnadenschätze, welche durch den Tod und die Auferstehung Christi herbeigeschafft und gewonnen sind. Das göttliche Wort beschreibt ja die Schätze des Hauses Gottes nicht bloß, sondern es trägt sie in sich, bietet sie dar und gibt sie. Ohne dies Geben durch Prediger, gleichviel, ob sie mündlich oder auch schriftlich predigen, geschieht keine Mittheilung des Heils. Allein diese Mittheilung und Darreichung setzt eben das göttliche Geben voraus. Wenn St. Paulus sagt „ich habe euch gepredigt“ oder Vers 3: „ich habe euch mitgetheilt“; so muß er zuvor selbst empfangen haben, und seinem menschlichen Geben und Weiterbefördern der Heilsgüter an andere geht nothwendig vorher, daß ihm selbst erst Herz und Hand gefüllt wurde. Wie könnte er Göttliches, wie könnte er Heil, wie könnte er die Kraft der Heilsthaten Gottes, des Todes und der Auferstehung JEsu geben, wenn sie ihm nicht durch Gott geworden wäre? Und wenn alles in der Predigt liegt, wie könnte er predigen, wenn ihm nicht selbst gepredigt worden wäre? Daher sagt er aber auch, wenn schon nicht Vers 1 und 2, so doch Vers 3: „Ich habe euch gegeben, was ich auch empfangen habe.“ Diese Worte stempeln seine Rede zu einer göttlichen Mitteilung und erwecken Vertrauen gegen dieselbe, – geben auch der ganzen Kirche die Ueberzeugung, daß sie aus Gottes Munde empfängt, was der Offenbarung gemäß und zu Folge den apostolischen Schriften von den Predigern dieser Tage mitgetheilt wird. Gott ist in der Gemeinde, wo Seine Diener reden. ER theilt Gaben aus. Wer die Diener hört, hört Ihn, – und wer sie verachtet, verachtet auch Ihn. Das diene jedem verständigen Christen zur Warnung; wer aber in Eitelkeit und Uebermuth der Jugend oder des Temperaments sich drüber wegsetzt und wie die Schafe in den lautern Brunn, so mit seinen Füßen in die schönen Börne des Evangeliums tritt, der hat es mit Dem zu thun, der da spricht: „Wer euch verachtet, der verachtet Mich“, und abermals: „Irret euch nicht, der HErr läßt sich nicht spotten“, und wiederum: „die Rache ist Mein, Ich will vergelten, spricht der HErr.“

 Das menschliche Nehmen des Heils, d. i. das Annehmen und Aneignen des Worts und seiner| Schätze ist in den Worten dargelegt: „Ihr habt es auch angenommen, ihr stehet darin“ oder: „ihr haltet es fest“. Das Annehmen ist der Anfang der Aneignung, der Fortgang ist das Stehen im Evangelium oder das Festhalten des Evangeliums. Das Annehmen ist nichts anderes, als das Glauben, wie sich aus den Worten des 2. Verses mit Sicherheit entnehmen läßt, wo man für: „ihr müßtet es denn umsonst geglaubt haben“ gewis auch sagen kann: „ihr müßtet es umsonst angenommen haben“. Was nun das Annehmen oder Glauben betrifft, so möchte ich euch, meine lieben Brüder, aufmerksam machen, daß es ein doppeltes Annehmen und Glauben gibt, ein menschliches und ein göttliches. Es kann ein Mensch das Evangelium hören; dasselbe kann ihm im Zusammenhange aller seiner Lehren und in seiner Kraft, allen Bedürfnissen und Nöthen des Menschen abzuhelfen, so schön und wohl dargelegt werden, daß es ihm höchst interessant und aller Annahme werth erscheint, daß er davon ergriffen, davon erfüllt und begeistert wird. Dabei aber ist es möglich, daß es sich an ihm selbst als gar keine Kraft Gottes erweist, daß es bei dem bloßen Beifall bleibt, daß es keine Aenderung und Erneuerung des Sinnes und Lebens bewirkt. Ich halte dafür, daß eine solche bloß verständige und gefühlige Zueignung zwar auch oft ein übernatürliches Werk der Gnade und der Anfang zu mehr sein kann, daß es aber bei uns oft auch weiter nichts ist, als ein menschliches Annehmen oder Glauben. Nachdem 1800 Jahre lang das Evangelium von den Weisesten unserer Vorfahren angenommen und unter dem Volke gewissermaßen heimisch geworden ist, übt es auf viele unter den Nachkommen eine gewinnende Kraft und Macht aus, wie andere Ueberlieferungen der theuern Väter, und es ist deshalb noch kein Beweis, daß einer das Evangelium göttlich annahm, wenn er es überhaupt annahm und es rühmt und preist. Göttliche Annahme ist die innere Versiegelung der Wahrheit durch den Geist Gottes, durch welche jene reine, felsenfeste Zuversicht entsteht, vermöge welcher man, bei immer reicherer Demüthigung und gründlicherer Läuterung, von einer Bewährung zu der andern geht und endlich Welt, Tod und Teufel besiegt. Indem ich dies sage, fühle ich wohl, daß diese göttliche, vom Geiste gewirkte Annahme ein Geheimnis ist und daß nur der HErr die Seinen kennt. Ich bewundere die Märtyrer der ersten Jahrhunderte, schaue ihr Ende mit Staunen an und möchte ihrem Glauben um so mehr nachfolgen, als mir das achte Gebot verbietet, ihre Triebfedern bei ihrem Leiden und ihre Absichten bei ihrer Standhaftigkeit zu richten. Ich weiß, daß auch unter den Heiden manche ihre Ansichten bis in den Tod verfochten, daß unter Juden und Heiden ganze Städte in den Tod giengen – nur, um nicht von ihren Feinden und Bedrängern innerlich überwunden zu scheinen. Ja, ich muß mit Schaudern die Möglichkeit zugestehen, daß mancher Märtyrer sein Leben nicht als ein reines Opfer Gotte brachte, sondern, während sein Blut und Leben verrauchte, um seiner innern Unlauterkeit willen zur Linken dem Lamme Gottes treten mußte und einst zur Verwunderung aller zur Linken des Richters wird dargestellt werden. Je seltener mir darnach die göttliche Annahme und die Versiegelung der Wahrheit durch den heiligen Geist erscheint, desto werthvoller und herrlicher erscheint sie mir auch, desto sehnsüchtiger schaue ich nach ihr aus, desto tiefer erschrecke und erbebe ich innerlich vor dem Gedanken, daß es mir oder dir am Ende an der göttlichen Annahme fehlen könnte. Da helfe uns Gott!
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 Wie ernst ist das Leben! Wie entscheidungsvoll unser Lebensgang! Wie viele Täuschungen gibt es! Man kann das Evangelium angenommen haben, aber nicht göttlich, – und, man kann es angenommen haben, und nicht behalten. Man wird selig durchs Evangelium, wie unser Text sagt, wenn man es so, wie der Apostel es predigte, annimmt und wenn man es behält, festhält bis ans Ende. Das Evangelium, wenn man es behält, reicht eine Krone; aber wenn man es nicht behält? Dann behält man auch die Krone nicht. „Behalte, was du hast, mahnt Einer, auf daß dir niemand deine Krone nehme.“ Wenn man nun das Evangelium nicht behält, sei es, daß man es nicht in der Gestalt und in dem Inhalt behält, wie es von den Aposteln überliefert ist, oder daß man von dem Evangelium weicht, ohne es mit einem anderen, vermeintlich beßeren zu vertauschen, was ist dann? Dann hat man, wie sich der Apostel ausdrückt, „umsonst geglaubt“, vergeblich geglaubt, der anfängliche Glaube ist zerronnen, der Anlauf hat nicht zum Ziele geholfen, und man wird dann auch| nicht selig. Daher ist auch mit einer einmaligen Annahme des Evangeliums, mit einer einmaligen Aneignung der Wahrheit und des ewigen Heiles noch nichts Gewisses geschehen. Die Annahme muß immer erneuert werden, durch immer erneuerte, immer tiefere Aufnahme muß die Wahrscheinlichkeit des Beharrens bis ans Ende größer werden und endlich muß, wenn die Seligkeit mit Furcht und Zittern geschafft ist bis hinein in die letzte Stunde, auch in dieser Stunde selbst, unter den Schrecken des Todes, der heilige Geist die Zuversicht erneuen und befestigen, damit nicht umsonst geglaubt sei und aus Glauben ein Schauen werden könne.

 Annehmen – menschlich, göttlich, im Annehmen beharren; unter dem Anlauf der Anfechtung und Versuchungen im Glauben stehen – stehen bis ans Ende, das ist es, worauf es ankommt. Du machst das Heil nicht, – du thust die Heilsthaten nicht, – du kannst keinen göttlichen Glauben in dir wirken: es geschieht alles von Gott, durch Gott, zu Gott, – und Gott ist so gnädig, reicht die Glaubensgüter allen, schafft gern in allen den Glauben, den täglichen, erneuerten Glauben und das Beharren. Es ist so gut, daß alles, alles von Ihm, dem treuen Gotte, gewirkt, gegeben und zugeeignet wird. Warum ist dann doch das Glauben und Beharren ein schweres, ernstes, oft ängstliches Ding? Nicht um des Mangels willen der göttlichen Gnade, sondern um unserer Sünde, Bosheit und Untreue willen. Das merke – und fürchte vor allem dich selbst, und flüchte dich vor dir selbst, in Gottes, deines Retters, treue Hände. ER gebe apostolisches Evangelium, Annahme im heiligen Geiste und Treue in Ihm!


 Da haben wir nun also die Heilsthaten Gottes und den Weg ihrer Aneignung gesehen. In welchem Verhältnisse aber stehen unsre Werke zu unserm Heile? Das ist die nun hervortretende dritte Frage. Die Frage tritt hervor, und das nicht bloß deshalb, weil wir sie oben als dritte hinstellten und uns dazu der Gedankengang unsers Textes veranlaßte, sondern weil der Mensch immer und immer wieder die Werke in Beziehung zu seinem Heile setzt, immer und immer wieder versucht ist, ihnen eine Stelle auf dem Wege zum Heile einzuräumen, die ihnen nicht gebührt. Der Pharisäer im Evangelium ist leicht verurtheilt und verworfen, weil des HErrn untadelicher Vorgang einem jeden das einzig wahre Urtheil vorschreibt. Aber sieh dich selbst etwas genauer an, ob du nicht doch irgendwie selbst auf dem Weg des Pharisäers bist. Vielleicht etwas feiner, ein wenig anders der Form und Rede nach, aber dennoch ganz auffallend ähnlich können deine Gedanken von dir selbst und deine Vergleichung zwischen dir und andern Leuten ausfallen. Es braucht vielleicht nur etwas Licht von oben und du machst die erschreckliche Bemerkung, daß du dicht hinter dem Pharisäer im Evangelium stehst und gehst. Da kommt es also nicht bloß für einige, sondern für viele, ja für alle darauf an, zu erkennen, in welchem Verhältnisse unsre Werke zu unserm Heile stehen. Laßet uns also noch einmal unsre Aufmerksamkeit zusammenfaßen und die Frage beantworten.

 Wollen wir nun von Werken reden, so müßen wir einen Unterschied zwischen den Werken machen, welche ein Mensch vor seinem Eintritt in den Stand der Gnade und nach dem Eintritt in denselben thut. Ehe er in den Stand der Gnade eintritt, kann er im eigentlichen Sinne keine guten Werke thun, weil er den Geist nicht hat, der in uns und durch uns Gutes wirkt. Dennoch aber ist auch unter den Werken des natürlichen Menschen ein Unterschied. Der eine Weltmensch sinkt herunter in ein pur fleischliches Leben, ja zur Barbarei der wildgewordenen Völker, der andere aber hegt und pflegt in sich einen Sinn für das Schöne, Geziemende und Edle und stellt sich vor den Augen der Mitwelt in jener Ehrbarkeit dar, welche schöner ist als Morgen- und Abendstern. Diesen Unterschied kann und wird kein Verständiger leugnen. Ist aber ein Unterschied da, so wird er vor Gott nicht weniger offenbar sein, als vor Menschen, und das Auge, das wahrhaftig ist, wie keines, wird das verschiedene Verhalten des Menschen verschieden würdigen. – Sehen wir auf den Stand der Gnade, so wird ein Mensch in diesem, getrieben vom Geiste Gottes, Gutes thun können. Bleibt auch keine That selbst des heiligsten Menschen von dem Hauche des Bösen ganz verschont, ist keine vollkommen; so gibt es doch, und das ist ja der Triumph der Gnade in diesem irdischen Leben, – es gibt gute Werke, deren Kern nicht faul, sondern gut ist, herausgewachsen nach Gottes Wort und Gebot aus lauterer Absicht. Es| gibt gute Werke im Stande der Gnade, aber es gibt auch Fehler, Sünden, böse Werke, und wie der gute Geist oftmals triumphiert, so triumphiert umgekehrt oft auch der böse, und die Kinder der Gnade können sündigen, ja fallen und abfallen und auf jeder Stufe weiter abwärts in gröbere Sünden herausbrechen. – Das wären Unterschiede zwischen Werken und Werken. Was aber haben alle Werke miteinander gemein, die Werke vor und nach der Gnade? Antwort: Die Werke vor und nach der Gnade haben das gemein, daß sie unser Heil hindern können, aber auf keiner Stufe des Lebens und der Vollendung geeignet sind, das ewige Heil zu verdienen und uns selig zu machen. Unsre symbolischen Bücher nennen unsere guten Werke an einer Stelle wohl verdienstlich, aber nicht in Anbetracht des ewigen Lebens, sondern nur in Betracht des verschiedenen zeitlichen und ewigen besondern Gnadenlohnes, den Gott in Seiner Freiheit und Barmherzigkeit auf unser verschiedenes Verhalten zu legen geruht hat. Auf die Erlangung des ewigen Heiles können wir um keiner Werke willen pharisäischen Anspruch machen. Mach einen Anspruch, wie der Pharisäer, so ist der Anspruch und das Werk selbst, um deßen willen er erhoben wird, selbst wenn es in seiner Entstehung und Vollbringung gut gewesen wäre, verloren. Die anspruchvolle, stolze Selbstgerechtigkeit nimmt allen in Gott gethanen Werken jeden Werth vor Gott. Daß Werke, wider Gottes Gebot gethan, misrathen schon in ihrer Entstehung, falsch von Absicht und Meinung alle Gnade tödten, ist ohnehin keine Frage.

 Aus dem allen erkennt man, daß die Sphäre der Wirksamkeit unserer Werke in den Weg unsers Heils theils nicht hereinreicht, denn die guten Werke schaffen kein Heil, theils nicht hereinreichen soll, denn die bösen Werke sollen ja unser Heil nicht hindern. Schaffen aber die Werke das Heil nicht und sollen sie es nicht hindern, so ist damit nicht gesagt, daß sie nicht sein und existieren sollen, oder daß sie gar keine Wirksamkeit haben. Sie haben eine weite Sphäre der Wirksamkeit. Sie sollen vor Gott und Menschen Beweis geben, daß das Heil, so weit es offenbart ist, von uns angenommen wird. Ihre zunehmende Lauterkeit und Unsträflichkeit, ihre wachsende Menge soll Zeugnis ablegen, daß wir das Heil immer völliger, immer inniger annehmen, daß Gottes Wort und Sacrament immer mächtiger in uns wirkt. Es ist wie mit den Gewächsen. Sie können keinen Frühling schaffen; selbst wenn ein Leben und eine Kraft in ihnen schlummert, vermögen sie doch den Winter nicht zu verscheuchen, der über ihnen liegt. Aber wenn die Frühlingslüfte wehen, die liebe Sonne höher steigt und wärmer scheint, das Jahr sich erneut, dann schlagen sie aus, und die Kraft und das Gedeihen von oben fördert je länger je mehr ihr Leben. So steigt unser Lebenstag, unsre Gnadenfrist: gleicher Weise soll und kann unsre Heiligung und Vollendung zunehmen; der Glanz unsers Sommers und Herbstes, d. i. unsrer guten Werke, soll immer schöner leuchten, damit die Engel Gottes sehen, es sei uns Gottes Gnade nicht umsonst geworden, die Kirche sich freue, daß das Christentum kein leerer Name sei, und die Leute dieser Welt in ihrem Herzen und Gewißen überwunden werden, den Vater im Himmel um der Kinder willen, die Er auf Erden hat, zu preisen und um der Umwandlung willen, die an ihnen zu erkennen ist. – Haben nun die Werke auch nicht die Kraft, uns Leben zu erwerben, so geben sie doch Zeugnis des Lebens, das in uns ist. Wer noch nicht im Stande der Gnade ist, kann mit seinen Werken, wie Cornelius, Zeugnis vor Gott und Menschen ablegen, daß die vorlaufende Gnade an ihm nicht vergeblich ist; und wer, wie St. Paulus, in der Gnade lebt, deß Werke können, in immer schönerem Lichte sich enthüllend, Beweis geben, weß Geistes Kind so ein heiliger Apostel ist. Das predigt dann mächtig hinein in die Welt! Da wird Auge und Herz vieler geöffnet und die Sehnsucht nach dem, was göttlich und heilig ist, aufgeweckt.

 Dies Verhältnis der Werke zu dem Heil und zu dem Leben in der Annahme des Heils zeigt sich nun so schön und klar im letzten Theile unsers Textes.

 Bei Aufzählung der Erscheinungen des auferstandenen JEsus war St. Paulus auch auf die Erscheinung gekommen, welche ihm selbst zu Theil geworden war. Er nennt sich eine „unzeitige Geburt“ und characterisiert damit seinen Zustand, in welchem er die Erscheinung Christi gehabt hatte. Noch war er nicht reif zur Geburt, zur geistlichen Geburt, er glich einem zu früh geborenen Kinde, als er, – dort bei Damaskus – seine Augen aufthun und den Auferstandenen schauen mußte. Er sah Ihn, da er noch| nicht glaubte, – mag es in ihm gewogt und gegährt haben, wie es will, er sah Ihn mit ungeweihtem Auge, damit sein Zeugnis für das ungeweihte Volk der Erde desto größere Kraft äußern, desto mehr Wirksamkeit haben möchte. Durch diese Erwähnung seiner Erscheinung wird St. Paulus veranlaßt, einen Blick über sein Leben vorher und nach der Wiedergeburt zu werfen, und was er da sagt, tritt in den wundersamsten, schönsten Gegensatz zu dem Evangelium vom Pharisäer und Zöllner.

 Der heilige Paulus ist nach unserm Texte zugleich dem Zöllner und dem Pharisäer scheinbar ähnlich, und ist doch wieder auch keinem von beiden zu vergleichen, wenn man ihn genau betrachtet. Wenn er sagt: „Ich bin der Geringste unter den Aposteln, der ich auch nicht werth bin, ein Apostel zu heißen, darum, daß ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe“; so klingt das zwar immer noch so, daß man doch hört, St. Paulus ist und bleibt ein hoher Apostel Christi. Aber er bekennt doch große und schwere Sünden, und zwar specieller als der Zöllner; er schlägt doch auch geistlich an seine Brust und legt die Würdigkeit seines gesammten früheren Lebens schon um der einen Sünde willen, daß er die Gemeinde Gottes verfolgt hat, in Unwerth und in Staub. St. Paulus erscheint damit neben dem Zöllner, noch ehe wir aus seinem Munde vernommen haben, wie er die göttliche Gnade preist, auf welche sich ja auch der Zöllner beruft. Die Aehnlichkeit Pauli mit dem Zöllner leuchtet ein. Aber klingts nicht auch wieder wie pharisäerartig, wenn er sich mit den andern heiligen Aposteln, also nicht wie der Pharisäer im Evangelium mit Dieben, Räubern, Ehebrechern und Zöllnern vergleicht und dann als Resultat seiner Vergleichung herausbringt, daß er „mehr gearbeitet habe und mehr geduldet habe, als sie alle“ (denn Arbeit und Dulden liegt ja in dem griechischen Ausdruck eingeschloßen), daß er also die größten, erhabensten, gesegnetsten Menschen an Frucht und Segen und guten Werken übertreffe? Das schreibt er so hinaus in die Gemeinden, an das geschwätzige Volk der Corinther, von wo aus es schon auskommen und den Zwölfen selbst zu Ohren kommen wird, was der Heidenapostel im Vergleich mit ihnen von sich selbst urtheilt! Wahrlich, St. Paulus sagt von sich mehr, als der Pharisäer von sich, und sein Selbstruhm übertrifft fast den Selbstruhm aller Menschen. Auch ist bekanntlich diese Stelle des Ruhmes Pauli nicht die einzige. Im zweiten Briefe an die Corinther, im 11. Kapitel, kann man finden, wie er nach einiger Zeit, also nach Besinnen – und ohne Reue Aehnliches von sich sagt.

 Und doch ist St. Paulus kein Pharisäer mehr, auch nicht mit dem Pharisäer zu vergleichen. Die Aehnlichkeit mit dem Zöllner bleibt ihm, wenn schon der Zöllner ihm nicht ähnlich ist, weil wir von dessen Arbeit und Dulden im Reiche Gottes nichts wißen; aber die Aehnlichkeit mit dem Pharisäer, so unmöglich es einen Augenblick scheinen könnte, fällt doch ganz und gar, ja ganz und gar dahin, und zwar durch ein einziges Wörtchen, nemlich durch das Wörtchen, welches Zöllner und Apostel, arme Sünder und geheiligte Jünger Christi, in gleichem Maße preisen, durch das Wörtchen „Gnade“. „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und Seine Gnade an mir ist nicht vergeblich geblieben.“ Der Pharisäer prangt mit fahlem Gesichte des Fastens und mit den reichen Zehentwagen, die er, selbst enthaltsam, bringt, doch nur in eigener, welkender Gerechtigkeit. Der Zöllner sehnt sich, arm und leer von eigener Gerechtigkeit aber auch von Gottes Huld, nach Gnade, nach der Gnade der Vergebung. Der Apostel aber kommt mit dem Dankopfer eines großen reichen Lebens und Leidens ohne Gleichen, aber – es ist nicht das Bekenntnis des Hochmuths, was von ihm kommt, sondern gerechtes, tiefgefühltes Bekenntnis eines dankbaren Herzens. Nicht gebläht, sondern gebeugt von Gnade, – nicht hoffährtig und voll Stolzes, sondern mit demüthigen Thränen der Buße, im Andenken unvergeßlicher Sünden vergleicht er sich mit den größten Menschen und gibt Gott die Ehre, der ihn, den größten Sünder, aus Gnaden zum größten Heiligen gemacht hat, auf daß nicht bloß die Predigt Pauli, sondern auch Leben und Wirken Pauli allen Juden und Heiden den Heilsweg empfehle, auf dem man von solchem Falle zu solcher Höhe des Lebens, des Wirkens, der Heiligung kommen kann.

 Sieh da das rechte Verhältnis der Werke zum Heil und Heilswege! Werke muß ein Christ haben, bekommt sie auch, weiß, sieht und rühmt sie, aber die Werke sind durch Gnade möglich worden, die| Gnade soll nicht vergeblich, nicht leer, nicht fruchtlos bleiben; die Gnade ist gut, fruchtbar, heilig – und macht gut, fruchtbar und heilig.

 O ihr Glieder dieser Gemeinde, daß ihr euch doch aus diesem Texte nähmet, was sich ziemet zu nehmen. Aus dem Beispiele des Pharisäers nehmt Schaam für allen eitlen Selbstruhm, für das stinkende Selbstlob, welches ihr, wie es oft auch den frechsten Sündern geht, von euerm Munde habet triefen laßen. Aus dem Beispiele des Zöllners und Pauli, aus zwei berühmten Beispielen, lernet Sünden bekennen und die Gnade rühmen, die Gnade der Vergebung und der Heiligung. Aus dem Beispiele Pauli insonderheit lernet, wie die Gnade nicht vergeblich sein soll, also auch vergeblich sein kann. Dem Selbstruhm abgestorben, Sünden bekennend, gnadenhungrig gehet ein in den Gehorsam Christi und laßet euch heiligen. Sein Tod sei eurer Sünde Tod, Seine Auferstehung bringe in euch Auferstehungskräfte – und die Gnade sei mit euch auf allen euern Wegen, in mancherlei Gestalt, mit mancherlei Frucht, aber doch immer als Eine, nemlich als Tödterin der eigenen Gerechtigkeit, als Königin, welche mit dem hochzeitlichen Kleide der Gerechtigkeit Christi kleidet, und als Mutter, die in alle Reichtümer des inwendigen Lebens und der Heiligung einführt. Gnade werde das Wort, das alles ausdrückt, was wir haben, was wir brauchen und ewiglich nicht entbehren können.

 Gnade Gottes und Christi sei mit uns immerdar! Amen.




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