Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient/Nr. 14

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Autor: Claire von Glümer
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Titel: Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient/Nr. 14
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 549–552
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[549]
XIV.

Den Frühling und Sommer hatte Wilhelmine der Pflege ihrer tieferschütterten Gesundheit gewidmet, im Herbst kam sie nach Dresden, heiter, hoffnungsvoll und scheinbar genesen. Sie sang, wie schon erzählt, in mehrern Concerten, und die enthusiastische Aufnahme, die ihr zu Theil wurde, bestärkte sie in dem Entschlusse, die Künstlerlaufbahn, die sie vor zehn Jahren verlassen hatte, auf’s Neue zu betreten. Es wäre dies, nach so langer Pause, selbst wenn sie sich noch ihrer vollen Kraft erfreut hätte, ein sehr gewagtes Unternehmen gewesen; für die dreiundfunfzigjährige, durch die heftigsten Stürme erschütterte Frau war es geradezu unmöglich. Aber vergebens suchten ihre Freunde sie davon zu überzeugen. Gewöhnlich ließ sie den Widersprechenden gar nicht ausreden, sondern vertiefte sich, sobald das Gespräch diese Wendung nahm, in die Erinnerung der Qualen, die sie während der zehnjährigen Unthätigkeit erduldet hatte.

„Ich kann es nicht länger ertragen, ich kann es nicht!“ rief sie dann in dem leidenschaftlichen Tone, der jedes Herz bezwang. „O, hättet Ihr es gesehen, wie ich oft stundenlang auf meinem Sopha gelegen habe, die Augen zur Decke gewendet, mich zwingend – um nur nicht zu denken – die sich durchkreuzenden Streifen der Tapete am Plafond zu zählen und die Nägel, womit sie befestigt war. Wie im Wahnsinn hat es mich oft gepackt – ich mußte zählen, zählen, zählen, bis in die Millionen hinein. Zu andern Zeiten dagegen war’s, als ob sich die schwarzen Streifen und Punkte dehnten und streckten; sie tanzten auf und ab – die Decke schien sich niederzusenken, um mich zu erdrücken. Dann sprang ich auf und lief hin und her – schneller, immer schneller, um die Unruhe in mir, das Drängen und Fluthen zu übertäuben. Aber es war umsonst, und endlich hielt ich es nicht mehr aus in dem kleinen, niedrigen Zimmer; war mir doch Zeit meines Lebens das Himmelsgewölbe noch zu eng. – Wenn es Sturm und Schnee nur irgend erlaubten, rief ich die Hunde, steckte mir ein kleines Beil in den Gürtel und ging in den Wald – da habe ich Bäume gefällt, um nur irgend etwas zu thun.“

Bei diesen Erinnerungen weinte Wilhelmine, wie ich nur sie habe weinen sehen, so daß die dicken hellen Tropfen im vollen Sinn des Wortes über ihre Wangen strömten. Auch uns kamen, beim Anblick ihres Schmerzes, Thränen in’s Auge, und wir verließen sie gewöhnlich, ohne ihr auch nur den zehnten Theil von dem gesagt zu haben, was zu sagen wir uns vorgenommen hatten.

Am 6. Decbr. kamen wir frühmorgens zu ihr, um sie zum [550] Geburtstage zu beglückwünschen. Wir fanden sie in der heitersten Laune, mit glänzenden Augen und rosigem Gesicht. Ihr Tisch war schon ganz mit Blumen und Lorbeerkränzen bedeckt, und sie hatte eben einen Brief bekommen, der ihr ein Engagement in Amerika anbot.

„Muß ich es nicht als eine gute Vorbedeutung ansehen, daß ich diesen Antrag gerade heute bekommen habe?“ sagte sie, und dann malte sie sich aus, wie sie die Amerikaner für deutsche Musik begeistern würde. Diese uncultivirten Massen für die Kunst zu entflammen, erschien ihr – allem Widerspruch zum Trotz – wie die herrlichste Aufgabe, wie der Gipfelpunkt ihres Ruhmes. Noch lieber, das gab sie freilich zu, wäre sie noch einmal durch ihr Vaterland gezogen, um ihren alten Freunden „alte, liebe Lieder“ zu singen, und sie gab die Hoffnung, es zu können, noch immer nicht auf. Aber war Deutschland undankbar, so konnte sie es jetzt verschmerzen, da ihr ein neuer Weg geöffnet war, ihrem Schaffensdrange zu genügen. In ihrer ersten Freude vergaß sie sogar, daß ihr Gatte am allerwenigsten diesem Plane seine Zustimmung geben konnte.

Als wir wenige Tage später von Wilhelminen Abschied nahmen, war sie noch immer unter dem Einflüsse dieser frohen Erregung, aber schon in den nächsten Briefen sprach sich eine gedrückte Stimmung, eine wachsende Muthlosigkeit aus. Sie schreibt:

„Den 1. Januar 1859.

… „Ihr wißt aus eigener Erfahrung, wie ich hier in Anspruch genommen bin, und wie ich kaum eine ungestörte Stunde am Tage mein nenne. Ich habe am vergangenen Dienstag in einem Concerte gesungen, habe nächsten Montag ein großes Geburtstagsfest bei Carus, wo ich die Muse darstelle. Mein Schreibtisch ist angefüllt mit Briefen, die auf Antwort warten, meine Schülerinnen drängen mich ohne Unterlaß – kurz, ich müßte zehn Leben haben, um all dem genügen zu können, und ich werde es auch nicht mehr lange aushalten können, denn ich fühle, wie meine Gesundheit darunter leidet. Es wird wohl am besten sein, ich komme recht bald zu Euch, um mich geistig und körperlich zu erholen, denn ich bin krank an Seel und Leib! dazu der ewig düstre, umnebelte Himmel – es will eben kein heller Stern durchdringen. Ich bin wie ein noli me tangere, reizbar bis auf’s Aeußerste, und an meinen Liedern singe ich mich fast zu Tode.“

„Den 9. Januar 1859.

(An Elise Polko, die Wilhelminen den zweiten Band ihrer musikalischen Märchen gewidmet hatte.)

… „Vor Allem meinen Herzensdank für das treue Gedächtniß, das Sie mir bewahrt; Sie glauben nicht, wie wohl es mir thut, wenn ich einmal wieder von einer Menschenseele höre, daß meine Klänge in ihr festgehalten haben, denn oft kommt es mir vor, als hätte ich ganz umsonst gelebt. Was lassen sich die Leute jetzt für ein Gaukelspiel gefallen, und zwar in denselben Rollen, in denen ich ihnen mein Herzblut hingesungen habe! Wie traurig ist des Mimen Loos! wir sollen und können ja hauptsächlich nur auf die Massen wirken, vermögen aber keine tiefern Spuren einzudrücken, als leichter Sand sie aufnimmt. Ein Windhauch kräuselt darüber hin, und Alles ist verweht und vergessen! Diese Erfahrung mache ich jetzt hier an demselben Publicum, das – was ich zu schaffen vermochte – unmittelbar von mir empfangen. Mein armes, heißes Herz blutet dabei und hätte sich fast verblutet. Ja, das heiße Herz gehört eben dazu. Sie nennen so ein Herz eine Segnung des Himmels – wüßten Sie, theure Frau, wie es mir im Leben zum Fluch geworden ist! Man steht mit einem heißen Herzen so gar allein, denn wer versteht es, sich an seiner Gluth zu wärmen, und scheut nicht vor der Gefahr zurück, sich daran zu verbrennen?“

„Leipzig, 25. Febr. 1859.

„Habt Nachsicht mit einem vernichteten und zerstörten Gemüth, aus welchem alle Harmonie gewichen, in dem alle Saiten zerrissen sind und die, welche übrig blieben, nur harte Mißlaute geben. Der Himmel ist mein Zeuge, ich sehne mich unbeschreiblich nach einer Stunde des Aussprechens mit Euch, aber ich kann im Augenblicke auch nicht annähernd diese ersehnte Stunde feststellen. Ich bin krank und elend und halte mich für verloren.“

Zwei Tage später waren wir in Leipzig. Wilhelminens Briefe hatten uns wohl darauf vorbereitet, sie körperlich leidend zu finden, dennoch waren wir, als wir sie wiedersahen, im ersten Augenblicke wie gelähmt vor Schrecken. War das wirklich dieselbe Frau, die wir vor wenigen Monaten so schön, so lebensfrisch verlassen hatten? Jetzt kam sie uns entgegen in gebrochener Haltung, kaum fähig sich durch’s Zimmer zu schleppen, die Gesichtsfarbe gelblichgrau, die Augen erloschen und von dunkeln Ringen umgeben, die Schläfen eingesunken, die sonst so marmorglatte Stirn von hundert Fältchen durchschnitten. In Thränen ausbrechend, warf sie sich in unsere Arme, und es dauerte lange, ehe sie sich fassen konnte. „Ich bin nur noch der Schatten der Maria!“ sagte sie mit herzzerschneidendem Lächeln, und wir mußten ihr Recht geben.

Aber es kamen Stunden, wo sie geistig und körperlich die einstige Frische wiederfand, freilich nie auf lange Dauer. Nach dem Concerte, in welchem sie anfangs mit Verzweiflung gesungen hatte, weil sie ihre Stimme matt und angegriffen fand, fuhr sie mit uns und war so heiter, so liebenswürdig, so übersprudelnd von Geist, wie nur je zuvor. Sie erzählte von Paris und Berlin, spielte der Doche, der Rachel ganze Scenen nach – und wie wunderschön sah sie aus in ihrem schwarzen Anzuge mit dem Veilchenkranz im blonden Haar! am nächsten Morgen war der lebenswarme Hauch schon wieder dahin. Todtmüde und doch voll Hast und Unruhe reiste sie nach Dresden, um ein Concert für sich selbst zu geben – den bedeutenden Ertrag desselben wies sie dem Weberdenkmal zu. Gleich darauf kam sie nach Leipzig zurück. Sie hatte versprochen, in einer Matinee des Bassisten Pögner zu singen, und hielt Wort, obwohl sie in einem Zustande der Aufregung und Abspannung war, der uns zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß gab.

Aber diese Sorge galt damals weniger ihrem Körperleiden, das wir für ein vorübergehendes hielten, als den geistigen Kämpfen und Schmerzen, in denen wir sie ringen und erliegen sahen. Herr von Bock hatte, wie sich’s erwarten ließ, seine Einwilligung zu der amerikanischen Reise versagt, und Wilhelmine hatte nur mit verdoppeltem Eifer nach einem Wege gesucht, der sie in der Heimath an das gewünschte Ziel führen könnte. Nach allen Seiten hin hatte sie anzuknüpfen gesucht – von allen Seiten empfing sie kühle, ausweichende, ablehnende Antworten, und so mußte sie endlich doch aus allen diesen Entschuldigungen und Vorwänden herauslesen, daß ihre Zeit als Künstlerin vorbei war. Diese Ueberzeugung, gegen die sie sich lange mit verzweiflungsvoller Beharrlichkeit sträubte, brach ihren Lebensmuth. So oft wir sie später, gegen unsere Ueberzeugung, durch die Hoffnung endlicher Genesung zu trösten suchten, brachte sie uns durch die traurige Frage zum Schweigen: „Was soll ich denn noch in der Welt? – ist nicht für mich Alles vorbei?“

Am 6. März war das Pögner’sche Concert. Nach jedem Liede brach Wilhelmine weinend zusammen. Aber wie sang sie auch! mit müder, matter Stimme zwar, aber mit dem herzerschütterndsten Ausdruck – es war wirklich, als ob sie in den letzten Liedern, die sie singen sollte, ihr Herzblut hinströmen ließe. Den „Wanderer“ von Schubert sang sie; ihr unvergeßliches: „Ich grolle nicht“, das Schumann nicht umsonst ihr zugeeignet hat; die Schubert’schen Lieder: „Geheimes“, „Trockne Blumen“, „Ungeduld“ und endlich Mendelssohn’s „Es ist bestimmt in Gottes Rath“. Als wir nach diesem Liede zu ihr kamen, sagte sie, indem sie uns beide Hände reichte: „Die letzten Worte, meine Lieben, habe ich für Euch gesungen:

Wenn Menschen von einander gehn,
So sagen sie: auf Wiedersehn!“

Wir haben seitdem kein Lied mehr von der geliebten Stimme gehört. Unmittelbar nach dem Concerte kehrte Wilhelmine nach Dresden zurück. Beim Abschied versprach sie uns so bald als möglich in unsere Wolfenbüttler Einsamkeit zu folgen, aber statt der Ersehnten kamen nur die traurigsten Briefe, – Briefe, in denen wir alle die Schmerzen und Kämpfe wiederfanden, das momentane Sichaufraffen und wieder Erliegen, das uns beim letzten Zusammensein mit ihr das Herz zerrissen hatte. Sie schreibt:

„Dresden, 12. März 1859.

… „Ich kann mich sehr niederwerfen lassen, aber es kommt auch wieder der Moment, wo ich mich mit aller Kraft erhebe. Aber all das muß aus freier eigner Willenskraft hervorgehen, und geht es auch nicht so schnell, wie Eure Liebe und Fürsorge wünscht, so habt Geduld.“

„Dresden, 19. März 1859.

„Es scheint, als wäre es im Rathe der Götter beschlossen, daß ich hier wie Prometheus angeschmiedet liegen und mir nicht die prosaische Leber, sondern das poesiereiche Herz täglich aus der wunden Brust reißen lassen soll. Die ärztliche Consultation hat meinen Zustand bedenklicher herausgestellt, als ich selbst geglaubt, und [551] Dr. W. will mich wenigstens noch 8–10 Tage hier haben, um mich genau zu beobachten und meinen sehr complicirten Zustand kennen zu lernen, Nun wißt Ihr wohl am besten, Ihr Lieben, daß ich mir gar wenig mehr aus dem Leben mache und mit dem Gedanken zu sterben in letzter Zeit sehr vertraut geworden bin; aber ich möchte ein Geschäft auf Erden noch vollbringen, damit meine Spur nicht gar zu schnell verweht ist. Ich will wirklich mein wunderbares Leben noch aufzeichnen.“

Schon im December 1858 war Wilhelmine mit Ernst Keil, dem Herausgeber und Verleger der Gartenlaube, ihrer Memoiren wegen in Unterhandlungen getreten. Auf Keil’s wiederholte Aufforderungen, ihm den Anfang ihrer Lebensgeschichte für sein Blatt zu überlassen, antwortete sie am 5. Januar 1859, daß sie im Augenblick noch nicht an die Veröffentlichung ihrer Memoiren denken könne. „Glauben Sie mir,“ schreibt sie an Keil weiter, „daß ich überhaupt nur mit schwerem Herzen daran gegangen bin, die Geschichte meines Lebens zu erzählen, denn es ist eben jene alte Geschichte, bei welcher einem das Herz im Leibe bricht. Die Welt hat nur die Rosen auf meinem Lebenspfade gesehen, aber nicht gewußt, wie wund ich mich an ihren Domen geritzt habe. Indessen es ist mir daran gelegen, daß mein deutsches Vaterland erfahre, aus welchen Schmerzen die Künstlerin sich entwickelt hat, die es so oft durch sein Zujauchzen diese Dornen hat vergessen machen. Ich werde im Laufe dieses Monats nach Leipzig kommen, das Fertiggeschriebene mitbringen und Ihnen daraus vorlesen, damit Sie Sich überzeugen, wie unmöglich es ist, damit jetzt schon in die Oeffentlichkeit zu treten … Aber ich werde fleißig fortfahren an diesen Lebenskizzen zu schreiben, und wenn ich sterbe, so werde ich dieselben als ein Vermächtniß der deutschen Nation hinterlassen, und die Gartenlaube soll meine Testamentsvollstreckerin sein.“

In den ersten Märztagen hatte Wilhelmine bei Keil den Anfang ihrer Lebensgeschichte vorgelesen – es sind die Aufzeichnungen, die ich im Auszuge zu Anfang dieser Erinnerungen eingeschaltet habe. Wilhelmine hat leider nicht mehr daran fortarbeiten können, aber die Absicht es zu thun hat sie noch lange gehabt. In ihrem Briefe vom 10. März fährt sie fort:

„Keil hat mir wieder einen sehr freundlichen, aber auch sehr dringenden Brief geschrieben, den ich noch nicht beantwortet habe, weil mir der Entschluß immer noch sehr schwer wird, aber endlich muß es doch sein! ich will heute noch antworten. Nur will ich nichts überstürzen und mir wenigstens bis zum Herbst noch Zeit lassen.“

„Dresden, 23. März 1859.

„Mit welcher Zuversicht habe ich heute früh beim Erwachen auf Nachrichten von Euch gehofft! Vergebens! seid Ihr nur böse? O, seid es nicht, lieben Kinder! wüßtet Ihr, daß es nur das furchtbare Müdesein ist, was mich so unbeweglich macht. Und dann bin ich auch körperlich so herunter, daß ich kaum durch die Stube gehen kann. O, seid nicht böse, quält mich nicht. Auch drücken zu allem Andern die ernstesten Sorgen. Alle Opfer, die ich diesen Winter gebracht habe, sind umsonst gebracht, denn ich fühle es, ich kann den Kampf mit dem Leben nicht noch einmal aufnehmen. Ich bedarf der Ruhe, der Pflege. Mit Ungeduld erwarte ich den Ausspruch des Arztes, was im Lauf des Sommers mit mir geschehen soll. Am liebsten setzte ich mich für die Dauer der schönen Jahreszeit mit Euch an einen schönen Schweizer oder Tyroler See. Nur Ruhe um mich, den Anblick einer schönen Natur und ein mildes, sanftes, geduldiges Freundeswort! Ich bin nur in einem gar zu jämmerlichen körperlichen Zustande, so daß ich nicht werde reisen können. O Gott, meine geliebten Freundinnen, wie bin ich müde von alle dem!“

Am Morgen des 2. April schrieb sie uns die wenigen Worte: „Ich bin morgen Abend um 7 Uhr bei Euch.“ Aber noch vor dem Briefe erhielten wir eine telegraphische Depesche mit der Nachricht, daß sie nicht kommen könnte, und am folgenden Tage die mit zitternder Hand geschriebenen Zeilen:

„Den 2. Mittags 12 Uhr. So eben habe ich mich einer strengen ärztlichen Prüfung unterworfen gehabt, und aus den unbestimmten, ausweichenden Antworten geht es mir mit Gewißheit hervor, daß ich verloren bin! Ich fürchte den Tod nicht, aber es hat mich doch gepackt, so ein jämmerliches Ende vor mir zu sehen. Ich kann nicht reisen, darum kommt Ihr, ich muß Euch sprechen. Bis in den nahen Tod

Eure Wilhelmine.“

Es war ein trauriges Wiedersehen. Wilhelmine war von den Aerzten aufgegeben. “Anfangs schien es sogar, als ob es rasch zu Ende gehen würde. Die Aerzte gaben der Kranken nur noch vier bis sechs Wochen Frist, und wir konnten kaum hoffen, daß Herr von Bock, der von ihrem Zustande benachrichtigt worden war und dessen Ankunft wir Mitte Mai erwarteten, sie noch am Leben finden würde. Wilhelminen mußte natürlich die Gefahr verborgen bleiben, aber obwohl sich ihre ganze Umgebung bemühte, heiter und hoffnungsvoll zu scheinen, und obwohl die Kranke noch immer die weitausgreifendsten Pläne für die Zukunft machte, bin ich überzeugt, daß sie sich nie länger als auf Augenblicke über ihren Zustand getäuscht hat. Im Grunde war es ihr gar nicht Ernst mit dem Wunsch zu genesen. Die Sehnsucht nach Ruhe, die sie seit frühster Jugend in der Seele getragen hatte, war mit den Jahren, mit den Leiden gewachsen. Und doch – wunderbarer Widerspruch! – doch sträubte sich ihr ganzes Wesen gegen die herannahende Auflösung. Ihrem kräftigen, lebensvollen Organismus stand der Tod nicht nur als etwas Fremdes, Feindseliges, sondern als etwas Unfaßbares gegenüber. Wenn sie eben aus tiefster Seele aufgeseufzt hatte: „Wie wohl wird mir sein, wenn ich endlich daliege, wo mich nichts mehr stört!“ – kam plötzlich jener Schauder über sie, den gewöhnlich nur die Jugend vor dem Tode empfindet. Dann klammerte sie sich wieder mit aller Macht an das schwindende Leben; dann wollte sie getröstet, getäuscht, überredet sein – dann täuschte sie sich selbst und Andere. Es hat bis in die letzten Monate ihres langen Todeskampfes Tage und Wochen gegeben, wo wir trotz des Ausspruchs der Aerzte und trotz ihres sichtlichen Hinschwindens nicht glauben konnten, daß wir eine Sterbende vor uns sahen, bis ein neuer bedenklicher Anfall unsern Hoffnungen wieder ein Ende machte.

Aber während sich Wilhelmine einestheils in die Erinnerung an das Vergangene vertiefte, kehrten anderntheils ihre Gedanken wieder und wieder zu der Frage zurück: welche Lösung der Tod den Räthseln des Lebens bringen mag? Wilhelmine hatte sich viel mit den Schriften der Materialisten beschäftigt; sie war durch dieselben in der Zuversicht erschüttert, die sie früher beim Hinblick auf „das Ende der Dinge“ erfüllte. Die Tröstungen des „Kinderglaubens“, den sie jetzt belächelte und – zurückwünschte, hatte sie verloren, war aber nicht zu der Resignation gelangt, ohne welche das Aufgeben des Glaubens an persönliche Fortdauer kaum möglich ist. Wilhelminens ganzes Wesens widerstrebte dieser Resignation. Sie hätte eine Welt mit ihrem Ich erfüllen mögen und sollte sich nun darein ergeben „in’s Nichts zurück zu fließen“. Immer kam sie auf dies Thema zurück, und obwohl sie bei ihrer Ansicht verharrte, war es unverkennbar, daß ihr der Widerspruch wohl that, daß sie sich danach sehnte.

Was man im gewöhnlichen Sinne des Wortes fromm nennt, war Wilhelmine nicht, aber ein tief religiöser Zug geht durch ihr ganzes Wesen. Der höchste Ausdruck ihrer Freude, ihrer Begeisterung ist immer ein Ausblick zu Gott, und jeder Schmerz, jede Angst führt sie zu ihm. In ihren Tagebuchblättern schreibt sie: „Neujahrsnacht 1838. Nimm, hohes, unerforschliches Wesen, das wir Gott nennen, nimm die Gefühle der Seele, die Du mir eingehaucht, als Gebete auf. Laß sie zu Deinem Throne dringen, denn sie sind der köstlichste Weihrauch, den ich Dir zu spenden habe. Du bedarfst keiner Worte; ein Gefühl, wie sich eben viele in meiner Brust gelöst haben, ist für Dich die deutlichste Sprache. Mir ihr brauche ich auch nicht in die erbauten Tempel zu gehen, mein einsames Stübchen war eben der heiligste Tempel, in dem ich heiß und brünstig und mit begeisterten Thränen zu Dir gebetet habe. Nimm sie auf, die Gefühle, als Gebet. Sie steigen auf aus meiner Seele, die das Beste will und Dich um Kraft anfleht, es ausführen zu können.“

„Das war Religion, was eben in meiner Brust sich regte. Es ist die einzige, zu der ich mich bekenne. Dringt mir keine Meinungen von thörichten Menschen auf, noch legt mir den Zwang der Gebräuche und Formen auf. Meine Seele hat dem Schöpfer ein Halleluja gesungen, so gut wie in irgend einer Kirche – und dies Halleluja kam aus tiefer Brust.“

(Aus spätern Jahren.) „… Ich stehe mit meinem Gott so gut! das fühle ich bis in den Mittelpunkt meiner Seele, die sein eigen. Nicht sein verzogenes, aber sein ungezogenes Kind bin ich, dem er wie ein guter, aber strenger Vater jedes Vergehen rügt, der aber auch Nachsicht und Geduld hat. Ich quäle ihn ja auch [552] nicht mit zu häufigen Bitten. Nein – nur wenn es dem Herzen recht Bedürfniß ist, dann flüchte ich zu ihm. Heute habe ich eine Thräne durch die düsteren Wolken zu ihm gesendet. Sie war ein heißes, brünstiges Gebet – ja, und er hat es erhört!“

„… Der ganze Himmel ein Feuermeer! Blitz auf Blitz! wie durchschauert mich diese Erhabenheit der göttlichen Allgewalt, die uns feurige Blitze sendet, wo wir in Eis und Kälte erstarren sollten, denn es ist der 4. December. Wie klein und nichtig erscheinen alle Gefühle für das Irdische gegen die Empfindungen, die solche Gott gleichen Erscheinungen erregen! Diese Blitze sind Gott, dieser Sturm, der die Luft durchbebt, der uns arme Erdengeschöpfe erbeben macht, ist Gott, vor dem wir niederschaudern und sagen: Herr, gieb uns Armen Kraft, Deine Größe zu ertragen.“

… „Noël mit seiner düstern, schwarzen Philosophie hat meine Seele mit bangem Schauer erfüllt. – Nein, er hat nicht Recht! ich widerspreche ihm aus dem Gefühl der Ueberzeugung, die meine Seele von ihrem Fortbestehen hat. Er wendet mir zwar ein, daß von der gänzlichen Vergänglichkeit unseres Daseins und von dem Nichtbestehen der Seele das hohe Alter eines Menschen den klarsten Beweis gäbe, da in ihm jede Thätigkeit der Seele aufhöre und jede leise Saite des tiefern Empfindens verklinge. Aber wenn auch die Federkraft der Seele nachläßt, wenn das Bewußtsein derselben aufhört – ist das ein Beweis von ihrem Nichtvorhandensein oder Aufhören? Können wir denn wissen, was in dem blöden Greise vorgeht, wenn ihn auch die Gebrechlichkeit seines Körpers wie ein seelenloses Wesen erscheinen läßt? Kennen wir die Träume des unglücklichen Wahnsinnigen, der wachend keiner Mittheilung, keines Bewußtseins fähig ist? Wäre das Wesen, das über uns waltet, ein gütiges, wenn es das Empfinden jeder Pein, jeder namenlosen Sehnsucht in unsere Brust gepflanzt hätte, ohne uns das klare Verständniß des Erlebten und Ersehnten zu geben, wenn erst die Fesseln der Seele gelöst sein werden? Die abstrakten Begriffe, die wir uns von der Seele und der Fortdauer machen, mögen falsch und verwerflich sein; aber keiner soll mir den Glauben nehmen, daß Etwas von uns fortbesteht, das zu einem höheren Zwecke bestimmt ist, als nur etwa das Feld zu düngen, und daß bei dem Zusammensinken unseres Staubes, dem doch oft ein großer Gedanke, ein edles Streben innewohnte, noch etwas Anderes in’s Dasein treten muß, als nur die Blume, oder der Krautkopf, oder die Giftpflanze, die aus unserer Asche aufschießt. Was aus uns wird? – diese Frage können wir freilich nicht lösen. – Er dort oben wird es – aber daß wir etwas, und etwas bewußt Großes werden, der Glaube steht in mir fest.“

In ihren letzten Lebenstagen hat sie diesen Glauben wiedergefunden.