Für die darbenden Weber im Glatzer Gebirg
[723] Für die darbenden Weber im Glatzer Gebirg, die droben im „böhmischen Winkel“ von Preußisch-Schlesien in Elend und Not dahinsiechen, weil ihre Handweberei schon lange nicht mehr der wirtschaftlichen Uebermacht des Maschinenbetriebs Stand halten kann, hat vor dreieinhalb Jahren die „Gartenlaube“ einen Hilferuf erlassen, der im Kreise unserer Leser die wärmste Aufnahme fand. Durch einen Vertrauensmann, der zur Feststellung des Thatbestands eigens für uns die Gegend bereiste, erhielten wir bestätigt, mit wie großer Berechtigung Herr Pfarrer Klein in Reinerz die öffentliche Aufmerksamkeit auf den damaligen akuten Notstand gelenkt hatte, für dessen Linderung wir so erfolgreich die Mildherzigkeit unserer Leser in Anspruch nehmen durften.
Die Untersuchung der in den Weberdörfern der Grafschaft Glatz herrschenden Zustände ergab aber auch, daß dem akuten ein chronischer Notstand zu Grunde lag, daß die Privatwohlthätigkeit keine Besserung von Dauer herbeiführen könne, ohne organische Reformen, zu deren Durchführung die Hilfe des Staates nötig sei. Den Wünschen und Forderungen, wie sie von ortskundiger, sachverständiger und dabei uninteressierter Seite in der Gegend selbst zum Ausdruck gelangten, haben wir daher schon damals (in Nr. 10 und 16 des Jahrganges 1891) unsere Teilnahme zugewandt und neben den an die Privatwohlthätigkeit gerichteten Hilferuf die Forderung der Staatshilfe gestellt.
Jetzt wird nun wieder die öffentliche Aufmerksamkeit auf die stillen Thäler zwischen Mense- und Eulengebirge gelenkt, durch Nachrichten, die sich mit der dort herrschenden Webernot beschäftigen. Und diesmal sind es glücklicherweise solche, die uns bestätigen, daß die so dringend erforderliche Staatshilfe sich wirklich an der Arbeit befindet und der preußische Handelsminister, Freiherr von Berlepsch, sich neuerdings persönlich an Ort und Stelle begeben hat, um mit eigenen Augen die Verhältnisse zu prüfen. Freilich, die seit jenem Hilferuf verstrichene Zeit von dreieinhalb Jahren ist eine lange Frist, aber aus der Rede, welche der Minister nach Beendigung seiner Inspektionsreise auf einer von ihm in Reichenbach zusammenberufenen Konferenz von Beamten und Industriellen gehalten hat, geht wenigstens hervor, daß in dieser langen Zwischenzeit die Regierung doch nicht müssig gewesen ist. Und zu unserer Genugthuung sehen wir, daß die seiner Zeit in der „Gartenlaube“ in Vorschlag gebrachten Maßregeln, wenn auch nur zum Teil, in Ausführung begriffen sind, so die Verbesserung und rationelle Ergänzung der Handwebestühle, die Auszahlung von Prämien für diejenigen Söhne der darbenden Familien, welche einen anderen Beruf ergreifen, die Ueberweisung von Staatsaufträgen an solche Unternehmer, welche Handweber beschäftigen, und die Einführung lohnender Industriezweige in die landwirtschaftlich unergiebige Gegend.
Aber wenn man dem ausführlichen Berichte der „Schlesischen Zeitung“ über diese Konferenz entnimmt, mit welcher Langsamkeit bisher die Auf- und Verbesserung der Handwebestühle in den Hütten der Darbenden durchgeführt worden ist, so daß von 11369 Familien, die damit unbedingt zu bedenken sind, erst 1472 diese Hilfe empfingen, wenn man weiter liest, daß dabei das für eine Beschleunigung nötige Geld bis zu einer gewissen Grenze zur Verfügung war, so steht man vor einer Unbegreiflichkeit. Es ist dringendst zu wünschen, daß die vom Minister für die völlige Durchführung dieses Hilfewerks als erforderlich bezeichnete Summe von 97000 Mark umgehends aus Staatsmitteln flüssig gemacht wird und schleunigst zur Verwendung gelangt. Und in gleicher Weise müssen wir aufs lebhafteste befürworten, daß endlich auch die von allen uninteressierten Sachverständigen der Gegend für so dringend nötig erklärte Webschule errichtet werde, auf daß ein neues Webergeschlecht unabhängig von seiner Verwendung in den Fabriken die einkömmlicheren Betriebsweisen seines Handwerks erlerne. Der Minister erklärte ja selbst in jener Konferenz, daß auch er seinerseits die Errichtung einer solchen Webeschule für höchst wünschenswert halte. Auch sind zur Durchführung des Projektes von der Regierung Verhandlungen mit der Stadt Reichenbach gepflogen worden, welche zur unentgeltlichen Hergabe eines Bauplatzes und einer einmaligen Zahlung von 75000 Mark bereit ist. Nur an der Zögerung der Regierung, den von ihr dagegen geforderten weit geringeren Zuschuß zu übernehmen, liegt es, daß die Frage der Ausführung noch immer eine offene ist. Ganz ebenso ist der Ausbau der Zweigbahn Glatz-Reinerz bis zur österreichischen Grenze, obgleich seit 15 Jahren bereits im Prinzipe genehmigt, bis zur Stunde an der Kostenfrage gescheitert. Und doch – hier handelt es sich eingestandenermaßen um rund 12000 Familien notleidender preußischer Staatsbürger, die trotz Arbeitsamkeit und nüchternster Lebensführung unverschuldet ein Dasein in Elend verbringen, das nach Abhilfe schreit; darf da, wenn es zu helfen gilt und man die Notwendigkeit dazu auch eingesehen hat, in solcher Weise gespart und gezögert werden?!