Ersch-Gruber:Landeshoheit

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Section 2, Theil 41 (1887), ab S. 336. (Quelle)
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LANDESHOHEIT. Das Wort Landeshoheit, Landesherrlichkeit, wird vielfach als identisch mit Souveränetät gebraucht und bezeichnet so den Inbegriff der dem Oberhaupte einer unabhängigen Gesammtheit (Staat oder Kirche), zustehenden Regierungsrechte. In einem andern, technischen Sinne in specieller Anwendung auf die deutschen Fürsten und Städte ist Landeshoheit der Inbegriff der selbständigen Regentenrechte der deutschen Reichsstände.

Die Landeshoheit in diesem letztern Sinne hat sich die kaiserliche Gewalt beschränkend, gewohnheitsrechtlich gebildet und ist, nach reichsgesetzlicher Anerkennung, im Laufe der Jahrhunderte zu stets sich mehrender Machtvollkommenheit gelangt. Beamtenthum, Beneficialwesen und Immunitäten sind die Wurzeln, aus denen sie entwachsen; die Keime zu ihrer Entwickelung finden wir bereits in der Fränkischen Monarchie gelegt.

Der Graf, der im pagus dem die Gerichtsgewalt innehabenden thunginus zunächst nur als Executivbeamter zur Seite stand, wurde nach Verdrängung jenes alten Volksbeamten und nach dem Verschwinden der besondern königlichen Finanzbeamten, der sacebarones, schon früh in der Merovingerzeit der einzige höhere Beamte des Gaues. Unmittelbar unter dem Könige stehend und nur in einzelnen Territorien der Oberaufsicht der praesides unterworfen, hatten die Grafen kraft ihrer amtlichen Stellung einen weitgehenden Einfluß, der noch wesentlich dadurch vermehrt wurde, daß sie regelmäßig zugleich ansehnlichen Grundbesitz innerhalb ihres Gaues zu eigen hatten. Wird doch in einem Edicte Chlotar's von 614 geradezu bestimmt, kein judex (Graf) aus andern Provinzen oder Gegenden dürfe irgendwo eingesetzt werden.

Die durch diese Umstände begründete Macht der Grafen wurde schon in Merovingischer und nicht minder in Karolingischer Zeit vielfach zur Bedrückung der Untertanen und zur Anmaßung von Rechten misbraucht. Aus allen Theilen des Reiches erschollen Klagen über das übermäßige Entbieten zu Gerichtstagen, das Verlangen ungeschuldeter Hand- und Spanndienste, die Verweigerung der Rechtspflege gegenüber Leuten, welche die Grafen nicht durch Geschenke gewannen, die Vertreibung der Grundbesitzer von Haus und Hof durch übermäßige Vexationen, das Herabdrücken Freier zu Gräflichen Ministerialen.

Die von Karl dem Großen als organisches Glied in die Reichsverwaltung aufgenommenen ständigen königlichen missi, welche alljährlich sämmtliche Gaue des Reiches zu bereisen, die Amtsführung der Grafen zu controliren und Beschwerden über sie für den König entgegenzunehmen hatten, vermochten nur für einen kurzen Zeitraum diesen Uebergriffen der Grafen einen Damm entgegenzusetzen. Schon unter Ludwig dem Frommen verfiel dieses Institut der ständigen missi, und je mehr in der folgenden Zeit die Macht des Königs sich schwächte, um so höher stieg diejenige der Grafen. Dazu kam, daß die Grafen, da sie feste Einkünfte nicht bezogen, regelmäßig Beneficien vom Könige erhielten. Infolge dessen mußte mit dem Erblichwerden der Lehne auch zugleich das Grafenamt sich zu einem erblichen gestalten, was abermals die Gewalt dieser Beamten kräftigte. Insbesondere haben diejenigen Grafen, welche zu Stammesherzögen sich emporschwangen, eine Stellung im Reiche eingenommen, die von den Königen ziemlich unabhängig war und als Landeshoheit bezeichnet werden muß. Denn so wenig reichsgesetzlich geregelt und darum je nach den zeitweiligen Machtverhältnissen verschieden die Stellung dieser Herzoge war: daß sie kraft eigenen Rechts Regierungshandlungen vorgenommen, wird jedenfalls anerkannt werden müssen.

Nach Niederwerfung der herzoglichen Gewalt (1180) steigerte sich auch die Macht der andern weltlichen Beamten theils durch Uebertragung, theils durch Anmaßung selbständiger Regierungsrechte bald zu einer wahren Landeshoheit. Das Gleiche gilt von den geistlichen Fürsten. Diese hatten durch die bereitwillige Verleihung zahlreicher Immunitäten seitens der Könige eine neben den Grafen selbständige Stellung erlangt und ihre Unterstützung war bei den vielfachen Zwistigkeiten zwischen König und Papst von nicht minderer Bedeutung für die Herrscher, als diejenige der weltlichen Beamten.

Daher wurden von den Königen, theils um zunächst bei der Königswahl durchzudringen, theils um später eine wirksame Stütze im Lande zu haben, einzelnen [337] geistlichen gleich wie den weltlichen Großen vielfach Privilegien ertheilt, die ihnen ursprünglich königliche Rechte als eigene übertrugen, ganze Grafschaften wurden ihnen verliehen und ihre Landeshoheit auch rechtlich sanctionirt. Nicht freilich als ein bestimmt abgegrenzter Kreis von Rechten tritt uns hier die Landeshoheit entgegen, sondern als ein Conglomerat verschiedenartigster, für die einzelnen Fürsten verschiedener und auf den verschiedensten Titeln beruhender Rechte, aber doch als eine Vereinigung selbständiger Regierungsrechte.

Die erste allgemeine Anerkennung der Landeshoheit durch Reichsgesetz wurde von Friedrich II. für die geistlichen Fürsten in der confoederatio cum principibus ecclesiasticis 1220 als Gegenleistung für die Wahl seines Sohnes Heinrich zum König ausgesprochen. Im J. 1231 folgte in dem statutum in favorem principum die Anerkennung der Landeshoheit der weltlichen Großen.

Nicht durchgehends neue Bestimmungen sind es, die in diesen Gesetzen gegeben wurden; vielmehr ist das, was an Regierungsrechten hier den geistlichen und weltlichen Großen eingeräumt wird, thatsächlich zweifellos schon früher von den meisten ausgeübt worden; ja, die confoederatio cum principibus ecclesiasticis beginnt sogar mit der Versicherung, daß sie die Macht des Königs schwächende Misbräuche beseitigen wolle. Trotzdem sind diese Gesetze von einschneidendster Bedeutung: sie schaffen zwar nicht eine ihren Functionen nach scharf abgegrenzte Landeshoheit, aber sie sanctioniren einen vielfach durch Willkür und Anmaßung herbeigeführten Zustand, in welchem die Immunitätsberechtigten und die Beamten Regierungsrechte zu eigenem Rechte erlangten.

Die der mittelalterlichen Rechtsauffassung charakteristische Vermischung von öffentlichem und privatem Recht führt dazu, den «Landesherren» ein wahres «dominium» an ihren Bezirken zuzuschreiben, und der Ausdruck «domini terrae», der sich jetzt für das schon in früheren Gesetzen vorkommende «principes terrae» findet, zeigt, daß man die Rechte der Landesherren für ebenso wenig von der königlichen Macht abhängig erachtete wie das wahre Eigentum an Grund und Boden.

Die Bestätigung der erlangten Freiheiten, der Gerichtsbarkeit, des Rechts der Ernennung der Grafen, des Münzrechts, der Zollgerechtigkeiten und des Geleitsrechts, des ausschließlichen Rechts, Burgen und Städte in ihrem Gebiete zu gründen, bildeten nebst der Anerkennung der kirchlichen Immunität und dem Verbot der Pfahlbürger die wichtigsten Bestimmungen der genannten Gesetze. Von hervorragendster Bedeutung war, dass zugleich den domini terrae das Recht gegeben wurde, innerhalb ihres Gebietes Gesetze zu erlassen und neues Recht zu schaffen, allerdings nur unter Zustimmung der meliores et maiores terrae, sodaß also mit der reichsgesetzlichen Anerkennung der Landeshoheit Hand in Hand die Beschränkung derselben durch die Landstände ging (Sententia de iure statuum terrae, 1. Mai 1231; LL. II, 283). Auch erkannte der König an, dass er zum Nachteil der Landesherren Zollgerechtigkeiten nicht statuiren könne (Sententia contra warandium thelonei vel monetae 1220. LL. II, 237).

Der so geschaffene Zustand blieb Rechtens. Insbesondere ist das Recht der Landesherren, mit Zustimmung der Stände selbst Gesetze zu erlassen, seitdem feststehend. Eine besondere Anerkennung hat es in Rudolf's I. Würzburger Landfrieden von 1287, §. 44 (LL. II, 452) erhalten, in welchem den Landesherren ausdrücklich das Recht eingeräumt wird, im Interesse des Friedens Satzungen zu treffen, die mit dem kaiserlichen Landfrieden in Widerspruch stehen (Swaz ouch die furste oder die lantherren in irme lande mit der herren rate sezzent und machent disem lantfriden zu bezzerunge und zu vestenunge, daz mugen si wol tun, und damitte brechen sie des landfridis niht). Bei der Fülle von Materien, welche dieser Landfriede regelt, liegt in dieser Clausel thatsächlich ein sehr weitgehendes Gesetzgebungsrecht ausgesprochen.

Von entscheidender Bedeutung für die Weiterbildung der Landeshoheit ist dann vor allem die zu Nürnberg 1356 erlassene Goldene Bulle Karl's IV. gewesen, welche den Kurfürsten, den «sieben glänzenden Leuchtern zur Erhellung des Reiches», weitgehende Rechte einräumte. Bergwerks- und Salzgerechtigkeiten, Judenschutzrecht und Zollrecht, Münzrecht und Gerichtshoheit, privilegia de non evocando und de non appellando, Untheilbarkeit der nach Primogeniturordnung vererblichen Kurlande nebst dem Rechte, diese Lande durch Rechtsgeschäfte aller Art zu vergrößern, mußte der König den Kurfürsten zugestehen. Sie erlangten damit ungefähr alles, was die Landesherren ohne vollständige Beseitigung der kaiserlichen Obergewalt erreichen konnten; und damit war zugleich für die andern Fürsten das Ziel, dem auch sie zuzustreben hatten, gegeben.

Es blieb ihnen nicht versagt, dieses Ziel im ganzen zu erreichen. Wie in der ersten Hälfte der deutsch-mittelalterlichen Geschichte der Kampf zwischen Papstthum und Kaiserthum zur Hebung der Macht der Fürsten und insbesondere der spätern Kurfürsten ganz wesentlich beitrug, so führte in den spätern Jahrhunderten der Kampf zwischen Kaiser und Kurfürsten um die Oberherrschaft im Reiche zu einer Stärkung der Bedeutung der kleinern Fürsten. Auch die Absonderung der Kurfürsten als besonderes Collegium auf den Reichstagen, im eigenen Interesse unternommen, mußte dazu führen, im Fürstencollegium die Bedeutung der kleinern Herren zu erhöhen. Endlich ließ die vollständige Auflösung jeder Autorität des Kaisers und des Reiches in den Kriegen, die im Gefolge der Reformation Deutschland heimsuchten, jeden kleinen Herrn als nahezu unbeschränkten Gebieter in seinem Territorium erscheinen.

Zugleich mit diesem kleinern Fürsten errangen sich die Reichsstädte die Landeshoheit. Früh schon mit Immunitäten bedacht, erlangten sie unter Wilhelm von Holland auch den allen Landesherren zustehenden Zutritt zu den Reichstagen, und zwar mit einem den Fürsten gleichen Stimmrechte. Letzteres wurde allerdings nach [338] Beendigung des Interregnums nicht mehr anerkannt. Doch sind die Städte seitdem stets auf den Reichstagen erschienen. Während ihnen jeder Kaiser und die Fürsten nur berathende Stimme zusprachen, erachteten sie schon zu Maximilian's Zeiten selbst dafür, daß kein Reichsgesetz sie binde, dem sie nicht zugestimmt. Allerdings konnten sie diesen Anspruch damals nicht praktisch durchführen, doch gelang es ihnen, die Frage, ob sie consultatives oder decisives Votum hätten, im 16. Jahrh. wiederholt zur Erörterung zu bringen und im 17. Jahrh. endlich zu ihren Gunsten entschieden zu sehen.

Mit dem Westfälischen Frieden hat diese Entwicklung ihren Abschluß erreicht. Nicht nur alle bisher erworbenen Freiheiten und Gerechtigkeiten werden hier den Territorialherren bestätigt, nicht nur das Recht des Decisivvotums bei der Reichsgesetzgebung wird hier allen Reichsständen zugesprochen; auch das Recht, selbständig mit auswärtigen Fürsten Bündnisse zu schließen, muß ihnen der Kaiser einräumen – sofern sie nur nicht gegen Kaiser und Reich sich richten.

In den Wahlcapitulationen der Kaiser wurde dieser Zustand als zu Recht bestehend stets von neuem anerkannt und seine Aufrechterhaltung versprochen. Ausdrücklich verpflichten sich hier die Kaiser, «Churfürsten, Fürsten und Ständen ihre Regalien, Obrigkeiten, Freiheiten, Privilegien – gemachte Uniones, Erbverbrüderungen, Reichs-Pfandschaften, Gerechtigkeiten, Gebräuch und gute Gewohnheiten – zu handhaben und zu schützen und niemandem einig Privilegium darwider zu ertheilen», ferner «keinem Churfürsten, Fürsten und Stand seine Landsassen, Unterthanen und Eingesessenen – von deren Botmäßigkeiten und Jurisdictionen, wie auch wegen Landesfürstlichen hohen Obrigkeit und sonsten rechtmäßig hergebrachten respective Steuern, Zehnden und Schuldigkeiten – zu eximiren und befreien».

So waren denn thatsächlich und rechtlich die Landesherren von der kaiserlichen Gewalt nahezu ganz unabhängig geworden; und wohl mochten Juristen fragen, wie sie dieses monströse Staatsgebilde, das sich Römisches Reich Deutscher Nation nannte, classificiren sollten, und dabei zu dem Resultate kommen, es sei weder ein Staat noch ein Staatenbund, es lasse sich überall nicht anders bezeichnen, denn als monstrum und prodigium.

Trotzdem hat die Jurisprudenz des Reichskammergerichts mit klarem Blick scharf und consequent die richtige Auffassung der Stellung der Landesherren festgehalten. Nur Beamte des Kaisers sind sie, erbliche, unabsetzbare Beamte, die kraft eines eigenen,iIhnen nicht entziehbaren Rechts die ursprünglich kaiserlichen Hoheitsrechte für sich selbst, in ihrem eigenen Interesse ausüben; aber sie sind Beamte, als solche an die Gesetze gebunden und den Gerichten – soweit nicht ihre Exemtionen reichen – unterworfen. Wohl sagten sich die Richter des Kammergerichts, daß wenn sie einen «Landesherren» wegen ungerechtfertigter Bedrückung und Aussaugung seiner «Unterthanen» zum Schadenersatz verurtheilten, in letzter Linie es doch wieder diese selben Unterthanen sein würden, welche den Schadenersatz für den ihnen selbst zugefügten Schaden zu tragen hätten; aber sie verurtheilten doch den «Landesherrn»; der königliche Beamte war nicht der Gerichtsbarkeit entzogen. Nur der Kaiser stand über dem Gericht. Von diesen Grundsätzen ist das Reichskammergericht niemals abgewichen, und das Verdienst dieses vielgeschmähten Instituts, dessen Langsamkeit und Unordentlichkeit im Geschäftsgange übrigens hauptsächlich durch Geldmangel veranlaßt wurde, beruht wesentlich darauf, daß es Hoch und Niedrig in unparteiischer Weise Recht sprach, daß es das Bewußtsein lebendig erhielt: es gibt auch ein Gericht, bei dem man Recht findet gegen die Fürsten.

Zur vollen Souveränetät wurde die Landeshoheit durch die Auflösung des alten Deutschen Reiches. Hatte Preußen schon seit seiner Erhebung zum Königreich eine Stellung erlangt, die es den vollsouveränen Staaten Europas gleichstellte, so mußte im Preßburger Frieden 1805 der Kaiser den mit Napoleon verbündeten kleinern Machthabern die Souveränetät in demselben Umfang zugestehen, wie er selbst sie in seinen Erblanden besaß. Daß damit der Untergang des Deutschen Kaiserreiches entschieden war, findet in charakteristischer Weise in dem Friedensinstrument selbst seinen Ausdruck, wenn dort (Artikel 7) gesagt wird, daß die Könige von Baiern und Württemberg nicht aufhören werden «d'appartenir à la conféderation Germanique». Am 1. Aug. 1806 erklärten dann die Rheinbundsstaaten ihren Zusammenhang mit dem Deutschen Reiche für gelöst, indem sie sich zur Rechtfertigung dieses Schrittes auf den seit 1795 bestehenden Zustand des Verfalls des Reiches beriefen, wo «on cherchait en vain l'Allemagne au milieu du corps germanique». Die unmittelbare Folge war die Niederlegung der Krone durch Kaiser Franz am 6. Aug.

Die Souveränetät der Landesherren, in manchen Staaten durch Beiseitesetzung der Landstände zur absoluten Herrschaft gesteigert, hat dann über 50 Jahre ungeschmälert bestanden, denn durch die Verfassung des Deutschen Bundes ist sie in keiner Weise beeinträchtigt. Anders steht es mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes und derjenigen des Deutschen Reiches. Durch Sanctionierung dieser Verfassungen haben die Fürsten der Einzelstaaten, respective die Senate der Freien Städte nicht nur auf eine festbestimmte Reihe von Hoheitsrechten verzichtet, sondern auch die rechtliche Möglichkeit geschaffen, daß selbst gegen ihren Willen ihnen weitere Rechte entzogen werden. Durch Artikel 78 der genannten Verfassungen hat der Bund, respective das Reich das Recht erhalten, im Wege der Gesetzgebung seine eigene Competenz – abgesehen von verhältnismäßig unbedeutenden Sonderrechten – auch ohne Zustimmung der Einzelstaaten unbeschränkt zu vermehren, und dadurch mit der Competenz der Einzelstaaten zugleich die in der Landeshoheit ihrer Staatsoberhäupter liegenden Rechte beliebig einzuschränken. Dadurch ist die Souveränetät der Landesherren wesentlich eingeschränkt, wenn auch die Gesammtheit der «verbündeten Regierungen» Träger der Souveränetät des Reiches ist. Die Landeshoheit ist [339] durch den Artikel 78 im heutigen Reiche principiell viel bedeutungsloser geworden als sie es im alten Reiche war: während in letzterm die unter der Collectivbezeichnung der Landeshoheit den Reichsständen zustehenden Rechte als selbständige Rechte verstanden und durch Kaiser und Reich nicht gemindert und geschmälert werden konnten, bietet die heutige Reichsverfassung das Mittel, auch gegen den Willen der Landesherren der Landeshoheit im Wege der Reichsgesetzgebung nicht nur engere Grenzen zu ziehen, sondern sie für die meisten Staaten sogar ganz zu beseitigen. Nur soweit die Landeshoheit sich auf Sonderrechte bezieht, ist sie ohne Zustimmung des berechtigten Einzelstaatshauptes nicht aufzuheben. Von diesem Sonderrechten können die in der Reichsverfassung selbst festgestellten («verfassungsmäßigen Sonderrechte») zwar im Wege der Reichsgesetzgebung durch Verfassungsänderung beseitigt werden, aber nach Artikel 78 al. 2 nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates. Dagegen sind die im §. 3 des Einführungsgesetzes zur Reichsverfassung bezeichneten Sonderrechte, («vertragsmäßige Sonderrechte»), trotz entgegengesetzter Praxis, im Wege der Reichsgesetzgebung überhaupt nicht, sondern nur durch Vertrag mit dem berechtigten Einzelstaate zu beseitigen. Denn §. 3 bestimmt ausdrücklich, daß die Vereinbarungen über diese Sonderrechte durch die Reichsverfassung nicht berührt werden, und daraus ergibt sich unmittelbar, daß auch die in Artikel 78 geschaffene Möglichkeit einer Verfassungsänderung sie «nicht berührt».

(H. O. Lehmann.)