Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Evangelienlektionen Theil 2

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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Kurze Lectionen
zu
den sonn- und festtäglichen Evangelien
des Kirchenjahres.
Neben der Epistel-Postille zu lesen.


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Inhalt
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Am Feste der allerheiligsten Dreieinigkeit.
Joh. 3, 1–15.

 WIr feiern heute das Fest der allerheiligsten Dreieinigkeit zum Schluß der langen Festzeit seit Advent. – Von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge – so rufen wir beim Ueberblick der langen Festreihe und der Wohlthaten Gottes, die sie uns verkündigte, und geben für alles Heil in Christo JEsu dem Dreieinigen allein die Ehre. Seine Wohlthaten erkennen wir – und auch sie, Seiner Liebe Zeichen, sind uns nach ihrer Länge und Breite und Höhe und Tiefe nicht bekannt. Er aber, Er Selbst, Sein Wesen, die Dreiheit in der Einheit, ist uns ein anbetungswürdiges, ja ein angebetetes Geheimnis, von welchem kein Mensch ohne Zittern reden kann. Wir bekennen Ihn, den Dreieinigen, mit dem Bekenntnis des heiligen Athanasius; wir loben Ihn mit Ambrosius und Augustinus im großen Lobgesang: „HErr Gott, Dich loben wir“ etc. Wir erheben unsere Stimmen zu Ihm und nahen Ihm, aber wir laßen uns auch wieder gesagt sein, was Habacuc 3, 20. sagt: „Der HErr ist in Seinem heiligen Tempel; es sei vor Ihm stille alle Welt.“

 So fühlten es auch die Väter. Darum wählten sie nicht etwa Matth. 28, 16 ff. zum Evangelium, nicht 1. Joh. 5, 4 ff. zur Epistel des Tages, d. h. nicht Texte, welche klar und unumwunden von der allerheiligsten Dreieinigkeit reden; sondern sie wählten Texte, welche mit heiliger Ehrfurcht auf den Angebeteten hindeuten, mit klaren Worten aber bei solchen Lehren verweilen, deren tiefer, unergründlicher Sinn auf des Geheimnisses der ewigen Wahrheit, d. i. Gottes Selber einen Schluß machen lehrt. Das Evangelium redet Vers 12. von himmlischen Dingen, die erstaunlicher seien, als die Wiedergeburt, von der es übrigens spricht: und wohl merkst du Leser, daß die Erwähnung dieser himmlischen Dinge auf die Lehre von der Dreieinigkeit deutet. Die Epistel (Röm. 11, 33–36.) redet von dem unausforschlichen Rathschluß Gottes zur Seligkeit der Menschen, und weist mit ihrem letzten Verse auf Den, deß Rath ist unbegreiflich und unerforschlich, wie Sein Wesen.

 Das Evangelium redet weniger deutlich, als die Epistel, von der allerheiligsten Dreieinigkeit – und doch führt es uns in so gar herzlicher Weise zu Ihr durch den einen Gedanken:

Und dieses Gottes Kinder sollen wir werden!
 Seines Geschlechtes sollen wir werden!

 Er ist unbegreiflich: so sind auch Seine Kinder geheimnisvollen, wunderbaren Wesens, sich selbst ein Räthsel, ein Widerspruch in sich selbst: Sünder – und doch Gottes Kinder. Sie gleichen dem brausenden Winde, von deßen Dasein jedermann überzeugt ist, deß Aus- und Eingang aber niemand kennt. Vers 8.

 Er ist wunderbar, und wunderbarer ist die Geburt Seiner Kinder, denn sie ist Wiedergeburt und geschieht aus Waßer und Geist. Geboren sein und wieder geboren werden, – aus Waßer – und aus Geist geboren werden! Wer sollte nicht Nicodemus’ Erstaunen theilen, auch wenn er die Wahrhaftigkeit der Geburt an sich selbst erfahren hat. Wie wahr ist das Ps. 139, 14.: „Ich danke Dir darüber, daß ich wunderbarlich gemacht bin, wunderbarlich sind Deine Werke und das erkennet meine Seele wohl!“

 Er ist wunderbar, aber Er ist. So ist auch die Geburt aus Gott ihrem Sein und Werden nach wunderbar, aber nichts desto weniger nothwendig und wirklich. Sie ist nothwendig, denn Gott Selber spricht es aus, daß nur Seine aus Waßer und Geist wiedergeborenen Kinder an Seinem Reiche Antheil haben sollen. Sie ist wirklich, sie ist möglich und oft ins Dasein gerufen worden; denn der untrügliche| Gottessohn (Vers 13.) hat sie geoffenbart, – Er hat sie möglich gemacht durch Seine Versöhnung (Vers 14.), – Er hat den Odem, das untrügliche Zeugnis und Zeichen ihres Daseins, den Glauben (Vers 15.) gelehrt.

 Bruder, glauben wir nicht? Dürfen wirs nicht, mit Demuth zwar, aber auch mit Muth bekennen, wir glauben? Wenn wirs dürfen, sollen wirs dann nicht? Und wenn wirs dürfen und thun, sind wir dann nicht Kinder der Wiedergeburt? Lehrt nicht die erste Epistel St. Johannis (z. B. Capitel 5, besonders Vers 1 etc.) deutlich davon? – Lieben Kindlein, so wir Seine Kinder sind, so laßet uns beim Vater und beim Worte und im Geiste bleiben allewege und allezeit, wir schlafen oder wachen, wir leben oder sterben!


Am ersten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 16, 19–31.

 SIe haben gestritten, ob der Text Gleichnis oder Wahrheit sei. Als ob JEsu Gleichnis, wenn es eines wäre, nicht, so weit es diesseits des Todes spielt, in tausend Beispielen sich bewährte! Als ob der HErr so genaue Beschreibungen des Jenseits auch nur im Gleichnisse anders, als nach der strengsten Wahrheit geben würde, geben könnte! Was Gleichnis! Gestrenge, völlige Wahrheit redet der Mund des HErrn. Alle Lehrsätze, alle Schlüsse, die aus unserm Texte gezogen werden, sind wahr und bleiben ewig wahr! Wahr, ja wahr ist deshalb, was hier folgt:

 1. Es gibt ein Jenseits, eine Ewigkeit. Das bezeugt dieß Gleichnis, diese Geschichte, – das bezeugen alle Bücher der heiligen Schrift ohne Ausnahme, – das bezeugt auch der Prediger Salomonis (z. B. 11, 9. 12, 7. 14). Keines Lebendigen Zeugnis gilt dagegen. Mit nichten ist alles mit dem Tode aus, so sehr es mancher zu wünschen Ursache hat!

 2. In der Ewigkeit gibt es zwei Orte: Abrahams Schooß und den Ort der Qual, – einen Ort des Trostes und seliger Gemeinschaft und einen Ort furchtsamer Einsamkeit, die durch die Menge der Genossen nicht gemindert, durchs Anschauen der Seligen noch mehr verbittert wird. Zwei Orte gibt es, von einem dritten weiß die Schrift nichts, – und Menschensündlein, zum Faulkissen schlimmer Sünder erdacht, sind alle Gegenlehren.

 3. In einen von beiden Orten kommst du unmittelbar nach dem Tode. Gleichwie zwischen Himmel und Hölle kein dritter Ort liegt, so ist auch zwischen dem Leben hier und der Ewigkeit kein Uebergang. Das Leben ist Gnadenfrist, – bis zum letzten Hauch ist Gnadenfrist. Nach dem Leben beginnt unverweilt das für ewig entschiedene Loos. Nichts von Läuterung, nichts von Reinigung, nichts von Bekehrung zwischen hier und dem ewigen Bleibort weiß die Schrift. Schädliche Menschensündlein und Träume nicht von Gott sind alle Gegenlehren.

 4. Zwischen den zweien Orten der Ewigkeit ist kein Wechsel gestattet: die Kluft, die Kluft ist für alle Geister, wie für alle Leiber ohne Möglichkeit des Uebergangs. Jede von den zwei Pforten des Jenseits hat hinter sich eine Ewigkeit: hinter ihnen ist für ewig confirmirt und bestätigt jegliche Gesinnung, die man mitbrachte, sei sie gut oder böse gewesen.

 5. Von allem Jenseits gibt es keine Ueberzeugung, als durch Gottes Wort, Vers 31. Keine Nachricht kommt von denen, die drüben sind, als nur von dem Erstling unter denen, die da schlafen, von Christo! Nichts ists mit aller Geisterei und keinen Glauben in Anbetracht des Jenseits verdienen alle die Erscheinungen, die weißen oder schwarzen. Von Gott kommt nur Gottes Wort!

 6. Nichts entscheidet für die Ewigkeit, als der Glaube, – nicht Werk noch Dulden, nicht Wißen noch Fühlen, – nur der Glaube, der da wirkt Frieden und Stille, Stärke und Standhaftigkeit, Klarheit und Harmonie der Seele. Nichts ists mit Rennen und Laufen! Wer mit Werken, Fühlen, Wißen umgeht, als sollt’ es selig machen, ist – verloren.

 Ach HErr, wie wichtig ist die Spanne Zeit für die lange Ewigkeit! Hilf uns, daß wir die Verheißung Deiner Ruhe nicht versäumen. Amen.


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Am zweiten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 14, 16–24.

 DAs Abendmahl ist die durch Christum vollendete Erlösung, durch welche Leben und volle Genüge allen Menschen bereitet ist. Christi Reichtum und Verdienst ist für die Seele, was für den Leib ein Mahl ist. Ein großes Mahl ist es, weil es für viele bereitet ist. Die Vollgenugsamkeit des Verdienstes Christi wird durch das große Abendmahl angedeutet. – Die Stunde des Abendmahls ist die sonst sogenannte letzte Stunde, welche von dem Kommen Christi bis zu Seiner Wiederkunft dauert. So lange ist der Menschheit Frist gegeben, zum Mahle zu kommen. – Die Geladenen sind die Juden, denen die Verheißungen gegeben sind, nach dem Zusammenhange jedoch hier hauptsächlich die Obersten der Juden, – die Priester und andere Herrlichen, welche die Einladung, wie die Verheißungen, am leichtesten hätten faßen sollen. – Der Knecht ist Christus und das von Ihm eingesetzte Lehramt, zu deßen Teilhabern gesagt wird: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ – Des Knechtes Stimme: „Kommet!“ schließt alles ein, was die Heilsordnung in sich begreift, von der Bekehrung bis zur Vollendung, den Glauben und alle seine Werke. – Bis hieher ist alles klar und man faßt es ohne Anstoß. Aber nun die Entschuldigungen, sie erregen unwilliges Erstaunen. Woher sind sie genommen? Von Beruf und Familienleben. Wie können denn diese zur Entschuldigung dienen? Sie sind ja gerade Erleichterungsmittel für diejenigen, welche gerne in die Heilsordnung treten und also durch die zeitlichen Güter wandern möchten, daß sie die ewigen nicht verlieren! Darin eben liegt die Schuld, daß sie nicht bloß nicht kommen, also die Mahlzeit nicht schätzen, sondern überdies gerade das zur Ausrede nehmen, was sie fördern konnte. – Wie kommen sie aber zu dieser verkehrten Entschuldigung? Hindert sie denn Beruf und Familienleben wirklich? Ja allerdings, aber nur dadurch, daß sie Beruf- und Familienleben, die nur Mittel zum Zweck sind, zum Zweck selber machen. So wie man aber Gnadenmittel zu Zwecken umwandelt, werden sie einem zum Verderben, wie die Wüste den Kindern Israel, – wie die Sündfluth, welche Noah zum Heile trug, den übrigen Menschen zum Untergang diente, – wie ein Gasthaus den vernünftigen Wanderer erquickt und zur Reise tüchtig macht, aber von dem unvernünftigen zur Niederlage und zum Aufenthalt gemacht wird. Drum hüte dich, mein Freund, vor diesem Misbrauch der Gnadenmittel und erkenne, daß Ehe und Beruf entweder dich mächtig fördern müßen, oder du gehst in ihnen und durch sie unter.

 Ueber die Geladenen und nicht Erscheinenden entbrennt ein großer Zorn, Vers 21. Aber eben dieser Zorn im Herzen Gottes verursacht eine desto reichere Gnadenströmung über die andern armen Juden, welche Vers 21 genannt und als geistlich und leiblich Arme zugleich dargestellt werden, als solche, denen leibliches Elend die Sehnsucht nach leiblicher und geistlicher Genüge erweckt hat. Ein heiliger Zorn, der die Liebe desto mehr erregt, der dem Engel gleicht, von welchem Bethesda’s stille Waßer zum Genesungsbade der Krüppel und Lahmen umgewandelt werden! Wer läßt uns arme Heiden mit hinein in dies gnadenreiche Waßer, in diese Fülle geistiger Genüge bei JEsu Mahlzeit? Geduld! Auch nachdem die Lahmen, Krüppel, Blinden der Stadt versammelt sind, ist noch Raum für die auf Landstraßen und Zäunen, welche außer der Bürgerschaft Jerusalems in der Heiden Landen wohnen. Und merke, die Heiden werden zum Kommen genöthigt. Zu einer geistlichen Mahlzeit kann freilich nicht durch äußere Mittel der Gewalt gezwungen werden! Seelen erdulden nichts Leibliches! Die Nöthigung geschieht durchs Wort, wie es der Heidenapostel Paulus predigt, durch die angelegentliche, dringende Darstellung der Gnade Gottes in Christo JEsu, durch die treue, immer neue Wiederholung desselben. Das nöthigt! Glaubst dus nicht, so hast dus nicht erfahren! Freund, das nöthigt! Wen das nicht nöthigt, den nöthigt nichts mehr, der geht an Hecken und Zäunen durch Straßenübel unter. – Durch dies Nöthigen werden alle Tische voll. Der HErr hat Seine Tische nicht umsonst gestellt. Er hat aber auch nicht so viele auserwählt, als Er Raum gemacht hat, sondern Er hat so viel Raum gemacht, als Er Auserwählte| voraussah und fand. Die Berufenen, welche Folge leisten und von einer Klarheit in die andere, aus Glauben in Glauben, aus Liebe in Liebe gehen, die da bleiben in Seinem Namen und Bekenntnis bis ans Ende – das sind die Auserwählten, und ihrer ist, wenn auch die breite Straße voller ist, doch so gar wenig nicht, sondern sie füllen Gottes Freudenhimmel. – – Nöthige mich, mein Gott, durch Dein heiliges Wort! Deine süße Nöthigung überwinde mein herbes, bitter böses Herz! Ach, ich fürchte, ich fürchte mich! Wenn die Geladenen, die nicht kamen, Dein Abendmahl nicht schmeckten, nicht „schmecken werden“ (V. 24.), wie viel weniger werden es die schmecken, die Deine Nöthigung zurückweisen! Erbarme Dich, laß mich genöthigt werden! Ueberwinde mich, Du treuer, frommer Gott, mit Deinem Hirtenstabe!
Am dritten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 15, 1–10.

 ES ist ein schreiender Widerspruch des Menschen gegen seinen Gott, deß Bild er auch in der Gesinnung gegen arme Verlorene sein sollte, daß er diesen die Hülfe nicht gönnt. So kommen hier die Pharisäer und Schriftgelehrten und murren, da sie Zöllner und Sünder um einen Mann versammelt sehen, der auf den Heilandsnamen mit Wort und Werken Anspruch machte. Und aus der Gegenwart Beispiele ähnlicher Art anzuführen sollte wahrlich nicht schwer werden, da es so viele gibt. Gib nur Acht, so wie ein armer Sündenknecht sich zu Dem naht, der ihn von seiner Sklaverei erretten kann, so fängt die Welt und ihre Kinder gerade so zu reden an, als wäre durch die Möglichkeit der Rettung für den armen Sünder schon die Gewisheit gegeben, daß die ehrbare Welt verloren sei. Wird der arme Sünder wirklich von der oder jener Sünde frei, gibt sich unwidersprechlich eine Beßerung kund; so wird auf der Stelle die pharisäische Horde anfangen, die Wahrhaftigkeit der Beßerung zu bezweifeln und mit schadenfrohem Munde weißagen, daß sie keinen Stand halten werde. Und ist es wirklich so gekommen, hat ihr Weißagen auf den erwachenden, sich aufraffenden Sünder wie ein böser Zauberspruch gewirkt, – haben sie durch Absprechung alles Glücks Verzweiflung am Gelingen der begonnenen Beßerung und Rückschritte zum Bösen bewirkt, ist der Mensch zurückgefallen; so wird aus dem Rückfall wieder bewiesen, daß es dem Menschen kein Ernst war. Da haben sie alles vorausgewußt, vorhergesagt, und wer ist nun weiser und beßer, als sie? Als ob nicht die ersten Regungen und der Anfang von Gott hätte sein können; – als ob es bei dem Gnadenwerk in einzelnen Seelen gälte, zu sagen: „Ists Gotteswerk, wirds wohl bestahn; ists Menschenwerk, wirds untergahn!“ – als ob man nicht wirklich vorhandene Gnadenanfänge wieder verlieren könnte; – als ob nicht der Rückschritt eines beginnenden Christen von andern, von außen her bewirkt werden könnte! Kann man denn so blind, so boshaft sein, durch Weißagen, Mistrauen und Entgegenwirken dem Satan in die Hand zu arbeiten und hinterher sich zu geberden, als habe man Gott einen Dienst daran gethan!

 Wahrlich, das ist recht das Gegentheil vom Benehmen der himmlischen Geister! Sie bilden sich nicht ein, wie Pharisäer, vollkommen zu sein, als arme, grobe Sünder, sie sind wirklich vollkommener, sie sind vollkommen! Und doch freuen sie sich jedes Hoffnungssternes, der einem armen Verlorenen aufgeht! Ja eben weil sie vollkommen und wahrhaft heilig sind, sind sie barmherzig und freuen sich, daß die Gnade größer ist, als die Sünde. Wer nicht barmherzig ist, wer nicht alles hoffet, alles glauben kann zu seiner Freude, der hat keine Liebe, der ist dem HErrn und Heiland nicht verwandt, der hat nicht Seinen Geist! Freund, wenn du auf dem Wege zum HErrn bist, oder wenn du dem HErrn, der dich sucht, Lust hast aufzuthun, und es krächzen die Unglückspropheten der Pharisäer und Schriftgelehrten um dich her, so laß dich nicht aufhalten: sie prophezeien Lügen! Und wenn Lichtgestalten, ehrwürdig scheinende Engel dich aufhalten wollen, trau ihnen nicht, es sind teufelische Stimmen. Wahr ist und bleibt das Wort, ein Lob- und Preisgesang, nicht ein Tadel ist es – das Wort: „Dieser nimmt die Sünder an und ißet mit ihnen!

|  Ja mehr noch! Er nimmt nicht bloß die Sünder an, Er sucht sie, Er ruft sie, Er bittet, Er nöthigt sie, selig zu werden! Ich darf nicht sagen: „Wie ein Hirte ein verlorenes Schaf, ein Weib den verlorenen Groschen, so sucht Er die Seinen!“ Das wäre zu wenig aus dem Evangelio genommen. Ich muß sagen: „Was ist ein Schaf, ein Groschen gegen eine Menschenseele, welche nach Seinem Bilde gemacht ist! So viel mehr ein Mensch werth ist, als ein Schaf, ein Groschen, so viel ernstlicher und eifriger sucht ER die Seelen. Es ist kein Hirte, kein Schäfer, dem so viel an einem Schafe, kein Weib, auch nicht das ärmste, dem so viel an einem verlorenen Groschen liegen könnte, als Ihm an dir liegt, verlorene, sündenbeladene Seele!“ Ja, wir dürfen noch mehr sagen. Welches Kind ist einer Mutter am liebsten? Ich meine, das, welches gerade nicht da ist. So ists dem HErrn – Ihm ist der am liebsten, welchen Er noch nicht wieder gefunden hat. Ja, wenn ein Weib ihres abwesenden Kindes vergäße, Er vergißt verlorene Schafe nicht. Denn ein Weib kann nur unvollkommen lieben, Er aber liebt vollkommen, darum kann Er die Seinen nicht vergeßen! Die Seinen, denn Sein sind sie ja doch, erkauft, erlöst, erworben, gewonnen hat Er sie doch, auch wenn sie vor Ihm fliehen! – Er ist so liebreich, und die Welt, ach, oft auch die fromme Welt, so lieblos! Weil nur Er liebreich ist, weil nur Er nicht nach Pharlsäermaßen, sondern nach Gottes Maßen liebt! Das ist, lieber Leser, so tröstlich, auch für dich – und alle armen Schächer!
Am vierten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 6, 36-42.

 DIeses ganze Evangelium athmet nur einen einzigen Gedanken: „Barmherzigkeit thut noth!“ So wahr, als dieser Gedanke, ist alles, was in dem Evangelium enthalten ist; wo dieses Gedankens Grenzen sind, da sind aller einzelnen Gedanken Grenzen. Richtet nicht – nämlich, wenn Richten unbarmherzig wäre! Verdammet nicht, nämlich, soweit es die Barmherzigkeit verlangt! Vergebet, – nämlich, so weit es barmherzig ist und keine andere der göttlichen Eigenschaften beleidigt. Denn eine muß mit der andern in Harmonie sein! – Eben so heißt es: „Gebet“ – nämlich, so weit es barmherzig ist. – Gar wohl ist deswegen ein Beisatz bei dem „Seid barmherzig“; denn es heißt: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ Nicht eine menschliche, fleischliche, einseitige Barmherzigkeit sollst du üben, sondern göttliche Barmherzigkeit, als Gottes Kind, als Seines Geschlechts theilhaftig.

 Ach, es ist so schwer, die äußern Werke eines Menschen im Zusammenhang mit ihren Gründen und Anfängen zu erkennen! Nur bei offenbar groben Sünden ist es eine geringere Aufgabe, des Heilands Anweisung zu befolgen: „An den Früchten sollt ihr sie erkennen!“ Ja, auch da ist es oft schwer, weil die Schwachheitssünde gar oft der Bosheitssünde, der Fall dem Abfall täuschend ähnlich sieht. Und nun erst bei bloß räthselhaftem, ungewöhnlichem Benehmen, wie schwer ist da unterscheiden! Der Lebenslauf eines Menschen ist oft so wunderlich, daß nicht mit oberflächlichem Betrachten der Außenseite ein treues Urtheil zu gewinnen ist. Das Werk der Heiligung ist ein Räthsel und Wunderwerk des heiligen Geistes: hier ist kein Stück aus einem Guß vor Augen gestellt, es sind lauter einzelne Fälle, – ein heiliger Takt, so zu sagen, des ewigen, allweisen Seelsorgers waltet da. Darum sei langsam zum Reden, – erkenne deine Schwachheit, – – merke, daß selten ein Mensch im Leben fünf oder zehen Menschen so kennen lerne, daß er nur durch Wahrscheinlichkeitsgründe beweisen könnte, wohin – ob rechts, ob links vom HErrn seine Stelle sei. Sei langsam zum Richten. Aber hast du Beruf,“ hast du Licht beim Berufe, dann richte ein recht Gericht im Namen und durch Kraft des Seelsorgers im Himmel, – ja kraft Seiner Worte: „Seid barmherzig“!

 Verdammet nicht“! Es ist zum Erstaunen, wie man sich oft so lieb hat, wie man andere so einseitig beurtheilt, wie man aus einzelnen Sünden auf den ganzen Seelenzustand der Menschen und auf das Urtheil Gottes im Himmel so leichtlich schließt. Ach, oft gerade die, welche am meisten dem Guten nachzujagen scheinen, sind im Verdammen so unbarmherzig!| Man kann an einem Menschen eine Menge Flecken und Sünden sehen, weil sie da sind, – und doch kann man barmherzig gegen ihn sein, weil man ihn nicht verdammt, sondern trägt und sich mit ihm geduldet. Man kann aber auch an einem Menschen eine Menge Fehler nicht sehen, die er hat, aber einen von ihnen so groß, und schwer ansehen, daß man ihm um deswillen alle Leitung des Geistes Gottes, alle Bestrafung desselben, alle Aufrichtigkeit abspricht, daß man sich erlaubt, ihn wie einen Heiden und Zöllner zu achten. So leichtfertig war man in frühern Zeiten, da man nach Matth. 18. die Kirchenzucht warnahm, mit nichten. Wie oft heißt es in unsern Tagen: „Es ist nichts mit dem“, – und warum? Weil er eine allerdings abscheuliche Aeußerung gethan, weil er öfters eine Pflicht verletzt, weil er in einem Lebensverhältnis dem Bilde JEsu nicht treu ist. „Ich meine, heißt es dann, wer einmal das sagen, das thun, so sich benehmen kann etc., mit deß Christentum kann es nichts sein.“ So schnell verdammt Gott nicht! ER ist barmherziger, als Menschen sind, ER wird viele, die du dort nicht suchtest, in den Reihen Seiner Seligen dir zeigen! Drum verdamme nicht unbarmherzig! – Aber wenn dir Einsicht und Licht in ein verdammlich Leben des Heuchlers oder Gleißners gegeben ist und du zum Reden Beruf hast, so rede und wenn es verdammt wäre. Manchem ists die letzte Barmherzigkeit, die man ihm thun kann, wenn man ihm Gottes Bann und Verdammnis ankündigt.

 So ist es mit allem, was dies Evangelium im Einzelnen sagt; es muß, wie die einzelnen Lehren der Bergpredigt alle, nicht allzubuchstäblich, sondern nach Sinn und Zusammenhang des göttlichen Wortes begränzt und gemäßigt werden. – Nicht alles durchzugehen, ist hier Raum. Aber nur noch an das Vergeben werde erinnert. Du würdest den Befehl: „Vergebet!“ völlig falsch verstehen, wenn du deinem Nächsten vergeben wolltest, was er an Gott oder an andern, als an dir selbst, gesündigt hat. Du kannst allein für dich barmherzig im Vergeben sein. Du bist in fremdes Gebiet eingefallen, wenn du deinen Nächsten für andere Sünden entschuldigst, als für an dir begangene. Ja nicht einmal, was an dir begangen, darfst du vergeben, als müße deinem Nächsten hauptsächlich an deiner Vergebung gelegen sein. Vergiß nicht, daß auch für das, was an dir gesündigt wird, der Spruch gilt: „An Dir alleine (o HErr) habe ich gesündigt.“ So weit es dich angeht, sei barmherzig, zürne nicht, dulde, trage. Aber wo dein Reich aufhört, da maße dir das Recht, zu begnadigen, nicht an; sondern bedenke, daß dir auch geschrieben steht zum Vorbild: „Ich haße ja, HErr, die Dich haßen!“ Auch hier ist eine Grenze der Barmherzigkeit!


Am fünften Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 5, 1–11.

 NImm, freundlicher Leser, aus diesem Evangelium einige Lebensregeln willig auf.

 1. Aus dem Benehmen des weisen und barmherzigen Heilandes, der die geistliche Noth des Volks und die leibliche Noth Petri sah, aber jener zuerst abhalf, diese durch Verzug scheinbar erhöhte, sehen wir, wo das Heil anfangen muß, wo auch unsere größte Noth ist, – an der Seele!

 2. Petrus hatte an seiner Fischerei einen göttlichen Beruf; aber wenn er ihn und die Gnade Gottes nach der Menge des äußeren Segens in jener Nacht hätte erkennen wollen, so würde er zweifelhaft geworden sein. Jeglicher Beruf, welcher nicht (wie z. B. der des Tanzgeigers) dem göttlichen Wort und Reiche widerstrebt, ist heilig an sich selbst und ein Trost der Seele, auch wenn man dabei darbt.

 3. Der Segen und das Maß des Segens im Zeitlichen ist des HErrn und über jeden Menschen verschieden. Es gibt mancherlei Maße der Gabe, aber einen Geber, – mancherlei Menschen, aber nur einen gnädigen HErrn. Nicht im Maße äußerlicher Fülle, sondern in der gewissen Botschaft von Seiner Gnade, die beßer ist als Leben, liegt unsre Freude. Was ist die Fülle des Gottlosen? Unsegen, wenn du’s faßen willst. Aber die Brotrinde des Gläubigen ist Segen und goldene Zeit, denn Glaube und Unglaube ändern alle Dinge nach sich selber um.

 4. Aeußere Fülle ist Segen, wenn die Erkenntnis| deines Unwerths durch sie gewirkt wird. Feurige Kohlen sind Gottes Wohlthaten auf dem Haupte Seiner Kinder und Seiner Feinde. Sie verbrennen den, welcher nicht erkennt, von wannen sie kommen, und was sie sollen. Sie wirken aber heiße Andacht der Buße bei denen, welche sie erkennen.

 5. Demuth ist auch Größe. „Wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß.“ Demuth ist groß genug, auch wenn nicht, wie bei Petrus, eine äußerliche Größe des Berufs dazu kommt. Demuth ist so groß, als etwas sein kann, in den Augen Deß, der auf’s Niedrige sieht und Hoffahrt haßet. Ein umgekehrtes Wesen des natürlich hoffährtigen Herzens ist der Adel der heiligen Kirche, welcher auch den Hoffährtigen Ehrfurcht abnöthigt, wenn er ohn Unterlaß blüht und duftet in seiner Art.

 6. Petrus wechselt den Beruf. Aus dem Fischer wird ein Menschenfischer. Nicht immer also ist Wechsel des Berufes Untreue gegen den HErrn. Es kann göttliche Gründe des Wechsels geben. Aber sieh wohl zu, es sind nicht viele, die der HErr zu Seinen Zeiten zu anderem Berufe bestimmte. Nicht die Unfruchtbarkeit des Netzes ward für Petrus ein Grund, den Beruf zu wechseln, – sondern das Wort des HErrn. Wird dirs deutlich sprechen? Spricht vielleicht dein Gott: „Gedulde dich, Mein Segen und Lohn kommt bald!“? Es ist ja Seine Weise, zu sprechen: „Die Einsame wird mehr Kinder haben, denn die den Mann hat.“

 7. Alles verlaßen und Ihm nachfolgen: ists schwer, ists leicht? Jedenfalls schwerer ist: „Nichts verlaßen und Ihm nachfolgen!“ Was ists, wenn Petrus seine Hütte, sein Schifflein, sein Netz verläßt, um in Seiner sichtbaren Nähe, bei Seinen Worten des ewigen Lebens, dazu an Seinem Tisch zu sein, aus Seiner Fülle zeitlich und geistlich Gnade um Gnade zu nehmen? Aber bleiben in dem, darin man berufen ist, bei der väterlichen Hütte, dem Schifflein, dem Netz, – Ihn nicht schauen, und doch bei Ihm sein, an Ihm hangen, nur Ihm leben! Welch eine Freiheit, welch ein Wunder! Lehre uns, lieber HErr, was Du uns befiehlst, beim Gütlein bleiben und Dir nachfolgen! Und wenn Du befiehlst, alles zu laßen, und aus Deiner unmittelbaren Hand gespeiset, getränket zu werden, seis in Verfolgung – oder im Tode, so lehrs uns auch, damit wir allewege Dein seien!


Am sechsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 5, 20–26.
 ES ist auffallend, wie viele Menschen sich eigener Gerechtigkeit rühmen. Nicht bloß Ehrbare und Rechtschaffene rühmen sich, sondern auch solche, die offenbar in groben Sünden wandeln. Rühmt sich doch auch der Trunkene, der Ehebrecher, der Dieb! – Woher dies so allgemeine Rühmen! Ganz offenbar daher, daß man einen zu kurzen Maßstab an sich selbst legt, und deshalb sich größer vorkommt, als man ist. Ein jeder thut mit sich, wie jener Betrüger mit dem Zwerglein Gernegroß. Während das Zwerglein im Bade sitzt, schneidert ein Schneider die kleinen Kleider noch kleiner, – und siehe, das Zwerglein hüpft vor Freuden, daß er größer werde. – Ein jeder braucht zwar, darf man seiner Versicherung trauen, die zehen Gebote Gottes zum Maßstab und Prüfstein seines Lebens; aber die Versicherung ist doch nicht völlig wahr. Mancher legt die zehn Gebote buchstäblich, nur aufs äußere Leben aus – dann fordern sie freilich nur Erreichbares und man kann ihre Früchte vom Baume des alten, pharisäischen Menschen lesen; aber damit hat man eben den Maßstab nur am Griff, nicht an der wahren Ausdehnung erkannt. Ganz anders wird die Sache, wenn man den Sinn der Gebote nach den Auslegungen JEsu in der Bergpredigt, wenn man ihn in der Weise faßt, wie er im heutigen Evangelio bezüglich des fünften Gebots gefaßt wird. Da wird jedes Gebot ein heller, lichter Strahl, der von der hohen Sonne bis in den tiefsten Schlund der Erde dringt: – das ist dann ein Maßstab, für den zu kurz und klein ist, wer unter der Sonne wandelt. Der beschämt jeden Hochmuth und legt ihn in der Vernichtung Staub. – „Tödte nicht!“ Aeußerlich gefaßt, spricht dies Gebot viele heilig. Aber: „zürne nicht“, „schilt nicht zornig“, „schilt nicht in grimmiger Verachtung deinen Gegner!“ Das lautet anders! Da wird von| der Wurzel bis zur Frucht alles Gewächs des Menschen visitirt, – da wird Vollkommenheit gefordert von der Wurzel bis zur Frucht! Wo ist der eitle Thor, dem bei solchen Forderungen das Rühmen nicht vergeht? Wie verblendet muß der sein, wie unnatürlich, vom Fürsten der Finsternis verblendet, der sich solchem Maßstab gerecht fände! O HErr, mein Gott! Wie unbillig, wie ungerecht, wie leicht und leichtsinnig, und doch wie hart, wie oft, wie lange zürnen und grollen wir, haben Kummer und Unruhe zum Lohne hier, – denken an Deine heiligen Drohungen, an die Strafen jener Welt, an Gehenna, – an die Flucht des Lebens, das uns der Ewigkeit entgegenträgt, – denken dran und glaubens nicht und beugen uns nicht, trotzen auf den kleinen, kurzen Maßstab, wenn sich gleich vor unsern Augen Dein Maßstab aus dem Himmel streckt! HErr und Heiland meines Lebens, erbarm Dich meiner, züchtige mich durch den Geist des Gesetzes, nicht, daß ich klein sei, denn das bin ich, aber daß ich mich in meiner Kleinheit erkenne und durch Demuth die Gerechtigkeit beginne, welche beßer ist, als der Pharisäer Gerechtigkeit! Kyrie, eleison!
Am siebenten Sonntage nach Trinitatis.
Marc. 8, 1–9.

 SEhr ähnlich ist dies Evangelium dem des Sonntags Lätare, und doch so verschieden, daß man nicht sagen kann, es komme einerlei Geschichte im Kirchenjahre zwei Mal vor. Außer der verschiedenen Zeit und der augenfälligen Unterschiede, z. B. in der Anzahl der Gespeiseten, erinnere ich dich, mein Leser, daß hier eine reine Wundererzählung, dort ein Wunder im Zusammenhang himmlischer Lehren zu finden ist, – daß hier das Volk, dort mehr die Jünger vom HErrn im Auge behalten werden. Doch auch abgesehen von Verschiedenheiten, laßen sich aus dem reichen Schatze des Evangeliums gar manche Gedanken hervorholen, die für mehr als eine Predigt Seelenspeise reichen. Erlaube mir, in Kürze dir einige zu sagen:

 1. Verlegenheiten des zeitlichen, wie des geistlichen Lebens sind auch in JEsu Nähe und Gegenwart möglich. Es ist kein Beweis, daß Er nicht bei dir ist, oder dein nicht achtet, wenn du in Wirren und Verlegenheiten kommst. Er hat ja den Seinen auf Erden nirgends ein ungetrübtes, angstloses Leben verheißen.

 2. Aber Er bemerkt jegliche Verwirrung und Verlegenheit in ordnender Liebe. Der Lilien und Sperlinge denket Er, – und nichts ist Ihm klein. Wie sollte Ihm denn der Mensch klein sein und Seinem Gedächtnis der entgehen, für den Er starb, Er – starb!

 3. „Ihn jammert des Volks!“ Nöthen, die Er sieht, fühlt Er auch. Er kann Sich, weil Er Mensch geworden, in jegliche menschliche Lage versetzen und fühlt für alle. In Seiner Brust lebt eines jeden Menschen Leiden. Alle sind Ihm vor Augen, Ihm im Herzen, Ihm zu Schmerzen. All’ unsre Krankheit, all unser Mangel ficht Ihn an, wie uns, – denn Er lebt für uns, fast möcht ich sagen, Er lebt ganz in uns, und Er leidet all unser Leiden mit!

 4. Er bemerkt alles, Er fühlt alles, was Er bemerkt – Er, der selige HErr, vertreibt mit freudenreicher Hilfe alles, was Ihn und uns schmerzt. Er verwandelt Leid in Freude. Er kann nicht anders. Denn Er ist Einer, und alles in Ihm ist Harmonie: Licht, Wärme und Leben, – Noth erkennen, Noth fühlen, Noth heben und dann freudig ruhen ist Seine Art.

 5. Allewege ist Er so. Wo man aber um Seinet- und Seines Evangeliums willen in Nöthen und Verlegenheiten kommt, da ist Er mit doppelter Inbrunst da. Er beweist ohn Unterlaß den Seinigen, daß Seelensorge den Leib nicht versäumet, selbst dann nicht, wenn sie Zeitversäumnis mit sich bringt. Er säumt nicht, deinen Leib zu versorgen, wenn auch du bei Ihm säumest und verweilst. Ehe du bittest und rufest, steht dein Bedürfnis zu Handen. Die stumme Noth der Seinen ist ein lautes Gebet zu Ihm – die noch unerkannte, kommende Noth ist schon erhört bei deinem reichen Gott. – Säume nur bei Ihm und erfahre es, auf daß du stark werdest im Glauben und Ausharren bei Ihm!


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Am achten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 7, 15–23.

 SIe wollen es nicht haben, daß man auf die Verschiedenheit unter den Lehrern aufmerksam macht. Man soll alle gewähren laßen. Alle predigen Gottes Wort. Ruhestörung, Fanatismus muß es sein, wenn man irgend einen falschen Lehrer bei seinem Namen nennt. Allgemeines Mitleid wendet sich dem zu, welcher, sei es auch noch so gerecht, ein falscher Lehrer genannt wird. Es thut ja dem Manne so wehe, sich so genannt zu sehen! Ists auch einer, wills doch keiner heißen. Warum (?) denn dem Menschen weh thun? Thuts dir auch selbst wehe, wenn du einem andern, einem falschen Lehrer weh thust, durch Wahrheit: wer fragt nach deinem frommen Wehe? Im Gegentheil, es wird heißen: deine Bosheit ruhe nicht, du müßest dem Nächsten weh thun, wenn es dir gleich selbst weh thue. – Ach! wie zart geht man mit Joseph’s Schaden um, wie pflegt, wie hätscht man die tödtlichen Geschwüre, wie schaudert man vorm Arzte! – Eine wunderliche Zeit, die Person und Sache so trennt, daß sie die Sünden für Sachen nimmt, und dem Sünder seine Sache nicht entgelten laßen kann! Eine liebelnde – liebeleere Zeit!

 So war Paul Gerhardt nicht, der fromme Sänger, deß Lieder Liebe athmen, der in seinem Sang so ungestört von Haß in Liebe sich ergießen – und doch nimmer-, nimmermehr drein willigen konnte, falsche Lehrer um ihrer Lehre willen unangetastet zu laßen! Weil er liebt die Wahrheit, haßt er die Lüge. Das geht Hand in Hand. Weß aber das Herz voll ist, geht der Mund über. Wer schweigen kann vor der Lüge, ohne daß seine Gebeine verdorren durch sein Schweigen, der liebt nicht, liebt die Wahrheit nicht. Wer seine Brüder in Gefahr der Lüge sehen und schweigen kann, liebt weder Wahrheit, noch Bruder! Gleichgiltigkeit gegen Lehrer, falsche Lehrer, ist – erlaube, Leser! – ist Lieblosigkeit!

 Oder lehrt dies Evangelium anders? Will der HErr nicht Selbst, daß man die falschen Lehrer erkenne, also von den frommen Lehrern scheide? Scheidet Er sie nicht Selber? Wölfe – Dornen, Disteln, faule Bäume nennt Er die einen. Schafe – Weinstöcke, Feigenbäume, gute, fruchtbare Bäume nennt Er die andern. Jenen schreibt Er Raub, arge, giftige Früchte, – diesen Segen, köstliche Früchte, Trauben, Feigen zu. Heißt das nicht scheiden, heißt das nicht kräftig scheiden und mit scharfem Worte? Ist der liebreichste Menschensohn etwa wie die Kinder unserer Zeit? Hat der mitleidigste unter allen Menschen etwa unserer Zeiten eigennütziges Mitleid? Mit nichten! Feind ist Er jeder Verhüllung der seelengefährlichen Lehrer. Seine Hand reißt jeden Schafpelz ab! „Wer böse ist, der sei immerhin böse, und wer fromm ist, der sei immerhin fromm“, das ist Seine Regel. Harmonie des Innern und Aeußern, Ganzheit, Mannheit, kenntliche, deutliche Früchte will Er – und für das alles ein helles, vorurtheilsfreies, heiliges Auge Seiner Liebeskinder, Seiner Jünger! Offenen Kampf will Er, wie er zwischen Himmel und Hölle ist! – Kannst dus anders nehmen? Mir springt es so klar in die Augen, – ich sehe dabei die flammende Liebe und die leuchtende Wahrheit einig, und rühme die Wahrheit in Liebe, die Liebe in Wahrheit!


Am neunten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 16, 1–9.
 ANfangs des 15. Kap. wird uns erzählt, daß die Pharisäer über JEsu gnädiges Benehmen gegen die Zöllner und Sünder aufgebracht waren. Den Pharisäern zu Lehr und Strafe, den Zöllnern zu Trost und Ermunterung ihres Glaubens, erzählt hierauf der HErr im Fortgang des 15. Kap. von dem verlorenen Schafe, dem verlorenen Groschen, dem verlorenen Sohne. Damit aber die Zöllner Seine heilige| Mildigkeit nicht misbrauchen, nicht bei allen ihren Sünden sich etwa über die Pharisäer erheben möchten; so gibt ihnen der HErr in unserm Evangelium eine ernste Vermahnung zur Heiligung, und das Gleichnis, welches Er zu diesem Ende wählt, ist an und für sich selber demüthigend genug. Er theilt, uns zum Vorbild, Gottes Wort recht, gibt Pharisäern und Zöllnern je ihr bescheidenes Theil.

 Indem Er die Zöllner mit dem ungerechten Haushalter, der seiner wohlverdienten Armuth durch Sünden abhalf, vergleicht, und in der geschilderten Untreue des Haushalters der Zöllner Handel und Wandel schauen läßt, nimmt er ihnen alle Möglichkeit, sich mit den Pharisäern zu vergleichen und um der Liebe JEsu willen über sie zu triumphiren. Er nimmt ihnen alles, damit ihnen ja nichts, als Seine Huld und Gnade übrig bleibe. Er verhindert sie aufs Gründlichste, Seine Freundlichkeit unheilig sich zur Entschuldigung auszudeuten. Es stehen also die Zöllner in ihrer wahren Gestalt auch vor den Pharisäern so deutlich und offenbar, daß auch sie nur durch Bosheit in der Misdeutung der Sünderliebe JEsu beharren konnten.

 Indem Er von der Rechenschaft des ungerechten Haushalters spricht, zeigt Er den Zöllnern, was ohne Sein gnädiges Dazwischentreten ihrer warten würde, was trotz Seines Dazwischentretens ihrer dennoch wartet, wenn nicht Seine Liebe in ihnen die Heiligung erzeugt, ohne welche niemand das gnädige Angesicht des HErrn schauen kann. Was Sein Urtheil über ein sündlich Leben sei, wird daraus für Zöllner und Pharisäer klar. Kein Zöllner kann Seine Gnade auf Muthwillen ziehen, kein Pharisäer kann sie unheilig nennen.

 Indem Er am Haushalter die schlechte Klugheit der Kinder dieser Welt zeigt, sich auf fremde Kosten das zeitliche Fortkommen zu erhalten; deutet er den Zöllnern vor den Ohren der Pharisäer noch einmal an, daß er ihren Reichtum für fremdes Gut, für ungerechten Mammon ansehe, – und zeigt ihnen an des Haushalters Beispiel, wie sie, als begnadigte Sünder, als neugeborene Kinder des Lichts, weislich mit dem unrechten Gute umgehen und den Fluch des siebenten und ersten Gebotes (denn Gott und Menschen hatten sie durch Habsucht und Verschwendung betrogen) von sich wenden sollten. Er zeigt ihnen des bösen Beispiels richtigen Gebrauch – und wie ungerechter Mammon nach erlangter Vergebung zu Gottes Wohlgefallen angewendet werden könne. Er lehrt sie die allezeit mögliche Wiedererstattung des Gestohlenen an die Armen – und unterweist erfahrene Sünder in der Kunst begnadigter Sünder, aus der Erinnerung eigenen und fremden bösen Beispiels, wie aus Giftblumen, Honig saugen, – Es ist kein Gleichnis, wie dieses, welches so aus Bösem Gutes nehmen lehrt, – und zwar auf eine eben so beschämende, als ermunternde Weise. Dies aparte Gleichnis hat viele, die nicht vorn herein JEsu Worte für erhaben über alle Zweifel halten, zu Zweifel und ängstlicher Frage verführt, – so klar es ist, so einfach die Methode: „Aus Bösem lerne Gutes, der du dem Guten nachjagst“ – aus demselben in die Augen springt.

 Indem Er des ungerechten Haushalters ungerechte Freunde zeigt, die ihn um seines Betruges willen in ihre Häuser aufnahmen, – verweist er auf die Armen, welche durch Wohlthat, sei sie auch von ungerechtem Gute, gerechte Freunde werden und dem gebeßerten Sünder helfen können beten, daß er nicht verworfen, sondern aufgenommen werde in die ewigen Hütten. Er zeigt hin auf Den, welcher durch Arme dem Reichen die Möglichkeit zeigt, Ihm Selbst zu dienen, – welcher als Sich, gethan ansieht, was man den Armen thut, und durch Arme Selber dankt und für die Armen Dank bezahlt. Er verheißt den begnadigten Zöllnern, die Barmherzigkeit üben, daß Er mit den Armen eines Sinnes sein und die Wohlthäter der leidenden Menschheit, die begnadigten Zöllner, so gewis aufnehmen werde ins himmlische Vaterhaus, als dankbare Arme ihren Wohlthätern eine offene Thür des Himmels gönnen. Er verheißt den begnadigten Zöllnern Seine ewige Gnade unter dem Dankgebete armer Leute auszutheilen, wie einen Lohn, – und den armen Leuten verheißt Er, auf ihr Beten, unter ihrem Danken ihren Wohlthätern den Dank zu bezahlen, den sie aus eigenem Vermögen nicht bezahlen könnten. Er macht sie zu Thürhütern an den ewigen Hütten, den vielen Wohnungen, die Er bereitet und gegründet hat mit Seinem Blute, – und zeigt dem reichen Mann in seinem Leben einen Lazarus, neben welchem er in Abraham’s Schooße liegen kann. –

|  O wunderbarer Heiland! Wunderbar in allen Deinen Werken! Selig werden wir alle nur durch Dein Versöhnen – der eine aber, der hier mit bußfertigem Sinne Freude im Geben fand, soll dort die demüthige Freude des Nehmens inne werden; und der andere, der hier nur nehmen konnte, soll dort von Dir, wie hier Kindlein von ihren Aeltern, ermächtigt werden, mit Dir aus Deinen Schätzen wohlzuthun und zu erfahren, daß Geben seliger ist, als Nehmen. Eines von beiden gönne auch mir, denn es ist beides seliges, wonniges Thun!
Am zehnten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 19, 41–48.

 WEnn Er weint, der im Besitz des ewigen Lebens ist, so muß große Ursache zu weinen sein. Ja, worüber Er weint, das ist große Ursache zu weinen! Ob du für beweinenswerth hältst, worüber Er weint, das ist die Frage. Aber das ist keine Frage, daß der nicht weiß, worüber zu weinen ist, der gleichgültig sein und wohl gar lachen kann über das, worüber er JEsum weinen sieht. Vernimm nun, worüber JEsus weint und prüfe dich!

 JEsus weint: 1. über Jerusalems und des jüdischen Volkes zukünftiges Schicksal, über sein schreckliches Ende durch der Römer Hände.

 JEsus weint: 2. über die gedoppelte Blindheit Jerusalems und der Juden. Denn sie sahen nicht die zukünftige böse Zeit, – und sahen nicht die vorhandene gnädige Zeit der Heimsuchung.

 JEsus weint: 3. über die tiefe, epicurische, gewißenlose Sicherheit, durch welche Juda untüchtig ward, zu bedenken und zu berathen, was zu seinem zeitlichen und ewigen Frieden diente.

 JEsus weint: 4. über die Vers 46. angedeutete Verachtung der Gnadenmittel, welche ihnen im heiligen Dienste des Tempels angeboten, von ihnen aber durch Verwandelung des Tempels zur Mördergrube und zum Kaufhaus, durch Unterordnung des Ewigen unter die zeitlichen Interessen unwirksam gemacht wurden. Denn nur die gnadenhungrige Seele erkennt den rechten Brauch der Gnadenmittel.

 JEsus weint: 5. über die Vers 47. 48. angedeutete Verachtung Seiner allerheiligsten Person, welche doch allein, alleine vor allem Uebel bewahren, aus allem Elend retten konnte. Mit der Verwerfung des einigen Sühnopfers für ihre Sünden verwerfen sie erst recht ihr Heil, weihen sie sich selbst zum Untergange.

 Jerusalem ist überall in der Welt. Ein Untergang harrt ihrer, gegen welchen Jerusalems Untergang klein ist. Ach, die Welt ist überall blind und sicher, erkennt Seine Gnadenmittel und Seine Person nicht. Oft herrscht bei uns unter dem hellen Schein der Gnaden eine dunkle, verantwortungsvolle Nacht. Die Thränen JEsu über Jerusalem kommen über uns! Ach, daß die Sichern aufgeweckt, die Lauen eifrig, die Frommen beständig und alle voll heiliger Furcht würden nach dem Worte des HErrn: „Bei Dir ist die Vergebung, daß man Dich fürchte!“


Am eilften Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 18, 9–14.
 EIn Pharisäer steht vor unsern Augen, ein abschreckendes Beispiel! Oder was ist abschreckender, als wenn der Sünder sich für gerecht hält, wenn er, mit seinem Herzen unbekannt, mit einzelnen scheinbar guten Werken, wie das Kind mit Rechenpfennigen, wie der Reiche mit Münzen spielt und sich am schmutzigsten Glanze weidet, – wenn er von seinem eigenen vermeinten Werthe geblendet, wie ein Narr im Strohkranz, voll Verachtung auf andre Leute, voll Stolzes selbst zu Gott im Gebete aufschaut? Ach, nicht ärmer erscheint der Arme, als wenn er seiner Lumpen und gesammelten Brodkrümlein sich rühmt, – nicht häßlicher die Häßliche, als wenn sie Anspruch auf Schönheit erhebt, – nicht närrischer der| Narr, als wenn er anfängt zu predigen! Ein Schauer fährt über mein Gebein bei dem Gedanken, daß solcher armer, koketter Narren viele sind im menschlichen Geschlechte, daß in jeder Brust der alte Adam, wie der Pharisäer im Tempel, steht und seines Falls vergeßend, das eitle Possenspiel vom Pharisäer aufführt.

 Es ist höher am Tage in der Welt. Wir sind ja im neuen Bunde. Eine beßere Gerechtigkeit ist uns kund gethan, als die der Pharisäer, – eine inwendige Herrlichkeit des verborgenen Menschen ist uns geoffenbart: die Demuth und die Hoheit, die Armuth und der Reichtum, die Einfalt und die Weisheit, ungefärbtes, ungefälschtes Wesen und Schlangenklugheit, Schwachheit und Kraft vereinigt! – Und denke: auch mit dieser Herrlichkeit kann man kokettiren, auch mit ihr liebäugeln, auch auf sie eingebildet sein, andere verachten und mit Stolz zu Gott aufblicken wie ein erstgeborner Sohn. Sie rühmen sich demüthig zu sein, da sies nicht sind etc. Hast dus nie vernommen, das Wort, das aus den Wolken fallen macht, das wie mit einem gewaltigen Blitze die ganze verrückte Bosheit des Menschen offenbart, das Wort des Bauers und Königs: „Ich bin gewis demüthig, aber“ etc.? O Du, der Du so wohlthuend unsern Seelen zusprichst: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demüthig“, der Du so sagen durftest und keiner mehr, welche Pharisäer sind in Deinen Tempeln! Laß mich doch den Zöllner sein!

 Ein Zöllner, ein Sünder, – ein Armer, nicht in bettelstolzen Lumpen mit dem Brodsack, nein ein nackter, hungriger, zerknirschter Mensch steht vor Dir, welchem die Betrachtung seiner Seele alle Sprache raubt, daß ihm nur fünf Worte noch übrig bleiben: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ Der vergleicht sich mit keinem mehr, er steht vor Gott, und das Auge Gottes in seiner Seele, das vom Geist erleuchtete Gewißen, spiegelt ihm Gottes Herrlichkeit und seine eigne Häßlichkeit im vernichtenden Contraste ab! Ach er wagt nicht aufzuschauen, er schämt sich vor Gott! Er sagt nicht, was er alles gesündigt hat, aber er schlägt an seine Brust, er weist auf sein Gewißen und hält sich göttlicher Schläge werth. So schlug schwerlich je ein Priester beim Beginn der Messe an die Brust; so beredt sprach kein Priester sein lautes mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa,[1] wie dieser schweigende Büßer, der gerne in den Erdboden, nicht bloß an ihn hin gesunken wäre. – Wie schön bist du, o Tod, Tod des alten Menschen, – wie innig, wie wahr, wie groß ist dein Schmerz! Du bist des Lebens Vorbote, oder soll ich dich den Schatten des schon vorhandenen neuen Lebens nennen, oder lieber den Anfang des neuen Lebens selbst? – HErr JEsu, wer so stirbt, der lebt, – wer so sich erniedrigt, der wird erhöhet, der ist ein Kind und eine Werkstatt des Heiligen Geistes, in ihm ist mehr wahre Gerechtigkeit, als in allen stolzen Pharisäern. – HErr, darum laß mich der Zöllner sein!


Am zwölften Sonntage nach Trinitatis.
Marc. 7, 31–37.
 TAub und stumm sein, zwei correspondirende Uebel, deren jedes allein schon genug ist, einen Menschen unglücklich zu machen. Beide zusammengenommen sind sie ein größeres Unglück, als jedes andere. Wie einsam ist der Taubstumme in der Welt, die lieblichsten, geistigsten Verbindungsmittel zwischen ihm und andern fehlen ihm. Der Laut ist der Seelen und alles Lebens wunderbarstes, verständlichstes Zeugnis. Was ist dir ein Vogel ohne Gesang, – ja, was ist dir ein Thier ohne Schrei! – – Und was stumm ist in der Welt, ists nicht, als würde es dir näher gerückt, wenn ihm, seis auch nur durch Gewalt, ein Laut entrißen wird. Der Baum im Winde, das Waßer im Fall der Tropfen – sie sind uns näher, als der Wald, wenn er im heißen Mittag schweiget, und der Teich, wenn er stumm des Himmels Bild abspiegelt. Nichts in der Welt, auch nicht der Geruch, dieser erinnerungs- und ahnungsvolle Sinn und Hauch, ist uns verwandt wie der Laut. Ach, wo es lautet, da lebt es, – und ein Paradies ist unheimlich, wo kein Ohr und keine Zunge nützt. – Und nun der Taubstumme, er ist überall in stummer Wüste,| – er gleichet dem, der in Gesellschaft von Leuten ist, wo man eine fremde Sprache redet; es ist, als rede man von ihm und gegen ihn, oder als achte man sein nicht. Die Welt scheint nicht für ihn!

 Und der Himmel und sein Heer und sein HErr scheinen nicht für ihn. Der Heerschaaren Lobgesang, der Psalm der pilgernden Gemeinde, das Wort, das unsre Seelen selig macht, die Absolution, die uns erfreut in der Mühe und Angst der Welt, der Segen, der uns wie ein Schild des HErrn gereicht wird, uns zu decken vor Unfall, das Sacrament, welches durch Wort und Zeichen wird, – alles Heil scheint verschloßen dem Tauben, Stummen. – O wohl muß da das Erbarmen erwachen! Wohl soll man den Taubstummen zum Helfer bringen, und wäre er noch so weit! Und der Helfer, – wohl darf Er erbarmungsvoll seufzen und zum Vater aufschauen, denn es ist großes Elend, darüber Er Sich erbarmt.

 Und sieh, wie wunderlich hilft Er! „Er legt ihm die Finger in die Ohren, und spützet und rührt seine Zunge.“ Der Taubstumme weiß, daß er zum Helfer geführt worden ist: er fühlt die Finger, die Ohr und Zunge rühren, und den Speichel des HErrn. Dieses Fühlen zeigt ihm, daß der Helfer helfen will und Hand anlegt, und in ihm regen sich Hoffen und Glauben, sein Sehnen vereinigt sich mit des HErrn Wollen. So gespannt war seine Aufmerksamkeit nie, so ganz Ohr (wenn man das vom Taubstummen sagen dürfte) war er nie als unter den Händen und der Berührung des – Allmächtigen. Ja, des Allmächtigen in Menschengestalt, des Gottes, der Menschheit an Sich nahm, des Gottes, der gern in verständlichen Hüllen und durch kenntliche Mittel dem armen, unverständigen Menschen naht. Er hätte wohl ohne Seiner Hände Ausstrecken, ohne die Berührung Seiner Finger, ohne Benetzung Seines Speichels helfen können. Er hätte, ehe der Taubstumme kam, wollen können in der Heimlichkeit Seines Raths, und Gehör und Sprache würden dem Armen gekommen sein. Aber so will Er nicht. Er vereinigt Sich mit der Menschheit, um die Menschheit zu befreien, und theilt nun alle Seine Hülfe nicht ohne die Menschheit mit. Er zeigt die innige Vereinigung Gottes und der Menschheit in Seiner Person, und was aus der Menschheit in der Gemeinschaft werde, welch eine Trägerin und Offenbarerin Gottes die Creatur, welch ein herrlich Kleid Seines Wesens sie werden könnte. Es möge Ihm gelingen uns völlig mit Ihm zu vereinen, aus Himmel und Erde Eins zu machen, wie es im Anfang, ja mehr, als es im Anfang war.

 Und sieh, wie weiter! Die Berührung, der Speichel – sie bringen allein noch keine Hülfe, sie müßen erst mit Hülfe erfüllt werden. Sein Auge geht gen Himmel, Sein Herz seufzt und hebt den Stein des Uebels – und Hephata spricht Er, da ists gethan. Seine Werke geschehen durch Sein Wort. Das macht Seines Fingers Rühren, Seines Speichels Netzen zur gewaltigen Hülfe, gleichwie durchs Wort im Sakramente das Element zur Schechina, zur Hülle und Offenbarung Gottes wird. – Gelobt seist Du, o JEsu! wenn Du sprichst, Dich werden die Todten hören, warum sollen Dich die Tauben nicht vernehmen? Dich vernehmen sie! Deine Stimme ist bekannt! Erbarme Dich, sprich zu denen, die taub sind im Geiste, daß sie hören, und die nicht reden, wie Du und wie Dirs gefällt, die sprich an, daß sie lernen, was sie, wie der Taubstumme, nie gelernt, noch gekannt, reden, – vor Dir, in Dir, von Dir! Dann soll Dir im Himmel und auf Erden gesprochen werden, wie durch großer Waßer Rauschen der Lobgesang: „Er hat Alles wohl gemacht, die Tauben macht Er hörend und die Sprachlosen redend!“


Am dreizehnten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 10, 23–37.
 BRuderliebe und gemeine Liebe sind verschieden. Aber es kommt eine aus der andern. Doch kommt nicht die erste aus der zweiten, sondern die zweite aus der ersten, wie auch St. Petrus 2. Brief 1, 7 ausdrücklich sagt: „Reichet dar in der brüderlichen Liebe allgemeine Liebe“! Wer die erste hat, der wird die zweite zugleich haben, und es bedarf nur, daß sie ihm durch Gottes Licht gezeigt, durch Gottes Wort erweckt werde, damit er sie benütze. Die brüderliche Liebe aber ist nichts anders, als die Liebe| der Kinder Gottes untereinander. Gleichwie aber Brüder irdischer Art dadurch in Liebe zusammengehalten werden, daß sie von Einem Vater abstammen; so ist die himmlische Brüderschaft durch das lebendige, fröhliche Bewußtsein, in Christo Gottes Kinder zu sein, gegründet. Wer Christum nicht gesehen, nicht gehört hat (Vers 23.), der ist viel weniger durch Ihn zum Vater und also zur Kindschaft und Bruderschaft gekommen; denn niemand kommt zum Vater, denn durch Ihn. So wir aber durch Ihn zu einem unsterblichen Vater und zu unsterblichen Brüdern gekommen sind; so leben wir in der Liebe, von welcher der Pharisäer recht geantwortet hat (Vers 28.), so stellen wir dann auch nicht mehr die Frage: „Wer ist mein Nächster?“ sondern wir fragen nach JEsu Sinn: „Wem bin ich der Nächste?“ oder wir beantworten die erstere Frage im Sinne der zweiten: „Der ist mein Nächster, dem ich am nächsten bin, der mein bedarf.“ Ach, wie viele liegen im Thränenthal, geschlagen von Mördern einfach und doppelt! Sieh die Unglücklichen, die leiblich geschlagen sind an Gut und Leib, die Armen und die Kranken: wie viele Augen sehen dich an, darum, daß du der nächste bist. Doch, denen hilft man gerne, die sind nur einfach, nur leiblich und im Zeitlichen geschlagen. Es sind dies die sichtbaren Nächsten, wenn man sie so nennen darf, weil ihr Elend und ihr Anspruch auf uns augenfällig ist. Aber es gibt noch andere einfach Geschlagene, sie sind unsichtbar, denn ihr Elend entzieht sich den Augen, daß sie dabei glücklich und fröhlich sein können. Ach, daß unsre Augen geöffnet würden, daß wir Mitleid lernten, wenn wir das weite, große Thränenthal, die zahllosen Geschlagenen und ihre zahllosen Wunden sähen! Wir würden rufen: „Ach, daß ich Waßers genug hätte und meine Augen Thränenquellen wären!“ Aber, so ist des Thränenthals jammervollster Anblick vor unsern Augen verborgen! – Dazu gibt es doppelt Geschlagene, – und sind ihrer denn nicht die meisten? Ja die meisten, obgleich es nicht scheinet. Es sind die Armen, die Kranken am Leibe, die durch die Mißethat ihrer Sünde also entstellt sind, von denen die Welt spricht, wie Gott von allen: „Das ist ihrer Sünde Schuld, daß sie so gestäupet werden!“ Die für Nächste zu erkennen, dringt das gedoppelte Elend und die doppelte Bedürftigkeit, – und der Welt Unbarmherzigkeit. Ach, diese sind von den Ihrigen, von den Kindern der Welt verlaßen, denn sie zeigens öffentlich, wie es in der Welt aussieht. Nach ihnen, nach ihnen strecke mit mir, mein Bruder, die Hand aus und laß uns derjenigen Nächster sein, die keinen Nächsten haben! Ach, es ist traurig, daß wir für diese Ermahnung so wenig Gehör finden! Es gibt so viele, die da sündigen, weil sie die Noth treibt, – so viele die in Noth sind, weil sie sündigen. Denk an die Huren, die um Brod sich zum ewigen Scheiterhaufen das Holz tragen! Wie viel in Städten, wie viele auf dem Lande sind ihrer! Schreit denn jedermann: „Hilf denen nicht, sie verdienens nicht!“ Will denn niemand barmherzig sein! Gibts denn bloß jenseits der heiligen Kirche barmherzige Samariter, barmherzige Brüder, Schwestern? Sollen wirs nicht alle sein? Sind wir denn nicht alle dem Orden vom guten Hirten zugehörig? Großer Gott, warum schämen wir uns zu helfen, die wir allein auf Gnade und Glauben, nicht auf Verdienst der Werke das Heil gründen?! Können denn allein die Werkrer gute Werke wirken? Brüder, Schwestern, seid am Sonntag des barmherzigen Samariters gebeten, beschworen, nicht unbarmherziger als der barmherzige Samariter zu sein, sondern barmherzig, wie JEsus, der uns alle aus tiefem Schlamm zu Seiner Reinigung zog, der Sich nicht scheut vor unserm Schmutze, sondern uns mit Seinem Blute reinigt! –
Am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 17, 11–19.

 ERlaube mir, geliebter Leser, dir zu diesem Evangelio einige kurze Erinnerungen zu stellen.

 1. Der HErr ist auf der Reise gen Jerusalem  – zum Tode. Von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorfe reist Er Seinem Todeshügel zu, ein Gedanke bewegt Seine Seele, Er vergißt ihn nicht, wird sein nicht satt, verliert durch ihn weder an Ruhe, noch an Heiterkeit: „Siehe, ich komme, zu thun| Deinen Willen.“ O Du freiwilliges Lamm Gottes, Hosianna! Gebenedeit seist Du! Du kommst im Namen des HErrn.

 2. Auf Seinem Wege ist Frühling. Wohin Er tritt, blühen wunderbare, südliche Blumen, die nur unter Seinem heißen Liebeshauch gedeihen. Sein Todesweg ist großer Wunder voll. Seine Kreuze bezeichnen Seinen Kreuzgang. Er, der vom Gedanken eines Todes erfüllt ist, den du zu denken eben so unfähig, als zu leiden bist, – Er freut Sich nicht allein mit den Fröhlichen, sondern hat Selber Freud und Leben in Sich, von denen Er alle Welt sättigt. – Freudenmeister JEsu! Meine Augen schauen Deine Wunder auf dem Todeswege nicht. Aber sie, Deine Wunder, sind mir doch nicht Samenkörner in dem Kasten der Samenhändler, nein, sie wirken in mir, sie machen, weil sie über alle Zweifel erhaben sind, in meiner Seele Frühling Deiner Nähe!

 3. Aussätzige begegnen Ihm, stehen von ferne, als hätten sie fürchten müßen, Er werde durch ihre Nähe verunreinigt und angesteckt. Sie kennen Ihn nicht! Ihn hat nie ein Uebel ergriffen, als das Er freiwillig an Sich nahm. Er naht allem Elend, Ihm naht keines. Ich bin aussätzig, aber Du bist bei mir. Du tauschest mir Deine Reinigkeit, und sie verzehrt meine Krankheit. Ich nahe mich Dir, ich fürchte mich nicht, ich weiß, Du heilst, Du reinigst mich!

 4. Sie erheben ihre Stimme, sie rufen laut – und vermögens nicht. So groß ist ihre Krankheit, daß sie die Stimme heisch macht und das Rufen der Seele nicht hervorbrechen kann in den Laut der Sprache. Ach, wie oft, wie oft, JEsu, Sohn David’s, bin ich so elend, daß meine Freunde mein Rufen und meine Seele ihr Beten nicht vernimmt! Aber Dein Erbarmen ersetzt mein Schreien. Dein Erbarmen vernimmt mein Elend, wenn nicht meine Stimme. Sei mir ferner über Bitten, erbarme Dich meiner, o JEsu!

 5. Er scheint sie nicht zu erhören. Zum Priester, der die Pflicht hat, die Reingewordenen rein zu sprechen, sollen sie gehen, zu ihm den Aussatz tragen. Es ist, als wäre es alles verkehrt. Was wird der Priester sagen, wenn sie aussätzig kommen. – So bin auch ich voll Aussatzes meiner Seele, und Du willst, daß ich, im Gefühle meiner Krankheit, im Drucke meiner Sünden, glaube, der Richter im Tode und am jüngsten Tage werde mich absolviren. Du absolvirst mich hier, während ich meiner Sünden Schatten nicht los werden kann, und verheißest mir dort auch eine Absolution. Wunderbarer JEsu! Du bist mein Priester und mein Richter, – mein Arzt und mein Heil: ich glaube, daß ich rein sei durch Dein Blut – wider mein Fühlen, und freue mich, daß meine Füße durchs Leben die Pilgerstraße zur Heimath gehen, daß sie stehen sollen in Jerusalems Thoren. Ich gehe, mein HErr, ich gehorche im Glauben, und indem ich gehorche, werde ich meines Glaubens Kraft erfahren – hier zu beständigem Gehorsam, dort zur Ueberwindung des Gerichtes.

 6. Samariter – gehorchen hier, wie irgend Juden, – üben gemeine Liebe, wie nirgend Juden, – sind dankbar, wie Juden nicht. Laß mich allewege dieser Samariter Beispiel folgen! vor allem aber, o lieber HErr, laß mich dankbar sein. „Es ist ein köstlich Ding, dem HErrn danken.“ Es ist so süß, es ist ein Vorschmack des Himmels, danken. Bitten ist gut, aber Danken ist Lied im höheren Chor. Danken ist Seligkeit. Laß mich dankbar sein, Du treuer Gott, daß ich bei Dir behalten werde und nicht in Undank mein gewonnenes Heil verliere. Ach, daß Du Dich nicht über meinen Undank wundertest, sondern über meinen Dank! Daß ich hier und dort Dein dankbarer Samariter wäre!


Am fünfzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 6, 24–34.
 ES ist unmöglich, eine Seele zu halbieren, – und eben so unmöglich ist es, die Liebe zu halbieren. Die Liebe und die Seele sind einfach und untheilbar. Es scheint wohl, als liebe Mancher zwei Dinge; aber genau besehen, liebt er doch nur Eins – und alles andere nur so viel, als es sich mit der Liebe zu dem Einen vereinigen läßt, – alles andere nur in der Liebe zu dem Einen. Nimm einem Liebereichen| das geliebte Eine, so weiß er nichts mehr liebenswürdig zu finden, und es offenbart sich, daß er alles andere nur in dem Einen liebte. Wer Eins recht liebt, der liebt alles andere so, wie das Eine von ihm geliebt wird; ist das Eine und die Liebe dazu rein, so findet die Liebe zu allem andern Maß und Reinigkeit, – und wenn das nicht, vermag er überhaupt keine Liebe. Und wer nichts liebt, der liebt Eins nicht, daher die ganze Lieblosigkeit. Es ist das Paradies mit aller seiner Lieblichkeit dem entnommen, der die hochgelobte Schönheit des Paradieses, den HErrn HErrn, aus Liebe und Seele verlor. Die Liebe zu Ihm ist Geheimnis und Fülle aller andern Liebe.

 Man kann viele Dinge lieben, welche dem einzigen Geliebten verwandt sind. Aber Gegentheile kann man nicht lieben. Unser Herz ist zu groß und zu klein, um eine Heimath des Guten und Bösen zu sein. Kämpfen können beide in uns; aber auch im Kampfe muß ein Sieg sein. Nur eins von beiden ist uns heimathlich, von Natur das Böse, durch Gnade Gott. Dies Eine, was heimathlich ist, überwindet das andere. Ja unsere Liebe dazu ist schon der Sieg, den es errungen hat. In dem Maße, als die Liebe für das Eine steigt, sinkt das andere in der Achtung. Wenn das Eine gesiegt hat, ist das andere mit unserm Haß belastet.

 Drum ist es ein Wort, welches nur für einzelne, ähnliche Handlungen gilt: „Dieses thun und jenes nicht laßen.“ Für das große Ganze des Lebens gilt dagegen das Wort: „Niemand kann zwei Herren dienen. Entweder er wird einen haßen und den andern lieben; oder wird einem anhangen und den andern verachten.“ Ein treffendes Beispiel zu der großen Lehre, oder, wenn du lieber willst, die Lehre selber, mit recht verständlichen Worten ausgedrückt, ist deshalb auch das Wort: „Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Der allein gute Gott ist der einzige bleibende Schatz, alle Schätze und Güter der Welt sind Mammon, so wie sie auf unsre höchste und ausschließende Liebe Anspruch machen, und auch nur solche Liebe finden.

 Ist Gott dein Gut, wie Er es sein kann und soll; so hast du an Ihm genug, sorgst nicht mehr. Wer mit Ihm nicht vereinigt ist und doch Sein Nahen in der Sehnsucht vernimmt, welche das Herz erfüllt, – der mag sorgen und unruhig sein. Es wird bald Ruhe werden. Wer in Ihm liebend ruht, sorgt nicht mehr. Wer in Gott ruht, kann wohl nach den kleinen Dingen dieses Lebens die Hand ausstrecken und arbeiten, daß er sie erlange; aber dieses Streben darnach ist ohne Sorge, oder wenn du willst, eine Sorge ohne Sorge, – sie dient zur Reinigung der Seelen und ist unsträflich. Aber die Sorge, welche ängstlich ist, und die Gewisheit verliert, daß man in Gott alles habe, – die Sorge, welche aus der Ruhe bringt, – ist Mammonsdienst, Mammonsliebe, ein bedenkliches Zeichen für das Leben, das aus Gott ist. Selbst die Sorge, daß man in Gott bleibe, darf nicht zur Angst werden, sonst fällt sie dem Mammon in die Arme. Alle Zukunft ist heiter und angstlos dem, welcher recht liebt. Alles Streben nach Vollkommenheit ist bei dem, welcher Gott liebt, von Muth und Kraft begleitet, ist Heldentum und Siegesgewisheit. – –

 Ich habe meinen Mund aufgethan – und muß mein Auge niederschlagen. Die Wahrheit treibt zu starken Behauptungen – und richtet ihre Knechte darnach. Gott sei mir Sünder gnädig!


Am sechszehnten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 7, 11–17.
 ES hat etwas sehr Schönes, wenn die Gräber um die Kirchen her geordnet sind, wenn die Todten mitten unter den Lebendigen ruhen. Ein Gottesacker ist ein schöner Vorhof unserer Versammlungen; man wird, wenn man über ihn hin zur Kirche wandelt, durch die kräftige Erinnerung an Tod und Ewigkeit auf die rechte Stelle versetzt, auf welcher Gottes Wort großen Eindruck macht. Man ist auch, unter den Todten stehend, selbst halb abgeschieden, und die Gemeinschaft mit denen, welche ein ewiges Leben genießen, wird einem so wünschenswerth und so nahe gebracht! – Es ließe sich viel sagen für die Vereinigung| von Kirche und Gottesacker, und ich wäre nicht unter denen, welche auf Verlegung dringen. Was schadet der nahe Gottesacker dem Leibe? Ich denke, die sechs Schuh unter der Erde liegen, sind es nicht, welche die Luft der Lebenden verpesten. Und die Seele, sie möchte von der Ruhestatt der Todten Erinnerungen haben, welche dankenswerth sind!

 Doch ist es auch schön, wenn die Gottesäcker, wie in unserm Evangelium und überhaupt bei den Alten und im Morgenlande, vor den Wohnstätten der Lebendigen liegen. Da ist es so stille! Die Todten scheinen fast mehr vom Gewühle des zeitlichen Lebens getrennt, wenn über sie hin kein Fuß mehr in irdischen Geschäften eilt; sie scheinen himmlischer zu sein und ihre Ruhestätten scheinen mehr Vorhöfe des Himmels zu sein, wenn sie draußen sind, wo keiner sie heimsucht, als der ernstere Pilgrim. Die Trennung der Todten von den Lebendigen hat so viel Sinn, als die Vereinigung, und wenn ich im Glockenklang, mit Auferstehungsgesang durch die stillen Thore hineintrete, so ist meine Seele doch sabbathlicher gestimmt und Psalter und Harfe der Ewigkeit tönt mir viel kräftiger, als damals, da ich mitten unter den Wohnungen der Lebendigen das Grab für Gottes Samenkörner öffnete und schloß. Wenn die Frage nicht ist: „Soll man die alten Gottesäcker verlegen“, sondern: „Wohin soll man neue Gottesäcker anlegen“; so weise ich euch gen morgenwärts hinaus auf die Flur.

 Du schüttelst das Haupt, mein Leser, weil ich von Gottesäckern rede. Das „Weine nicht!“ des großen Helfers wünschest du mehr in die Seele gelegt. Das Wort: „ER gab ihn seiner Mutter wieder“ wünschest du gepriesen zu hören. Aber vergiß nicht, mein Freund, daß, was du zu hören wünschest, heut zu Tage gar oft und schön auf Gottesäckern wiederhallt. Nicht mehr an den Thoren Nains, der Stadt der Pilger, sondern auf dem Friedhof, dem Vorhof des Himmels, spricht heut zu Tage die Stimme des guten Hirten ihr „Weine nicht!“ Der HErr unterbricht die Leichenzüge nicht mehr. Sein „Weine nicht“ ist mächtig genug geworden, um am offenen Grabe zu trösten. Sie kommen mit ihrem Saatkorn und weinen laut. Es beginnt die himmlische Harmonie des Evangeliums – da weinen sie leiser. Es wird die Herrlichkeit der andern Welt, die unaussprechliche Liebe des HErrn, HErrn gepriesen, – immermehr wird die Tröstung zum Gloria, – zum „Friede auf Erden“, da versiegen die Zähren, die Augen blicken auf zum freien Himmel, die Hoffnung kommt in die Seele und anstatt des: „ER gab ihn seiner Mutter wieder“, rauscht es mit mächtigem, ahnungsvollem Ton über die Gräber: „Sie sollen wiederkommen“ und: „Deine Arbeit wird belohnt werden!“ (Jerem. 31, 15. 16.) da erweitert sich die Seele – und das Herz wird groß. Die Auferstehung der unsterblichen Kinder des Lebens wird ergriffen, und auch ein mütterliches Herz faßt es, daß die Kinder nicht genommen sind, nicht wiedergegeben zu werden brauchen, wenn sie im Frieden abgeschieden sind. – Friede sei mit deinen Mauern! Ehre sei in deinen Thoren, Gottesacker! Gegrüßt sei deine stille Schaar, die in tiefem Schweigen predigt! Gegrüßt sei von dir aus, Der da kommt vom Morgen und mit Ihm Sein Lohn. Gebenedeiet sei ER und Jerusalem, die man auf deinen Hügeln von ferne glänzen sieht!


Am siebzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 14, 1–11.
 WElch einen Eindruck mag wohl der HERR in dem Vorgang unsers Evangeliums auf die Anwesenden gemacht haben. Mit dem Sabbathsgebote nahm Ers ihrer Meinung nach leichtsinnig und der Mann, der Sich in Wort und That als einen HErrn auch des Sabbaths zeigt, läßt Sich herunter, Tischregeln für Gastmahle zu geben. Sie werden vielleicht gesagt haben, nicht sie, sondern Er Selber seige Mücken und verschlucke Kameele. So kann immer einer dem andern von verschiedenen Standpunkten des Lebens denselben Vorwurf machen, und es kommt daher wie bei den Früchten auf den Baum, so bei den Urtheilen und Vorwürfen auf den Standpunkt an, will – sagen: auf das inwendige Geheimnis der Gesinnung. Wenn du das nicht fest hältst, mein Freund, so mache dich Gott ja nicht zum Richter,| auch nicht zum Seelsorger. – Du würdest in ein Labyrinth treten und nicht mehr herauskommen. Denn ein jeder – oder doch die meisten – haben nach ihren Worten vor Menschenohren Recht, und wenn du nicht etwas von der Gabe, die Geister zu unterscheiden, bekommst, wirst du vielleicht in den Wahn verfallen, als beruhten alle Zwistigkeiten der Menschen nicht auf Recht und Unrecht, sondern auf Misverständnissen.

 Die Pharisäer haben Unrecht am Sabbath und bei Tisch. Sie seigen am Sabbath Mücken, denn es ist ihnen am Sabbath um Ochs und Esel zu thun. Sie verschlucken am Sabbath Kameele, denn sie können Menschen leiden und sterben sehen in voller Feiertagsruhe, ohne Hülfe zu bieten, – es müßte denn sein, daß ihnen die Menschen eigen wären, wie Verwandte, wie Sclaven. Fast hätte ich herausgeredet, was zu viel ist, wie jene Thiere. Sie seigen bei Tisch Mücken, denn sie setzen ein Oben und Unten, das jeder ändern könnte, und kommen bei dem Wählen darüber in Krieg und Streit. Sie verschlucken Kameele, denn sie vergeßen, daß ihr Wählen aus Hochmuth kommt.

 Dagegen hat Christus Recht am Sabbath und bei Tisch; ER ist vom Mückenseigen und Kameelverschlucken gleich fern. Oder beßer – von Ihm ist große und kleine Sünde gleich fern. Er würde, wenns vorgekommen wäre, dem Ochsen und Esel am Sabbath geholfen haben, ja dem Wurme; vielmehr hilft Er dem leidenden Menschen. – ER kennt keinen Hochmuth im Großen, so kennt Er auch keinen im Kleinen. ER ist demüthig, wenn sie Plätze wählen und wenn es Kronen gilt. ER ist demüthig und mitleidig, mitleidig und demüthig, und empfiehlt mir und dir ein Gleiches. Er hat Sich gern geniedriget, wenn gleich die beständige Wahrheit auf Seinen Lippen Ihn über alle Menschen erhub. Ja ob ER schon aller Ehren würdig war und kein Mensch Ihm den Platz streitig machen konnte; so verlangte ER doch weder Fußwaßer noch Kuß, wenn ER zu einem eingebildeten Pharisäer kam. ER war der Letzte, der doch vor Gott der Erste war. ER – weißt dus nicht? – ER that, was Philipper 5, 11, steht, „ER erniedrigte Sich Selbst und war gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuze. Darum hat Ihn auch Gott erhöhet und einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen JEsu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erden sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß JEsus Christus der HERR sei, zur Ehre Gottes des Vaters.“ Phil. 2, 8–11.


Am achtzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 22, 34–46.

 FRagen und Fragen, das ist ein großer Unterschied. Die Pharisäer kommen, sprechen: „Meister, lieber Meister“ und fragen. Die Sadducäer machens eben so. Sie nennen Ihn Meister, als wollten sie wirklich von Ihm etwas lernen; aber sie denken nicht dran, zu lernen; sie wißen sich längst genug und fragen andere nur, um zu examiniren und zu fahen. Wenns nicht so wäre, hätten sie etwa eine solche Frage gethan? Ist das eine Frage für den Lehrer aller Welt: „Welches ist das fürnehmste Gebot?“ Ein Kind soll das wißen; ein alttestamentlich Kind konnte es wißen; – und sie wollen Ihn damit versuchen?! Waren sie etwa der Meinung, daß Er in ihre armseligen Kriteleien, durch welche sie sich oft mit allem Fleiß die leicht erkennbare Wahrheit aus den Augen zwangen, eingehen sollte und eine zweifelhafte, Ketzerrichtern willkommene Antwort geben? Da hätten sie sich betrogen! Er antwortet mit einfältiger, unläugbarer Wahrheit, welche den ganzen Quark ihrer Hoffnungen wie Spreu verweht. – So muß es denen gehen, welche den Schein der Schüler annehmen, wenn sie auf dem Wege sind, ihrer armen Weisheit eine Krone zu finden! Wenn die Wahrheit in Versuchung geführt wird, so gehe ihr Wort aus und treffe mit Mildigkeit und doch mit Kraft und werfe dahin den Versucher! – Frag’ du, mein verkehrtes Kind, deinen Meister nicht ferner in fürwitzigem Hochmuth, sondern lerne von JEsu im Evangelio, welche Fragen dir geziemen, welche ER dir gerne beantwortet, solche nämlich, die du nicht weißt.

|  „Warum nennt David den Messias, welcher doch sein Sohn ist, seinen HErrn?“ Diese Frage legt ER Selber, Davids Sohn und HErr, Davids Messias, den Pharisäern und Schriftgelehrten vor. Ist es nicht eine interessante, reizende Frage? Sie handelt von der Person des Messias, von Seiner Menschheit, nach welcher Er Davids Sohn, von Seiner Vereinigung mit der Gottheit, nach welcher Er Davids HErr ist. Wäre ihnen diese Frage interessant gewesen, so würden sie von dem HErrn die Lösung des scheinbaren Widerspruchs zu ihrer Seelen Seligkeit erfahren haben. Aber nein, das ficht sie nicht an. Sie fragen Ihn nicht als lernbegierige Schüler. Wo sie nicht examiniren und versuchen können als Meister, wollen sie wenigstens durch Schweigen sich als Herren und Meister erweisen. – Sie werden freilich diese Frage nie an sich gethan haben. Pharisäer kramen gerne im Gesetz und damit es desto unterhaltender sei, in Gesetzen kleiner äußerlicher Art. Sie begehren nicht Gold- und Silberstufen auszugraben; sie waschen die kleinen Körnlein Goldes und deßen Staub aus den Bächen und wägen ihn unter viel Gewäsch. Die Gesetzesantwort JEsu von der Liebe und die Glaubensfrage von Seiner Person sind für Kleinigkeitskrämer nicht. Das schlägt sie zu Boden. Bei solchen Antworten und Fragen antworten und fragen sie nicht weiter; sie sind auf ein unheimliches, fremdes Gebiet versetzt.

 HErr, es muß doch alles vor Dir schweigen, was mit eigenem Witz vor Dich kommt. Du redest, wer will Dich meistern? – Laß mir die Frage heilig sein! Zur Versuchung des Frommen werde sie nicht gebraucht. Meine Fragen laß Gebete sein, Gebete um Weisheit, auf daß Du mir gebest, was ich bedarf, Licht und Recht, Lust und Kraft zu Deinem Wege! Ich will Dich fragen, antworte mir mit Gesetz und Evangelium. Und frage mich auch, auf daß ein Gespräch sei zwischen Dir, o Sonne, und zwischen mir, als einem Abendsterne, und ich in Deinem Lichte immer schöner prange, je näher ich dem Saume Deines Gezeltes und dem Anfang Deiner ewigen Ruhe komme! Amen.


Am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 9, 1–8.

 HEilung begehren die Freunde des Gichtbrüchigen für diesen. Vergebung der Sünden schenkt ihm der HErr. So gibt der HErr dem betenden Menschen oft etwas ganz anderes, als was er bittet. Menschen erkennen oft ihre nächsten Bedürfnisse nicht, aber das Auge des Herzenskündigers weiß, was wir bedürfen, und reicht uns oft dar, nicht was wir wollen, sondern was uns wahrhaft heilsam ist. Wie viele Kranke und Sieche seufzen Jahre lang nach Heilung – und der HErr antwortet ihnen immer nur mit dem Evangelium eines ewigen Friedens und ruht nicht, bis sich das Herz aus Seinem Worte zugleich Erkenntnis der größten Noth und Hülfe nimmt. Wir wißen oft nicht was wir bitten, – und müßen gar oft danken, daß wir nicht wörtlich erhört sind. Laßt uns dem HErrn danken für Seine Treue, bevor die Hülfe kommt.

 Laßt uns danken und nicht den Schriftgelehrten in der Lästerung nachfolgen. Sie sprachen vom HErrn: „Dieser lästert Gott“ weil sie mit Recht der Meinung waren, daß Sünden vergeben nur Gott zukomme, mit Unrecht aber der Meinung, daß JEsus nicht Gott sei. So fallen sie in die Sünde, deren sie den Heiligen Gottes bezüchtigen. Man könnte zwar sagen: „Eine Lästerung im eigentlichen Sinne begingen die Schriftgelehrten doch nicht, sie glaubten ja nicht, daß Christus Gott sei, sie hatten vielleicht nie daran gedacht, daß Er für göttliches Wesen gehalten werden müße“. Aber sind denn die Sünden verschuldeter Unwißenheit nicht auch Sünden? Konnten denn diese Leute nicht wißen, daß Christus mehr als ein bloßer Mensch war? Waren denn Seine Worte und Seine Werke bloß Menschenworte? Mußten sie nicht zugestehen, daß nie ein Mensch so geredet und so gewandelt und solche Thaten gethan hatte? Sein Gang war ja nicht in Finsternis, sondern Er leuchtete mit Seinem Lichte vor aller Welt! Darum hätten die Schriftgelehrten längst den Beweis JEsu von Seiner Gottheit sich selbst holen und nehmen können.

|  Welches ist leichter zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben? oder zu sagen: Stehe auf und wandle? – spricht der HErr. Was ist leichter? Offenbar eines so leicht wie das andere; zu beiden gehört göttliche Macht. Wer Eins kann, kann auch das Andere. Wer nicht in fremden, sondern im eigenen Namen – mit einem Wörtlein Kranke heilt, der ist mehr als ein Mensch. Das thut aber JEsus vor aller Augen so oft, die Ueberzeugung von Seiner höheren Abkunft hätte deshalb Schriftgelehrten, die Gottes Weißagungen von Seinem Sohne kannten, längst zugetraut werden sollen. Sie hätten Ihn kennen, Ihn der Lästerung nicht zeihen sollen, wenn ER, der kranken Leibern half und todte Leiber ins Leben zurückrief, heilende, am Herzen sich beweisende Gottesworte der Vergebung sprach.

 Darum laßet uns annehmen, was ER uns darbietet – Vergebung, und nicht lästern, wenn ER nicht gibt, was wir wünschen, – nämlich leibliches Heil. ER könnte auch dieses, weil ER jenes kann. ER will nichts weil es uns beßer ist im Kreuze bleiben. Laßet uns von innen heraus durch Vergebung genesen und leibliche Genesung Ihm und Seinen Stunden überlaßen. Wir ernten ja ohne Aufhören, auch wenn wir nicht ernten, was uns gefällt.


Am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 22, 1–14.

 ES war eine Zeit, da der Mensch rein und heilig war. Du kennst sie, lieber Leser. Zu jener Zeit war der Mensch vor Gott ohne Hülle durch anerschaffne Tugend Leibes und der Seele schön. Als aber die Sünde den Menschen überwand, da wurde Leib und Seele der anerschaffnen Schönheit verlustig, Leib und Seele freuten sich nicht mehr im lebendigen Gott, Leib und Seele waren vor Gott nackt und bloß und häßlich, und als Zeichen der Erbarmung schenkte Gott dem gefallenen Adam ein Kleid, und in selbsteigner Gestalt sollte der Mensch nicht mehr erscheinen. Die von Gott, dem HErrn, selbst eingeführte Kleidung redet deshalb mit stummen Lippen eine laute Sprache, sie redet von unserer Schande und Blöße vor dem Auge des Allerheiligsten und vom Bedürfnis einer von außen kommenden Zier und Schöne. In den Sitten der Morgenländer, wie der Abendländer hat sich dieser der Kleidung anhangende Gedanke mannigfach ausgesprochen. Wer im Morgenland ein Gastmahl gibt, reicht dem Gast beim Eintritt zum Hause ein Kleid. Wer das Kleid annimmt, ehrt den Gastgeber, als wenn er deßen Gerechtigkeit und Tugend anzöge und für sich zur Bedeckung für schön und wünschenswerth hielte; wer das Kleid nicht annimmt und mit eigenem Kleide am fremden Tische sitzen will, spricht gleichsam aus, daß er, so wie er ist, der fremden Speise werth sei, daß er nicht in fremder Güte und Tugend prangen müße, um am fremden Tische zu sitzen; er begeht einen Fehler der Rohheit und des Hochmuths und beleidigt seinen Wirth höchlich. Etwas Aehnliches ist im Abendlande die Sitte, daß die Diener im Kleide (der Livrei) ihrer Herren gehen. Der Herren Tugend und Ansehen geht auf die Diener über, sie gelten um der Herren willen und so viel, wie ihre Herren, werden mit ihnen geehrt und verachtet. Es ist im Morgen- und Abendlande das Kleid ein Sinnbild fremder Güte und Tugend, die uns zu Gute kommt.

 So ists auch in der Schrift. Der Sinn und Sprachgebrauch hat göttliche Einsetzung, und wird deshalb von Gottes Wort anerkannt. Erinnere dich zum Beispiel an jene schöne Stelle im Propheten Jesaias (61, 10), wo das Heil den Kleidern, die Gerechtigkeit einem Rocke, die Gnade Gottes priesterlichem Schmuck und bräutlichem Geschmeide verglichen wird. Erinnere dich vor allen andern Stellen an die heutige Gleichnisgeschichte. Ein Gast des HErrn wird in die äußerste Finsternis und Verdammnis hinausgestoßen: warum anders, als weil er sich für schön genug hielt, um dem HErrn bei Seinem Mahle im eigenen Kleide, d. i. in eigener Gerechtigkeit zu gefallen. Er hatte den HErrn beleidigt, der alleine die ewige Speise gibt und mit Seiner Gnade bekleidet alle Seine ewigen Gäste schauen will. Vor Ihm ist keiner heilig, als wer in Seiner Gnade lebt und in dies Bekenntnis Seiner Gnade sich einhüllt| im Leben und im Sterben und im jüngsten Gericht. Jeder darf kommen zu Seinem ewigen Mahle, ER fragt am Ende nicht: woher kommst du? wer und was bist du gewesen? ER sieht allein, ob du mit dem Glauben Seine Gnade zur Decke nimmst und an ihr, wie ER Selber, genug habest. Das laß uns nicht vergeßen, lieber Leser. Das laß uns bedenken, so wird es uns nicht wie Unsinn, sondern wie heimliche Weisheit klingen, wenn wir den Gesang der Väter hören:

Dein Kreuz laß sein mein Wanderstab,
Mein Ruh und Rast Dein heiligs Grab;
Die reinen Grabetücher Dein
Laß meine Sterbekleider sein!

oder wenn unsere Kinder beten:

Christi Blut und Gerechtigkeit
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,
Darin will ich vor Gott bestehn.
Wenn ich in Himmel werd eingehn.


Am einundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Joh. 4, 47–54.

 DEr HErr bewies bei Seinen Heilungen mancherlei Gnade. Bei einigen legte ER, um die Heilung zu bewirken, nicht bloß Hand an, sondern Er brauchte allerlei, auch sehr gering scheinende Mittel zu Trägern Seiner Hilfe, – bei andern legte ER bloß Hand auf, – bei andern sprach ER ein Wort zum Kranken, so genaß er, öfters sprach ER auch nur ein Wort vom Kranken, der abwesend war, so erfolgte die Heilung. Der letztere Fall gehört zu unserer Textgeschichte. Der Sohn des Königischen lag in Kapernaum. Das Wort JEsu war auf dem Wege von Judäa nach Galiläa gesprochen, und der Kranke genaß trotz der Entfernung. – Drum sei, mein Freund, nicht eigensinnig in deinen Gebeten und schreibe niemals Art und Weise der Hülfe vor. Setz deine Hoffnung nicht auf die Art und Weise, wie deinem Nachbar geholfen wurde; sondern bete und hoffe und harre. Der kranke Sohn zu Kapernaum war dir in deinen Nöthen ganz gleich. Der Helfer war nicht vor seinen Augen, wie ER nicht vor deinen Augen ist; wenn ER aber, der Allmächtige nicht da ist, so ist es gleich viel, ob ER im Himmel oder auf dem Wege nach Galiläa sichtbar verweilt: ER ist dir verborgen – und du bist Ihm nicht verborgen; du weißt nicht, was ER thun will, aber ER weiß es ganz gut; du hörst Sein Machtwort nicht, aber du wirst es erfahren. Wie nun der Kranke zu Kapernaum hoffend in die dunkle Zukunft sah und nicht wußte, wie und in welcherlei Gestalt die Hülfe erscheinen werde, so sieh auch du, wie ein Wächter auf der Warte, hinaus in deine Zukunft und freue dich Deßen, der da kommt sanftmüthig und hilfreich, ein König. ER wird ja noch endlich kommen und nicht außen bleiben; ob ER verzeucht, so harre Sein, ER wird gewislich kommen und nicht verziehen. Siehe, wer halsstarrig ist, wird keine Ruhe in seinem Herzen haben; denn der Gerechte lebt seines Glaubens.

 Noch eins laß mich von diesem Evangelium sagen. Der Königische hat eine Eigenschaft, welche ihn dem kananäischen Weiblein einigermaßen ähnlich macht, – weißt du, was für eine? ER ist so sehnsüchtig nach Hilfe und so gläubig an JEsu Macht, daß er sich durch das anfangs ungünstige Wort von Zeichen und Wundern nicht irren läßt. – ER betet um Hilfe und achtet des Scheltens nicht. ER ist von starkem Glauben, der ferner keines Zeichens und Wunders, als des einen, um das er bittet, bedarf, um felsenfest zu stehen, – der ganz in JEsum und Seine Worte traut. So war auch das kananäische Weib. Aber doch ist das kananäische Weib von diesem Königischen verschieden bei gleicher Tugend, wie ein Weib von einem Manne verschieden ist. Sie ist reich an Worten, sie ist reich an Witz, sie disputirt mit dem HErrn und beweist damit festen Glauben. Der Königische thut von dem allen, nichts, er will nicht disputiren, er will den HErrn weder gnädig noch ungnädig im Gespräche sehen: „HErr komm hinab, ehe denn mein Kind stirbt“ – das ist alles, was er sagt. Er dringt mit seinem Beten zu JEsu Herzen und glaubt ihm keine Ungnade, aber die Gnade glaubt er Ihm, auch da sie nicht ist, wie er dachte,| sondern bloß in einem verheißenden Worte sich zeigte. „Komm hinab“ betet er, – „Geh hin, dein Sohn lebt“, ist die Antwort, die dem Vater des Sterbenden genügt. Ach, so männlich bescheidenes, einfältiges Glauben und Beten schenke, lieber HErr, auch uns!
Am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 18, 23–35.

 ES ist ein eigenes Ding um das Haushalten. Man kann einnehmen und ausgeben einen Tag nach dem andern, es kann von Tag zu Tag der Mangel höher steigen; bei alle dem aber kann man noch hoffen. Man kann unheimliche Qual im Herzen haben, aber den natürlichen und wahrscheinlichen Ausgang des Haushaltens immer noch theils für sehr fern, theils am Ende auch nicht für so ungünstig halten, als er doch werden muß. Die Größe der Schulden, die Unmöglichkeit sie zu bezahlen, findet man nicht, es sei denn, daß man rechne, Einnahme und Ausgabe wäge, die Ausgabe nach Maßgabe der Einnahme schätze. Wer gerne klar sieht, der legt täglich, wöchentlich, monatlich Rechnung, – wer gerne klar sieht, thut das, und wer gerne rechnen lernen und am Ende beim Rechnungsabschluß fröhlich sein will, der thut es auch. – Wer gerne rechnet, der rechnet gut und immer beßer. Wir nicht gerne rechnet, deß Rechnung steht schlecht, der sammelt sich Wolken und Blitze für den unabweisbaren, unausweichlichen Rechnungstag.

 Verachte, lieber Leser, diese Haushaltungsregeln nicht. Der HErr im Evangelium vom 17. Sonntag nach Trinitatis lehrt demuthsvolle Klugheit mit Tischregeln, und ich lehre dich, – und zwar getreu dem Evangelio, mit Haushaltungsregeln rechte Seelensorge, welche nachhaltig für Todes- und Gerichtstage Gottes wirken soll. Der Knecht, welcher zehntausend Pfund schuldig war, würde zweifelsohne eine so große Schuld nicht angehäuft haben, wenn er alle Tage gerechnet hätte. Und wenn er durch tägliches Rechnen seine eigenen Kräfte kennen gelernt hätte, so würde er nicht hernach, statt um Vergebung zu bitten, die thörichte Bitte um Aufschub und das eitle Versprechen, alles zu bezahlen, vor seinen HErrn gebracht haben. Er kannte den Werth Eines Pfundes nicht, wußte nicht, wie viel er, wie viel sein Herr hatte, nicht wie viel er ausgegeben, nicht wie viel fehlten – und durch die große Unwißenheit in seinem zeitlichen Berufe wurde er zu dem hochmüthigen Narren, der im kurzen Leben Weib und Kind ernähren, und zehntausend Pfund sammeln zu können wähnte. Dem Knechte gleichst du, mein Freund, wenn du nicht deine Gaben und Pflichten mit deiner Treue und deinen Leistungen täglich vergleichst, aufrichtig vergleichst, wenn du nicht eitle Hoffnungen des Beßerwerdens aus dem ernsten, ganz in Vergangenheit und Gegenwart sich bewegenden Geschäfte des täglichen Gerichts über deinen eigenen Werth ganz hinwegläßest. Rechne alle Tage, sei alle Tage streng gegen dich, so wirst du im Klaren über dich und dein Bedürfen sein, so wirst du deine Armuth, deine Unschuld, die Unmöglichkeit, dich aus der Schuld zu heben, klar erkennen und bei dem HErrn, deinem Gott, dem Gerichtstage durch die Bitte um Vergebung zuvor kommen, welche in deinen Umständen das Weiseste und das Beste ist. Thust du das, so wird es auch noch einen anderen Nutzen haben, welchen du aus dem Evangelio kennen lernen kannst. Der Knecht, welcher zehntausend Pfund schuldig war, erkannte auch bei der Rechnung nicht seine lebenslängliche Zahlungsunfähigkeit, also auch nicht die Tiefe seiner Verschuldung, deshalb auch nicht die Größe der Wohlthat, welche in dem Erlaß aller Schulden lag: er hatte sein eigenes Elend nicht erkannt, gewürdigt, und gefühlt. Was war die Folge? Die Unbarmherzigkeit gegen seinen Schuldner. So ists. Der ist ein unbarmherziger Richter und Rächer seiner Schuldiger, welcher nicht durch tägliches Rechnen die Menge seiner Sünde und die Hülflosigkeit seiner Lage erkannt hat. Demüthige Erkenntnis eigner Schuld macht mild, versöhnlich gegen andere und wird so ein Anfang guter Werke. Darum noch einmal, geliebter Leser, laß uns weise sein und rechnen, – laß uns rechnen, daß wir gütig werden!


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Am dreiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 22, 15–22.

 ISts Recht, daß man dem Kaiser Zins gebe oder nicht?“ Die Frage ist einfach, die Antwort auch. Beide sind einfach, nur nicht für Juden und Pharisäer. Sie erkannten Gott für ihren König, sich für Sein Volk, sie machten Anspruch, von aller Welt für Sein erwähltes Eigentum gehalten und als solches geehrt zu werden, es schien ihnen deshalb nicht allein Unrecht, daß der Kaiser ihr König sein wollte und als solchen sich bewies, sondern sie straften sich selber alle Tage dafür, daß sie nicht widerstrebten, daß sie dem Kaiser Zins gaben, unterthänig waren. Sie konnten nach menschlicher Einseitigkeit es nicht mit ihrer Pflicht gegen Gott vereinigen, daß sie gegen noch jemand eine Pflicht haben sollten. Weil sie Gott für ihren weltlichen König ansahen, so stand er für sie in einer Reihe mit dem Kaiser zu Rom. Es schien Untreue gegen jenen, wenn sie diesem dienten. Das war ihres Herzens Meinung, vielleicht die innerste die sie hatten, – und doch mußte sie ihnen zum Bösen dienen! Den zu verderben, der, ohne sie zu fragen, ein Messias sein wollte und offenbar war, mußte ihr innerster Seelenzweifel zur Falle geschmiedet werden. Sie wußten ganz wohl, daß irgend ein Entscheid mit Ja oder Nein gefährlich war. „Ja, es ist Recht“ – war eine Antwort, mit welcher man die Volksgunst verscherzte, an der ihnen und ihrer Meinung nach auch JEsu so viel gelegen war. „Nein, es ist nicht Recht“ – diesen Entscheid durfte man gar nicht wagen; denn er war Empörung gegen den Kaiser. Ueber dies Entweder-Oder klatschten sie in die Hände, eine Doppelfalle war gelegt, oder beßer zwei Fallen, um die zwei einzigen Auswege JEsu zu gefährden, die sie sahen. Aber so gehts! Wenn menschliche Beschränktheit zu Rathe sitzt, heißt es immer: „Beschließet einen Rath und wird nichts daraus.“ In der Klugheit hascht ER die Weisen. Sie sahen nur zwei Wege, nur Ja und Nein auf ihre Frage; bei JEsu war die ganze Frage falsch. Gott und Kaiser waren ungebührlich auf die Wahl gebracht und gleichgestellt; so stand die Frage bei JEsu gar nicht, sondern so: „Kann man dem Kaiser Zins geben, ohne Gott untreu zu werden?“ Und darauf war die einfache Antwort: „Ja, der Zins gehört dem Kaiser, und die Seele gehört Gott.“ Dem Kaiser gebe man sein kleines silbernes Bildchen auf der Zinsmünze immerhin, das hindert nicht, die Seele, Gottes Bild und Gepräg, Ihm zu geben, – gib Gott die Seele – und um Gottes willen dem Kaiser den Zins. Das war nun freilich ein dritter Weg, eine unerwartete Antwort, so unerwartet, als den Pharisäern das neue Testament selbst und die ganze neue Ordnung der Dinge war, die JEsus brachte. Die Pharisäer hofften immer wieder auf Erneuerung einer weltlichen Herrschaft der Juden, aber die Sache stand anders. Das Scepter war von Juda gewichen, der Held, der Schilo, war da. Von einer alttestamentlichen Treue gegen Gott, als Israels weltlichem König, war eben so wenig mehr die Rede, als von einem Volke Gottes, das aus beschnittenen Juden bestand; der Schatten war verschwunden, die Nacht nur noch in Pharisäeraugen; der neue geistliche König und Sein Reich, das nicht von dieser Welt, waren da. Nun hieß es: „Seid unterthan jeglicher menschlichen Ordnung um des HErrn willen!“ und die Reiche der Welt waren nicht mehr an und für sich selbst Israels Feinde. In diesem Evangelio liegt das ganze von der Welt her verborgene Geheimnis von Beruf und Seligkeit der Heiden verborgen. In ihm quillt der Brunn des Heidenapostels Paulus! Ein einfach Ja und Nein auf die Frage der Pharisäer hätte Pauli Lehre Lügen gestraft, aber das: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ bezeichnet den Weg der heiligen Kirche bis ans Ende – und aus dieser Antwort alleine ist klar genug, daß in allen Reichen und Landen, Zungen und Sprachen die Eine, heilige Kirche herbergen, wachsen und siegen – also durch das Irdische gehen kann, ohne daß sie das Himmlische verliere!


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Am vierundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 9, 18–26.

 LAß mich dir, lieber Leser, zu diesem Evangelio einige kürzere Gedanken geben; sie können dir Anlaß zu weiterem Nachdenken werden.

 1. In dem schlimmen Capernaum, welches der HErr mit Seinem schrecklichen Wehe belegte, gibt es doch noch etwas Gutes. Denk an den Obersten der Schule, denk an das blutflüßige Weib, denk an den Königischen, von welchem das Evang. des 21. Sonnt. n. Tr. erzählt. So schlecht ist kein Ort, in welchem das Evangelium erschallt, daß nicht einige Früchte empor kämen. Je weniger, desto köstlicher sind sie oft.

 2. Das schlimme Capernaum bietet den Anblick einer Einigkeit, welche man in vielen ihres Christentums wegen berühmten Orten unserer Zeit nicht findet. Diese Einigkeit erscheint demjenigen, welcher das Ev. vom 21. Sonnt. n. Tr. mit dem heutigen vergleicht. Der Königische, von welchem jenes redet, ist Capernaums weltliche Obrigkeit, der Schuloberste unseres Evangeliums ist die geistliche Obrigkeit des Orts. Beide glauben an unsern HErrn, beide erkennen Ihn für ihren einzigen Helfer. Ach, wenn diese Einigkeit in der Christenheit sich aller Orten fände!

 3. Es sind Beispiele eines starken Glaubens, welche unser Evangelium zeigt. Oder meinst du, es sei etwas Kleines für einen Vater, vom Sterbebette eines lieben Kindes wegzugehen, wegzugehen vom Kinde, wenn die letzten Athemzüge durch seine Lippen gehen? Welcher Arzt mit alle seinem Ruhm vermöchte es, einen Vater vom sterbenden Kinde zu trennen! Urtheilet, Väter, ob das nicht eine grosse Glaubensthat ist, hoffen, wo nichts zu hoffen ist, zum Helfer eilen, wenn die Zeit der Hülfe vorüber! – Das Weib hat nicht minder großen Glauben. Sie ist durch ihre Erfahrungen von zwölf Jahren auf der Sandbank der Verzweiflung niedergesetzt; sie hat nie Hülfe gefunden – und nun hoffet sie, und wie kühn hofft sie auf Hülfe!

 4. Neben dem großen Glauben hat das Weib doch auch einen großen Aberglauben, ihr großes Licht wirft einen starken Schatten. Daß sie des Kleides Saum ergreift, ist nicht Aberglaube. Gott hilft durch Mittel, warum sollte das Weib kein Mittel ergreifen? Aber das ist Aberglaube, wenn man glaubt, durch Seine Mittel ohne Sein Wißen, wider Seinen Willen etwas auszurichten – unbemerkt von Ihm, von Seines Kleides Saum zu genesen. ER thut alles – Mittel sind nur Mittel. Tritt betend zu Ihm – dann ergreife den Saum Seines Kleides. – Wie mancher Abergläubige mag um seines Glaubens willen Verzeihung seines Aberglaubens gefunden haben – und trotz des Aberglaubens Hülfe! Aber keiner vergeße, daß der HErr auch dem Weibe nicht erließ, vor Ihn zu treten und ihre Noth zugleich mit dem Danke zu bekennen.

 5. Was auf Erden Tod heißt, heißt im Himmel Schlaf. Es ist eine verschiedene Betrachtungsweise einer und derselben Sache von unten und von oben, welche den verschiedenen Sprachgebrauch erzeugt. Es geht ja sonst auch so! – Seine Gedanken sind nicht unsre Gedanken, weil Seine Wege nicht unsere Wege sind. Seine Wege sind uns unbegreiflich, darum auch Seine Gedanken. Wir müßen aus der heiligen Schrift die Sprache des Himmels und die Wege in ihm, von ihm zu uns, von uns zu ihm kennen lernen. Es ist alles bei dem HErrn so ganz anders und so gar viel schöner und beßer, als bei uns! Zeige uns, HErr, Deine Wege und lehre uns Deine Sprache, daß wir selig werden!

 6. „Sie schläft“ sprach ER. Was schließt der Unglaube daraus? „Sie war scheintodt – und ihre Auferweckung ist also kein Wunder.“ – Wie blind ist das! Kannst du die Scheintodten mit einem Wort aufwecken? Ists nicht auch ein Wunder Gottes? Was läge am Ende dran, ob das Mädchen von Capernaum todt oder scheintodt gewesen ist, wenn nur ER bleibt, was ER ist! Und das bleibt Er ja, weil Sein Thun so wie so Wunder ist! – ER bleibt Wunderbar, auch wenn Sein „Sie schläft“ auf einen ganz natürlichen, täglichen Schlaf hingedeutet hätte. ER sagt es ja, eh’ ER sie gesehen; so ist ER ja| allwißend und Gott – und was liegt denn am Wunder, wenn Er Gott ist. – Wenn ERs aber nicht gewußt, sondern nur errathen hätte, so hätten Ihn die Leute mit Recht verlacht, und aus Seinen Worten wäre dann überhaupt nichts, also auch nicht Scheintod zu schließen.
Am fünfundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 24, 15–28.

 ES beginnt schaurig kalt zu werden und die ganze Erde wird arm, denn es wird Winter. Gerne wendet man V. 20. auf unsern Winter an – und wir bitten, daß wir im Winter verschont bleiben mögen vor Unglück dieser Welt. Und doch, wenn in diesem Winter allerlei Trübsal nahen würde, wenn wir von der Hand des HErrn schwer getroffen würden, es wäre doch alles ganz anders, als in Judäa und Galiläa, als in dem gelobten Lande. Dort ist Winter, auch wenn die Lilien die Abhänge der Berge bedecken und das ganze Land dem Abendländer wie ein Paradies erscheint. Bei uns ist in höchsten Nöthen, im gewaltigen Winterschauer doch Sommer. Denn dort liegt noch der Fluch auf dem Lande, den Gott sprach, – bei uns heißt es: „ER wohnt unter den Lobgesängen Israels!“ – Kannst du dirs denken, wie Weihnachten sich ausnimmt, wenn es in einer schon wieder erwachenden Natur gefeiert wird. Mir scheint, als wäre Weihnachten weniger innig und heimathlich, wenn der Frühling ums Kripplein blüht. Je erstorbener die Außenwelt, desto heißer trifft der Strahl der unsichtbaren Gnadensonne. Wir sind beim Bewußtsein Seiner Liebe fröhlicher und frühlinghafter am Winterkripplein, als wenn die erneute Lust der Natur uns auf Berge und Auen locket. So gar kommt alles auf die Gewisheit und das Bewußtsein göttlicher Gnade an! – Es gibt kein Unglück, wenn man diese hat; sie ist beßer, als Leben. Aber wenn ein Mensch, ein Volk durch Verlust der Gnade zum Aase wird, und die Adler sich sammeln wider das Aas; da mag man im Tempel zu Jerusalem und auf Zion wohnen – es ist nichts, ja das ist Nacht und Jammer, und wer will retten, wenn Gott den Vögeln befiehlt, vom Fleische Seiner Feinde ein Mahl zu halten?


Am sechsundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 25, 31–46.
 MIt diesem Evangelio endet der Posaunenhall des Kirchenjahrs. Ein gewaltiger Schluß! Das tönt, wie wenn die Posaunen des jüngsten Tages zur Leichenfeier eines Jahres geliehen wären! HErr, wie schrecket uns Deiner Rede Ton, wie dringt er in die tiefsten Tiefen der Seele und legt bloß und unbedeckt vor das Licht des Gerichts, was verborgen war! – Du bist arm und ein Bettler auf Erden, sie achten Dein nicht. Aber die Armen, die Bettler, die Kranken, die Gefangenen, die Unglücklichen alle – die sind nur Gestalten Einer, nämlich Deiner allerheiligsten Person. In denen allen bist Du mir begegnet – und ich wußte es nicht! Ich wußte es und glaubte es nicht, – und aus Unglauben wußt’ ichs nicht. Darum that ich nicht darnach! Oder hab’ ichs ein Mal gewußt und geglaubt und darnach gethan – und tausend- oder zehntausendmal nicht! Es ist mir, als wäre es mir eine Lust, Dich zu ehren, – und wie habe ich meine Seele betrogen! Ich suchte Dich oft und fand Dich nicht, während Dein Seufzen und Weinen, Deine Blöße und Armuth, Dein Hunger und Dein Durst mir in viel tausend Gestalten begegnete und gleichsam um mich her wimmelte! Ich kannte Dich nicht und hätte Dich doch kennen sollen und können! Ich wollte für einen gelten, der Dich ehret, – und sieh, ich bin Dein schuldig worden durch Härtigkeit und Unbarmherzigkeit gegen Deine Elenden. Wenn ich nun sterben, außer dem Leibe wallen, vor Dich treten soll, wirst Du mich etwa dann auch nicht kennen? werd ich Dein Auge suchen| und keinen Blick bekommen, wie Du ihn Petro zusandtest, da er an Dir sich versündigt hatte? Hätte ich etwa dann von Deiner Seligkeit Abschied zu nehmen, während ich in ihre Fülle schaute, gleichwie ich hier meinen Tagen den Abschied gegeben hätte, ohne erreicht zu haben, was ich erreichen sollte! – HErr! HErr! aus der Tiefe einer reumüthigen Seele kommt meine Anrufung! Vernimm sie! Laß mich Deine verzeihende Liebe genießen, daß ich erleuchtete Augen bekomme, Dich überall zu schauen, wo Du bist, und Dir zu dienen in den Deinen! Sättige mich mit Deiner Liebe! Deine Liebe sei meine Speise, daß meine Natur dadurch erneut werde, daß ich liebreich und liebethätig werde, daß ich, wie ein Schaf den Fußstapfen der Hirten, so Deinem barmherzigen Wege folge! Noch ist es Zeit, wenn auch schon hohe Zeit! HErr, stelle mich in dieser meiner Zeit zu Deinen Schafen, als ein Schaf unter Deine Schafe, so werde ich in ihren Schaaren auch dann sein, wenn Du kommen wirst!


Hilf, daß, wo Du stellest hin
Deine Schäflein, ich auch bin!
Reiß mich ferne von den Böcken,
Die ein strenger Spruch wird schrecken!
Laß mich zu der Rechten stehn,
Und zur Herrlichkeit eingehn.

Wenn Du wirst in Deinem Grimm
Durch des strengen Urtheils Stimm
Zu der Höllen Pfuhl und Flammen
Die verfluchte Schaar verdammen,
Sprich mir, wie den Frommen, zu:
Komm, Gesegneter, auch du!

Daß ich in des Himmels Saal
Unter Deiner Heil’gen Zahl,
Die Du Selber ausgesöhnet
Und mit Unschuld hast gekrönet,
Freudenvoll, ohn’ einig Leid
Leb in alle Ewigkeit!
 Amen.


Am siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.[2]
Matth. 25, 1–13.
 WEr sind die Jungfrauen, von welchen die Rede ist? Ist wirklich von Jungfrauen die Rede, oder hat man Ursache zu deuten? Man muß sich vor Deutungen hüten, wo sie nicht hingehören; aber buchstäbliche Auffaßung, wo Deutung nöthig ist, kann nicht weniger schädlich werden als unnöthige Deutelei. Also wer sind die Jungfrauen? – Lies den ersten Vers des Textes. Er beginnt mit den Worten: „Dann wird das Königreich der Himmel zehen Jungfrauen gleich sein.“ Also haben wir ein Gleichnis vor uns, welches auf die aller letzte Zeit, auf die Zeit der letzten Zukunft Christi hinweist. In einem Gleichnis aber ist es ganz in der Ordnung zu deuten. Es ist also nicht von Jungfrauen die Rede, sondern unter dem Bilde der Jungfrauen – von was denn? Von Menschen ohne Zweifel; denn es kann schnell ein jeder Leser erkennen, daß in dem ganzen Gleichnis das allgemeine Thema ist, daß nicht alle werden selig werden. Von Erben der Seligkeit, also von Menschen, welche die Seligkeit finden, aber auch verlieren können, ist gewis die Rede. Aber es könnte unter dem Bilde der klugen und thörichten Jungfrauen möglicherweise auch nicht von einzelnen Menschen, sondern von ganzen Menschenklassen und Gemeinschaften die Rede sein. Die Jungfrauen sind Brautjungfrauen, welche dem Bräutigam seine Braut zuführen. Ist nun die Braut nicht ein einzelner Mensch, wie man| ja das allgemein zugibt: so sind wohl auch die Brautjungfern nicht einzelne Menschen. Bei diesen meinen Worten wird es dir aber gehen wie auch mir selbst. Die Braut: das ist die Kirche, die Braut des HErrn. Wenn aber die Braut die Kirche ist, was sollen dann die Jungfrauen sein? Sie waren doch ursprünglich alle ausgegangen, um zur ewigen Freude mit der Braut einzugehen, also um selig zu werden. Wenn nun die Jungfrauen doch mit der Braut selig werden, so scheint es ja, als wenn außer der Kirche auch andere Gemeinschaften selig würden; als wenn die Kirche verwandte Genoßenschaften außerhalb ihrer hätte, die, wenn sie thäten was nöthig, wenn sie Oel bewahrten, auch alle selig werden, mit der Braut zum ewigen Freudenmahle eingehen könnten! Das aber widerspräche der heiligen Lehre, das kann nicht sein. Es muß also anders sein; aber wie? Entweder müßte man sagen, es sei eben hier, als in einem Gleichnis, von der Braut und ihren etwaigen Brautjungfern ganz abgesehen, und unter den Brautjungfern der allgemeine Gedanke vorgestellt, welcher sich unter dem Bilde der Braut nicht hätte vorstellen laßen, weil ja in der Braut keine Theilung, wie bei den Jungfrauen in kluge und thörichte, dargestellt werden könnte. Oder man müßte sagen: es sei allerdings von der Braut die Rede, wenn von dem Bräutigam und Hochzeit und Brautjungfern die Rede sei, und es müße eben hier ein Unterschied innerhalb der Kirche selbst angedeutet werden. Eine Abtheilung der Kirche müße hier die erwählte Braut sein, die andern Abteilungen seien auch zur Seligkeit berufen, aber es solle vorgestellt werden, daß eben nicht alle, sondern nur einige Abtheilungen mit der auserwählten Braut selig werden würden; andere brächten sich durch Läßigkeit um ihr ewiges Heil. Vor dem Gedanken könnten diejenigen zurückschaudern, welche unter denen, die selig werden, keinen Unterschied annehmen wollen. Allein die Schrift ist eben des Gedankens voll, daß es unter denen, die Einen Glauben und Eine Seligkeit allein aus Gnaden haben, doch noch viele Unterschiede in Zeit und Ewigkeit gebe. Wer, der nicht nach vorgefaßten Meinungen urtheilt, könnte das leugnen? Es könnte deshalb immerhin Eine Gemeinschaft unter den Christen in einem gewissen Sinne als Braut dargestellt werden, während in einem andern Sinne alle Gläubigen miteinander die Braut des HErrn ausmachen. Es könnte ja die Braut die letzte selige, heilige Kirche aus Israel sein, deren Herrlichkeit in den Propheten des Alten und Neuen Testamentes mit so glänzenden Farben gemalt ist, – und die Brautjungfrauen könnten Kirchen, Gemeinden, christliche Gemeinschaften aus den Heiden sein. Da würden die Heidenkirchen die Kirche aus Israel, die endlich neugewonnene, dem ewigen Bräutigam zuführen, und theilweise mit ihr ewig selig werden. Du wirst sagen: ist das also die Deutung, welche du von den Jungfrauen gibst? Hältst du das für die richtige, die einzig richtige Erklärung? Meine Antwort ist: einen Deutungsversuch habe ich dir gegeben. Deutungen muß man vorsichtig geben. Etliches ist in der Schrift allen, etliches niemand klar; dazwischen liegt vieles, was der Deutung fähig ist. Dem Schriftausleger ziemt Bescheidenheit; – bescheidentlich aber darf ich meine Deutung wohl auch gegenüber dem aufbrausenden Stolze etlicher Heidenchristen äußern und sie dem Urtheil und Gerichte derer auch unter uns Heidenchristen unterstellen, denen weit über aller Heiden Hochmuth hinaus das göttliche Wort groß und hehr und werth steht.

 Versuchte ich eine Deutung, so bin ich deshalb nicht der Meinung, daß du, mein Leser, unrecht handelst, wenn du darnach strebst, dir die Klugheit der klugen Jungfrauen zu erbitten. Denn das Wort „wachet“ gilt uns allen, auch wenn das „dann“ des ersten Verses und die nächste Deutung desselben und des Gleichnisses auf eine andere Zeit geht als die unsere. Wache, werde den klugen Jungfrauen gleich! Sei an deinem Theil eine kluge Jungfrau. Wenn ein jeder an seinem Theile eine kluge Jungfrau ist, wird es weder an der Braut noch an den Brautjungfrauen fehlen, wenn der Bräutigam kommt. Also wachet! – HErr JEsu! Amen.





  1. „Meine Sünde, meine Sünde, meine große, große Sünde!“
  2. „Zugabe, 1858.“
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