Flammenzeichen/I

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Autor: E. Werner
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Titel: Flammenzeichen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1–9, 10–14, S. 1–8, 37–44, 69–76, 101–109, 133–140, 166–173, 212–219, 255–259, 277–284
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]
Flammenzeichen.
Roman von E. Werner.

Durch die grauen Nebel des Herbstmorgens zog ein Schwarm von Wandervögeln. Wie zum Abschiedsgruße strichen sie noch einmal dicht über die Wipfel der heimischen Föhrenwälder hin, dann hoben sie sich hoch empor, wandten ihren Flug dem Süden zu und verschwanden langsam in der umschleierten Ferne.

Aus einem der Fenster des mächtigen schloßartigen Gebäudes, das am Rande der Forsten lag, blickte ein Paar Augen jenem Fluge nach, die ernsten, düstern Augen eines Mannes, der im Gespräche mit einem andern Herrn am Fenster stand. Es war eine hohe, markige Gestalt, mit nicht schönen, aber ausdrucksvollen Zügen, blond und blauäugig, eine echt germanische Erscheinung; aber es lag etwas wie ein Schatten auf diesen Zügen, und die hohe Stirn war tiefer gefurcht, als es die Jahre des Mannes mit sich brachten, dessen straffe Haltung auch ohne die Uniform, die er trug, den Soldaten verrathen hätte.

„Da ziehen schon die Wandervögel!“ sagte er, auf den Schwarm deutend, der immer weiter und weiter entschwand und sich endlich in den Nebelwolken verlor. „Der Herbst ist da, in der Natur – und wohl auch in unserem Leben!“

„In dem Deinigen doch nicht!“ warf sein Gefährte ein. „Du stehst ja erst in der Mittagshöhe dieses Lebens, in der vollsten Manneskraft.“

„Den Jahren nach allerdings, aber ich habe ein Gefühl, als würde mir das Alter früher nahen als jedem andern. Mir ist oft recht herbstlich zu Muthe.“

Der andere Herr, der einige Jahre älter sein mochte, eine schmächtige, mittelgroße Gestalt in Civilkleidung, schüttelte unmuthig den Kopf. Er sah auf den ersten Blick fast unbedeutend aus neben der kraftvollen Erscheinung des Offiziers, aber das blasse, scharfgezeichnete Gesicht hatte einen Ausdruck kalter, überlegener Ruhe, und der sarkastische Zug um die schmalen Lippen verrieth, daß sich hinter der kühlen Vornehmheit, die sich in der Haltung und dem ganzen Wesen aussprach, wohl noch etwas anderes, Bedeutenderes barg.

„Du nimmst das Leben zu schwer, Falkenried,“ sagte er tadelnd. „Du hast Dich überhaupt seltsam verändert in den letzten Jahren. Wer Dich einst als jungen, lebensfrohen Offizier gesehen hat, würde Dich jetzt nicht wiedererkennen. Und weshalb das alles? Der Schatten, der einst Dein Leben verdüsterte, ist ja längst geschwunden. Du bist Soldat mit Leib und Seele, wirst bei jeder Gelegenheit ausgezeichnet, eine bedeutende Stellung ist Dir für die Zukunft gewiß, und was die Hauptsache ist – Du hast Deinen Sohn behalten.“

Falkenried antwortete nicht, er kreuzte die Arme [2] und blickte wieder in die Ferne hinaus, während der andere fortfuhr: „Der Junge ist bildschön geworden in den letzten Jahren. Ich war ganz überrascht, als ich ihn wiedersah, und Du gestehst ja selbst zu, daß er ungewöhnlich begabt und in manchen Dingen geradezu genial beanlagt ist.“

„Ich wollte, Hartmut hätte weniger Anlagen und mehr Charakter,“ sagte Falkenried in einem beinahe herben Tone. „Verse kann er schmieden und die Sprachen lernt er spielend, aber sobald es sich um eine ernste Wissenschaft handelt, bleibt er hinter all den anderen zurück, und in der Strategie ist nun vollends nichts mit ihm anzufangen. Du ahnst es nicht, Wallmoden, mit welcher eisernen Strenge ich da fortwährend eingreifen muß.“

„Ich fürchte nur, Du richtest nicht viel aus mit dieser Strenge,“ warf Wallmoden ein. „Du hättest meinem Rathe folgen und Deinen Sohn studieren lassen sollen. Zum Soldaten taugt er nun einmal nicht, das mußt Du doch endlich einsehen.“

„Er soll und muß aber dafür taugen! Es ist die einzig mögliche Laufbahn für seine unbändige Natur, die sich gegen jeden Zügel aufbäumt und jede Pflicht als einen Zwang empfindet. Die Universität, das Studentenleben würde ihn der vollsten Zügellosigkeit überantworten, nur die eiserne Disciplin, der er sich im Dienste beugen muß, zwingt ihn.“

„Für jetzt noch – ob sie ihn aber auf die Dauer zu zwingen vermag? Du solltest Dich nicht darüber täuschen, das sind leider ererbte Anlagen, die sich wohl unterdrücken, aber nicht ausrotten lassen. Hartmut ist ja auch äußerlich das Ebenbild seiner Mutter, er hat ihre Züge, ihre Augen.“

„Ja wohl!“ sagte Falkenried düster. „Ihre dunklen, dämonischen Gluthaugen, die alles zu bannen wußten.“

„Und Dir zum Verderben wurden!“ ergänzte Wallmoden. „Wie habe ich damals gewarnt und abgemahnt; aber Du hörtest ja auf nichts mehr. Diese Leidenschaft hatte Dich wie ein Fieber gepackt und Dein ganzes Wesen in Fesseln geschlagen – ich habe das nie begreifen können.“

Um die Lippen Falkenrieds zuckte ein bitteres Lächeln.

„Das glaube ich. Du, der kühle, berechnende Diplomat, der jeden Schritt erst sorgfältig abwägt, bist gefeit gegen solche Bezauberungen.“

„Wenigstens würde ich bei meiner Wahl vorsichtiger sein. Deine Ehe trug von Anfang an das Unglück in sich. Eine Frau aus fremdem Stamme und fremdem Blute, eine wilde, leidenschaftliche Slavennatur, ohne Charakter, ohne Verständniß für das, was uns hier Sitte und Pflicht heißt, und Du mit Deinen starren Grundsätzen, Deinem reizbaren Ehrgefühl – das mußte ja schließlich zu einem solchen Ende führen! Und ich glaube, Du liebtest sie trotz alledem bis zu der Trennung.“

„Nein,“ sagte Falkenried hart. „Der Rausch verflog schon im ersten Jahre, ich sah nur zu klar, aber ich schauderte zurück vor dem Gedanken, mein häusliches Elend durch einen Scheidungsprozeß der Welt preiszugeben. Ich trug es, bis mir keine Wahl mehr blieb, bis ich endlich – genug davon!“

Er wandte sich kurz ab und schaute wieder zum Fenster hinaus; aber es lag eine mühsam verhaltene Qual in diesem jähen Abbrechen.

„Ja, es gehörte viel dazu, eine Natur wie die Deinige aus allen Fugen zu reißen,“ sagte Wallmoden ernst. „Aber die Scheidung machte Dich doch frei von der unseligen Kette, und damit hättest Du auch die Erinnerung daran begraben sollen.“

Falkenried schüttelte finster den Kopf. „Solche Erinnerungen begräbt man nicht, sie erstehen immer wieder aus der vermeinten Gruft, und gerade jetzt –“ er brach plötzlich ab.

„Gerade jetzt – was meinst Du.“

„Nichts – laß uns von anderen Dingen reden! Du bist also seit vorgestern in Burgsdorf; wie lange denkst Du zu bleiben?“

„Etwa vierzehn Tage, ich habe nicht viel Zeit zur Verfügung und bin eigentlich nur dem Namen nach Willibalds Vormund, da der diplomatische Dienst mich meist im Auslande festhält. Die Vormundschaft ruht tatsächlich in den Händen meiner Schwester, die ja überhaupt alles regiert.“

„Ja, Regine ist ihrer Stellung gewachsen,“ stimmte Falkenried bei. „Sie regiert das große Gut und die zahlreichen Leute wie ein Mann.“

„Und kommandirt wie ein Wachtmeister vom Morgen bis zum Abend,“ ergänzte Wallmoden. „Bei aller Anerkennung ihrer vortrefflichen Eigenschaften fühle ich doch immer ein gelindes Haarsträuben, wenn es sich um einen Besuch in Burgsdorf handelt, und komme regelmäßig mit angegriffenen Nerven zurück. Es herrschen dort wirklich noch förmliche Urzustände, und Willibald ist nun vollends ein junger Bär; dabei natürlich das Ideal seiner Mutter, die das möglichste thut, ihn zu einem derben Krautjunker zu erziehen. Da hilft kein Einreden, und übrigens hat er auch alle Anlage dazu.“

Sie wurden durch einen Diener unterbrochen, der in diesem Augenblicke eintrat und eine Karte überreichte. Falkenried warf einen flüchtigen Blick darauf.

„Rechtsanwalt Egern? Es ist gut, lassen Sie den Herrn eintreten.“

„Du hast Geschäftliches vor?“ fragte Wallmoden, sich erhebend. „Dann will ich nicht stören.“

„Im Gegentheil, ich bitte Dich, zu bleiben. Der Besuch ist mir bereits angekündigt und ich weiß, was dabei zur Sprache kommen wird. Es handelt sich –“

Er vollendete nicht, denn die Thür öffnete sich bereits und der Gemeldete trat ein. Er schien überrascht, den Offizier nicht allein zu finden, wie er wohl erwartet hatte, aber dieser nahm keine Notiz von seinem sichtbaren Befremden.

„Herr Rechtsanwalt Egern – Herr Botschaftssekretär von Wallmoden,“ stellte er vor. Der Jurist verneigte sich mit kühler Höflichkeit und nahm den angebotenen Platz ein.

„Ich habe wohl noch die Ehre, von Ihnen gekannt zu sein, Herr Major,“ begann er. „Als Vertreter Ihrer Frau Gemahlin in dem damaligen Scheidungsprozesse hatte ich bisweilen Veranlassung, mit Ihnen persönlich zu verkehren.“

Er hielt inne und schien eine Antwort zu erwarten; aber Major Falkenried neigte nur stumm bejahend das Haupt. Wallmoden dagegen wurde aufmerksam, jetzt konnte er sich die seltsam gereizte Stimmung erklären, in der er den Freund schon bei seiner Ankunft gefunden hatte.

„Ich komme auch heute im Namen meiner damaligen Klientin,“ fuhr der Rechtsanwalt fort. „Sie hat mich beauftragt – darf ich hier frei sprechen.“

Er warf einen Blick auf den Botschaftssekretär, aber Falkenried sagte kurz: „Herr von Wallmoden ist mein Freund und als solcher eingeweiht in die Sache. Ich bitte, ganz rückhaltlos zu sprechen.“

„Nun wohl, die Dame ist nach langjähriger Abwesenheit nach Deutschland zurückgekehrt und wünscht selbstverständlich ihren Sohn wiederzusehen. Sie hat sich deswegen schon brieflich an Sie gewandt, aber keine Antwort erhalten.“

„Ich dächte, das wäre Antwort genug. Ich wünsche diese Zusammenkunft nicht, also werde ich sie auch nicht gestatten.“

„Das klingt sehr schroff, Herr Major, Frau von Falkenried hat jedenfalls –“

„Frau Zalika Rojanow wollen Sie sagen,“ unterbrach ihn der Major. „So viel ich weiß, hat sie ihren Geburtsnamen wieder angenommen, als sie in ihre Heimath zurückkehrte.“

„Der Name thut hier wohl nichts zur Sache,“ entgegnete der Rechtsanwalt gelassen. „Es handelt sich einzig und allein um den durchaus berechtigten Wunsch einer Mutter, den der Vater nicht versagen kann und darf, selbst wenn ihm wie in diesem Falle sein Sohn unbedingt zugesprochen wurde.“

„Nicht darf? Und wenn er es dennoch thut?“

„So überschreitet er die Grenzen seines Rechts. Ich möchte Sie doch bitten, Herr Major, die Sache ruhig zu erwägen, ehe Sie ein so entschiedenes Nein sprechen. Die Mutterrechte einer Frau vermag kein Richterspruch so völlig aufzuheben, daß man ihr sogar das Wiedersehen mit ihrem einzigen Kinde versagen darf. In diesem Falle steht meiner Klientin das Gesetz zur Seite, und sie wird es geltend machen, wenn meine Forderung abgewiesen werden sollte wie ihre schriftliche Bitte.“

„So mag sie es versuchen, ich werde es darauf ankommen lassen. Mein Sohn weiß nicht, daß seine Mutter noch am Leben ist, und soll es auch vorläufig nicht erfahren. Ich will nicht, daß er sie sieht und spricht, und ich werde es zu verhindern wissen. Mein Nein bleibt unter allen Umständen bestehen.“

Diese Erklärung ließ an Energie nichts zu wünschen übrig; aber auf Falkenrieds Zügen lag eine fahle Blässe und seine Stimme klang dumpf und drohend. Man sah es, wie furchtbar die Unterredung ihn erregte, er zwang sich nur gewaltsam zur äußeren Ruhe. Der Rechtsanwalt schien auch die Nutzlosigkeit weiterer Bemühungen einzusehen, er zuckte nur die Achseln.

[3] „Wenn dies Ihr letztes Wort ist, so ist mein Auftrag allerdings zu Ende und wir müssen uns die weiteren Schritte vorbehalten. Ich bedaure, Sie belästigt zu haben, Herr Major.“

Er empfahl sich mit derselben kühlen Artigkeit wie beim Eintritt. Als sich die Thür hinter ihm schloß, sprang Falkenried auf und begann stürmisch im Zimmer auf und nieder zu schreiten; einige Minuten lang herrschte ein drückendes Schweigen, dann sagte Wallmoden halblaut: „Das hättest Du nicht thun sollen! Zalika wird sich schwerlich Deinem Nein fügen, sie führte ja schon damals einen Kampf auf Leben und Tod um ihr Kind!“

„Aber ich blieb Sieger – sie hat das hoffentlich nicht vergessen.“

„Damals handelte es sich um den Besitz des Knaben,“ warf der Botschaftssekretär ein, „jetzt verlangt die Mutter nur, ihn wiederzusehen, und Du wirst ihr das nicht verweigern können, wenn sie es mit Entschiedenheit fordert.“

Der Major blieb plötzlich stehen, aber aus seiner Stimme klang unverschleierte Verachtung, als er entgegnete:

„Das wagt sie nicht nach dem, was geschehen ist; Zalika hat mich kennen gelernt in unserer Trennungsstunde, sie wird sich hüten, mich ein zweites Mal zum Aeußersten zu treiben.“

„Aber sie wird vielleicht versuchen, heimlich zu erreichen, was Du ihr offen weigerst.“

„Das ist unmöglich, die Disciplin unserer Anstalt ist zu streng, es kann hier keine Verbindung angeknüpft werden, von der ich nicht auf der Stelle erfahre.“

Wallmoden schien diese Zuversicht nicht zu theilen, er schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Offen gestanden, ich halte es für einen Mißgriff, daß Du Deinem Sohn mit solcher Hartnäckigkeit verschweigst, daß seine Mutter noch am Leben ist. Wenn er es nun von anderer Seite erfährt, was dann? Und einmal mußt Du es ihm ja doch sagen!“

„Vielleicht in zwei Jahren, wenn er selbständig in das Leben tritt. Jetzt ist er noch ein Schüler, ein halber Knabe, jetzt kann ich ihm das Drama, das einst in seinem Elternhause spielte, noch nicht entschleiern – ich kann nicht!“

„So sei wenigstens auf Deiner Hut, Du kennst ja Deine ehemalige Gattin und weißt, was von ihr zu erwarten ist. Ich fürchte, für diese Frau giebt es keine Unmöglichkeiten.“

„Ja, ich kenne sie,“ sagte Falkenried mit grenzenloser Bitterkeit, „und eben deshalb will ich meinen Sohn vor ihr schützen, um jeden Preis. Er soll nicht den Gifthauch ihrer Nähe athmen, selbst auf Stunden nicht. Sei ohne Sorge, ich unterschätze die Gefahr von Zalikas Rückkehr nicht, aber so lange Hartmut an meiner Seite bleibt, ist er sicher vor ihr, denn mir naht sie nicht wieder, darauf gebe ich Dir mein Wort.“

„Wir wollen es hoffen,“ entgegnete Wallmoden, indem er aufstand und ihm zum Abschiede die Hand reichte. „Aber vergiß nicht, daß die schlimmste Gefahr in Deinem Hartmut selbst liegt, er ist in jedem Zuge der Sohn seiner Mutter! – Du kommst ja übermorgen mit ihm nach Burgsdorf, wie ich höre?“

„Ja, er bringt die kurzen Herbstferien stets bei Willibald zu. Ich selbst werde wohl nur einen Tag bleiben können, aber ich komme jedenfalls mit. Auf Wiedersehen also!“

Der Botschaftssekretär ging und Falkenried trat wieder an das Fenster, aber er blickte nur flüchtig dem Freunde nach, der noch einmal heraufgrüßte, dann verlor sein Blick sich wieder mit der alten Düsterheit in den grauen Nebelwolken.

„Der Sohn seiner Mutter.“ Das Wort klang ihm noch in den Ohren, aber das brauchte ihm freilich nicht erst ein anderer zu sagen, er wußte es längst und das war es ja, was seine Stirn so tief furchte und ihm diesen schweren Seufzer erpreßte. Er war der Mann, jeder äußeren Gefahr die Stirn zu bieten; gegen diese unselige Erbschaft des Blutes bei seinem einzigen Kinde hatte er seit Jahren mit all seiner Energie, aber vergebens, gekämpft.




„Jetzt bitte ich mir aber ernstlich aus, daß der Unfug ein Ende nimmt, denn jetzt reißt mir endlich die Geduld! Das ist ja eine heillose Wirthschaft seit drei Tagen. es ist wahrhaftig, als ob ganz Burgsdorf verhext wäre. Der Hartmut steckt voll Tollheiten vom Kopf bis zu den Füßen. Wenn er einmal los ist von dem Zügel, den sein Herr Papa allerdings straff genug hält, dann ist auch kein Auskommen mehr mit ihm, und Du gehst natürlich mit durch Dick und Dünn und machst gehorsam alles nach, was Dein Herr und Meister angiebt – Ihr seid mir ein schönes Gespann!“

Diese Strafpredigt, die in sehr lautem Tone gehalten wurde, kam aus dem Munde der Frau von Eschenhagen auf Burgsdorf, die mit ihrem Sohne und ihrem Bruder beim Frühstück saß. Das große Eßzimmer lag im Erdgeschoß des alten Herrenhauses und war ein ziemlich schmuckloser Raum, dessen Glasthüren auf eine breite steinerne Terrasse und von dort in den Garten führten. An den hellgetünchten Wänden hing eine Anzahl von Hirschgeweihen, die von der Nimrodsthätigkeit des verstorbenen Besitzers Zeugniß ablegten, aber auch die einzige Zierde des Gemaches waren. Ein Dutzend hochlehnige Stühle, die steif und reihenweise geordnet wie Grenadiere dastanden, ein schwerer Eßtisch und zwei alterthümliche Schränke bildeten die ganze Einrichtung, der man es ansah, daß sie schon mehreren Generationen gedient hatte. Luxusgegenstände wie Tapeten, Teppiche und Gemälde gab es hier nicht, man begnügte sich augenscheinlich mit dem Ererbten, Althergebrachten, obgleich Burgsdorf eins der reichsten Güter der Gegend war.

Das Aeußere der Gutsherrin entsprach vollkommen dieser Umgebung. Sie mochte etwa vierzig Jahr alt sein, eine große kraftvolle Gestalt, mit blühender Gesichtsfarbe und derben, festen Zügen, die niemals schön gewesen sein konnten, aber dafür um so energischer waren. Dem scharfen Blick der grauen Augen entging nicht leicht etwas, das dunkle Haar war glatt zurückgestrichen, der Anzug derb und einfach, und den Händen sah man es an, daß sie zuzugreifen verstanden. Die Anmuth fehlte allerdings gänzlich bei dieser urkräftigen Erscheinung, die in Haltung und Auftreten etwas durchaus Männliches hatte.

Der Erbe und künftige Majoratsherr von Burgsdorf, der in dieser Weise abgekanzelt wurde, saß seiner Mutter gegenüber und hörte pflichtschuldigst zu, während er eine sehr bedeutende Portion Schinken und verschiedene Eier zu sich nahm. Es war ein hübscher, frischer Junge von etwa siebzehn Jahren, dessen Aeußeres zwar keinen hervorragenden Verstand, aber eine desto größere Gutmüthigkeit verrieth. Sein sonnenverbranntes Gesicht strotzte ebenfalls von blühender Gesundheit, sonst aber zeigte es nur wenig Aehnlichkeit mit dem der Mutter. Es fehlte der energische Zug darin und auch die blauen Augen und blonden Haare stammten nicht von ihr, sie mochten wohl ein Erbtheil des Vaters sein. Mit seinen mächtigen, aber noch sehr ungelenken Gliedern sah er aus wie ein junger Hüne und bildete den vollsten Gegensatz zu der schmächtigen, aber vornehmen Erscheinung seines Onkels Wallmoden, der neben ihm saß und jetzt mit einer leichten Beimischung von Spott sagte: „Du darfst Willibald wirklich nicht mit verantwortlich machen für all den Uebermuth und die Tollheiten, er ist ja das Muster eines wohlerzogenen Sohnes.“

„Ich wollte ihm auch nicht rathen, etwas anderes zu sein, bei mir heißt es Ordre pariren!“ rief Frau von Eschenhagen und schlug dabei nachdrücklichst auf den Tisch, so daß ihr Bruder nervös zusammenzuckte.

„Das lernt man allerdings unter Deinem Regiment,“ entgegnete er. „Ich möchte Dir aber doch rathen, liebe Regine, etwas mehr für die geistige Ausbildung Deines Sohnes zu thun. Ich zweifle nicht, daß er unter Deiner Leitung zum vortrefflichen Landwirth heranwächst, aber zur Erziehung eines künftigen Gutsherrn gehört doch etwas mehr, und den Hauslehrern ist Willibald nun nachgerade entwachsen; es wäre also wohl Zeit, ihn fortzuschicken.“

„Fortzu –?“ Frau Regine legte in maßlosem Erstaunen Messer und Gabel nieder. „Fortzuschicken?“ wiederholte sie entrüstet, „aber in des Kuckucks Namen, wohin denn?“

„Nun, auf die Universität und später auf Reisen, damit er doch etwas von der Welt und den Menschen kennen lernt.“

„Und damit er mir in dieser Welt und unter diesen Menschen gründlich verdorben wird! Nein, Herbert, daraus wird nichts, das sage ich Dir von vornherein. Ich habe meinen Jungen in Ehrbarkeit und Gottesfurcht erzogen und denke nicht daran, ihn in dies Sodom und Gomorrha hinauszulassen, dem der liebe Herrgott in seiner Langmuth immer noch den hundertfach verdienten Schwefelregen erspart.“

„Du kennst dies Sodom und Gomorrha ja nur vom Hörensagen, Regine,“ warf Herbert sarkastisch ein. „Du hast seit Deiner Vermählung in Burgsdorf gelebt, Dein Sohn aber soll dereinst als Mann in das Leben treten, das mußt Du doch selbst einsehen.“

„Gar nichts sehe ich ein,“ erklärte Frau von Eschenhagen hartnäckig. „Willy soll ein tüchtiger Landwirth werden, dazu taugt er und dazu braucht er keinen Gelehrtenkram! Oder willst [6] Du ihn vielleicht in die Schule nehmen und einen Diplomaten aus ihm machen? Das wäre ein Hauptspaß!“

Sie begann überlaut zu lachen, und Willy, dem diese Voraussetzung ebenso komisch erschien, stimmte in der gleichen Tonart ein. Herr von Wallmoden betheiligte sich nicht an diesem dröhnenden Ausbruch von Heiterkeit, der ihm wieder auf die Nerven zu fallen schien, er zuckte nur die Achseln.

„Das beabsichtige ich in der That nicht, es würde auch wohl vergebliche Mühe sein. Aber ich und Willibald sind jetzt die einzigen Vertreter unserer Familie, und wenn ich wirklich unvermählt bleiben sollte –“

„Sollte? Denkst Du etwa noch daran, auf Deine alten Tage zu heirathen?“ unterbrach ihn seine Schwester in ihrer rücksichtslosen Weise.

„Ich bin fünfundvierzig Jahre, liebe Regine, das pflegt bei einem Manne noch nicht für alt zu gelten,“ sagte Wallmoden etwas verletzt. „Ich halte überhaupt die spät geschlossenen Ehen für die besten, man läßt sich da nicht mehr von der Leidenschaft beeinflussen, wie Falkenried es zu seinem Unglück that, sondern giebt der Vernunft das entscheidende Wort.“

„Gott steh’ mir bei! Soll Willy vielleicht mit dem Heirathen warten, bis er fünfzig Jahre auf dem Rücken und graue Haare auf dem Kopfe hat?“ rief Frau von Eschenhagen entsetzt.

„Nein, denn er hat als einziger Sohn und künftiger Majoratsherr Rücksichten zu nehmen; übrigens kommt es dabei doch auch auf seine persönliche Neigung an. Was meinst Du, Willibald?“

Der junge Majoratsherr, der eben mit seinem Schinken und seinen Eiern fertig geworden war und sich nun mit gesteigertem Appetit an die Wurst machte, war offenbar sehr erstaunt, daß er um seine Meinung gefragt wurde. Das pflegte sonst nie zu geschehen, er verfiel daher in ein tiefes Nachdenken, als dessen Ergebniß er endlich erklärte: „Ja, ich werde wohl auch einmal heirathen müssen, aber die Mama wird mir schon eine Frau aussuchen, wenn es so weit ist.“

„Das wird sie, mein Junge,“ bestätigte Frau von Eschenhagen. „Das ist meine Sache, Du brauchst Dich gar nicht darum zu kümmern, und so lange bleibst Du hier in Burgsdorf, wo ich Dich unter meinen Augen habe. Von der Universität und von Reisen ist nicht die Rede – abgemacht.“

Sie warf einen herausfordernden Blick auf ihren Bruder, aber dieser sah mit einer Art von Entsetzen auf die riesige Wurstportion, die sein Neffe und Mündel nun schon zum zweitenmal auf den Teller häufte.

„Hast Du immer einen so gesegneten Appetit, Willy?“ fragte er.

„Immer!“ versicherte Willy mit Selbstgefühl und nahm sich noch ein großes Butterbrot.

„Ja, wir leiden hier Gott sei Dank nicht an Magenbeschwerden,“ sagte Frau Regine etwas anzüglich, „aber wir verdienen uns auch rechtschaffen unser Brot. Erst beten und arbeiten und dann essen und trinken, aber gründlich, das hält Leib und Seele zusammen. Sieh Dir den Willy an, wie der dabei gerathen ist, ich meine, der kann sich sehen lassen!“

Sie schlug ihrem Bruder freundschaftlich auf die Schulter bei den letzten Worten, aber diese Freundschaftsbezeigung war so herzhafter Natur, daß Wallmoden schleunigst seinen Stuhl seitwärts rückte und sich aus dem Bereich der schwesterlichen Nähe brachte. Sein Gesicht verrieth deutlich, daß er wieder einmal ein „gelindes Haarsträuben“ empfand. Er gab es diesen urwüchsigen Verhältnissen gegenüber auf, die Vormundschaftsrechte geltend zu machen, die er ja überhaupt nur dem Namen nach ausübte. Willy dagegen fand offenbar auch, daß er außerordentlich gut gerathen sei, und sah sehr vergnügt aus bei diesem Lobe seiner Mutter, die jetzt ärgerlich fortfuhr:

„Und Hartmut ist wieder einmal nicht zum Frühstück gekommen! Er scheint sich hier in Burgsdorf alle möglichen Unpünktlichkeiten zu erlauben, aber ich werde mir den jungen Herrn ernstlich vornehmen, wenn er kommt, und ihm klar machen –“

„Da ist er schon!“ klang eine Stimme vom Garten her. In den hellen Sonnenschein, der durch das offene Fenster hereinfluthete, fiel ein Schatten und in dem Rahmen dieses Fensters erschien urplötzlich eine schlanke jugendliche Gestalt, die sich von draußen auf die Brüstung schwang.

„Junge, bist Du denn ganz des Kuckucks, daß Du nun gar zum Fenster hereinkommst?“ rief Frau von Eschenhagen entrüstet. „Wofür sind die Thüren da?“

„Für Willy und die anderen wohlerzogenen Menschen,“ lachte der Eindringling im vollsten Uebermuth. „Ich gehe immer den nächsten Weg und der führte diesmal gerade durchs Fenster.“ Damit sprang er mit einem Satze von der ziemlich hohen Brüstung mitten in das Zimmer hinein.

Hartmut Falkenried stand, wie der junge Majoratsherr von Burgsdorf, auf der Grenze zwischen Knabe und Jüngling, aber es bedurfte nur eines Blickes, um zu erkennen, daß er seinem gleichalterigen Gefährten in jeder Hinsicht überlegen war. Er trug die Uniform eines Kadetten und sie kleidete ihn sehr vortheilhaft, aber dennoch lag etwas in der ganzen Erscheinung, was dem strengen militärischen Zuschnitt zu widerstreben schien. Der schlanke hochgewachsene Knabe war ein wahres Bild von Jugend und Schönheit, doch diese Schönheit hatte etwas Fremdartiges, die Bewegungen und das ganze Auftreten etwas Wildes, Unbändiges und kein einziger Zug erinnerte an die markige Soldatengestalt, an die ernste Ruhe des Vaters. Dichtes üppiges Lockenhaar fiel auf eine hohe Stirn und das tiefe, bläuliche Schwarz dieser Locken, die warme dunkle Färbung der Haut deuteten mehr auf einen Sohn des Südens als auf die deutsche Abkunft. Auch die Augen, die in dem jugendlichen Antlitz flammten, gehörten nicht dem kühlen, ernsten Norden an, es waren räthselvolle Augen, dunkel wie die Nacht und doch voll heißen, leidenschaftlichen Feuers. So schön sie waren, es barg sich etwas darin, was beinahe unheimlich berührte, und so übermüthig das Lachen klang, mit dem Hartmut jetzt von einem der Anwesenden zum andern blickte, ein frohes herzliches Knabenlachen war es nicht.

„Du führst Dich ja in einer recht zwanglosen Art ein,“ sagte Wallmoden scharf. „Du scheinst es Dir zu Nutze zu machen, daß man in Burgsdorf nicht viel auf Etikette hält, ich glaube aber nicht, daß Dein Vater Dir einen solchen Eintritt in das Speisezimmer gestatten würde.“

„Bei dem untersteht er sich auch dergleichen nicht,“ sagte Frau von Eschenhagen, die zum Glück den Stich nicht fühlte, der auch für sie in der Bemerkung ihres Bruders lag. „Also jetzt kommst Du endlich, Hartmut, wo wir mit dem Frühstück fertig sind? Aber Nachzügler bekommen nichts zu essen, das weißt Du doch.“

„Ja, das weiß ich,“ versetzte Hartmut ganz unbekümmert, „und deshalb habe ich mir bereits von der Wirthschafterin ein Frühstück geben lassen. Aushungern kannst Du mich nicht, Tante Regine, dazu stehe ich auf viel zu gutem Fuße mit all Deinen Leuten.“

„So, und deshalb glaubst Du, Dir ungestraft alles erlauben zu dürfen!“ rief die Gutsherrin zornig. „Die Hausordnung brechen, keinen Menschen und kein Ding in Ruhe lassen und ganz Burgsdorf auf den Kopf stellen – das Handwerk wollen wir Dir doch legen, mein Junge. Morgen schicke ich einen Boten zu Deinem Vater hinüber und lasse ihn bitten, seinen Herrn Sohn, dem nun einmal keine Pünktlichkeit und kein Gehorsam beizubringen ist, gefälligst wieder abzuholen.“

Die Drohung wirkte. Der Uebermüthige erschrak und fand es für gut, einzulenken.

„Aber das ist ja alles nur Scherz und Neckerei, soll ich denn die kurze Ferienzeit nicht ausnützen –“

„Mit allerlei Dummheiten?“ fiel Frau von Eschenhagen ein. „Willy hat in seinem ganzen Leben nicht so viel Unsinn angerichtet, wie Du in diesen letzten drei Tagen, und schließlich verdirbst Du ihn mir mit Deinem schlimmen Beispiel und stiftest ihn gleichfalls zur Unbotmäßigkeit an.“

„O, Willy ist gar nicht zu verderben, bei dem ist alle Mühe umsonst,“ gestand Hartmut sehr offenherzig.

Der junge Majoratsherr sah allerdings nicht aus, als sei er zur Unbotmäßigkeit geneigt, er vollendete, unbekümmert um all diese Verhandlungen, in vollster Seelenruhe sein Frühstück, indem er sich nach dem letzten Butterbrote noch ein allerletztes nahm; seine Mutter aber war höchlich aufgebracht über diese Bemerkung.

„Das thut Dir wohl außerordentlich leid?“ rief sie. „Deine Schuld ist es freilich nicht, Du hast Dir Mühe genug gegeben, ihn zu verderben also es bleibt dabei, ich schreibe morgen Deinem Vater –“

[7] „Daß er mich abholen soll? Das thust Du nicht, Tante Regine, dazu bist Du viel zu gut. Du weißt es ja, wie streng der Papa ist, wie hart er strafen kann, Du klagst mich sicher nicht bei ihm an, Du hast es ja noch nie gethan.“

„Junge, laß mich in Ruhe mit Deinem verwünschten Schmeicheln!“ Das Gesicht der Frau Regine war noch sehr grimmig, aber ihre Stimme verrieth schon ein bedenkliches Schwanken und Hartmut wußte seinen Vortheil zu benutzen, er legte mit der ganzen Freiheit eines Knaben den Arm um ihre Schulter.

„Ich glaubte, Du hättest mich ein wenig lieb, Tante Regine, und ich – ich habe mich wochenlang gefreut auf die Fahrt nach Burgsdorf, ich habe mich krank gesehnt nach Wald und See, nach den grünen Wiesen und dem weiten blauen Himmel. Ich bin so glücklich hier gewesen – aber freilich, wenn Du mich nicht haben willst, dann gehe ich auf der Stelle. Du brauchst mich nicht erst fortzuschicken.“

Seine Stimme war zu einem weichen, schmeichelnden Flüstern herabgesunken, während die großen, dunklen Augen nur zu beredt die Worte unterstützten. Sie konnten noch heißer bitten als die Lippen und sie schienen in der That eine eigenthümliche Macht auszuüben – Frau von Eschenhagen, die ihrem Willy und ganz Burgsdorf gegenüber die unbeugsame Selbstherrscherin war, sie ließ sich hier zur Nachgiebigkeit bewegen.

„Nun, so bessere Dich, Du Eulenspiegel!“ sagte sie, ihm mit der Hand in die dichten Locken fahrend. „Und was das Fortschicken betrifft, so weißt Du es leider nur zu gut, daß Willy und alle meine Leute einen förmlichen Narren an Dir gefressen haben – und ich dazu!“

Hartmut jubelte laut auf bei den letzten Worten und küßte ihr mit ungestümer Dankbarkeit die Hand, dann wandte er sich zu seinem Freunde, der nun glücklich auch das allerletzte Butterbrot bewältigt hatte und in stiller Verwunderung die Scene mit ansah.

„Bist Du nun endlich mit Deinem Frühstück fertig, Willy? Komm, wir wollen ja nach dem Burgsdorfer Weiher – so sei doch nicht so entsetzlich langsam und bedächtig! Leb’ wohl, Tante Regine, dem Onkel Wallmoden ist es gar nicht recht, daß Du mich begnadigst, ich sehe es. Hurrah, jetzt geht es in den Wald hinaus!“

Und fort stürmte er, über die Terrasse in den Garten hinunter. Es lag eine überschäumende Jugendlust und Jugendkraft in dieser Unbändigkeit, die etwas hinreißend Liebenswürdiges hatte. Der ganze Knabe war Feuer und Leben. Willy trottete wie ein junger Bär ihm nach und schon in den nächsten Minuten verschwanden sie hinter den Bäumen.

„Das kommt und geht wie ein Sturmwind!“ sagte Frau von Eschenhagen ihnen nachblickend. „Der Junge ist nicht zu halten, wenn man ihm einmal den Zügel schießen läßt.“

„Ein gefährlicher Bursche!“ meinte Wallmoden. „Sogar Dich versteht er zu regieren und Du pflegst doch sonst das Regiment allein zu führen. Es ist meines Wissens das erstemal, daß Du Ungehorsam und Unpünktlichkeit verzeihst.“

„Ja, der Hartmut hat etwas an sich, was die Menschen förmlich behext!“ rief Frau Regine, halb ärgerlich über ihre Nachgiebigkeit. „Wenn er einen so anguckt mit den schwarzen Gluthaugen und dazu bettelt und schmeichelt, dann möchte ich den sehen, der ihm nein sagt. Du hast recht, es ist ein gefährlicher Bursche.“

„Jawohl, doch lassen wir jetzt Hartmut beiseite, es handelt sich um die Erziehung Deines eigenen Sohnes. Du bist also wirklich entschlossen –“

„Ihn hier zu behalten. Gieb Dir keine Mühe, Herbert; Du magst ein großmächtiger Diplomat sein und die ganze Politik in der Tasche haben, aber meinen Jungen gebe ich Dir nicht heraus, der gehört mir ganz allein und den behalte ich – Punktum!“

Ein kräftiger Schlag auf den Tisch begleitete dies „Punktum“. Damit stand die regierende Herrin von Burgsdorf auf und ging zur Thür hinaus, ihr Bruder aber zuckte die Achseln und sagte halblaut: „So mag er denn meinetwegen ein Krautjunker werden – es wird wohl auch das beste sein.“ –

Hartmut und Willibald hatten inzwischen den ziemlich umfangreichen Forst erreicht, der zum Gut gehörte. Der Burgsdorfer Weiher, ein einsames, schilfumkränztes Gewässer mitten im Walde, lag in der stillen Vormittagsstunde regungslos und sonnenbeglänzt da. Der junge Majoratsherr hatte sich einen schattigen Platz am Ufer ausgesucht und gab sich mit ebenso viel Ausdauer als Behaglichkeit dem interessanten Geschäft des Angelns hin, während der ungeduldige Hartmut in der Nähe umherstreifte, hier einen Vogel aufjagte, dort Schilf und Blumen abriß und endlich Turnübungen auf einem Baumstamme anstellte, der halb im Wasser lag.

„Kannst Du denn niemals ruhig an einem Orte bleiben, Du verjagst mir ja die Fische.“ sagte Willy mißvergnügt. „Ich habe heute noch gar nichts gefangen.“

„Wie kannst Du nur stundenlang so auf einem Fleck sitzen und auf die dummen Fische warten!“ spottete Hartmut. „Freilich, Du darfst das ganze Jahr durch Wald und Feld streifen, wenn Du Lust dazu hast, Du bist ja frei! frei!“

„Bist Du etwa gefangen?“ fragte Willy. „Du und Deine Kameraden, Ihr seid ja täglich im Freien.“

„Aber nie allein, nie ohne Zwang und Aufsicht. Wir sind ja immer und ewig im Dienst, selbst in den Erholungsstunden. O, wie ich ihn hasse, diesen Dienst und dies ganze Sklavenleben!“

„Aber Hartmut, wenn das Dein Vater hörte!“

„Dann würde er mich wieder strafen wie gewöhnlich. Er hat ja für mich nichts als Strenge und Strafen, meinetwegen – es geht in einem hin!“

Er warf sich der Länge nach ins Gras, aber so herb und übermüthig seine Worte auch klangen, es bebte etwas darin wie eine schmerzliche, leidenschaftliche Klage. Der junge Majoratsherr schüttelte nur bedächtig den Kopf, während er eine neue Lockspeise an seiner Angel befestigte, und einige Minuten lang herrschte vollständiges Schweigen.

Da plötzlich stieß etwas nieder aus der Höhe, dunkel, blitzschnell, das eben noch so regungslose Gewässer spritzte und schäumte auf und im nächsten Augenblick hob sich ein Reiher hoch in die Lüfte empor, die zappelnde, silberglänzende Beute im Schnabel.

„Bravo, das war ein guter Stoß!“ rief Hartmut auffahrend, Willy aber schalt ärgerlich:

„Der verwünschte Räuber plündert uns den ganzen Weiher! Ich werde mit dem Förster sprechen, der soll ihn einmal aufs Korn nehmen.“

„Ein Räuber?“ wiederholte Hartmut, während sein Blick dem Reiher folgte, der jetzt hinter den Baumwipfeln verschwand. „Ja freilich! Aber es muß schön sein, solch ein freies Räuberleben, hoch oben in den Lüften. So aus der Höhe niederfahren wie ein Blitz, die Beute packen, mit sich fortreißen und dann hinauf mit ihr, wo niemand folgen kann, das lohnt die Jagd!“

„Hartmut, ich glaube wahrhaftig, Du hättest Lust zu einem solchen Räuberleben,“ sagte Willy mit dem ganzen Entsetzen eines wohlerzogenen Sohnes über solche Gelüste. Sein Gefährte lachte, aber es war wieder jenes herbe, seltsame Lachen, das so gar nichts Jugendliches hatte.

„Und wenn ich sie hätte, dann würde man sie mir im Kadettenhause schon austreiben! Da ist ja der Gehorsam, die Disziplin das A und O von allem, schließlich lernt man es doch! – Willy, hast Du nie gewünscht, Flügel zu haben?“

„Ich? Flügel?“ fragte Willy, dessen ganze Aufmerksamkeit wieder auf die Angelschnur gerichtet war. „Unsinn! Wer wird sich Unmögliches wünschen!“

„Ich wollte, ich hätte sie!“ rief Hartmut aufflammend. „Ich wollte, ich wäre einer von den Falken, von denen wir den Namen führen. Dann stiege ich hoch empor, in die blaue Luft, immer höher, der Sonne entgegen, und käme nie, niemals wieder zurück!“

„Ich glaube, Du bist verrückt,“ sagte der junge Majoratsherr gleichmüthig. „Aber nun habe ich wieder nichts gefangen, der Fisch will heute durchaus nicht anbeißen, ich muß es einmal an einer andern Stelle versuchen.“

Damit nahm er seine Angelgeräthschaften und ging hinüber nach der andern Seite des Weihers, während Hartmut sich wieder auf den Boden warf. Wer konnte auch von dem braven Willy verlangen, daß er sich mit dem Gedanken an Fliegen abgebe!

Es war einer jener Herbsttage, die für wenige kurze Mittagstunden den Frühling zurück zu zaubern scheinen. Der Sonnenschein war so golden, die Luft so mild, der Wald so frisch und duftig. Auf dem leuchtenden kleinen Gewässer tanzten Tausende von strahlenden Funken und leise und geheimnißvoll flüsterte das Schilf, wenn ein Windhauch darüber hinstrich.

[8] Hartmut lag noch immer regungslos ausgestreckt und schien diesem Wehen und Flüstern zu lauschen. Verschwunden war die wilde Leidenschaftlichkeit, die Flamme, welche fast unheimlich in seinem Auge aufloderte, als er von dem Raubvogel sprach. Jetzt hingen diese Augen träumerisch an der strahlenben Himmelsbläue und es lag etwas wie verzehrende Sehnsucht in denselben.

Da nahten leise Schritte, fast unhörbar auf dem weichen Waldboden, und in den Gebüschen rauschte es, als streife sie ein seidenes Gewand. Jetzt theilten sie sich, eine Frauengestalt glitt lautlos daraus hervor und blieb dann stehen, den Blick unverwandt auf den jungen Träumer gerichtet.

„Hartmut!“

Der Gerufene fuhr auf und sprang dann rasch empor. Er kannte weder die Stimme noch die fremde Erscheinung überhaupt, aber es war eine Dame, er machte ihr mit vollendeter Ritterlichkeit eine Verbeugung.

„Gnädige Frau –?“

Eine schmale, bebende Hand legte sich rasch und verbietend auf seinen Arm.

„Still, nicht so laut! Dein Gefährte könnte uns hören, und ich habe nur mit Dir zu sprechen, Hartmut, mit Dir allein!“

Sie trat wieder zurück und winkte ihm, zu folgen. Hartmut zögerte einen Augenblick. Wie kam diese Fremde, deren Gesicht dicht verschleiert war, die ihrer Kleidung nach aber den vornehmen Ständen angehörte, an den einsamen Waldweiher, und was bedeutete das „Du“ aus ihrem Munde ihm gegenüber, den sie zum erstenmal sah? Aber das Geheimnißvolle dieser Begegnung begann ihn zu reizen, er folgte.

Sie standen jetzt im Schutze des Gebüsches, wo sie von der andern Seite nicht gesehen werden konnten, und langsam schlug die Fremde den Schleier zurück. Sie war nicht mehr ganz jung, eine Frau von einigen dreißig Jahren, aber das Antlitz mit den dunklen, brennenden Augen besaß einen eigenartigen Zauber, und derselbe Reiz lag in ihrer Stimme, die, wenn auch im Flüsterton, doch in weichen, tiefen Lauten klang, mit fremdartiger Betonung, als sei das Deutsch, das sie vollkommen fließend sprach, nicht ihre Muttersprache.

„Hartmut, sieh mich an! Kennst Du mich wirklich nicht mehr? Hast Du keine Erinnerung aus Deiner Kinderzeit bewahrt, die Dir sagt, wer ich bin?“

Der junge Mann schüttelte langsam verneinend den Kopf, und doch tauchte jetzt eine Erinnerung in ihm auf, undeutlich und traumartig, als höre er diese Stimme nicht zum erstenmal, als habe er dies Antlitz schon einmal gesehen in ferner, ferner Zeit. Halb scheu, halb gefesselt stand er da und blickte auf die Fremde, die jetzt plötzlich beide Arme nach ihm ausstreckte.

„Mein Sohn, mein einziges Kind! Kennst Du Deine Mutter nicht mehr?“

Hartmut zuckte zusammen und wich zurück.

„Meine Mutter ist ja todt!“ sagte er halblaut.

Die Fremde lachte bitter auf, seltsam, es klang genau so wie jenes herbe unkindliche Lachen, das vorhin von den Lippen des Knaben gekommen war.

„Das also war es! Man hat mich todt gesagt. Nicht einmal die Erinnerung an die Mutter wollte man Dir lassen. Es ist nicht wahr, Hartmut, ich lebe, ich stehe vor Dir, sieh mich an, sieh meine Züge, die auch die Deinen sind. Das wenigstens hat man Dir nicht nehmen können. Kind meines Herzens, fühlst Du denn nicht, daß Du zu mir gehörst?“

Hartmut stand noch immer regungslos und blickte in das Antlitz, in dem er wie in einem Spiegel das seinige wiederfand. Es waren dieselben Linien, dasselbe üppige, bläulich schwarze Haar, dieselben großen, nachtdunklen Augen; ja selbst jener seltsame dämonische Ausdruck, der in dem Blick der Mutter wie eine Flamme loderte, glühte bereits als Funke in dem Auge des Sohnes. Die Aehnlichkeit schon bezeugte es, daß sie eines Blutes waren, und jetzt wachte die Stimme dieses Blutes auf in dem jungen Manne. Er forderte keine Erklärungen, keine Beweise, die traumartig verworrenen Erinnerungen aus seiner Kinderzeit wurden plötzlich klar, noch ein kurzes, sekundenlanges Zögern, dann warf er sich in die Arme, die sich ihm entgegenstreckten.

„Mutter.“

In dem Ausrufe lag die ganze glühende Innigkeit des Knaben, der nie gewußt hatte, was es heißt, eine Mutter zu besitzen, und der sich doch danach gesehnt hatte mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seiner Natur! Seine Mutter! Jetzt lag er in ihren Armen, jetzt überschüttete sie ihn mit heißen Liebkosungen, mit süßen, zärtlichen Schmeichelnamen, wie er sie nie gehört – es versank ihm alles andere in den Fluthen dieses stürmischen Entzückens.

So vergingen einige Minuten, dann löste sich Hartmut aus den Armen, die ihn noch immer umschlungen hielten.

„Warum bist Du niemals bei mir gewesen, Mama?“ fragte er heftig. „Warum hat man mir gesagt, daß Du todt seiest?“ Zalika trat zurück, in einem Augenblick war all die Zärtlichkeit ausgelöscht in ihren Zügen. es flammte dort auf wie wilder, tödlicher Haß und die Antwort kam fast zischend von ihren Lippen:

„Weil Dein Vater mich haßt, mein Sohn – und weil er mir nicht einmal die Liebe meines einzigen Kindes lassen wollte, als er mich von sich stieß!“

Hartmut schwieg betroffen. Er wußte freilich, daß der Name seiner Mutter nicht genannt werden durfte in Gegenwart des Vaters, daß dieser ihn mit der herbsten Strenge zurückgewiesen hatte, als er es einmal wagte, danach zu fragen, aber er war noch zu sehr Knabe gewesen, um über das „Warum“ nachzugrübeln. Zalika ließ ihm auch jetzt keine Zeit dazu. Sie strich ihm das dichte Lockenhaar von der hohen Stirn, und es flog wie ein Schatten über ihr Gesicht.

„Die Stirn hast Du von ihm!“ sagte sie langsam. „Das ist aber auch das einzige, was an ihn erinnert, alles andere gehört mir, mir allein. Jeder Zug spricht davon, daß Du mein bist – ich wußte es ja!“

Sie schloß ihn von neuem in die Arme und überschüttete ihn mit endlosen Zärtlichkeiten, die Hartmut ebenso leidenschaftlich erwiderte. Es war wie ein Rausch des Glückes, wie eins von den Märchen, die er sich so oft geträumt hatte, und er gab sich fraglos und rückhaltlos diesem Zauber hin.

Da machte sich Willy drüben am andern Ufer bemerklich. Er rief laut nach seinem Freunde und mahnte, daß es Zeit zur Heimkehr sei. Zalika fuhr empor.

„Wir müssen uns trennen! Niemand darf erfahren, daß ich Dich gesehen und gesprochen habe. Vor allem Dein Vater nicht! Wann kehrst Du zu ihm zurück?“

„In acht Tagen.“

„In acht Tagen erst?“ Die Worte klangen fast triumphirend, „und bis dahin sehe ich Dich täglich. Sei morgen um dieselbe Stunde hier am Weiher, Deinen Gefährten hältst Du unter irgend einem Vorwande zurück, damit wir ungestört sind. Du kommst doch, Hartmut?“

„Gewiß, Mutter, aber –“

Sie ließ ihm keine Zeit zu einem Einwurfe, sondern fuhr in demselben leidenschaftlichen Flüstertone fort:

„Vor allen Dingen Schweigen gegen jedermann, wer es auch sei. Vergiß das nicht! Leb’ wohl, mein Kind, mein geliebter einziger Sohn, auf Wiedersehen!“

Noch ein glühender Kuß auf die Stirn Hartmuts, dann tauchte sie wieder in das Gebüsch zurück, so lautlos wie sie gekommen war. Es war die höchste Zeit, gleich darauf erschien Willy, dessen Nahen sich nun allerdings nicht durch Lautlosigkeit auszeichnete, denn er stampfte nachdrücklichst den Rasen mit seinen schweren Tritten.

„Warum giebst Du denn keine Antwort?“ fragte er. „Ich rufe nun schon zum drittenmal, Du warst wohl eingeschlafen? Siehst auch ganz verträumt aus.“

Hartmut stand in der That noch wie betäubt da und blickte auf das Gebüsch, in dem seine Mutter verschwunden war. Jetzt richtete er sich auf und fuhr mit der Hand über die Stirn.

„Ja, ich habe geträumt,“ sagte er langsam. „Einen ganz seltsamen, wunderbaren Traum!“

„Du hättest lieber angeln sollen,“ meinte Willy. „Sieh, welch einen prächtigen Fang ich da drüben gemacht habe. Der Mensch darf nicht am hellen lichten Tage träumen, er muß etwas Ordentliches thun – sagt meine Mutter – und meine Mutter hat immer recht!“

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 2, S. 037–044

[37] Die Familien Falkenried und Wallmoden waren seit langen Jahren befreundet. Als Gutsnachbarn verkehrten sie oft und viel miteinander, die Kinder wuchsen zusammen auf, und eine Menge von gemeinsamen Interessen knüpfte dies Freundschaftsband noch fester. Da aber beide nur mäßig begütert waren, so mußten die Söhne nach vollendeter Erziehung sich ihren Weg im Leben selbst bahnen, und das hatten der Major Hartmut von Falkenried und Herbert von Wallmoden denn auch gethan.

Sie waren Jugendgespielen gewesen und auch als Männer der alten Knabenfreundschaft treu geblieben. Einst hatten sie sich auch verwandtschaftlich nahe treten sollen, denn von seiten der Eltern wurde eine Verbindung geplant zwischen dem damaligen Lieutenant Falkenried und Regine Wallmoden. Das junge Paar schien auch vollkommen einverstanden und alles auf dem besten Wege zu sein, als ein Ereigniß eintrat, das diesem Plane ein jähes Ende machte.

Ein Vetter der Wallmodenschen Familie, ein unverbesserlicher Leichtsinn, der sich mit allerlei tollen Streichen in der Heimath unmöglich gemacht hatte, war vor Jahren in die weite Welt gegangen und nach manchen Irrfahrten und einem ziemlich abenteuerlichen Leben schließlich nach Rumänien verschlagen worden, wo er die Besitzungen eines reichen Bojaren verwaltete. Nach dessen Tode gelang es ihm, die Hand der Witwe zu erringen und damit auch die Lebensstellung zurückzugewinnen, die er einst leichtsinnig verscherzt hatte, und jetzt traf er nach mehr als zehnjähriger Abwesenheit mit seiner Gattin zu einem längeren Besuche bei den Verwandten ein.

Frau von Wallmoden stand schon in reiferem Alter und war längst verblüht, aber in ihrer Begleitung befand sich ihre Tochter erster Ehe, Zalika Rojanow, und die junge, kaum siebzehnjährige Slavin, mit dem Zauber ihrer fremdartigen Schönheit und dem Reiz ihres gluthvollen Temperamentes, flammte wie ein Meteor auf an dem Horizonte dieser deutschen Landedelleute, deren Leben sich in so ruhigen, gemessenen Bahnen bewegte.

Sie nahm sich allerdings seltsam genug aus in diesem Kreise, über dessen Formen und Rücksichten sie sich mit souveräner Gleichgültigkeit hinwegsetzte, und der sie anstaunte wie ein Wunder aus einer fremden Welt. Aber es gab doch auch manches ernste Kopfschütteln, manchen Tadel, der nur deshalb nicht laut ausgesprochen wurde, weil man in dem Mädchen nur [38] einen flüchtigen Gast sah, der wohl eben so schnell wieder verschwinden würde, als er aufgetaucht war.

Da kam Hartmut Falkenried aus seiner Garnison auf das väterliche Gut und lernte im Hause der befreundeten Familie die neuen Verwandten kennen. Er sah Zalika, und damit nahte ihm das Verhängniß seines Lebens. Es war eine jener Leidenschaften, die plötzlich, fast blitzschnell entstehen, die einem Rausche, einem Taumel gleichen und nur zu oft mit der Reue eines ganzen Lebens bezahlt werden.

Vergessen waren die Wünsche der Eltern, die eigenen Zukunftspläne, vergessen die ruhige, herzliche Neigung, die ihn zu seiner Jugendgespielin Regine zog. Er hatte keine Augen mehr für die heimische Waldblume, die ihm damals noch jung und frisch erblühte, er sog nur den berauschenden Duft der fremden Wunderblüthe ein, alles andere verschwand und versank neben ihr, und in einer Stunde des Alleinseins stürzte er zu ihren Füßen und bekannte ihr seine Liebe.

Seltsamerweise wurden seine Gefühle erwidert. Vielleicht war es die alte Lehre von den sich berührenden Extremen, die Zalika zu einem Manne zog, der in jeder Hinsicht der vollste Gegensatz ihres eigenen Wesens war, vielleicht schmeichelte es ihr, daß ein Blick, ein Wort von ihr die ernste, ruhige und schon damals etwas düstere Natur des jungen Offiziers in Flammen zu setzen vermocht hatte, genug, sie nahm seine Werbung an und er durfte sie als Braut in die Arme schließen.

Die Nachricht von dieser Verlobung erregte einen Sturm in dem gesammten Familienkreise, von allen Seiten kamen Einreden und Warnungen, auch Zalikas Mutter und ihr Stiefvater waren dagegen, aber der allgemeine Widerstand steigerte nur die Leidenschaft des jungen Paares. Die Verbindung wurde trotz alledem durchgesetzt, und ein halbes Jahr später führte Falkenried seine junge Gattin in sein Haus.

Aber die Stimmen, welche dieser Ehe Unglück prophezeiten, sollten nur zu sehr recht behalten. Dem kurzen Rausche des Glückes folgte die bitterste Enttäuschung. Es war ein verhängnißvoller Irrthum gewesen, zu glauben, eine Frau wie Zalika Rojanow, die in schrankenloser Freiheit aufgewachsen und an das regellose, verschwenderische Leben der Bojarenfamilien ihrer Heimath gewöhnt war, könne sich jemals deutschen Anschauungen und Verhältnissen fügen. Auf wildem Rosse stundenlang umherjagen, mit den Männern, die ihre Zeit zwischen Jagd und Spiel theilten, in dem allerfreiesten Tone verkehren und sich im Hause, das immer eine Schar von Gästen füllte, mit einem äußeren Glanze umgeben, der mit dem ärgsten Verfall der verschuldeten Güter Hand in Hand ging – das war das Leben, das sie bisher allein kennen gelernt hatte und das ihr auch allein zusagte. Der Begriff der Pflicht war ihr ebenso fremd wie das Verständniß für ihre neue Lebensstellung überhaupt.

Und diese Frau sollte sich nun dem Haushalt eines jungen Offiziers, dem nur beschränkte Mittel zu Gebote standen, den Verhältnissen einer kleinen deutschen Garnisonstadt anbequemen! Daß das unmöglich war, zeigte sich schon in den ersten Wochen. Zalika begann damit, sich auch hier über alle Rücksichten hinwegzusetzen und ihr Haus auf dem gewohnten Fuße einzurichten, indem sie ihre nicht unbedeutende Mitgift in der sinnlosesten Weise verschwendete.

Vergebens bat und mahnte der Gatte, er fand kein Gehör hei ihr; sie hatte nur Spott für Schranken und Formen, die ihm heilig waren, nur ein Achselzucken für seine strengen Ehr- und Anstandsbegriffe. Es gab bald genug die heftigsten Zerwürfnisse, und Falkenried erkannte zu spät die schwere Uebereilung, die er begangen hatte.

Er hatte auf die Allmacht der Liebe gebaut, all den Warnungsstimmen zum Trotz, die auf die Verschiedenheit der Abstammung, der Erziehung und der Charaktere hinwiesen, und mußte nun erkennen, daß Zalika ihn überhaupt nie geliebt, daß nur Laune oder höchstens eine flüchtig auflodernde Leidenschaft, die ebenso schnell wieder erstarb, sie in seine Arme geführt hatte. Jetzt sah sie in ihm nur noch den unbequemen Gefährten, der ihr jeden Lebensgenuß verkümmerte, der mit seiner thörichten Pedanterie, seinen lächerlichen Ehrbegriffen ihr überall Schranken und Fesseln auferlegte. Und doch fürchtete sie diesen Mann, dessen Energie es gelang, ihre charakterlose Natur immer wieder unter seinen Willen zu beugen.

Auch die Geburt des kleinen Hartmut vermochte in der schon damals tief unglücklichen Ehe nichts mehr zu versöhnen und auszugleichen, aber sie hielt diese Ehe wenigstens äußerlich noch zusammen. Zalika liebte ihr Kind mit vollster Leidenschaft, und sie wußte, daß der Gatte es ihr nun und nimmermehr lassen würde, wenn es zur Trennung käme. Das allein hielt sie an seiner Seite fest, während Falkenried mit verbissenem Schmerze sein häusliches Elend trug und alles dran setzte, es wenigstens vor der Welt zu verschleiern.

Die Welt freilich kannte trotzdem die Wahrheit, sie wußte Dinge, die der Gemahl nicht einmal ahnte und die man ihm aus Schonung noch verschwieg. Aber endlich kam doch der Tag, wo man dem betrogenen Manne die Augen öffnete und ihm verrieth, was anderen längst kein Geheimniß mehr war. Die unmittelbare Folge davon war ein Duell, in dem Falkenrieds Gegner fiel, während er selbst zu einer längeren Festungshaft verurtheilt, aber sehr bald begnadigt wurde. Man wußte es ja, daß der beleidigte Gatte nur seine Ehre gesühnt hatte.

Inzwischen war auch die Scheidung eingeleitet und ausgesprochen worden; Zalika erhob keinen Widerspruch dagegen, sie wagte es überhaupt nicht, ihrem Gatten wieder zu nahen, denn seit jener Trennungsstunde, wo er sie zur Rede stellte, zitterte sie vor ihm. Aber sie machte verzweifelte Versuche, sich den Besitz ihres Kindes zu sichern, um das sie einen Kampf auf Leben und Tod führte.

Es war vergebens, Hartmut wurde unbedingt dem Vater zugesprochen, der mit eiserner Unerbittlichkeit jede Annäherung der Mutter zu hindern wußte. Zalika durfte ihren Sohn nicht einmal wiedersehen und erst, als sie sich überzeugt hatte, daß in dieser Hinsicht nichts zu erreichen war, kehrte sie in ihre Heimath, in das Haus ihrer Mutter zurück.

Sie schien verschollen zu sein für ihren ehemaligen Gatten, bis sie plötzlich und unerwartet wieder in Deutschland auftauchte, wo Major Falkenried jetzt eine hervorragende Stellung an der großen militärischen Erziehungsanstalt einnahm, die in der Nähe der Hauptstadt lag.




Es war ungefähr acht Tage nach der Ankunft Hartmuts in Burgsdorf. In ihrem Wohnzimmer saß Frau von Eschenhagen und ihr gegenüber der Major, der vor einer Viertelstunde eingetroffen war. Der Gegenstand ihres Gespräches mußte wohl ein sehr ernster und unangenehmer sein, denn Falkenried hörte mit tief verfinstertem Gesichte der Gutsherrin zu, die jetzt in ihrem Berichte fortfuhr.

„Mir fiel Hartmuts verändertes Wesen schon am dritten oder vierten Tage auf. Der Junge, dessen Uebermuth anfangs gar nicht zu bändigen war, sodaß ich einige Male drohte, ihn wieder nach Haus zu schicken, wurde plötzlich ganz kopfhängerisch. Er beging keine einzige Tollheit mehr, trieb sich stundenlang allein im Walde umher und träumte, wenn er zurückkam, mit offenen Augen, sodaß man ihn förmlich wecken mußte. ‚Er fängt an, vernünftig zu werden,‘ meinte Herbert, ich aber sagte: ‚die Sache ist nicht richtig, dahinter steckt etwas!‘ und nahm mir meinen Willy vor, der mir auch ganz merkwürdig vorkam. Er war richtig mit im Komplott. Er hatte die beiden eines Tages überrascht, Hartmut hatte ihm das Wort abgenommen, daß er schweigen werde, und mein Junge schweigt wirklich, verschweigt mir, seiner Mutter, etwas! Er beichtete erst, als ich ihm ernstlich zu Leibe ging. Nun, zum zweiten mal thut er es nicht wieder, dafür habe ich gesorgt.“

„Und Hartmut? Was sagte er?“ unterbrach sie der Major hastig.

„Gar nichts, denn ich habe noch keine Silbe mit ihm darüber geredet. Er hätte mich wahrscheinlich gefragt, warum er seine eigene leibliche Mutter nicht sehen und sprechen solle, und die Antwort auf diese Frage kann ihm doch nur – der Vater geben.“

„Er wird sie wohl bereits von anderer Seite erhalten haben,“ sagte Falkenried bitter. „Die Wahrheit freilich hat er schwerlich erfahren!“

„Das fürchte ich auch und deshalb verlor ich keine Minute, Sie zu benachrichtigen, nachdem ich die Geschichte entdeckt hatte. Was nun?“

„Nun werde ich allerdings eingreifen,“ entgegnete der Major mit erzwungener Ruhe. „Ich danke Ihnen, Regine, aber ich [39] ahnte bereits Unheil, als Ihr Brief mich so dringend herrief. Herbert hatte recht, ich durfte unter diesen Umständen meinen Sohn auch nicht eine Stunde von meiner Seite lassen, aber ich glaubte ihn hier in Burgsdorf sicher vor jeder Annäherung. Und er freute sich so auf den Ausflug, er sehnte sich mit einer förmlichen Leidenschaft danach, ich hatte nicht das Herz, es ihm zu versagen; – er ist ja überhaupt nur froh, wenn er fern von mir ist.“

Es lag ein dumpfer Schmerz in den letzten Worten: aber Frau von Eschenhagen zuckte nur die Achseln.

„Das ist nicht die Schuld des Jungen allein,“ sagte sie offenherzig. „Ich halte meinen Willy auch tüchtig in Zucht, aber er weiß trotz alledem, daß er eine Mutter hat, der er ans Herz gewachsen ist. Hartmut weiß das nicht von seinem Vater, er kennt ihn nur von der strengen, unzugänglichen Seite. Wenn er ahnte, daß Sie ihn insgeheim vergöttern –“

„So würde er das sofort mißbrauchen und mich wehrlos machen mit seiner schmeichlerischen Zärtlichkeit. Soll auch ich mich von ihm beherrschen lassen wie alles, was in seine Nähe kommt? Seine Kameraden folgen ihm blindlings, so oft er ihnen auch Strafe zuzieht mit seinen Tollheiten. Ihren Willibald hat er gänzlich unter seiner Botmäßigkeit, sogar seine Lehrer behandeln ihn mit besonderer Nachsicht. Ich bin der einzige, den er fürchtet, und infolge dessen auch der einzige, den er respektirt.“

„Und Sie glauben es mit der Furcht allein zu zwingen bei dem Jungen, der jetzt zweifellos von seiner Mutter mit den unsinnigsten Zärtlichkeiten überschüttet wird? Wenden Sie sich nicht ab, Falkenried, Sie wissen, ich habe nie jenen Namen vor Ihnen genannt, aber jetzt, wo er so unabweisbar wieder in den Vordergrund tritt, wird man ihn wohl einmal aussprechen dürfen. Und da wir gerade bei dem Punkte sind, so sage ich Ihnen offen heraus, die Geschichte war nicht anders zu erwarten, seit Frau Zalika wieder auftauchte. Es hätte nichts geholfen, wenn Sie Hartmut nicht von Ihrer Seite gelassen hätten, denn man kann einen Siebzehnjährigen nicht mehr hüten wie ein kleines Kind. Die Mutter hätte doch den Weg zu ihm gefunden, und das war im Grunde ihr Recht – ich hätte es ebenso gemacht.“

„Ihr Recht?“ fuhr der Major heftig auf. „Und das sagen Sie mir, Regine?“

„Das sage ich, weil ich weiß, was es heißt, ein einziges Kind zu haben! Daß Sie Ihrer Frau den Buben nahmen, war in der Ordnung, eine solche Mutter taugt nicht zur Erziehung; daß Sie es ihr aber jetzt, nach zwölf Jahren verweigern, Ihren Sohn wiederzusehen, das ist eine Härte und Grausamkeit, die nur der Haß eingeben kann. Wie groß auch ihre Schuld sein mag – die Strafe ist zu hart.“

Falkenried blickte finster vor sich nieder, er mochte fühlen, daß eine Wahrheit in den Worten lag; endlich sagte er langsam:

„Ich hätte nie geglaubt, daß Sie die Partei Zalikas nehmen würden. Ich habe Sie einst bitter gekränkt um ihretwillen, ich zerriß ein Band –“

„Das noch gar nicht einmal geknüpft war,“ unterbrach ihn Frau von Eschenhagen abwehrend. „Es war ein Plan unserer Eltern, weiter nichts.“

„Aber der Gedanke daran war uns doch lieb und vertraut seit unseren Kinderjahren. Versuchen Sie nicht, mich zu entschuldigen, Regine, ich weiß nur zu gut, was ich damals Ihnen und – mir gethan habe.“

Regine richtete die klaren grauen Augen fest auf ihn, aber es lag etwas wie ein feuchter Schimmer darin, als sie erwiderte:

„Nun ja, Hartmut, jetzt, wo wir beide längst über die Jugend hinaus sind, werde ich es ja wohl eingestehen dürfen. Ich habe Sie damals gern gehabt und Sie hätten auch wohl etwas anderes aus mir machen können, als ich jetzt geworden bin. Ich war immer ein eigenwilliges Ding und nicht leicht zu regieren, aber Ihnen hätte ich mich gefügt, vielleicht Ihnen allein auf der ganzen Welt. Als ich drei Monate nach Ihrer Hochzeit mit Eschenhagen vor den Altar trat, da war es umgekehrt, da nahm ich die Zügel in die Hand und fing an zu kommandiren, und seitdem habe ich es gründlich gelernt. Doch jetzt fort mit den alten, längst abgethanen Geschichten! Ich habe sie Ihnen nicht nachgetragen, das wissen Sie, wir sind trotzdem Freunde geblieben, und wenn Sie mich jetzt brauchen, mit Rath oder That – ich bin da.“

Sie streckte ihm die Hand hin und er legte die seinige hinein.

„Ich weiß es, Regine, aber hier kann ich mir nur allein rathen und helfen. Bitte, rufen Sie Hartmut zu mir, ich werde mit ihm sprechen!“

Frau von Eschenhagen kam seinem Wunsche nach, sie stand auf und verließ das Zimmer, aber im Gehen murmelte sie halblaut:

„Wenn es nicht schon zu spät ist! Sie hat den Vater damals blind und toll gemacht, sie wird sich den Sohn wohl auch schon gesichert haben!“

Nach etwa zehn Minuten trat Hartmut ein; er schloß die Thür hinter sich, blieb aber an der Schwelle stehen. Falkenried wandte sich um.

„Komm näher, Hartmut, ich habe mit Dir zu reden!“

Der Jüngling gehorchte und kam langsam näher. Er wußte bereits, daß Willibald hatte beichten müssen und daß die Zusammenkünfte mit der Mutter verrathen seien, aber in die Scheu, mit der er sonst stets dem Vater nahte, mischte sich heute ein unverkennbarer Trotz, der dem Major nicht entging. Er streifte mit einem langen düsteren Blick die jugendlich schöne Erscheinung seines Sohnes.

„Meine plötzliche Ankunft scheint Dich nicht zu überraschen,“ begann er wieder. „Du weißt also vermuthlich, was mich herführt?“

„Ja, Vater, ich errathe es.“

„Gut, so brauchen wir uns nicht erst mit einer Einleitung aufzuhalten. Du hast erfahren, daß Deine Mutter noch am Leben ist, sie hat sich Dir genähert und Du verkehrst mit ihr – ich weiß es bereits. Wann sahst Du sie zum erstenmal?“

„Vor fünf Tagen.“

„Und seitdem hast Du sie täglich gesprochen?“

„Ja, am Burgsdorfer Weiher.“

Fragen und Antworten klangen gleich kurz und gemessen. Hartmut war an diese streng militärische Art gewöhnt, selbst im Verkehr mit dem Vater, der kein überflüssiges Wort, kein Zögern und Ausweichen bei den Antworten duldete. Er hielt auch heute diesen Ton fest, der seine qualvolle Erregung vor den ungeübten Augen des Sohnes verschleiern sollte. Dieser sah in der That nur das ernste, unbewegte Antlitz, hörte nur den Ton kalter Strenge, als der Major fortfuhr:

„Ich will Dir keinen Vorwurf daraus machen, denn ich habe Dir in dieser Hinsicht nichts verboten. Der Punkt ist ja überhaupt nie zwischen uns berührt worden. Da wir aber einmal so weit sind, muß ich wohl das Schweigen brechen. Du hieltest Deine Mutter für todt und ich habe das stillschweigend geduldet, denn ich wollte Dich vor den Erinnerungen bewahren, die mein Leben vergiftet haben; Deine Jugend wenigstens sollte frei davon sein. Das ist nicht durchzuführen, wie ich sehe, so magst Du denn jetzt die Wahrheit erfahren!“

Er hielt einen Augenblick inne, dem Manne mit seinem reizbaren Ehrgefühl war es eine Folter, diesen Punkt vor seinem Sohne zu erörtern, und doch gab es jetzt keine Wahl mehr, er mußte weiter sprechen.

„Ich habe als junger Offizier Deine Mutter leidenschaftlich geliebt und vermählte mich mit ihr, gegen den Willen meiner Eltern, die in dieser Ehe mit einer Frau aus fremdem Stamme und Blute kein Heil sahen. Sie hatten recht, die Ehe war eine tief unglückliche und wurde schließlich getrennt, auf mein Verlangen. Ich hatte ein unbedingtes Recht dazu und mir wurde auch der Besitz meines Sohnes unbedingt zugesprochen. Mehr kann ich Dir nicht sagen, denn ich will die Mutter nicht vor ihrem Sohne anklagen; also laß Dir daran genug sein!“

So kurz und herb diese Erklärung auch lautete, sie machte einen eigenthümlichen Eindruck auf Hartmut. Sein Vater wollte die Mutter nicht vor ihm anklagen, vor ihm, der doch täglich die bittersten Anklagen und Schmähungen gegen den Vater von ihr hörte. Zalika hatte selbstverständlich die ganze Schuld der Trennung auf ihren Gatten und seine unerhörte Tyrannei gewälzt und sie fand ein nur zu williges Ohr bei dem Jüngling, dessen unbändige Natur so schwer unter der Strenge des Vaters litt. Und doch wirkten jetzt dessen kurze, ernste Worte mehr als all jene leidenschaftlichen Ausbrüche; Hartmut fühlte instinktmäßig, auf welcher Seite die Wahrheit lag.

„Und nun zu der Hauptsache!“ hob Falkenried wieder an. „Was war der Inhalt Eurer täglichen Unterredungen?“

[40] Hartmut mochte diese Frage wohl nicht erwartet haben, denn eine glühende Röthe floß plötzlich über sein Gesicht, er schwieg und sah zu Boden.

„Ah so, Du wagst nicht, es mir zu wiederholen! Ich verlange es aber zu wissen. Antworte, ich befehle es Dir!“

Aber Hartmut schwieg noch immer, er preßte nur fester die Lippen zusammen und sein Auge begegnete mit finsterem Trotze dem des Vaters, der jetzt dicht vor ihn hintrat.

„Du willst nicht reden? Hat vielleicht ein Verbot von jener Seite Dich stumm gemacht? Gleichviel, Dein Schweigen sagt mir mehr als Worte. Ich sehe, wie sehr Du mir bereits entfremdet bist, und Du würdest mir ganz verloren gehen, wenn ich Dich diesem Einflusse noch länger überließe. Diese Zusammenkünfte mit Deiner Mutter haben von jetzt an ein Ende, ich verbiete sie Dir. Du begleitest mich noch heute nach Haus und bleibst unter meiner Obhut. Ob Dir das grausam erscheint oder nicht, es muß sein und Du wirst gehorchen.“

Aber der Major irrte, wenn er glaubte, seinen Sohn wie sonst mit einem bloßen Befehl unter seinen Willen zu beugen. Hartmut war in den letzten Tagen in einer Schule gewesen, wo ihm der Trotz gegen den Vater in wirkungsvollster Weise beigebracht worden war.

„Vater, das kannst, das darfst Du mir nicht befehlen!“ brach er jetzt mit erschreckender Heftigkeit aus, „Es ist meine Mutter, die ich endlich wiedergefunden habe, die einzige, die mich liebt auf der ganzen Welt! Ich lasse sie mir nicht wieder nehmen, wie sie mir schon einmal genommen wurde; ich lasse mich nicht zwingen, sie zu hassen, weil Du sie hassest. Drohe, strafe mich, thue, was Du willst, mit mir, aber ich gehorche diesmal nicht, ich will nicht gehorchen!“

Die ganze unbändige Leidenschaft des jungen Mannes fluthete in diesen Worten, das unheimliche Feuer flammte wieder in seinen Augen, die Hände ballten sich, jede Fiber bebte in wilder Empörung – er war augenscheinlich entschlossen, den Kampf mit dem sonst so gefürchteten Vater aufzunehmen.

Doch der Zornausbruch, den er mit voller Bestimmtheit erwartete, kam nicht; Falkenried sah ihn nur schweigend an, aber mit einem Blick ernsten, schweren Vorwurfes.

„Die einzige, die Dich liebt auf der ganzen Welt!“ wiederholte er langsam. „Du hast wohl vergessen, daß Du noch einen Vater hast!“

„Der mich aber nicht liebt!“ rief Hartmut in überquellender Bitterkeit. „Erst seit ich meine Mutter wiederfand, habe ich erfahren, was Liebe ist.“

„Hartmut!“

Der Jüngling sah betroffen auf bei diesem seltsamen, schmerzdurchbebten Tone, den er zum erstenmal hörte, und der Trotz, der eben wieder von neuem ausbrechen wollte, erstarb auf seinen Lippen.

„Weil ich keine Schmeichelworte und Liebkosungen für Dich hatte, weil ich Dich mit Ernst und Strenge erzog, zweifelst Du an meiner Liebe?“ sagte Falkenried, noch immer in dem gleichen Tone. „Weißt Du, was diese Strenge mich gekostet hat, meinem einzigen, meinem geliebten Kinde gegenüber?“

„Vater –?“ Das Wort klang noch scheu und zögernd, aber es war nicht mehr die alte Scheu und Furcht, es lag etwas darin wie aufkeimendes Vertrauen, wie frohes, noch halb ungläubiges Staunen, und dabei hingen Hartmuts Augen wie gebannt an den Zügen des Vaters, der jetzt die Hand auf seinen Arm legte und ihn leise an sich zog, während er fortfuhr: „Ich habe auch einst Ehrgeiz gehabt, stolze Lebenshoffnungen, große Pläne und Entwürfe, das war zu Ende, als ein Schlag mich traf, den ich nie verwinden werde. Wenn ich jetzt noch ringe und strebe, so spornt mich neben dem Pflichtbewußtsein nur eins noch, der Gedanke an Dich, Hartmut. In Dir ruht all mein Ehrgeiz, Deine Zukunft groß und glücklich zu gestalten, ist das einzige, was ich noch vom Leben fordere, und sie kann groß werden, mein Sohn, denn Deine Begabung ist eine ungewöhnliche, Dein Wille ein stärker im Guten wie im Schlimmen. Aber es liegt noch etwas anderes, Gefährliches in Deiner Natur, das weniger Deine Schuld als Dein Verhängniß ist und das man bei Zeiten bändigen muß, wenn es nicht überwuchern und Dich ins Unglück stürzen soll. Ich habe streng sein müssen, um diese unselige Anlage zu bannen, leicht ist mir das nicht geworden.“

Das Antlitz des Jünglings war wie in Gluth getaucht, mit fliegendem Athem schien er jedes Wort von den Lippen des Vaters zu lesen, und jetzt sagte er in einem Flüsterton, hinter dem sich kaum noch der mühsam verhaltene Jubel barg:

„Ich wagte es ja bisher nicht, Dich zu lieben, Du warst, immer so starr, so unzugänglich, und ich –“ er brach ab und sah wieder zu dem Vater auf, der jetzt den Arm um seine Schulter legte und ihn noch fester an sich zog. Ihre Blicke tauchten tief, tief ineinander und die Stimme des sonst so eisernen Mannes brach, als er leise sagte:

„Du bist mein einziges Kind, Hartmut! Das einzige, was mir übrig geblieben ist von einem Traume des Glückes, der in Bitterkeit und Enttäuschung zerrann. Ich habe damals viel verloren und habe es ertragen; aber wenn ich Dich verlieren sollte, Dich – das ertrüge ich nicht!“

Seine Arme schlossen sich fest wie unlöslich um den Sohn, der sich schluchzend an seine Brust warf, und in heißer, leidenschaftlicher Umarmung, in welcher alles andere zu versinken schien, hielten sich Vater und Sohn umschlungen. Sie hatten es beide vergessen, daß noch ein Schatten aus der Vergangenheit drohend und trennend zwischen ihnen stand. –

*      *      *

Drüben im Eßzimmer saß inzwischen Frau von Eschenhagen und hielt ihrem Willy eine Standrede. Sie hatte das zwar schon heute morgen gethan, war aber der Meinung, daß die doppelte Portion in diesem Falle nicht schaden könne. Der junge Majoratserbe sah sehr zerknirscht aus, er fühlte sich im Unrecht, sowohl der Mutter als dem Freunde gegenüber, und war doch ganz schuldlos an der Geschichte. Als gehorsamer Sohn ließ er sich aber geduldig abkanzeln und warf nur von Zeit zu Zeit einen wehmüthigen Blick auf das Vesperbrot, das bereits auf dem Tische stand, von dem aber seine Mutter vorläufig noch keine Notiz nahm.

„Das kommt davon, wenn man hinter dem Rücken der Eltern Heimlichkeiten hat!“ schloß sie ihre Strafpredigt. „Dem Hartmut wird jetzt da drüben der Kopf gewaschen, der Major wird nicht gerade sanft mit ihm verfahren, und Du, denke ich, läßt es in Zukunft auch bleiben, bei solch einem Komplott den Helfershelfer zu spielen.“

„Ich habe ja nicht dabei geholfen,“ vertheidigte sich Willy. „Ich hatte nur versprochen, zu schweigen, und mußte doch Wort halten.“

„Gegen Deine Mutter durftest Du nicht schweigen, die ist immer und überall eine Ausnahme,“ sagte Frau Regine bestimmt.

„Ja, Mama, das hat Hartmut wahrscheinlich auch gemeint, als es sich um seine Mutter handelte,“ meinte Willibald, und die Bemerkung war so richtig, daß sich schlechterdings nichts dagegen einwenden ließ; um so mehr ärgerte sich Frau von Eschenhagen darüber.

„Das ist etwas anderes, etwas ganz anderes,“ versetzte sie kurz, aber der junge Majoratsherr fragte hartnäckig:

„Warum ist es denn hier etwas anderes?“

„Junge, Du bringst mich noch um mit Deinen Fragen und Reden!“ fuhr die Mutter zornig auf. „Das ist eine Sache, die Du nicht verstehst, auch gar nicht verstehen sollst. Schlimm genug, daß der Hartmut Dich überhaupt in Berührung damit gebracht hat. Jetzt schweigst Du und kümmerst Dich nicht weiter darum! Verstanden?“

Willy schwieg pflichtschuldigst, es war wohl das erste Mal in seinem Leben, daß man ihm zu vieles Fragen und Reden zum Vorwurf machte. Ueberdies trat jetzt sein Onkel Wallmoden ein, der soeben von einer Ausfahrt zurückkehrte.

„Falkenried ist bereits hier, wie ich höre?“ sagte er, zu seiner Schwester tretend.

„Jawohl,“ versetzte diese. „Er kam unverzüglich nach Empfang meines Briefes.“

„Und wie hat er die Nachricht aufgenommen?“

„Aeußerlich ziemlich ruhig; aber ich merkte nur zu gut, wie es in seinem Innern aussah. Jetzt ist er allein mit Hartmut, und da wird wohl der Sturm losbrechen.“

[42] „Leider! Aber ich habe ihm diesen Ausgang vorhergesagt, als ich von Zalikas Rückkehr hörte. Er hätte gleich damals mit seinem Sohn sprechen müssen. Jetzt, fürchte ich, fügt er einen zweiten Mißgriff zu dem ersten und sucht mit Verboten und mit Zwang eine Trennung herbeizuführen. Dieser unselige Starrsinn, der nur ein ‚entweder – oder‘ kennt! Er ist hier gerade am wenigsten am Platze.“

„Ja, mir dauert die Geschichte da drüben auch zu lange,“ sagte Frau von Eschenhagen besorgt. „Ich werde einmal nachsehen, wie weit die beiden eigentlich miteinander sind, ob der Major das übelnimmt oder nicht: Bleibe hier, Herbert, ich komme sogleich zurück.“

Sie verließ das Zimmer, und während Wallmoden unmuthig auf- und niederschritt, saß sein Neffe einsam am Tische mit dem Vesperbrot, um das sich noch immer kein Mensch kümmerte. Sich allein darüber herzumachen wagte er nicht, denn es herrschte ja heute eine förmliche Aufregung in Burgsdorf und die Frau Mama war äußerst ungnädig gestimmt. Zum Glück kehrte sie schon nach Verlauf von einigen Minuten zurück, und diesmal lag auf ihrem Gesicht der hellste Sonnenschein.

„Die Sache ist in Ordnung,“ sagte sie kurz und bündig. „Er hält seinen Jungen in den Armen und der hängt an seinem Halse, und das weitere wird sich nun schon von selbst machen – Gott sei Dank! Und nun kannst Du auch Dein Vesperbrot essen, Willy, die Konfusion, die uns die ganze Hausordnung gestört hat, ist zu Ende.“

Willy ließ sich das nicht zweimal sagen und machte schleunigst von der ertheilten Erlaubniß Gebrauch. Wallmoden schüttelte aber den Kopf und sagte halblaut:

„Wenn sie nur auch wirklich zu Ende ist!“




Falkenried und sein Sohn hatten es nicht bemerkt, daß die Thür leise geöffnet und wieder geschlossen wurde. Hartmut hing noch immer am Halse des Vaters. Er schien auf einmal alle Scheu, alle Zurückhaltung verloren zu haben und er war hinreißend liebenswürdig in seiner neuerwachten stürmischen Zärtlichkeit, von welcher der Major vielleicht nicht mit Unrecht fürchtete, daß sie ihn wehrlos machen könnte. Er sprach nur wenig, aber er drückte wieder und immer wieder seine Lippen auf die Stirn seines Sohnes und blickte unverwandt in das schöne lebensvolle Antlitz, das sich dicht an das seinige schmiegte. Endlich fragte Hartmut leise:

„Und – meine Mutter?“

Ueber Falkenrieds Stirn flog wieder ein Schatten, aber er ließ seinen Sohn nicht aus den Armen.

„Deine Mutter wird Deutschland verlassen, sobald sie sich überzeugt, daß sie Dir auch in Zukunft fernbleiben muß,“ sagte er, diesmal ohne Härte, aber mit vollster Entschiedenheit. „Du magst ihr schreiben, ich werde einen Briefwechsel unter gewissen Einschränkungen gestatten, einen persönlichen Verkehr kann und darf ich nicht zulassen.“

„Vater, bedenke –“

„Ich kann nicht, Hartmut, es ist unmöglich!“

„Hassest Du sie denn so sehr?“ fragte der Jüngling vorwurfsvoll. „Du hast die Trennung gewollt, nicht meine Mutter, ich weiß es von ihr selbst.“

Falkenrieds Lippen zuckten, er wollte ein bitteres Wort aussprechen und seinem Sohne sagen, daß jene Trennung ein Gebot der Ehre gewesen sei; aber da sah er wieder in die dunklen, fragenden Augen, und jenes Wort erstarb. Er konnte die Mutter nicht vor ihrem Kinde anklagen.

„Laß die Frage!“ entgegnete er düster. „Ich kann sie Dir nicht beantworten; vielleicht lernst Du später einmal meine Gründe kennen und würdigen. Jetzt kann ich Dir die herbe Wahl nicht ersparen, Du darfst nur einem von uns gehören, das andere mußt Du meiden – nimm es als ein Verhängniß!“

Hartmut senkte das Haupt, er mochte wohl fühlen, daß sich für jetzt nichts weiter erreichen ließ. Daß die Zusammenkünfte mit der Mutter ein Ende nehmen mußten, wenn er nach Haus, in die strenge Disziplin der Anstalt zurückkehrte, wußte er ja längst; jetzt wurde ihm sogar ein Briefwechsel gestattet, das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.

„So will ich es der Mutter sagen,“ versetzte er niedergeschlagen. „Jetzt, wo Du alles weißt, darf ich doch wohl offen zu ihr gehen.“

Der Major stutzte, er hatte an diese Möglichkeit noch gar nicht gedacht.

„Wann wolltest Du sie wiedersehen?“ fragte er.

„Heute, um diese Stunde, am Burgsdorfer Weiher. Sie wird sicher schon dort sein.“

Falkenried schien mit sich zu kämpfen, in seinem Innern erhob sich eine warnende Stimme und mahnte ihn, diesen Abschied nicht zuzulassen, und doch fühlte er, daß es grausam wäre, ihn zu verweigern.

„Wirst Du in zwei Stunden zurück sein?“ fragte er endlich.

„Gewiß, Vater, noch früher, wenn Du es verlangst.“

„So geh’!“ sagte der Major mit einem tiefen Athemzuge; man hörte es, wie schwer ihm die Einwilligung wurde, die sein Gerechtigkeitsgefühl ihm abrang. „Sobald Du zurückkehrst, fahren wir nach Hause, Deine Ferien nehmen ja ohnehin bald ein Ende.“

Hartmut, der schon im Begriff war, zu gehen, hielt plötzlich inne. Die Worte riefen ihm auf einmal wieder in das Gedächtniß, was er in der letzten halben Stunde völlig vergessen hatte, den Zwang und die Strenge des so gehaßten Dienstes, der nun wieder seiner harrte. Er hatte es bisher nicht gewagt, seine Abneigung dagegen offen zu verrathen, aber diese Stunde nahm mit der Scheu vor dem Vater auch das Siegel von seinen Lippen. Einer augenblicklichen Eingebung folgend, kehrte er um und legte von neuem seine Arme um den Hals des Vaters.

„Ich habe eine Bitte,“ flüsterte er, „eine große, große Bitte, die Du mir gewähren mußt, und Du wirst es thun, ich weiß es, als Beweis, daß Du mich wirklich liebst.“

Zwischen den Brauen des Majors erschien eine Falte und er fragte mit leisem Vorwurf.

„Verlangst Du erst noch Beweise dafür? Nun, so laß hören!“

Hartmut schmiegte sich noch fester an ihn, seine Stimme gewann wieder jenen schmeichlerisch süßen Klang, der sein Bitten so unwiderstehlich machte, und die dunklen Augen baten so heiß und flehend mit.

„Laß mich nicht Soldat werden, Vater! Ich liebe den Beruf nicht, für den Du mich bestimmt hast, werde ihn niemals lieben lernen. Wenn ich mich bisher Deinem Willen gebeugt habe, geschah es mit Widerstreben, mit heimlichem Groll, und ich bin grenzenlos unglücklich dabei gewesen; ich wagte nur bisher nicht, Dir das zu gestehen.“

Die Falte auf der Stirn Falkenrieds vertiefte sich und langsam ließ er seinen Sohn aus den Armen.

„Das heißt mit anderen Worten, Du willst nicht gehorchen!“ sagte er herb, „und gerade Dir ist das nothwendiger als jedem anderen.“

„Ich kann aber keinen Zwang ertragen!“ brach Hartmut leidenschaftlich aus, „und der Dienst ist ja nichts anderes als Zwang und Ketten. Immer und ewig gehorchen, nie einen eigenen Willen haben, sich Tag für Tag einer eisernen Disziplin beugen, starren kalten Formen, mit denen man jede eigene Regung niederhält – das ertrage ich nicht länger! Alles in mir drängt nach Freiheit, nach Licht und Leben. Laß mich hinaus, Vater! Halte mich nicht länger fest an der Kette, ich sterbe, ich ersticke darin!“

Er hätte seine Sache nicht schlimmer führen können als mit diesen unvorsichtigen Worten vor einem Manne, der mit Leib und Seele Soldat war. Noch klangen sie in stürmischer, glühender Bitte. noch lag sein Arm um den Hals des Vaters; aber dieser richtete sich jetzt plötzlich auf und stieß ihn zurück.

„Ich dächte, der Waffendienst wäre eine Ehre, keine Kette!“ sagte er schneidend. „Schlimm genug, daß ich meinem Sohne das erst in das Gedächtniß rufen muß. Freiheit, Licht und Leben? Meinst Du vielleicht, man hat mit siebzehn Jahren schon das Recht, sich ohne weiteres in das Leben zu stürzen und all seine Güter an sich zu reißen? Für Dich wäre die ersehnte Freiheit nur die Zügellosigkeit – das Verderben!“

„Und wenn das wäre!“ rief Hartmut völlig außer sich. „Lieber verderben in der Freiheit, als weiter leben in diesem Zwang. Für mich ist er nun einmal eine Kette, eine Sklaverei –“

[43] „Schweig’! kein Wort mehr!“ herrschte ihn Falkenried so drohend an, daß der Jüngling trotz seiner furchtbaren Aufregung verstummte. „Du hast überhaupt keine Wahl mehr, und wehe Dir, wenn Du Deine Pflichten, vergessen solltest! Erst hast Du Offizier zu werden und Deine Schuldigkeit als solcher voll und ganz zu thun, wie jeder Deiner Kameraden; dann, wenn Du mündig geworden bist und ich keine Macht mehr habe, Dich zu hindern, magst Du Deinen Abschied nehmen, wenn es mir auch den Todesstoß geben wird, zu erleben, daß mein einziger Sohn den Waffendienst – flieht!“

„Vater, hältst Du mich für einen Feigling?“ brauste Hartmut auf. „Wenn ich im Kriege, im Kampfe stehen könnte –“

„So würdest Du tollkühn und blind jeder Gefahr entgegenstürmen, auf eigene Hand, und mit diesem Eigenwillen, der keine Disziplin kennt, Dich und die Deinigen vernichten. Ich kenne ihn, diesen wilden, maßlosen Freiheits- und Lebensdrang, dem keine Schranke und keine Pflicht heilig ist, ich weiß, von wem Du ihn geerbt hast und wohin er schließlich führt. Darum halte ich Dich fest an der ‚Kette‘, gleichviel, ob Du sie hassest oder nicht. Du sollst gehorchen und Dich beugen lernen, so lange es noch Zeit ist, und Du wirst es lernen, darauf gebe ich Dir mein Wort!“

Seine Stimme klang wieder in der alten, unbeugsamen Härte, jede Weichheit, jede Zärtlichkeit war ausgelöscht in den eisernen Zügen, und Hartmut kannte den Vater zu gut, um jetzt noch die Bitte oder den Trotz zu versuchen. Er erwiderte keine Silbe, aber in seinem Auge glühte wieder jener dämonische Funke, der ihm alle Schönheit nahm, und um die Lippen, die sich fest aufeinanderpreßten, legte sich ein fremder, böser Ausdruck, als er sich stumm zum Gehen wandte.

Der Major folgte ihm mit den Augen – da erhob sich wieder die warnende Stimme in seinem Innern, es kam wie die Ahnung eines Unheils über ihn, und er rief den Sohn zurück.

„Hartmut, Du wirst doch in zwei Stunden wieder hier sein? Du giebst mir Dein Wort darauf?“

„Ja, Vater!“ Die Antwort klang grollend, aber fest.

„Gut, so will ich Dich einmal als Mann behandeln. Mit diesem Worte, das Du mir verpfändest, lasse ich Dich ruhig gehen, sei pünktlich!“ –

Der junge Mann war erst einige Minuten fort, da trat Wallmoden ein.

„Du bist allein?“ fragte er etwas befremdet. „Ich wollte Dich nicht stören, aber ich sah eben Hartmut durch den Garten eilen. Wohin geht er denn so spät noch?“

„Zu seiner Mutter, um Abschied von ihr zu nehmen.“

Der Botschaftssekretär stutzte bei dieser unerwarteten Auskunft.

„Mit Deiner Bewilligung?“ fragte er rasch.

„Gewiß, ich habe es ihm erlaubt.“

„Wie unvorsichtig! Ich dächte, Du hättest doch nun gesehen, wie Zalika ihren Willen durchzusetzen versteht, und jetzt überläßt Du ihr Deinen Sohn von neuem auf Gnade und Ungnade!“

„Auf eine halbe Stunde und nur zu einem Lebewohl, das ich nicht verweigern konnte. Was fürchtest Du denn? Doch nicht etwa einen Gewaltstreich? Hartmut ist kein Kind mehr, das man in den Wagen trägt und trotz seines Sträubens entführt.“

„Wenn er sich nun aber nicht sträubt bei einer etwaigen Entführung?“

„Ich habe sein Wort, daß er in zwei Stunden zurückkehren wird,“ sagte der Major mit Nachdruck.

Wallmoden zuckte die Achseln.

„Das Wort eines siebzehnjährigen Knaben!“

„Der aber zum Soldaten erzogen ist und die Bedeutung des Ehrenwortes kennt. Das macht mir keine Sorge, meine Befürchtungen gehen nach einer anderen Richtung.“

„Regine sagte mir, Ihr hättet Euch gefunden,“ bemerkte Wallmoden mit einem Blick auf die noch immer schwer umdüsterte Stirn des Freundes.

„Auf Minuten, dann mußte ich wieder der harte, strenge Vater sein, und gerade diese Stunde hat mir gezeigt, wie schwer die Aufgabe ist, diese unbändige Natur zu beugen und zu erziehen – gleichviel, ich werde sie bewältigen.“

Der Botschaftssekretär trat an das Fenster und blickte in den Garten hinaus.

„Es dämmert schon und der Burgsdorfer Weiher ist über eine halbe Stunde entfernt,“ sagte er halblaut. „Du hättest diese letzte Zusammenkunft, wenn sie nun einmal stattfinden sollte, nur in Deiner Gegenwart gestatten sollen.“

„Und Zalika wiedersehen? Unmöglich, das konnte und wollte ich nicht.“

„Wenn dies Lebewohl nun aber anders endigt, als Du annimmst – wenn Hartmut nicht zurückkehrt?“

„So wäre er ein Elender, ein Wortbrüchiger!“ fuhr Falkenried auf, „ein Deserteur, denn er trägt schon die Waffe an der Seite! Beleidige mich nicht mit solchen Gedanken, Herbert, es ist mein Sohn, von dem Du redest.“

„Es ist auch Zalikas Sohn! Doch laß uns jetzt nicht darüber streiten, man erwartet Dich drüben im Eßzimmer; Du willst heute schon wieder fort?“

„Ja, in zwei Stunden,“ sagte der Major fest und ruhig. „Bis dahin ist Hartmut zurück – ich bürge Dir dafür.“

*      *      *

Ueber Wald und Feldern lagen schon die grauen Schatten der Dämmerung, die mit jeder Minute dichter und dunkler wurden. Der kurze nebelerfüllte Herbsttag ging zu Ende und bei dem schwer umwölkten Himmel brach die Nacht noch früher als sonst herein.

Am Rande des Burgsdorfer Weihers ging eine Frauengestalt unruhig und ungeduldig auf und nieder. Sie hatte den dunklen Mantel dicht um die Schulter gezogen, aber sie achtete nicht auf das Frösteln, mit dem die kalte Abendluft sie durchschauerte, ihr ganzes Wesen war fieberhafte Erwartung und gespanntes Lauschen auf einen Schritt, der sich noch immer nicht hören ließ.

Seit dem Tage, an dem Willibald die beiden überrascht und man ihn nothgedrungen in das Vertrauen gezogen, hatte Zalika die Zusammenkünfte mit ihrem Sohn auf die späten Nachmittagsstunden verlegt, wo es ganz einsam und öde im Walde war. Sie pflegten sich aber stets vor einbrechender Dämmerung zu trennen, damit Hartmuts späte Rückkehr in Burgsdorf keinen Argwohn erwecken sollte. Er war stets pünklich gewesen, heut harrte die Mutter schon seit einer Stunde vergebens. Hielt ihn ein Zufall zurück, oder war das Geheimniß verrathen? Seit ein Dritter darum wußte, mußte man ja stets auf diese Möglichkeit gefaßt sein.

Es war todtenstill ringsum im Walde, nur das trockene Laub raschelte unter dem Saume des Gewandes der ruhelos Auf- und Abschreitenden. Unter den Baumwipfeln lagerten schon nächtliche Schatten, über dem Weiher, wo es noch freier und lichter war, schwebte eine Nebelwolke, und dort drüben, wo das kleine Gewässer von einer Wiese begrenzt wurde, die trügerischen Moorgrund barg, quoll es noch dichter empor, weißgraue Dunstschleier, die dem Boden entstiegen und sich gährend und wallend ausbreiteten. Es wehte feucht und kalt von dort herüber wie Grabesluft.

Da endlich, ein leichter Schritt, anfangs noch in weiter Ferne – aber er kam in fliegender Eile näher und nahm seine Richtung nach dem Weiher. Jetzt erschien eine schlanke Gestalt, kaum noch erkennbar in der wachsenden Dunkelheit, Zalika flog ihr entgegen und in der nachsten Minute lag ihr Sohn in ihren Armen.

„Was ist geschehen?“ fragte sie unter den gewohnten stürmischen Liebkosungen. „Weshalb kommst Du so spät? Ich verzweifelte schon daran, Dich heut noch zu sehen. Was hat Dich zurückgehalten?“

„Ich konnte nicht früher hier sein,“ stieß Hartmut, noch athemlos von dem raschen Laufe, hervor. „Ich komme von meinem Vater!“

Zalika zuckte zusammen.

„Von Deinem Vater? Er weiß also –?“

„Alles!“

„So ist er in Burgsdorf? Seit wann? Wer gab ihm Nachricht?“

Der junge Mann berichtete in fliegenden Worten, was geschehen war, aber er hatte noch nicht geendigt, als ein bitteres Auflachen seiner Mutter ihn unterbrach.

[44] „Natürlich! Sie sind ja alle, alle im Komplott miteinander, wenn es gilt, mir mein Kind zu entreißen – und Dein Vater? Er hat wohl wieder gedroht und gestraft und Dich das schwere Verbrechen büßen lassen, daß Du in den Armen Deiner Mutter gelegen hast?“

Hartmut schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an jenen Augenblick, wo der Vater ihn an seine Brust zog, hielt doch stand, trotz all der Bitterkeit, in der jene Scene schließlich geendigt hatte.

„Nein,“ sagte er leise, „aber er verbot mir, Dich wiederzusehen, und forderte unerbittlich die Trennung von Dir.“

„Und trotzdem bist Du hier! O, ich wußte es ja!“

Es klang wie jubelndes Frohlocken in den Ausruf.

„Triumphire nicht zu früh, Mama!“ sagte der junge Mann bitter. „Ich komme nur, um Abschied zu nehmen.“

„Hartmut!“

„Der Vater weiß darum, er hat mir dies Lebewohl gestattet und dann –“

„Dann will er Dich wieder an sich reißen und Du sollst mir verloren sein für immer! Ist es nicht so?“

Hartmut antwortete nicht, er umklammerte mit beiden Armen die Mutter und ein wildes, leidenschaftliches Schluchzen kam aus seiner Brust, das ebensoviel von Groll und Bitterkeit als vom Schmerz hatte.

Es war in zwischen völlig dunkel geworden, die Nacht brach an, eine kalte, düstere Herbstnacht, ohne Mond- und Sternenglanz, aber dort auf der Wiese, wo vorhin die weißen Dunstschleier wallten, fing es jetzt an, sich zu regen. Es zuckte etwas auf, mit bläulichem Schimmer, das anfangs nur matt durch den Nebel blinkte und dann heller und klarer leuchtete wie eine Flamme.

Jetzt verschwand es, jetzt tauchte es wieder auf und mit ihm ein zweites und drittes – die Irrlichter begannen ihr gespenstiges, unheimliches Spiel.

„Du weinst?“ sagte Zalika, ihren Sohn fest an sich pressend. „Ich habe das längst kommen sehen, und selbst wenn der junge Eschenhagen uns nicht verrathen hätte, an dem Tage, da Du zu Deinem Vater zurückkehren solltest, wärst Du doch vor die Wahl gestellt worden zwischen Trennung oder – Entschluß.“

„Welchen Entschluß? Was meinst Du?“ fragte Hartmut betroffen.

Zalika beugte sich zu ihm nieder, und obwohl sie allein waren, sank ihre Stimme doch zu einem Flüstern herab.

„Willst Du Dich wehrlos und willenlos einer Tyrannei beugen, die das heilige Band zwischen Mutter und Kind zerreißt und unser Recht wie unsere Liebe mit Füßen tritt? Wenn Du das kannst, dann bist Du nicht mein Sohn, dann hast Du nichts geerbt von dem Blute, das in meinen Adern rollt. Er sandte Dich, um mir Lebewohl zu sagen, und Du nimmst das wie eine letzte Gnade geduldig hin? Du kommst wirklich, um Abschied von mir zu nehmen auf Jahre hinaus, wirklich?“

„Ich muß ja!“ unterbrach sie der junge Mann verzweiflungsvoll. „Du kennst den Vater und seinen eisernen Willen, giebt es eine Möglichkeit, sich dagegen aufzulehnen?“

„Wenn Du zu ihm zurückkehrst – nein! Aber wer zwingt Dich denn dazu?“

„Mama! Um Gotteswilien!“ fuhr Hartmut entsetzt auf, aber die umschlingenden Arme ließen ihn nicht, und das heiße, leidenschaftliche Flüstern drang wieder zu seinem Ohre.

„Was schreckt Dich denn so bei dem Gedanken? Du sollst ja nur mit Deiner Mutter gehen, die Dich grenzenlos liebt und hinfort nur für Dich leben wird. Du hast es mir ja oft geklagt, daß Du den Beruf hassest, der Dir aufgezwungen werden soll, daß Du Dich verzehrst in der Sehnsucht nach Freiheit. Wenn Du zurückkehrst, giebt es keine Wahl mehr für Dich, Dein Vater wird Dich unerbittlich festhalten an jener Kette, und wenn er wüßte, daß Du daran stürbest, er gäbe Dich doch nicht frei.“

Sie hätte ihrem Sohne das nicht erst zu sagen brauchen, er wußte es besser als sie, hatte er doch vor kaum einer Stunde die ganze Unbeugsamkeit des Vaters kennen gelernt, dies harte: „Du sollst gehorchen und Dich beugen lernen!“ gehört. Seine Stimme erstickte fast in Bitterkeit, als er antwortete:

„Gleichviel, ich muß zurück! Ich habe mein Wort gegeben, in zwei Stunden wieder in Burgsdorf zu sein.“

„Wirklich?“ fragte Zalika scharf und hohnvoll. „Ich dachte es mir! Sonst darfst und sollst Du ja nichts anderes sein als ein Knabe, dem jeder Schritt vorgezeichnet, jede Minute berechnet wird, der nicht einmal einen eigenen Gedanken haben darf; aber sobald es gilt, Dich festzuhalten, gesteht man Dir die Selbständigkeit des Mannes zu. Nun wohl, so zeige es, daß Du nicht bloß in Worten mündig bist, und handle auch als Mann! Ein erzwungenes Versprechen hat keinen Werth, zerreiße diese unsichtbare Kette, an der man Dich halten will, und mach Dich frei!“

„Nein – nein!“ murmelte Hartmut mit einen erneuten Versuch, sich loszumachen. Es gelang ihm nicht, er wandte nur das Gesicht ab und starrte mit heißen Augen hinaus in die Nacht, in das öde schweigende Waldesdunkel und hinüber, wo die Irrlichter noch immer ihren Gespensterreigen führten. Ueberall tauchten jetzt die zuckenden, zitternden Flammen auf, die sich zu suchen und zu fliehen schienen, sie schwebten über den Boden hin und versanken dann oder zerflatterten in dem Nebelmeer, um immer wieder von neuem zu erstehen. Es lag etwas Grauenhaftes und doch zugleich etwas seltsam Lockendes in diesem geisterhaften Spiel, der dämonische Zauber der Tiefe, die jener trügerische Moorgrund barg.

„Komm mit mir, mein Hartmut!“ bat Zalika jetzt in jenen süßen Schmeichellauten, die ihr wie dem Sohn so allmächtig zu Gebote standen. „Ich habe längst alles vorgesehen und vorbereitet; ich wußte es ja, daß ein Tag wie der heutige kommen müsse. Eine halbe Stunde von hier hält mein Wagen, er bringt uns nach der nächsten Eisenbahnstation, und ehe man in Burgsdorf ahnt, daß Du nicht zurückkehrst, trägt der Kurierzug uns schon hinaus in die Ferne. Dort ist die Freiheit, das Leben, das Glück! Ich führe Dich hinaus in die weite große Welt, und wenn Du sie erst kennen lernst, wirst Du aufathmen und aufjubeln wie ein Erlöster. Ich weiß es ja, wie einem Befreiten zu Muthe ist, ich habe ja auch Ketten getragen, die ich in thörichter Verblendung mir selbst schmiedete, aber ich hätte sie schon im ersten Jahre zerrissen, wenn Du nicht gewesen wärst. O, sie ist süß, die Freiheit, Du wirst es auch noch fühlen!“

Sie wußte nur zu gut den Weg zu finden, der zum Ziele führte. Freiheit, Leben, Glück! Die Worte fanden ein tausendfaches Echo in der Brust des Jünglings, dessen ungestümer Freiheitsdrang bisher gewaltsam niedergehalten worden war. Wie ein leuchtendes Zauberbild, von magischem Glanze umflossen, stand dies verheißene Leben vor ihm. Er brauchte nur die Hand danach auszustrecken, dann war es sein.

„Mein Wort!“ murmelte er, mit einem letzten Versuch, sich aufzuraffen. „Der Vater wird mich verachten, wenn –“

„Wenn Du Dir eine große stolze Zukunft errungen hast?“ unterbrach ihn Zalika leidenschaftlich. „Dann tritt wieder vor ihn hin und frage ihn, ob er es noch wagt, Dich zu verachten! Er will Dich am Boden festhalten und Du hast doch Flügel, die Dich emportragen! Er versteht eine Natur wie die Deinige nicht, wird sie nie verstehen lernen. Willst Du an einem bloßen Worte verkümmern und zu Grunde gehen? Komm mit mir, mein Hartmut, mit mir, der Du alles bist, hinaus in die Freiheit!“

Sie zog ihn fort, langsam aber unwiderstehlich, er sträubte sich wohl noch, aber er riß sich nicht los, und unter dem Flehen, unter den Liebkosungen der Mutter hörte auch allmählich dieses Sträuben auf – er folgte.

Einige Minuten später lag der Weiher ganz einsam. Mutter und Sohn waren verschwunden, ihre Schritte verhallt, rings herrschte Nacht und Schweigen. Nur drüben im Nebeldunst des Moores regte sich noch immer jenes lautlose, geisterhafte Leben. Sie schwebten und zerflatterten, tauchten auf und versanken im ruhelosen Spiel – die geheimnißvollen Flammenzeichen der Tiefe.

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 3, S. 069–076

[69] Es war wieder Herbst geworden und das warme, goldige Licht eines klaren Septembertages lag auf dem grünen Waldmeer, das sich endlos ausdehnte, so weit das Auge reichte.

Die mächtigen Forsten hatten noch etwas von den einstigen Urwäldern, die vor Jahrhunderten diesen Theil Süddeutschlands bedeckten, und die hundertjährigen Stämme gehörten darin nicht zu den Seltenheiten. Das Ganze trug den Charakter eines Waldgebirges, denn Höhen und Thäler wechselten fortwährend miteinander; aber während die Eisenbahn ringsum im Lande ihre Netze spann und einen Ort nach dem andern in ihr Bereich zog, lag der „Wald“, wie dieser meilenweite Bezirk kurzweg im Volksmunde genannt wurde, noch so abgeschlossen da wie eine grüne Insel, fast unberührt von all dem Wogen und Treiben draußen.

Hier und da tauchte aus dem Waldesgrün eine Ortschaft hervor oder ein altes Schloß, das, grau und verwittert, seinem Verfall entgegenging; nur das mächtige, altersgraue Bauwerk, das, auf einer Anhöhe liegend, die ganze Umgegend beherrschte, machte eine Ausnahme davon. Es war der Fürstenstein, ein Jagdschloß des Landesherrn und gegenwärtig der Wohnsitz des Oberforstmeisters. Das Schloß stammte aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts [70] und war mit der ganzen Raumverschwendung jener Zeit erbaut, wo der Jagdsitz eines Fürsten oft wochenlang den gesammten Hofhalt aufnehmen mußte. Aus der Entfernung war der Fürstenstein nur theilweise sichtbar, denn der Wald bedeckte den ganzen Schloßberg, und die grauen Mauern, die Thürme und Erker strebten aus grünen Tannenwipfeln empor. Erst wenn man vor dem Eingangsthore stand, hatte man den vollen Eindruck der Größe des alten Bauwerkes, dem sich noch eine Menge kleinerer Baulichkeiten aus späteren Zeiten anschloß. Daß hier sorgfältig jedem Verfall vorgebeugt wurde, verstand sich von selbst, denn die zahlreichen Räumlichkeiten der oberen Stockwerke wurden zur Verfügung des Fürsten gehalten, der im Herbste bisweilen hierherkam. Das ebenfalls sehr weitläufige Erdgeschoß dagegen war dem Oberforstmeister von Schönau eingeräumt, der schon seit Jahren hier seinen Wohnsitz hatte und sich mit einem sehr gastfreien Hause und häufigen Besuchen in der Nachbarschaft die Einsamkeit ganz angenehm zu gestalten wußte.

Er hatte auch jetzt Besuch: seine Schwägerin, Frau Regine von Eschenhagen, war gestern eingetroffen und ihr Sohn wurde gleichfalls erwartet. Die beiden Töchter des Wallmodenschen Hauses hatten sehr annehmbare Partien gemacht: während die ältere den Majoratsherrn von Burgsdorf heirathete, vermählte sich die jüngere mit einem Herrn von Schönau, der aus einer süddeutschen, ebenfalls reich begüterten Familie stammte. Die Schwestern waren trotz der Entfernung in regem, herzlichem Verkehr geblieben, und auch nach dem Tode der jüngeren, der vor einigen Jahren erfolgt war, blieben die freundschaftlichen Beziehungen der Verwandten bestehen.

Es hatte allerdings seine eigene Bewandtniß mit dieser Freundschaft, denn der Oberforstmeister stand ein für allemal auf dem Kriegsfuße mit seiner Schwägerin. Da sie beide gleich derbe und rücksichtslose Naturen waren, geriethen sie bei jeder Gelegenheit aneinander, vertrugen sich zwar regelmäßig wieder und beschlossen, in Zukunft Frieden zu halten, aber dies Versprechen wurde ebenso regelmäßig gebrochen. In der nächsten Stunde gab es eine neue Meinungsverschiedenheit, die beiderseitig mit vollster Leidenschaft durchgefochten wurde, bis der Zank von neuem im Gange war.

Augenblicklich jedoch schien eine ungewöhnliche Eintracht zwischen den beiden zu herrschen, die auf der kleinen Terrasse vor dem Empfangszimmer saßen. Der Oberforstmeister, trotz seiner vorgerückten Jahre noch ein stattlicher Mann, mit kräftigen, sonnenverbrannten Zügen und leicht ergrautem, aber noch vollem Haar und Bart, lehnte sich behaglich in seinen Stuhl zurück und hörte seiner Schwägerin zu, die wie gewöhnlich das Wort führte. Sie stand jetzt bereits im Anfange der Fünfziger, hatte sich aber kaum verändert in dem letzten Jahrzehnt, denn die Jahre vermochten dieser urkräftigen Natur nicht viel anzuhaben. In dem Gesicht zeigte sich wohl hier und da ein Fältchen, und in das dunkle Haar woben sich vereinzelte Silberfäden, aber die grauen Augen hatten nichts von ihrer Klarheit und Schärfe verloren, die Stimme war noch ebenso laut und volltönend, die Haltung ebenso energisch wie früher. Man sah es, die Dame führte nach wie vor den Kommandostab in ihrem Reiche.

„Also Willy kommt in acht Tagen,“ sagte sie soeben. „Er war mit den Erntearbeiten noch nicht ganz fertig; aber in der nächsten Woche sind sie zu Ende, und dann macht er sich auf die Brautfahrt. Die Sache ist ja längst abgemacht zwischen uns, aber ich war entschieden für den Aufschub, denn ein junges Ding von sechzehn oder siebzehn Jahren hat noch lauter Kindereien im Kopfe und kann einem ordentlichen Haushalt noch nicht vorstehen. Jetzt ist Toni zwanzig Jahre alt und Willy siebenundzwanzig, das paßt gerade. Du bist doch einverstanden, Schwager, daß wir nun mit der Verlobung unserer Kinder Ernst machen?“

„Ganz einverstanden!“ bestätigte der Oberforstmeister, „und in allem übrigen sind wir ja einig. Die Hälfte meines Vermögens fällt dereinst an meinen Sohn, die andere Hälfte an meine Tochter, und mit der Mitgift, die ich ihr für die Heirath ausgesetzt habe, kannst Du auch zufrieden sein.“

„Ja, Du bist darin nicht sparsam gewesen. Was Willy betrifft, so hat er ja seit drei Jahren das Majorat von Burgsdorf angetreten, das übrige Vermögen bleibt laut Testament in meinen Händen, nach menem Tode fällt es selbstverständlich auch an ihn. Noth zu leiden braucht das junge Paar gerade nicht, dafür ist hinreichend gesorgt, also abgemacht!“

„Abgemacht! Wir feiern jetzt die Verlobung und im nächsten Frühjahr die Hochzeit!“

Der bisher so klare Himmel der verwandtschaftlichen Eintracht wurde hier durch die erste Wolke getrübt. Frau von Eschenhagen schüttelte den Kopf und sagte diktatorisch: „Das geht nicht, die Hochzeit muß im Winter sein, im Frühjahr hat Willy keine Zeit zum Heirathen.“

„Unsinn! Zum Heirathen hat man immer Zeit,“ erklärte Schönau ebenso diktatorisch.

„Auf dem Lande nicht,“ behauptete Frau Regine. „Da heißt es: erst die Arbeit und dann das Vergnügen. So ist es stets bei uns gewesen und so hat es auch Willy gelernt.“

„Ich bitte mir aber sehr aus, daß er mit seiner jungen Frau eine Ausnahme macht, sonst hol’ ihn der Kuckuck!“ rief der Oberforstmeister ärgerlich. „Ueberhaupt, Du kennst meine Bedingung, Regine. Das Mädchen hat Deinen Sohn seit zwei Jahren nicht gesehen. Wenn er ihr nicht gefällt – sie hat freie Wahl!“

Er traf seine Schwägerin damit an ihrer empfindlichsten Stelle, sie richtete sich im beleidigten Mutterstolze hoch auf.

„Mein lieber Moritz, ich traue Deiner Tochter denn doch einigen Geschmack zu. Im übrigen halte ich es mit der guten alten Sitte, daß die Eltern ihre Kinder verheirathen. So war es zu unserer Zeit und wir haben uns wohl dabei befunden. Was versteht das junge Volk von solchen ernsten Dingen! Aber Du hast Deinen Kindern von jeher den Willen gelassen, man merkt es, daß keine Mutter im Hause ist.“

„Ist das etwa meine Schuld?“ fragte Schönau gereizt. „Sollte ich ihnen vielleicht eine Stiefmutter geben? Einmal habe ich es allerdings gewollt, aber da wolltest Du ja nicht, Regine.“

„Nein, ich habe an dem einen Male genug,“ lautete die trockene Antwort, die den Oberforstmeister noch mehr aufbrachte. Er zuckte spöttisch die Achseln.

„Nun, ich dächte, über den seligen Eschenhagen hättest Du Dich nicht beklagen können! Der tanzte ja mit seinem ganzen Burgsdorf vollständig nach Deiner Pfeife. Bei mir hättest Du freilich das Regiment nicht so ohne weiteres angetreten.“

„Aber in vier Wochen hätte ich es gehabt,“ erklärte Frau Regine mit Seelenruhe, „und Dich hätte ich zu allererst unter mein Kommando genommen, Moritz.“

„Was? Das sagst Du mir ins Gesicht? Wollen wir es einmal probiren?“ fuhr Schönau in voller Wuth auf.

„Danke, ich heirathe nicht zum zweiten Male, gieb Dir keine Mühe!“

„Fällt mir auch gar nicht ein! Ich habe genug an dem einen Korbe, Du brauchst mir keinen zweiten zu geben!“

Damit stieß der Oberforstmeister noch immer wüthend seinen Stuhl zurück und lief davon. Frau von Eschenhagen blieb ruhig sitzen, nach einer Weile sagte sie ganz freundschaftlich: „Moritz!“

„Was giebt es?“ grollte es von der anderen Seite der Terrasse.

„Wann kommt denn Herbert mit seiner jungen Frau?“

„Um zwölf Uhr!“ klang es noch immer sehr grimmig herüber.

„Das freut mich. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, seit er nach Eurer Residenz gesandt wurde, aber ich sagte es ja immer, Herbert ist der Stolz unserer Familie, mit dem man überall Staat machen kann. Jetzt ist er preußischer Gesandter an Eurem Hofe, ist Excellenz –“

„Und nebenbei ein junger Ehemann von sechsundfünfzig Jahren!“ spottete der Oberforstmeister.

„Ja, er hat sich Zeit gelassen zum Heirathen, aber dafür hat er auch eine glänzende Partie gemacht. Für einen Mann in seinen Jahren war es immerhin keine Kleinigkeit, eine Frau wie Adelheid zu gewinnen, jung, schön, reich –“

„Aber bürgerlicher Geburt,“ warf Schönau ein.

„Unsinn! Wer fragt heutzutage nach dem Stammbaum, wenn eine Million dahinter steht! Herbert kann sie brauchen; er hat sich sein lebelang mit knappen Mitteln durchschlagen müssen, und der Gesandtschaftsposten wird auch mehr Aufwaud erfordern, als das Gehalt beträgt. Uebrigens braucht sich mein Bruder seines Schwiegervaters nicht zu schämen, Stahlberg war einer unserer ersten Industriellen und dabei ein Ehrenmann durch und durch. Schade, daß er sobald nach der Heirath seiner Tochter starb, jedenfalls hat sie eine sehr vernünftige Wahl getroffen.“

[71] „So, das nennst Du eine vernünftige Wahl, wenn ein Mädchen von achtzehn Jahren einen Mann nimmt, der ihr Vater sein könnte?“ rief der Oberforstmeister, der im Eifer des Gefechtes allmählich wieder näher kam. „Freilich, man wird ja Frau Baronin und Excellenz, man spielt als Gemahlin des preußischen Gesandten eine erste Rolle in der Gesellschaft. Mir ist diese schöne, kühle Adelheid mit ihren ‚vernünftigen‘ Ansichten, die einer Großmutter Ehre machen würden, ganz und gar nicht sympathisch. Ein unvernünftiges Mädel, das sich bis über beide Ohren verliebt und dann den Eltern erklärt: ‚Der oder keiner!‘ ist mir viel lieber.“

„Das sind ja schöne Ansichten für einen Familienvater!“ rief Frau von Eschenhagen entrüstet. „Ein Glück, daß Toni nach meiner Schwester gerathen ist und nicht nach Dir, sonst könntest Du eines Tages dergleichen an Deinem eigenen Kinde erleben. Da hat Stahlberg seine Tochter doch besser erzogen, ich weiß es von ihm selbst, daß sie in erster Linie seinem Wunsche folgte, als sie Herbert die Hand reichte, und so ist es auch in der Ordnung, so gehört es sich, aber Du verstehst nichts von Kindererziehung.“

„Was? Ich soll als Mann und Vater nichts davon verstehen?“ schrie der Oberforstmeister, kirschroth vor Aerger. Die beiden waren auf dem besten Wege, wieder aneinander zu gerathen, aber diesmal wurden sie glücklicherweise unterbrochen, denn ein junges Mädchen, die Tochter des Hausherrn, trat auf die Terrasse.

Antonie von Schönau konnte eigentlich nicht für hübsch gelten, aber sie hatte die stattliche Gestalt ihres Vaters und ein frisches, blühendes Gesicht, mit hellen, braunen Augen. Das braune Haar war in einfachen Flechten um den Kopf gelegt und die Kleidung, obgleich dem Stande der jungen Dame angemessen, zeigte die gleiche Einfachheit. Uebrigens stand Antonie in den Jahren, wo die Jugend jeden anderen Reiz ersetzt, und als sie herantrat, frisch, gesund. tüchtig in ihrer ganzen Erscheinung, war sie so recht eine Schwiegertochter nach dem Herzen der Frau von Eschenhagen, die sofort den Streit abbrach und ihr freundlich zunickte.

„Vater, soeben kommt der Wagen von der Bahnstation zurück,“ sagte die junge Dame in sehr bedächtigem, etwas schleppendem Tone. „Er ist schon am Fuße des Schloßberges, der Onkel Wallmoden wird in einer Viertelstunde hier sein.“

„Der Tausend, da sind sie schnell gefahren!“ rief der Oberforstmeister, dessen Gesicht sich gleichfalls aufhellte bei der Nachricht. „Die Fremdenzimmer sind doch in Ordnung?“

Toni nickte so gelassen, als verstehe sich das von selbst, und während ihr Vater aufbrach, um nach dem Wagen zu sehen, der die Gäste brachte, fragte Frau von Eschenhagen, mit einem Blick auf das Körbchen, welches das junge Mädchen in der Hand trug:

„Nun, Toni, bist Du wieder fleißig gewesen?“

„Ich war im Küchengarten, liebe Tante. Der Gärtner behauptete, es gäbe noch keine reifen Birnen, ich habe aber selbst nachgesehen und einen ganzen Korb voll gesammelt.“

„Recht so, mein Kind!“ sagte die künftige Schwiegermutter hochbefriedigt. „Man muß überall selbst die Augen und Hände haben und sich nie auf seine Leute verlassen. Du wirst einmal eine tüchtige Gutsherrin werden! Aber nun komm, wir wollen gleichfalls hinunter und Deinen Onkel begrüßen.“

Herr von Schönau war bereits vorangegangen und schritt eben die breite, steinerne Freitreppe hinab, die nach dem Schloßhofe führte, als aus einem der Seitengebäude ein Mann trat, der jetzt stehen blieb und respektvoll grüßend den Hut zog.

„Sieh da, Stadinger! Was machen Sie denn hier in Fürstenstein?“ rief der Oberforstmeister. „Kommen Sie doch näher!“

Stadinger kam der Aufforderung nach; trotz seiner eisgrauen Haare schritt er noch rüstig vorwärts, in strammer, aufrechter Haltung, und aus dem braunen. verwitterten Gesichte blickte ein Paar scharfer, dunkler Augen.

„Ich war bei dem Schloßkastellan, Herr Oberforstmeister,“ versetzte er, „und hab’ angefragt, ob er mir nicht ein paar von seinen Leuten zur Aushilfe geben kann, denn bei uns in Rodeck geht es jetzt drunter und drüber, wir haben nicht Hände genug für all die Arbeit.“

„Ja so, Prinz Egon ist zurück von seiner Orientreise, ich habe es schon gehört,“ sagte Schönau. „Wie ist er denn aber gerade diesmal auf Rodeck verfallen, auf das kleine Waldnest, das weder Raum noch Bequemlichkeit bietet?“

Stadinger zuckte die Achseln.

„Das weiß der Himmel! Bei unserer jungen Durchlaucht darf man ja nie nach dem Warum fragen. Eines Morgens kam die Nachricht, und nun hieß es Hals über Kopf das Schloß instand setzen, so gut oder schlecht das eben ging. Ich habe Noth und Mühe genug gehabt, um in zwei Tagen fertig zu werden.“

„Das glaube ich, Rodeck ist ja seit Jahren nicht bewohnt worden, aber auf diese Weise kommt doch wieder einmal etwas Leben in das alte Gemäuer.“

„Aber dabei wird das alte Gemäuer vollständig auf den Kopf gestellt,“ brummte der Schloßverwalter. „Wenn Sie nur wüßten. wie es bei uns aussieht, Herr Oberforstmeister! Der ganze Jagdsaal ist vollgepfropft mit Löwen- und Tigerfellen und allerhand ausgestopftem Gethier und die lebendigen Affen und Papageien sitzen in allen Zimmern herum. Das ist ein Fratzenschneiden und ein Lärm, daß man oft sein eigenes Wort nicht hört. Und nun hat mir Durchlaucht noch angekündigt, daß auch ein ganzer Trupp Elefanten und eine große Seeschlange unterwegs seien. Ich denke, mich soll der Schlag treffen.“

„Was ist unterwegs?“ fragte Schönau, der nicht recht gehört zu haben glaubte.

„Eine Seeschlange und ein Dutzend Elefanten! Ich habe mich dagegen gewehrt mit Händen und Füßen. ‚Durchlaucht,‘ habe ich gesagt, ‚noch mehr von dem Gethier können wir nicht unterbringen, vor allem die Seeschlange nicht, denn solch ein Vieh braucht doch Wasser, und wir haben keinen Teich in Rodeck. Und was die Elefanten betrifft, so müßten wir sie gerade im Walde an die Bäume binden, sonst weiß ich keinen Rath.‘ ‚Gut,‘ sagte Durchlaucht, ‚dann binden wir sie an die Bäume, das wird sich sehr malerisch ausnehmen, und die Seeschlange geben wir einstweilen in Fürstenstein in Pension, der Schloßweiher ist groß genug!‘ Ich bitte Sie, Herr Oberforstmeister, er will die ganze Nachbarschaft mit den Ungethümen bevölkern!“

Der Oberforstmeister lachte laut auf und klopfte dem Alten, der sich seiner besonderen Gunst zu erfreuen schien, auf die Schulter.

„Aber Stadinger, haben Sie denn das wirklich für Ernst genommen? Sie kennen doch Ihren Prinzen! Er scheint allerdings nicht viel gesetzter zurückgekommen zu sein, als er fortgegangen ist.“

„Nein, wahrhaftig nicht!“ seufzte Stadinger. „Und was Durchlaucht nicht weiß, das heckt der Herr Rojanow aus. Der treibt es noch zehnmal ärger. Daß uns auch gerade ein solcher Tollkopf in das Haus fallen mußte!“

„Rojanow? Wer ist das?“ fragte Schönau, aufmerksam werdend.

„Ja, das weiß man eigentlich nicht recht, aber bei uns ist er so ziemlich alles, denn Durchlaucht kann nicht leben ohne ihn. Er hat diesen ‚Freund‘ irgendwo da hinten in den heidnischen Ländern aufgegriffen, es wird wohl selbst ein halber Heide oder Türke sein, er sieht ganz danach aus, mit seinem dunklen Gesicht und seinen schwarzen Feueraugen. Und das Kommandiren versteht er aus dem Grunde, er jagt oft die ganze Dienerschaft durcheinander mit seinen Befehlen und thut, als wäre er Herr und Meister in Rodeck. Aber bildhübsch ist er, fast noch hübscher als unser Prinz, und der hat strenge Anweisung gegeben, seinem Freunde in allen Stücken zu gehorchen wie ihm selber.“

„Vermuthlich irgend ein Abenteurer, der den jungen Fürsten ausbeutet, ich kann es mir denken,“ murmelte Schönau und laut setzte er hinzu: „Nun Gott befohlen, Stadinger, ich muß jetzt meinen Schwager begrüßen, und wegen der Seeschlange lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen. Wenn Durchlaucht Ihnen wieder damit droht, so sagen Sie nur, ich würde ihr mit Vergnügen den Fürstensteiner Weiher anbieten, aber erst müßte ich sie leibhaftig vor mir sehen!“

Er winkte lachend dem alten Verwalter zu, der sehr getröstet aussah, und schritt nach dem Eingangsthor. Inzwischen war auch Frau von Eschenhagen mit ihrer Nichte erschienen. und jetzt wurde auf dem breiten Waldwege des Schloßberges der Wagen sichtbar, der wenige Minuten später im Schloßhofe vorfuhr.

Regine war die erste bei der Begrüßung; sie drückte und schüttelte ihrem Bruder so herzhaft die Hand, daß er mit einem leisen Aufzucken die seinige zurückzog. Der Oberforstmeister war [72] etwas zurückhaltender, er hegte eine gewisse Scheu vor seinem diplomatischen Schwager, dessen Sarkasmen er im geheimen fürchtete, während Toni sich weder durch den Onkel Excellenz nach durch dessen Gemahlin aus ihrer Gelassenheit bringen ließ.

An Herbert von Wallmoden waren die Jahre nicht so spurlos vorübergegangen wie an seiner Schwester. Er hatte recht gealtert, sein Haar war völlig ergraut und der sarkastische Zug um die schmalen Lippen hatte sich vertieft. Sonst aber war er ganz der kühle, vornehme Diplomat geblieben, vielleicht noch um einige Grade kälter und zurückhaltender als früher. Mit der hohen Stellung, die er gegenwärtig einnahm, schien auch die Ueberlegenheit gewachsen zu sein, die er von jeher gegen seine Umgebung gezeigt hatte.

Die junge Frau an seiner Seite wäre allerdings von jedem Fremden für die Tochter des Gesandten gehalten worden. Jedenfalls hatte dieser bei seiner Wahl Geschmack bewiesen. Adelheid von Wallmoden war in der That schön, freilich von jener kühlen, ernsten Schönheit, die auch nur kühle Bewunderung zu erwecken pflegt, aber sie schien der Lebensstellung, die diese Ehe ihr gab, in jeder Hinsicht gewachsen zu sein. Die kaum neunzehnjährige Frau, die erst seit sechs Monaten vermählt war, zeigte eine so vollendete Sicherheit des Benehmens, eine so unbedingte Beherrschung aller Formen, als habe sie bereits ein halbes Menschenalter an der Seite des alternden Gemahls gelebt.

Wallmoden war seiner jungen Gattin gegenüber die Artigkeit und Aufmerksamkeit selbst. Er bot ihr auch jetzt den Arm, um sie nach ihrem Zimmer zu führen, er selbst aber kehrte schon nach Verlauf von einigen Minuten zurück, um seine Schwester aufzusuchen, die ihn auf der Terrasse erwartete.

Das Verhältniß zwischen den beiden Geschwistern war in mancher Hinsicht ein eigenthümliches. Sie waren die schroffsten Gegensätze in der äußeren Erscheinung wie im Charakter und auch gewöhnlich verschiedener Meinung, aber die Blutsverwandtschaft gab ihnen trotzdem das Gefühl engster Zusammengehörigkeit. Das zeigte sich jetzt, wo sie nach langer Trennung wieder beieinander saßen.

Herbert wurde zwar wieder etwas nervös bei diesem Gespräche, denn Regine fand es nicht für gut, ihre derbe Art zu mäßigen, und setzte ihn mehr als einmal in Verlegenheit mit ihren rücksichtslosen Fragen und Bemerkungen, aber er hatte längst gelernt, das als unvermeidlich hinzunehmen, und ergab sich auch jetzt mit einem Seufzer darein.

Man sprach zunächst von der bevorstehenden Verlobung Willibalds und Tonis, die Wallmoden vollständig billigte. Er fand die Partie gleichfalls sehr passend, und man war ja auch in der Familie längst einig darüber. Jetzt aber schlug Frau von Eschenhagen ein anderes Thema an.

„Nun, wie fühlst Du Dich denn eigentlich als Ehemann, Herbert?“ fragte sie. „Du hast Dir allerdings Zeit gelassen, aber besser spät als gar nicht, und im Grunde hast Du mit Deinen grauen Haaren doch noch ein unverschämtes Glück gemacht.“

Dem Gesandten schien diese Anspielung auf seine Jahre nicht gerade angenehm zu sein, er preßte einen Augenblick die schmalen Lippen zusammen und entgegnete dann mit einiger Schärfe:

„Du könntest wirklich in Deinen Ausdrücken etwas taktvoller sein, liebe Regine! Ich kenne mein Alter sehr genau, aber die Lebensstellung, die ich meiner Braut als Morgengabe brachte, dürfte den Unterschied der Jahre doch einigermaßen ausgleichen.“

„Nun, ich dächte, die Mitgift, die sie Dir zubrachte, wäre auch nicht zu verachten!“ meinte Regine, ganz unbekümmert um die Zurechtweisung. „Hast Du Deine Frau schon bei Hofe vorgestellt?“

„Erst vor vierzehn Tagen in der Sommerresidenz. Die Trauer um meinen Schwiegervater legte uns ja bisher noch Zurückgezogenheit auf, im Winter werden wir allerdings ein Haus machen, wie meine Stellung es erfordert. Uebrigens war ich aufs angenehmste überrascht von der Art, wie Adelheid sich bei Hofe einführte. Sie bewegte sich auf dem ihr völlig fremden Boden mit einer Ruhe und Sicherheit, die geradezu bewundernswerth war. Ich habe da wieder von neuem eingesehen, wie glücklich meine Wahl in jeder Hinsicht gewesen ist. – Doch ich wollte Dich ja nach verschiedenen Dingen aus der Heimath fragen. Vor allem, wie geht es Falkenried?“

„Nun, das brauchst Du doch nicht erst von mir zu hören, Ihr schreibt Euch ja regelmäßig!“

„Ja, aber seine Briefe werden immer kürzer und einsilbiger. Ich habe ihm meine Vermählung ausführlich gemeldet, aber nur einen sehr lakonischen Glückwunsch erhalten. Du mußt ihn doch häufig sehen, seit er in das Kriegsministerium berufen ist, die Stadt ist ja nahe genug.“

Ueber Regines eben noch so helle Züge glitt ein Schatten und sie schüttelte leise den Kopf.

„Da bist Du im Irrthum, der Oberst läßt sich kaum mehr in Burgsdorf sehen, er wird immer starrer und unzugänglicher.“

„Das weiß ich leider, aber mit Dir pflegte er sonst immer eine Ausnahme zu machen, und ich hoffte viel von Deinem Einfluß, seit er wieder in Eurer Nähe weilt. Hast Du es denn nicht versucht, die alten Beziehungen wieder herzustellen?“

„Im Anfange wohl, aber ich habe es schließlich aufgegeben, denn ich sah, daß sie ihm lästig waren. Da ist nichts zu machen, Herbert! Seit der unglücklichen Katastrophe, die wir beide miterlebten, ist der Mann wie zu Stein geworden. Du hast ihn ja einige Male wiedergesehen seitdem und weißt, was da alles zu Grunde gegangen ist.“

Wallmodens Stirn hatte sich gleichfalls umwölkt und seine Stimme gewann einen herben Klang, als er erwiderte: „Ja, der Bube, der Hartmut hat ihn auf dem Gewissen! Aber jetzt liegen doch mehr als zehn Jahre dazwischen und ich hoffte, Falkenried würde sich allmählich dem Leben wieder zuwenden.“

„Ich habe es nie gehofft,“ sagte Frau von Eschenhagen ernst. „Der Streich ist an die Wurzel gegangen! Ich werde ihn mein lebelang nicht vergessen, den unglückseligen Abend in Burgsdorf, wo wir warteten und warteten, erst mit Unruhe und Sorge, dann mit Todesangst. Du erriethest gleich die Wahrheit, aber ich wollte sie nicht aufkommen lassen, und nun vollends Falkenried! Ich sehe ihn noch, wie er am Fenster stand und in die Nacht hinausstarrte, bleich wie ein Todter, mit zusammengebissenen Zähnen, und auf jede Befürchtung und Vermuthung nur die eine Antwort hatte: ‚Er kommt! Er muß kommen! Ich habe sein Wort!‘ Und als Hartmut trotz alledem nicht kam, als die Nacht hereinbrach und wir endlich auf unsere Anfrage bei der Bahnstation erfuhren, daß die beiden im Wagen angekommen und dann mit dem Kurierzuge davongejagt seien – Gott im Himmel, wie sah der Mann aus, als er sich so stumm und starr zum Gehen wandte! Ich nahm Dir das Versprechen ab, ihm nicht von der Seite zu gehen, denn ich glaubte, er würde sich eine Kugel vor den Kopf schießen.“

„Da hast Du ihn falsch beurtheilt,“ sagte Wallmoden mit voller Bestimmtheit. „Ein Mann wie Falkenried hält es für Feigheit, Hand an sich zu legen, selbst wenn ihm das Leben zur Folter wird. Er hält aus, auch auf dem verlorenen Posten. Was freilich geschehen wäre, wenn man ihn damals wirklich hätte gehen lassen, das wage ich nicht zu entscheiden.“

„Ich weiß, er forderte seinen Abschied, weil es sich mit seinen Ehrbegriffen nicht vertrug, weiter zu dienen, nachdem sein Sohn zum Deserteur geworden war. Es war ein Verzweiflungsschritt.“

„Ja wohl, und es war ein Glück, daß man eine militärische Kraft wie die seinige nicht entbehren konnte und wollte. Der Chef des Generalstabes nahm sich ja persönlich der Sache an und brachte sie vor den König, und man kam schließlich überein, den ganzen unseligen Vorfall, wenigstens so weit er für den Vater hätte Folgen haben können, als einen unsinnigen Knabenstreich zu behandeln, dem ein hochverdienter Offizier nicht zum Opfer fallen dürfe. Falkenried mußte sein Gesuch zurücknehmen, wurde in die ferne Garnison versetzt und die Sache selbst möglichst todtgeschwiegen. Jetzt, nach zehn Jahren, ist sie ja auch in der That begraben und vergessen von aller Welt.“

„Nur von einem nicht,“ ergänzte Regine. „Mir wendet sich oft das Herz im Leibe um, wenn ich denke, was Falkenried einst war und was er jetzt ist. Die bitteren Erfahrungen seiner Ehe hatten ihn wohl ernst und ungesellig gemacht, aber in guten Stunden brach es doch wieder so warm und herzlich aus seinem Innern hervor, da war er so ganz der Alte, mit der vollen Liebenswürdigkeit seines Wesens. Jetzt ist das alles vorbei, jetzt kennt er nur noch starres eisernes Pflichtgefühl, alles andere ist todt und erstorben. Sogar die alten Freundschaftsbeziehungen sind ihm peinlich geworden – man muß ihn seinen Weg gehen lassen!“

[74] Sie brach ab mit einem Seufzer, der verrieth, wie nahe ihr das Geschick des einstigen Jugendfreundes ging, und die Hand auf den Arm ihres Bruders legend, schloß sie:

„Vielleicht hast Du recht, Herbert, man wählt in späteren Jahren am besten und vernünftigsten. Du hast das Schicksal Falkenrieds nicht zu fürchten, Deine Frau stammt aus einer guten Art. Ich habe Stahlberg ja auch gekannt, er hat sich mit Ernst und Tüchtigkeit zu den Höhen des Lebens emporgearbeitet und ist auch als Millionär der Ehrenmann geblieben, der er von jeher war, und Adelheid ist in jedem Zuge die Tochter ihres Vaters. Du hast Dich besser vorgesehen, und ich gönne Dir Dein Glück von Herzen.“



Das Jagdschlößchen Rodeck, das zu den fürstlich Adelsbergschen Besitzungen gehörte, lag etwa zwei Stunden von Fürstenstein entfernt, mitten in tiefster Waldeseinsamkeit. Das kleine, ziemlich geschmacklose Gebäude enthielt höchstens ein Dutzend Zimmer, deren veraltete und verblichene Einrichtung man jetzt, so gut es in der Eile gehen wollte, in stand gesetzt hatte. Das Schlößchen war seit Jahren nicht benutzt worden und sah auch etwas vernachlässigt aus, aber wenn man aus dem tiefen dunklen Forst in die Lichtung heraustrat und am Ende des weiten grünen Rasenplatzes das alte graue Gemäuer mit seinem hohen spitzen Ziegeldach und den vier Thürmchen an den Ecken erblickte, hatte es doch etwas von einer Waldidylle an sich.

Die Adelsberg waren ein ehemals reichsfürstliches Geschlecht, das allerdings schon längst seine Souveränität verloren hatte, dem aber mit dem Fürstentitel auch ein riesiges Vermögen und ein sehr bedeutender Grundbesitz verblieben war. Die einst weit verzweigte Familie zählte gegenwärtig nur noch wenige Vertreter, die Hauptlinie nur einen einzigen, den Fürsten Egon, der als Herr der sämmtlichen Familiengüter und überdies durch seine verstorbene Mutter mit dem regierenden Hause nahe verwandt unter dem Adel des Landes die erste Rolle spielte.

Der junge Prinz hatte von jeher für einen Wildfang gegolten, der bisweilen sehr excentrischen Neigungen huldigte und sehr wenig nach der fürstlichen Etikette fragte, wenn es galt, irgend einer augenblicklichen Laune zu folgen. Der alte Fürst hatte seinen Sohn allerdings ziemlich scharf im Zügel gehalten, aber sein Tod machte Egon von Adelsberg verhältnißmäßig sehr früh zum unumschränken Herrn seines Willens.

Er kehrte jetzt eben von einer Orientreise zurück, die ihn fast zwei Jahre lang fern gehalten hatte, aber anstatt das fürstliche Palais in der Stadt oder eins seiner anderen Schlösser zu beziehen, die für einen Sommer- und Herbstaufenthalt mit aller nur erdenklichen Pracht eingerichtet waren, hatte er den Einfall, das alte Waldnest, das kleine, halb vergessene Rodeck aufzusuchen, das gar nicht auf die Ehre vorbereitet war, den Herrn aufzunehmen, und auch nur eine nothdürftige Unterkunft bieten konnte. Der alte Stadinger hatte recht, man durfte bei dem Prinzen Egon nie nach dem Warum fragen, es hing da alles von der augenblicklichen Laune ab.

Es war in den Vormittagsstunden eines sonnigen Herbsttages. Auf dem Rasenplatze standen zwei Herren im Jagdanzuge und sprachen mit dem Schloßverwalter, während ein leichter, offener Wagen drüben auf dem Kieswege zur Abfahrt bereit stand.

Die beiden jungen Männer hatten auf den ersten Blick eine gewisse Aehnlichkeit miteinander. Es waren hochgewachsene, schlanke Gestalten, mit tiefgebräunten Gesichtern und Augen, in denen der ganze feurige Uebermuth der Jugend blitzte; aber bei näherer Betrachtung zeigte es sich doch, wie unendlich verschieden die beiden waren.

Bei dem Jüngeren, der etwa vierundzwanzig Jahre alt sein mochte, entstammte diese südliche Färbung offenbar nur dem längeren Aufenthalt unter einer heißeren Sonne, denn das krause blonde Haar und die blauen Augen paßten nicht dazu, sie verriethen den Deutschen. Ein leichter blonder Bart, kraus wie das Haar, umgab ein hübsches, offenes Gesicht, das allerdings nicht den strengen Formen der Schönheit entsprach. Die Stirn war etwas zu niedrig, die Linien nicht regelmüßig genug, aber es lag etwas in diesem Antlitz, das wie heller Sonnenschein jeden anmuthete und jeden gewann.

Sein Gefährte, der um einige Jahre älter war, hatte nun freilich nichts von diesem Sonnenschein, aber seine Erscheinung war entschieden die bedeutendere. Schlank wie der jüngere, überragte er diesen doch an Größe, und die dunkle Hautfarbe hatte bei ihm wohl nicht allein der Sonnenbrand geschaffen. Es war jenes matte Braun, das selbst ein lebensfrisches Gesicht bleich erscheinen läßt, und das bläulich schwarze Haar, das in dichten Wellen auf die hohe Stirn fiel, ließ diese anscheinende Blässe noch mehr hervortreten. Schön war dies Antlitz wohl mit seinen edlen, stolzen Linien, die sich so fest und energisch ausprägten, aber mit ihnen traten auch die tiefen Schatten hervor, die auf der Stirn und in den Augen lagen, Schatten, wie man sie selten in so jugendlichen Zügen findet. Die großen dunklen Augen, die etwas Düsteres hatten, sprachen von heißer, ungezügelter Leidenschaft, es loderte ein Feuer darin, das zugleich unheimlich und räthselhaft anziehend war. Man fühlte es, daß sie mit dämonischer Gewalt bestricken konnten, und die ganze Persönlichkeit des Mannes hatte etwas von diesem unheimlich fesselnden Zauber.

„Ja, ich kann Dir nicht helfen, Stadinger,“ sagte soeben der jüngere der beiden Herren, „die neue Sendung muß ausgepackt und untergebracht werden, wo – das ist Deine Sache.“

„Aber Durchlaucht, wenn es doch absolut nicht möglich ist!“ widersprach der Schloßverwalter in einem Tone, der verrieth, daß er auf ziemlich vertrautem Fuße mit seinem jungen Herrn stand. „In Rodeck ist kein Winkelchen mehr frei, ich habe schon Mühe genug gehabt, die Dienerschaft unterzubringen, die Durchlaucht mitbrachten, und nun kommen alle Tage Kisten an, groß wie die Häuser, und immer heißt es: ‚Packe aus, Stadinger! Schaffe Platz, Stadinger!‘ Und dabei stehen in den andern Schlössern die Zimmer dutzendweise leer –“

„Brumme nicht, alter Waldgeist, sondern schaffe Platz!“ unterbrach ihn der junge Fürst. „Die Sendungen werden hier in Rodeck aufgestellt, wenigstens vorläufig, und im schlimmsten Falle mußt Du Deine eigene Wohnung hergeben.“

„Ja wohl, Stadinger hat Raum genug in seiner Wohnung,“ mischte sich jetzt der zweite Herr ein. „Ich werde das selbst anordnen und ausmessen.“

„Die Zenz kann ihm ja dabei helfen,“ unterstützte der Fürst den Vorschlag seines Genossen. „Sie ist doch daheim?“

Stadinger sah den Fragenden von oben bis unten an, dann antwortete er trocken.

„Nein, Durchlaucht, die Zenz ist fort.“

„Fort?“ fuhr der Fürst auf. „Wo ist sie denn?“

„In der Stadt,“ lautete die lakonische Antwort.

„Was? Du wolltest Dein Enkelkind ja den ganzen Winter hier in Rodeck behalten!“

„Das hat sich geändert,“ versetzte der Schloßverwalter mit unerschütterlicher Ruhe. „Jetzt ist nur noch meine Schwester, die alte Resi, daheim; wenn Sie mit der die Wohnung ausmessen wollen, Herr Rojanow – es wird ihr eine große Ehre sein!“

Rojanow warf dem Alten einen nichts weniger als freundschaftlichen Blick zu, der junge Fürst aber sagte strafend:

„Höre, Stadinger, Du behandelst uns in einer ganz unverantwortlichen Weise. Jetzt nimmst Du uns sogar die Zenz fort, die einzige, die noch des Anschauens werth war. Was sonst von Weiblichkeit in Rodeck vorhanden ist, hat bereits die Sechzig hinter sich und wackelt mit den Köpfen, und die Küchendamen, die Du Dir zur Aushilfe von Fürstenstein hast kommen lassen, beleidigen nun vollends unseren Schönheitssinn.“

„Durchlaucht brauchen sie ja nicht anzuschauen,“ meinte Stadinger. „Ich sorge schon dafür, daß die Mägde nicht in das Schloß kommen, aber wenn Durchlaucht selbst in die Küche gehen wie vorgestern –“

„Nun, ich muß doch meine Dienerschaft bisweilen inspiciren! Uebrigens gehe ich nicht zum zweitenmal in die Küche, dafür hast Du gesorgt. Ich habe Dich im Verdacht, daß Du die sämmtlichen Häßlichkeiten des ‚Waldes‘ zur Feier meiner Ankunft hier versammelt hast, Du solltest Dich schämen, Stadinger.“

Der Alte sah seinem Herrn fest und scharf in die Augen und seine Stimme hatte einen sehr nachdrücklichen Klang, als er antwortete:

„Ich schäme mich gar nicht, Durchlaucht. Als der hochselige Fürst, Ihr Herr Vater, mir den Ruheposten hier gab, sagte er zu mir: ‚Halte Ordnung in Rodeck, Stadinger, ich verlasse mich auf Dich!‘ Nun, ich habe Ordnung gehalten, zwölf Jahre lang, im Schlosse und in meinem Hause erst recht, und das werde ich [75] auch in Zukunft thun. – Haben Durchlaucht sonst noch Befehle für mich?“

„Nein, Du alter Grobian!“ rief der junge Fürst, halb lachend, halb ärgerlich. „Mach’, daß Du fortkommst, wir brauchen keine Moralpredigten.“

Stadinger gehorchte, er grüßte und marschirte ab. Rojanow blickte ihm nach und zuckte spöttisch die Achseln.

„Ich bewundere Deine Langmuth, Egon, Du gestattest Deinem Diener wirklich eine sehr weitgehende Freiheit.“

„Ja, der Stadinger ist eine Ausnahme,“ erklärte Egon. „Der erlaubt sich schließlich alles und übrigens hat er gar nicht so unrecht, wenn er die Zenz fortschickt, ich glaube, ich hätte es an seiner Stelle auch gethan.“

„Es ist aber nicht das erste Mal, daß dieser alte Schloßverwalter sich herausnimmt, Dich und mich förmlich zurechtzuweisen. Wenn ich sein Herr wäre – er hätte in der nächsten Stunde seine Entlassung.“

„Das sollte ich einmal probiren, das würde mir übel bekommen!“ lachte der junge Fürst. „Solch ein altes Familienerbstück, das schon der dritten Generation dient und einen als Kind auf den Armen getragen hat, will mit Hochachtung behandelt sein. Mit Befehlen und Verbieten richte ich da gar nichts aus, Peter Stadinger thut doch, was er will, und liest mir auch gelegentlich den Text, wenn es ihm gerade einfällt.“

„Wenn Du es Dir gefallen läßt – mir ist so etwas unbegreiflich.“

„Das kannst Du auch nicht begreifen, Hartmut,“ sagte Egon ernster. „Du kennst nur die sklavische Unterwürfigkeit der Diener in Deiner Heimath und im Orient. Das kniet und beugt sich bei jeder Gelegenheit und bestiehlt und betrügt seinen Herrn, wo es nur weiß und kann. Stadinger ist von einer beneidenswerthen Grobheit, meine Durchlauchtigkeit schüchtert ihn nicht im mindesten ein, er sagt mir oft die ärgsten Dinge ins Gesicht, aber ich könnte Hunderttausende in seine Hände legen, es würde kein Pfennig davon veruntreut, und wenn Rodeck in Flammen stände und ich wäre drinnen, der Alte, mit seinen siebzig Jahren, ginge ohne sich zu besinnen mitten in das Feuer hinein – bei uns in Deutschland ist das eben anders.“

„Ja, bei Euch in Deutschland!“ wiederholte Hartmut langsam, und dabei verlor sich sein Blick träumerisch in das Waldesdunkel.

„Bist Du noch immer so dagegen eingenommen?“ fragte Egon. „Es hat mich Ueberredung und Bitten genug gekostet, Dich zu bewegen, daß Du mir folgtest, Du wolltest ja durchaus den deutschen Boden nicht wieder betreten.“

„Ich wollte auch, ich hätte es nicht gethan!“ sagte Rojanow finster. „Du weißt –“

„Daß hier allerlei bittere Erinnerungen für Dich wurzeln – ja, das hast Du mir gesagt, aber Du mußt doch damals noch ein Knabe gewesen sein, hast Du den alten Groll noch nicht überwunden? Du bist überhaupt in diesem Punkte von einer hartnäckigen Verschlossenheit, ich habe noch bis heute nicht erfahren, was es eigentlich gewesen ist, das Dich –“

„Egon, ich bitte Dich, laß das!“ fiel ihm Hartmut schroff ins Wort. „Ich habe Dir ein für allemal erklärt, daß ich Dir darüber nicht Rede stehen kann und will. Wenn Du mir mißtraust, so laß mich gehen, ich habe mich Dir nicht aufgedrängt, das weißt Du, aber dies Fragen und Forschen ertrage ich nun einmal nicht.“

Der stolze, rücksichtslose Ton, den er dem fürstlichen Freunde gegenüber anschlug, schien diesem nichts Neues zu sein, er zuckte nur die Achseln und sagte beschwichtigend:

„Wie gereizt Du wieder bist! Ich glaube, Du hast recht, wenn Du behauptest, die deutsche Luft mache Dich nervös, Du bist wie verwandelt, seit Du den Fuß auf diesen Boden gesetzt hast.“

„Möglich! Ich fühle es ja selbst, daß ich Dich und mich quäle mit diesen Stimmungen, darum laß mich fort, Egon!“

„Ich werde mich hüten! Habe ich Dich darum mit so vieler Mühe eingefangen, um Dich nun wieder fliegen zu lassen? Daraus wird nichts, Hartmut, ich lasse Dich um keinen Preis los.“

Die Worte klangen scherzhaft, aber Rojanow schien sie übel zu nehmen, seine Augen blitzten fast drohend auf, als er erwiderte:

„Und wenn ich nun fort will?“

„Dann halte ich Dich so fest“ – Egon legte mit einem unendlich liebenswürdigen Ausdruck den Arm um die Schulter des Freundes – „und frage, ob dieser schlimme, starrsinnige Hartmut es verantworten kann, mich allein zu lassen. Fast zwei Jahre lang haben wir zusammen gelebt und Gefahr und Genuß getheilt wie zwei Brüder, und jetzt willst Du wieder in die Welt hinausstürmen, ohne nach mir zu fragen? Gelte ich Dir so wenig?“

Es lag eine so warme, herzliche Bitte in den Worten, daß Rojanows Gereiztheit davor nicht standhielt. Seine Augen leuchteten auf mit einem Ausdruck, der verrieth, daß er die leidenschaftlich schwärmerische Neigung, die der junge Fürst ihm entgegen trug, ebenso leidenschaftlich erwiderte, wenn er auch in ihrem beiderseitigen Verhältnisse unbedingt der Herrschende war.

„Glaubst Du, daß ich einem anderen zuliebe nach Deutschland gegangen wäre?“ fragte er leise. „Vergieb, Egon! Ich bin nun einmal eine unstete Natur, ich habe es nirgends lange ausgehalten an einem Orte, seit – seit meinen Knabenjahren.“

„So lerne es hier in meiner Heimath!“ fiel Egon ein. „Ich bin eigens nach Rodeck gegangen, um sie Dir in ihrer ganzen Schönheit zu zeigen. Dieses alte Gemäuer, das sich so mitten im tiefen Forst eingenistet hat wie ein Märchenschloß, ist ein Stück Waldpoesie, wie Du sie bei keinem meiner anderen Schlösser findest, ich kenne Deinen Geschmack. – Aber jetzt muß ich wirklich fort! Du fährst also nicht mit nach Fürstenstein?“

„Nein, ich will Deine vielgepriesene Waldpoesie genießen, die Dir bereits langweilig zu sein scheint, da Du Besuche machen willst.“

„Ja, ich bin kein Poet wie Du, der den ganzen Tag schwärmen und träumen kann,“ sagte Egon lachend. „Wir haben ja eine volle Woche lang ein wahres Einsiedlerdasein geführt, aber nur von Sonnenschein und Waldesduft und den Moralpredigten Stadingers allein kann ich nicht leben. Ich brauche Menschen, und der Oberforstmeister ist so ziemlich der einzige Umgang, den wir in der Nähe haben. Uebrigens ist dieser Herr von Schönau ein prächtiger, jovialer Mann, Du wirst ihn auch noch kennen lernen.“

Er rief durch einen Wink den harrenden Wagen herbei, reichte seinem Freunde die Hand und stieg ein. Rojanow blickte ihm nach, bis das Gefährt hinter den Bäumen verschwunden war, dann wandte er sich um und schlug einen der Wege ein, die in den Forst führten.

Er trug die Flinte über der Schulter, dachte aber augenscheinlich nicht an Jagen und Schießen, sondern schritt, wie in Gedanken verloren, immer weiter und weiter, planlos, ohne auf den Weg und die Richtung zu achten, bis ihn ringsum die tiefste Einsamkeit umgab.

Fürst Adelsberg hatte recht, er kannte den Geschmack seines Freundes. Diese Waldpoesie mit ihrem ganzen Zauber nahm ihn gefangen. Er war endlich stehen geblieben und athmete tief, tief auf, aber die Wolke auf seiner Stirn wollte nicht weichen, sie wurde nur düsterer, als er so an dem Stamme eines Baumes lehnte und die Augen umherschweifen ließ. Es lag etwas Friedloses und Freudloses in diesen schönen Zügen, das all die sonnige Schönheit ringsum nicht auszulöschen vermochte.

Er sah diese Gegend ja zum ersten Male; seine einstige Heimath lag weit entfernt, im Norden Deutschlands, hier erinnerte ihn nichts unmittelbar an die Vergangenheit und doch wachte gerade hier etwas auf, das längst erstorben zu sein schien, das sich nicht geregt hatte in all den Jahren, da er Länder und Meere durchmaß, da ihn die Wogen des Lebens umbrandeten und er in vollen, durstigen Zügen die Freiheit trank, der er so viel, der er alles geopfert hatte.

Die alten deutschen Wälder! Sie rauschten hier im Süden, wie dort im Norden, durch die Tannen und Eichen wehte derselbe Hauch, der dort in den Wipfeln der Föhren flüsterte, dieselbe Stimme, die einst dem Knaben so vertraut gewesen war, wenn er auf dem moosigen Waldboden lag. Er hatte so viele andere Stimmen seitdem gehört, lockend und schmeichelnd, berauschend und begeisternd, hier klang es so ernst und doch so süß aus dem Waldesrauschen – die Heimath sprach darin zu dem verlorenen Sohne!

Da regte sich etwas drüben im Gebüsche. Hartmut blickte gleichgültig auf, in der Meinung, daß irgend ein Wild dort vorüberstreife, aber statt dessen sah er deutlich ein helles Gewand durch die Zweige schimmern; auf einem schmalen Seitenpfad, der sich in Windungen durch den Forst zog, trat ihm eine Dame entgegen [76] und blieb dann stehen, augenscheinlich ungewiß über den Weg und die Richtung, die sie einschlagen sollte.

Rojanow war aufgefahren, die unerwartete Begegnung weckte ihn jäh aus seinen Träumereien und rief ihn in die Wirklichkeit zurück, aber auch die Fremde hatte ihn bemerkt. Sie schien gleichfalls überrascht, doch nur einen Augenblick lang, dann trat sie näher und sagte mit einem leichten Gruße:

„Darf ich Sie bitten, mein Herr, mir den Weg nach Fürstenstein zu zeigen? Ich bin fremd hier und habe mich auf einem Spaziergange verirrt. Ich fürchte, ziemlich weit von meinem Ziele abgekommen zu sein.“

Hartmut hatte mit einem raschen Blick die Erscheinung der jungen Dame gestreift und war sofort entschlossen, die Führung zu übernehmen. Er kannte zwar den Weg, nach welchem sie gefragt hatte, nicht und wußte nur ungefähr die Richtung, in welcher das Schloß lag, aber das kümmerte ihn sehr wenig, er machte eine ritterlich artige Verbeugung.

„Ich stelle mich Ihnen ganz zur Verfügung, mein gnädiges Fräulein. Fürstenstein ist allerdings ziemlich weit entfernt und Sie können den Weg unmöglich allein finden, ich muß Sie deshalb schon bitten, meine Begleitung anzunehmen.“

Die Dame hatte wohl darauf gerechnet, daß man ihr den Weg einfach bezeichnen werde, die angebotene Begleitung schien ihr nicht gerade willkommen zu sein, aber sie mochte fürchten, sich ein zweites Mal zu verirren, und die vollendete Artigkeit, mit welcher das Anerbieten gemacht wurde, ließ ihr auch kaum eine Wahl. Nach einem augenblicklichen Zögern neigte sie flüchtig das Haupt und erwiderte:

„Ich werde Ihnen dankbar sein. Also bitte, gehen wir!“

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 4, S. 101–109

[101] Rojanow zog den Riemen seiner Flinte fester und deutete auf einen kleinen, halb verwachsenen Pfad, der ungefähr die Richtung einhielt, in welcher Fürstenstein lag. Er schlug ihn ohne weiteres ein, entschlossen, seine Führerrolle zu behaupten, denn das Abenteuer begann ihn zu reizen.

Seine Schutzbefohlene war allerdings schön genug, um ihm diese Begegnung interessant zu machen. Das reine, zarte Oval des Gesichtes, die hohe, klare Stirn, von mattschimmerndem blonden Haar umgeben, die Linien der Züge, das alles war von vollendetem Ebenmaße; aber es lag etwas Erkältendes in der strengen Regelmäßigkeit dieser Formen, das durch einen Zug energischer Willenskraft, der deutlich hervortrat, eher gesteigert als gemildert wurde. Die junge Dame konnte höchstens achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein, aber sie besaß nichts von jenem unsagbaren Reiz, der diesem Alter eigen zu sein pflegt, nichts von jener Heiterkeit und Unbefangenheit, die ein junges, noch von keinem Schatten des Lebens berührtes Wesen so lieblich erscheinen läßt wie eine Blume, die sich eben erst dem Lichte erschließt. Die großen blauen Augen blickten so kalt und ernst, als hätte sie nie ein Mädchentraum verklärt, und derselbe stolze, kalte Ernst verrieth sich in der Haltung und der ganzen Erscheinung. Es ging wie ein kühler Hauch aus von dieser hohen, schlanken Gestalt, deren einfache, aber gewählte Kleidung zeigte, daß sie den höheren Ständen angehörte. – Rojanow hatte Zeit und Muße genug, sie zu betrachten, während er, bald vor, bald hinter ihr schreitend, die oft tief niederhängenden Zweige zurückbog oder vor einer Unebenheit des Bodens warnte. Bequem war dieser schmale Waldpfad allerdings nicht und für die Toilette einer Dame erwies er sich auch nicht vortheilhaft. Ihr Kleid blieb mehr als einmal an dem Gestrüppe hängen, der Schleier ihres Hutes wurde bei jeder Gelegenheit von den Gebüschen erfaßt und festgehalten, während der moosige Boden sich stellenweise als sehr feucht und sumpfig zeigte. Das wurde zwar alles mit vollster Gelassenheit ertragen, aber Hartmut fühlte es doch, daß er mit seiner Führerschaft keine besondere Ehre einlegte.

„Ich bedaure, Ihnen einen so unbequemen Weg zumuthen zu müssen, mein Fräulein,“ sagte er artig. „Ich fürchte wirklich, Sie zu ermüden; aber wir sind mitten im tiefsten Walde, und da hat man überhaupt keine Wahl.“

„Ich ermüde nicht so leicht,“ war die ruhige Antwort, „und ich frage wenig nach den Unbequemlichkeiten eines Weges, wenn er nur zum Ziele führt.“

Die Bemerkung klang etwas ungewöhnlich in dem Munde eines jungen Mädchens; Rojanow schien das auch zu finden und er lächelte ein wenig spöttisch, als er wiederholte:

„Wenn er nur zum Ziele führt! Ganz recht, das ist auch meine Ansicht; aber Damen [102] pflegen gewöhnlich anderer Meinung zu sein. Sie wollen über alle Unebenheiten sanft hinweg geleitet und getragen sein.“

„Alle? Es giebt auch Frauen , die es vorziehen, allein zu gehen, ohne sich wie ein Kind leiten und führen zu lassen.“

„Vielleicht als Ausnahme! Ich preise den Zufall, der mir das Glück zutheil werden läßt, eine so reizende Ausnahme –“

Hartmut war im Begriffe, ein sehr keckes Kompliment auszusprechen, verstummte aber plötzlich, denn die blauen Augen richteten sich mit so strafendem Ausdrucke auf ihn, daß ihm das Wort auf den Lippen erstarb.

In diesem Augenblick verfing sich der Schleier der jungen Dame wieder in ein dorniges Gezweige, das ihn unerbittlich festhielt. Sie blieb stehen, aber noch hatte ihr Begleiter kaum die Hand ausgestreckt, um das zarte Gewebe zu befreien, als sie es mit einer raschen Wendung des Kopfes losriß. Der Schleier blieb in Fetzen an den Zweigen hängen, aber die Hilfe war vollständig überflüssig geworden.

Rojanow biß sich auf die Lippen, dies Abenteuer entwickelte sich ganz anders, als er erwartet hatte. Er hatte geglaubt, bei einem jungen schüchternen Wesen, das sich seinem Schutze anvertraute, den Liebenswürdigen spielen zu können, in jener kecken, siegesgewissen Art, die ihm den Frauen gegenüber zur zweiten Natur geworden war, und nun wurde er gleich bei dem ersten Versuche durch einen bloßen Blick in seine Schranken zurückgewiesen, man machte ihm sehr deutlich klar, daß er hier nur der Führer zu sein hatte und nichts anderes. Wer und was war denn eigentlich dies Mädchen, das mit seinen achtzehn oder neunzehn Jahren schon die vollendete Sicherheit einer großen Dame zeigte und sich so unnahbar zu machen wußte? Er beschloß, um jeden Preis darüber ins klare zu kommen.

Jetzt endete der schmale Pfad, sie traten auf eine Lichtung hinaus und jenseit derselben begann wieder der Wald. Es war für jemand, der noch so wenig mit der Gegend vertraut war wie Hartmut, nicht leicht, hier den Führer zu machen, aber er hätte jetzt vollends nicht seine Unkenntniß eingestanden. Anscheinend mit voller Sicherheit hielt er die einmal eingeschlagene Richtung fest und wählte einen der Holzwege, die den Forst durchkreuzten. Endlich mußte man doch an eine Stelle gelangen, die einen freieren Ausblick bot und es möglich machte, sich zurechtzufinden.

Der breitere Weg gestattete jetzt ein ruhiges Nebeneinandergehen, und Hartmut benutzte das sofort, um die Unterhaltung anzuknüpfen, die bisher, da man mit fortwährenden Hindernissen zu kämpfen hatte, nicht möglich gewesen war.

„Ich habe bisher versäumt, mich Ihnen vorzustellen, mein gnädiges Fräulein,“ begann er. „Mein Name ist Rojanow, ich bin augenblicklich in Rodeck als Gast des Fürsten Adelsberg, der wohl den Vorzug genießt, Ihr Nachbar zu sein, da Sie in Fürstenstein wohnen?“

„Nein, ich bin gleichfalls nur als Gast dort,“ erklärte die junge Dame. Die fürstliche Nachbarschaft schien ihr ebenso gleichgültig zu sein wie der Name ihres Begleiters, jedenfalls fand sie es nicht für nöthig, nun auch den ihrigen zu nennen, sondern nahm die Vorstellung mit jener stolzen, vornehmen Bewegung des Hauptes entgegen, die ihr eigen zu sein schien.

„Ah, dann leben Sie vermuthlich in der Residenz und haben das schöne Herbstwetter zu einem Ausfluge benutzt?“

„Ja wohl!“

Das klang so einsilbig und abweisend wie nur möglich, aber Rojanow war nicht der Mann. sich abweisen zu lassen. Er war es gewohnt, daß seine Persönlichkeit sich überall Bedeutung und Wichtigkeit erzwang, zumal bei den Frauen, und empfand es fast als eine Beleidigung, daß dieser oft erprobte Eindruck hier versagte. Aber das gerade reizte ihn, ein Gespräch zu erzwingen, das offenbar nicht gewünscht wurde.

„Sind Sie von Ihrem Aufenthalte in Fürstenstein befriedigt?“ hob er wieder an. „Ich war noch nicht dort und habe das Schloß nur aus der Ferne gesehen, aber es scheint die ganze Umgegend zu beherrschen. Es gehört freilich ein eigener Geschmack dazu, um diese Landschaft schön zu finden!“

„Und dieser Geschmack ist nicht der Ihrige, wie es scheint.“

„Wenigstens liebe ich nicht die Einförmigkeit, und hier hat man ja überall denselben Blick. Wald und Wald und nichts als Wald – es ist bisweilen zum Verzweifeln!“

Es klang wie verhaltener Groll in den Worten, die armen deutschen Wälder mußten es entgelten, daß sie mit ihrem Rauschen und Wehen den Zurückgekehrten peinigten, sodaß er schon einige Male auf dem Punkte gestanden hatte, ihnen zu entfliehen. Er konnte es nicht ertragen, dies ernste, einförmige Lied aus alter Zeit, das die Wipfel ihm zuflüsterten. Seine Begleiterin hörte freilich nur den Spott in der Bemerkung.

„Sie sind ein Ausländer, Herr Rojanow?“ fragte sie ruhig.

Ueber Hartmuts Stirn flog wieder der finstere Schatten, einen Augenblick lang zögerte er mit der Antwort, dann erwiderte er kalt:

„Ja. mein gnädiges Fräulein.“

„Ich dachte es mir, Ihr Name wie Ihr Aussehen verräth es, und da ist auch ihr Urtheil begreiflich.“

„Jedenfalls ist es ein unbefangenes Urtheil,“ sagte Hartmut, gereizt durch den Vorwurf, der in den letzten Worten lag. „Ich habe ziemlich viel von der Welt gesehen und kehre jetzt eben aus dem Orient zurück. Wer den Ocean kennt in seiner strahlenden, durchsichtigen Bläue oder seinem mächtigen Sturmestoben, wer den Zauber der Tropenwelt genossen und sich an ihrer Farbengluth und ihrem Lichte berauscht hat, dem erscheinen sie doch nur kalt und farblos, diese ewig grünen Waldestiefen, diese ganzen deutsehen Landschaften überhaupt!“

Das mitleidige Achselzucken, mit dem er schloß, schien seine Begleiterin endlich aus ihrer kühlen Gelassenheit zu bringen. Es flog wie ein Ausdruck des Unwillens über ihre Züge und in ihrer Stimme verrieth sich eine gewisse Erregung, als sie antwortete:

„Das ist wohl einzig und allein Sache des Geschmackes. Ich kenne, wenn auch nicht den Orient, doch den Süden Europas; diese sonnendurchglühten, farbenleuchtenden Landschaften berauschen im Anfange – ganz recht – und dann ermüden sie. Es fehlt ihnen die Frische, die Kraft, man kann darin wohl träumen und genießen, aber nicht leben und schaffen. Doch wozu uns darüber streiten, Sie verstehen eben unsere deutschen Wälder nicht.“

Hartmut lächelte mit unverkennbarer Genugthuung. Es war ihm nun doch gelungen, die eisige Zurückhaltung seiner Genossin zu durchbrechen. All seine Liebenswürdigkeit war wirkungslos an ihr abgeglitten, aber er sah jetzt, daß es doch irgend etwas gab, was Leben in diese schönen kalten Züge rufen konnte, und fand einen eigenen Reiz darin, es hervorzurufen. Wenn er dabei verletzte – gleichviel, es machte ihm Vergnügen.

„Das klingt wie ein Vorwurf, den ich leider hinnehmen muß,“ sagte er mit unverhehltem Spott. „Möglich, daß mir dies Verständniß fehlt, ich bin eben gewohnt, einen anderen Maßstab an die Natur wie an die Menschen zu legen. Leben und schaffen? Es kommt nur darauf an, was man so nennt. Ich habe jahrelang in Paris gelebt, diesem mächtigen, blendenden Mittelpunkte der Civilisation, wo das Leben in tausend Strömen wogt und fluthet. Wer es gewohnt ist, sich von diesen brausenden Wogen tragen zu lassen, der kann sich nicht mehr in enge, kleinliche Verhältnisse finden, in all die Vorurtheile und Pedanterien, in das ganze Philisterthum, das hier in diesem braven Deutschland ‚Leben‘ genannt wird.“

Der verächtliche Nachdruck, den er auf die letzten Worte legte, hatte etwas Herausforderndes und erreichte auch seinen Zweck. seine Begleiterin blieb plötzlich stehen und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen, aber aus den bisher so kalten blauen Augen sprühte ein Blitz flammenden Zornes. Sie schien eine heftige Entgegnung auf den Lippen zu haben, bezwang sich aber. Sie richtete sich nur zu ihrer vollen Höhe empor und ihre Antwort klang in eisig stolzer Abwehr:

„Sie vergessen, mein Herr, daß sie zu einer Deutschen reden – ich erinnere Sie daran!“

Hartmuts Stirn färbte sich dunkelroth bei dieser herben Zurechtweisung, und sie galt doch nur dem Fremden, dem Ausländer, der die Rücksichten des Gastes vergaß. Wenn dies Mädchen ahnte, wer so zu ihr sprach, wenn sie wüßte – eine heiße, brennende Scham wallte plötzlich in ihm auf, doch er war Weltmann genug, sich augenblicklich zu fassen.

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte er mit einer leichten, halb spöttischen Verneigung. „Ich glaubte, wir tauschten nur allgemeine Ansichten aus, bei denen das Recht der freien Meinung gewahrt bleibt. Ich bedaure, Sie verletzt zu haben, mein Fräulein.“

[103] Eine unnachahmlich stolze und verächtliche Bewegung ihres Hauptes zeigte ihm, daß er gar nicht die Macht besaß, sie zu verletzen, sie zuckte kaum merklich die Achseln.

„Ich will Ihre Meinung durchaus nicht beeinflussen, aber jedenfalls sind unsere Standpunkte in dieser Sache so verschieden, daß wir wohl besser thun, das Gespräch abzubrechen.“

Rojanow bezeigte gleichfalls keine Lust, es fortzusetzen. Jetzt wußte er freilich, daß diese kalten blauen Augen aufflammen konnten, er hatte es ja gewollt und erzwungen, aber die Sache endete doch anders, als er gedacht hatte. Er streifte mit einem halb feindseligen Blick die schlanke Gestalt an seiner Seite, und dann verloren seine Augen sich wieder grollend in die eben noch so bitter geschmähten grünen Tiefen des Waldes.

Sie hatte doch etwas seltsam Bestrickendes, diese Waldeinsamkeit, die der erste leise Hauch des Herbstes durchwehte, jener Hauch, der noch kein Entblättern und Verwelken bringt, sondern die Landschaft nur in seine tieferen Farben taucht. Nur hier und da schimmerte es goldig und röthlich aus den Gebüschen hervor, aber die Waldgründe ruhten noch frisch und duftig im grünen Dämmerlicht. Unter den Wipfeln der hundertjährigen Bäume, die sich leise schwankend zu einander neigten, lagerten tiefe, kühle Schatten, dann wieder that sich eine Waldwiese auf, ganz überfluthet von dem Sonnengolde, das leuchtend und schimmernd auf all den Blumenkelchen lag, die sich hier noch dem Lichte öffneten, und bisweilen blinkte in der Ferne der Spiegel eines stillen, kleinen Gewässers auf, das einsam, wie verloren mitten im tiefen Forste lag. Dazu tiefe Stille ringsum, nur das leise, leise Rauschen der mächtigen Wipfel und das Summen und Singen der tausend Insekten, die auf den Sonnenstrahlen zu schweben schienen, all jene geheimnißvollen Stimmen, die sich nur in der Einsamkeit regen, das süße, träumerische Lied des Waldes. Er lockte und winkte unwiderstehlich mit dieser Melodie, mit seinen grünen Tiefen, die sich endlos ausdehnten, immer weiter und weiter, als wollten sie die beiden, die einmal in ihren Bann gerathen waren, darin festhalten für immer.

Da tauchte plötzlich ein ganz unerwartetes Hinderniß vor ihnen auf. Von einer dicht bewachsenen Anhöhe rauschte und schäumte es hernieder, ein breiter Waldbach suchte sich mit lustigem Ungestüm seinen Weg zwischen Gebüschen und Felsgestein. Rojanow hemmte seinen Schritt und musterte mit einem raschen Blick die Umgebung, wo nirgends ein Steg oder ein Uebergang zu entdecken war, dann wandte er sich zu seiner Gefährtin.

„Ich fürchte, wir kommen hier in eine unangenehme Lage, der Bach verlegt uns vollständig den Weg. Er ist sonst mit einiger Vorsicht leicht zu überschreiten, die moosigen Steine da auf dem Grunde bilden eine ziemlich bequeme Brücke, aber der gestrige Regen hat sie vollständig überfluthet.“

Die junge Dame war gleichfalls stehen geblieben und schien nach irgend einem Uebergange zu suchen.

„Sollte es nicht dort unten möglich sein?“ fragte sie, den Bach abwärts deutend.

„Nein, dort ist das Wasser noch tiefer und reißender, wir müssen hier an dieser Stelle hindurch. Selbstverstandlich nicht Sie, mein Fräulein, Sie erlauben mir wohl, daß ich Sie hinübertrage.“

Das Anerbieten wurde mit voller Artigkeit und Zurückhaltung gestellt, aber die Augen Rojanows blitzten triumphirend auf dabei. Jetzt rächte ihn der Zufall an dieser Unnahbaren, die nicht einmal seine Hilfe dulden wollte, um ihren Schleier aus der Dornhecke zu befreien. Jetzt mußte sie sich dieser Hilfe bedingungslos anvertrauen, auf seinen Armen mußte sie sich hinübertragen lassen an das andere Ufer, es blieb ihr keine Wahl. Er trat auf sie zu, als sei die erbetene Erlaubniß selbstverständlich, aber sie wich zurück.

„Ich danke, Herr Rojanow.“

Hartmut lächelte mit einer Ironie, die er sich gar nicht Mühe gab zu verbergen. Jetzt war er Herr der Lage und dachte es zu bleiben.

„Befehlen Sie, daß wir umkehren?“ fragte er. „Es ist ein Umweg von mehr als einer Stunde und hier sind wir in wenigen Minuten drüben. Sie dürfen sich unbesorgt meinen Armen anvertrauen, der Uebergang ist ganz ungefährlich.“

„Das glaube ich auch,“ war die ruhige Antwort, „und deshalb werde ich ihn allein versuchen.“

„Allein? Das ist unmöglich, mein Fräulein!“

„Durch einen Waldbach zu schreiten? Ich halte das für keine besondere Heldenthat.“

„Aber das Wasser ist tiefer als Sie glauben, Sie werden vollständig durchnäßt und überdies es ist wirklich unmöglich.“

„Ich bin nicht verweichlicht und erkälte mich nicht so leicht. Bitte, gehen Sie voran, ich werde folgen.“

Das war deutlich genug und klang so befehlend, daß ein Widerspruch nicht möglich war. Hartmut verneigte sich schweigend und schritt durch das Wasser, das seinen hohen Jagdstiefeln allerdings nicht viel anhaben konnte. Es war in der That ziemlich tief und ziemlich reißend, so daß er Mühe hatte, auf den Steinen festen Fuß zu fassen. Um seine Lippen spielte ein leiser Hohn, als er jetzt drüben stand und seine „Schutzbefohlene“ erwartete, die so hochmüthig jeden Schutz abwies. Mochte sie nun allein den Uebergang wagen, das wilde Wasser würde ihr schon Angst machen, sie konnte sich nicht dagegen behaupten und mußte ihn schließlich doch zu Hilfe rufen, trotz all ihres Sträubens.

Sie war ihm ohne Zögern gefolgt und stand bereits im Wasser, gegen welches die ebenso zierlichen als dünnen Stiefelchen nicht den geringsten Schutz gewährten und das überdies empfindlich kalt war. Die junge Dame schien das aber kaum zu empfinden, mit beiden Händen ihr Kleid aufraffend, schritt sie vorsichtig und langsam, aber vollkommen sicher vorwärts bis zur Mitte des Baches.

Hier aber, inmitten der schäumenden, reißenden Fluth gehörte der feste Tritt eines Mannes dazu, um stand zu halten, der schmale, zarte Frauenfuß suchte vergebens nach einem Stützpunkte auf den glatten Steinen. Die hohen Absätze der Stiefel waren dabei ebenso hinderlich wie das Kleid, dessen Saum von den Wellen erfaßt wurde. Die muthige Spaziergängerin verlor augenscheinlich die bisherige Sicherheit, sie strauchelte einige Male, schwankte und blieb endlich stehen; dabei flog ein rathloser Blick nach dem Ufer hinüber, wo Rojanow stand, entschlossen, nicht eher die Hand zu rühren, als bis sie geängstigt um Hilfe rufen werde.

Sie mochte diese Absicht in seinen Augen lesen, und das schien ihr auf einmal die versagende Kraft zurückzugeben. Einen Augenblick lang stand sie unbeweglich,, aber jener energische Ausdruck in ihren Zügen trat dabei in voller Schärfe hervor: dann glitt sie plötzlich von den überflutheten Steinen, die trotzdem noch eine Art Uebergang bildeten, in das fußtiefe Wasser, wo sie nun allerdings auf dem Grunde des Baches sofort festen Boden gewann und unbeirrt dem Ufer zuschreiten konnte. Hier ergriff sie statt der dargebotenen Hand Hartmuts einen Baumast und schwang sich auf das Trockene.

Sie selbst war freilich stark durchnäßt, das Wasser rieselte von ihrem Kleide, das sie ebenso rücksichtslos preisgegeben hatte wie die Fußbekleidung, aber sie wandte sich mit voller Gelassenheit an ihren Begleiter:

„Wollen wir unseren Weg nicht fortsetzen? Es kann nicht mehr weit bis Fürstenstein sein.“

Hartmut erwiderte keine Silbe, aber es wallte etwas wie Haß in ihm auf gegen diese Frau, die lieber in die kalte Fluth glitt, ehe sie sich seinen Armen anvertraute. Der stolze, verwöhnte Mann, dessen blendende Eigenschaften ihm alle Herzen gewannen, fühlte um so schärfer die Demüthigung, die ihm hier aufgezwungen wurde; er war nahe dran, diese ganze Begegnung zu verwünschen.

Sie gingen weiter; Rojanow warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf den nassen, schweren Saum des Gewandes, das neben ihm den Boden streifte und dort eine feuchte Spur zurückließ; im übrigen aber wandte er seine ganze Aufmerksamkeit der Umgebung zu, die allerdings jetzt etwas lichter zu werden schien. Dieses Waldesdickicht mußte doch endlich einmal ein Ende nehmen!

Seine Voraussetzung erfüllte sich in der That: er hatte Glück gehabt mit seiner Führerschaft, die eigentlich nur aufs Gerathewohl eingeschlagene Richtung war die rechte gewesen. Nach ungefähr zehn Minuten standen sie auf einer kleinen Anhöhe, die einen freien Ueberblick gewährte. Dort drüben, über einem Meer von Baumwipfeln, tauchten die Thürme von Fürstenstein auf, während sich ein ziemlich breiter Fahrweg, den man deutlich mit den Augen verfolgen konnte, bis an den Fuß des Schloßberges schlängelte.

[106] „Dort ist Fürstenstein!“ sagte Hartmut, indem er sich zum erstenmal wieder an seine Begleiterin wandte. „Es ist freilich noch etwa eine halbe Stunde entfernt.“

„O, das macht nichts aus,“ unterbrach sie ihn rasch. „Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Führung; aber der Weg ist ja jetzt nicht mehr zu verfehlen, und da möchte ich Sie nicht weiter bemühen.“

„Wie Sie befehlen, mein gnädiges Fräulein,“ sagte Rojanow kalt. „Wenn Sie Ihrem Führer hier den Abschied ertheilen wollen, so wird er sich Ihnen nicht ferner aufdrängen.“

Der Vorwurf wurde verstanden, die junge Dame mochte es wohl selbst fühlen, daß ein Mann, der sie stundenlang durch den Wald geführt hatte, doch wohl eine andere Verabschiedung beanspruchen konnte, wenn sie es auch für nöthig fand, ihn in gemessener Entfernung zu halten.

„Ich habe Sie wirklich schon allzu lange in Anspruch genommen,“ entgegnete sie einlenkend. „Aber da Sie sich mir vorgestellt haben, Herr Rojanow, so muß ich Ihnen zum Abschiede wohl auch meinen Namen nennen – Adelheid von Wallmoden.“

Hartmut zuckte leise zusammen und eine fliegende Röthe färbte sein Antlitz, während er langsam wiederholte:

„Wallmoden?“

„Ist Ihnen der Name bekannt?“

„Ich glaube ihn früher einmal gehört zu haben; aber das war in – in Norddeutschland.“

„Sehr wahrscheinlich, denn das ist meine und meines Gatten Heimath.“

In Rojanows Zügen malte sich unverkennbare Ueberraschung, als das vermeintliche junge Mädchen sich ihm als Frau zu erkennen gab, aber er verneigte sich mit aller Artigkeit.

„Dann bitte ich um Verzeihung, gnädige Frau, wegen der fälschlichen Anrede. Ich konnte nicht ahnen, daß Sie vermählt seien; jedenfalls habe ich nicht die Ehre, Ihren Herrn Gemahl auch nur dem Namen nach zu kennen, denn der Herr, der mir damals genannt wurde, stand schon in vorgerückten Jahren. Er gehörte der Diplomatie an und hieß, wenn ich nicht irre, Herbert von Wallmoden.“

„Ganz recht, mein Gemahl ist gegenwärtig als Gesandter an dem hiesigen Hofe beglaubigt. Doch er wird schon in Sorge sein wegen meines Ausbleibens, ich darf nicht länger säumen. Noch einmal meinen Dank, Herr Rojanow!“ Damit neigte die junge Frau flüchtig grüßend das Haupt und schlug den abwärts führenden Weg ein.

Hartmut stand unbeweglich und sah ihr nach; aber es lag eine fahle Blässe auf seinem Antlitz. Also doch. Er hatte kaum den Fuß auf deutschen Boden gesetzt, da begegnete ihm schon ein Name und eine Beziehung aus alter Zeit, die ihm mindestens peinlich war.

Herbert von Wallmoden, der Bruder der Frau von Eschenhagen, der Vormund Willibalds und der Jugendfreund – Rojanow brach jäh und plötzlich ab in der Gedankenreihe, denn es senkte sich wie ein scharfer, schmerzender Stachel in seine Brust. Als wollte er etwas von sich werfen, so richtete er sich empor, und wieder zuckte der herbe, verletzende Spott um seine Lippen, der ihm so meisterhaft zu Gebote stand.

„Er hat wenigstens Carriere gemacht, der Onkel Wallmoden,“ murmelte er halblaut, „und Glück scheint er auch gehabt zu haben. Er muß längst schon graue Haare tragen und erobert damit noch eine junge schöne Frau. Freilich, ein Gesandter ist unter allen Umständen eine Partie, und Adelheid von Wallmoden ist zur Excellenz geboren. Also daher die kühle Vornehmheit, die es gar nicht der Mühe werth hält, sich zu anderen Sterblichen herabzulassen! Vermuthlich die diplomatische Schule des Herrn Gemahls, der seine Auserwählte eigens für diese Stellung erzogen hat! Nun, das ist ihm ja trefflich gelungen!“

Seine Augen folgten noch immer der jungen Frau, die bereits am Fuß der Anhöhe war, aber jetzt grub sich eine tiefe Falte in seine Stirn.

„Wenn ich hier irgendwo mit Wallmoden zusammentreffe, und das wird vielleicht nicht zu vermeiden sein, so erkennt er mich zweifellos. Wenn er ihr dann die Wahrheit mittheilt, wenn sie erfährt, was geschehen ist, und mich wieder anschaut mit diesem Verachtungsblick“ – er stampfte in wild ausbrechender Wuth mit dem Fuße und lachte dann bitter auf.

„Pah, was kümmert das mich! Was weiß dies blonde, blauäugige Geschlecht mit dem trägen, kalten Blute von dem glühenden Freiheitsdrange, von dem Sturm der Leidenschaften, vom Leben überhaupt! Mögen sie den Stab über mich brechen! Ich scheue diese Begegnung nicht – ich werde ihr stand zu halten wissen.“

Und mit stolzem Trotze den Kopf zurückwerfend, wandte er der schlanken Frauengestalt, die noch auf dem Fahrwege sichtbar war, den Rücken und schritt wieder in den Wald hinein.




Im Hause des Oberforstmeisters hatte sich das geplante Familienfest, zu dem Wallmoden und seine Gattin eigens eingetroffen waren, die Verlobung des Majoratsherrn von Burgsdorf mit Antonie von Schönau, programmmäßig vollzogen.

Das junge Paar wußte ja längst, daß es für einander bestimmt war, und war auch vollkommen einverstanden damit. Willibald huldigte als guter Sohn noch immer der Ansicht, daß die Wahl seiner künftigen Lebenshrgährtin einzig Sache seiner Mutter sei, und hatte geduldig gewartet, bis sie es für gut fand, ihn zu verloben; aber es war ihm doch sehr angenehm, daß er gerade Bäschen Toni heirathen sollte. Er kannte sie seit seinen Kinderjahren, sie paßte so vortrefflich zu ihm in all ihren Neigungen und, was die Hauptsache war, sie machte gar keine Ansprüche an die Romantik einer Verlobung, die er beim besten Willen nicht hätte befriedigen können. Toni ihrerseits bewies wirklich den Geschmack, den Frau Regine ihr zutraute. Willy gefiel ihr recht gut, und die Aussicht, Herrin auf dem stattlichen Burgsdorf zu werden, gefiel ihr noch besser – kurz, es war alles vollkommen in Ordnung.

Das Brautpaar befand sich augenblicklich im Empfangszimmer, wo der Flügel stand, und Antonie unterhielt ihren Verlobten mit ihrem Klavierspiel, auf Veranlassung des Vaters, denn sie selbst hielt die Musik für eine sehr langweilige und überflüssige Sache. Aber der Oberforstmeister hatte darauf bestanden, seine Tochter solle zeigen, daß sie nicht nur wirthschaftlich erzogen sei, sondern auch in der Pension etwas gelernt habe. Er ging mit seiner Schwägerin draußen auf der kleinen Terrasse auf und nieder, ursprünglich mit der Absicht zuzuhören; statt dessen zankten sie sich aber, obgleich sie von einem ganz friedlichen Gespräch über das Glück ihrer Kinder ausgegangen waren, und diesmal schien der Streit sehr heftiger Natur zu sein.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich von Dir denken soll, Moritz,“ sagte Frau von Eschenhagen mit hochrothem Gesicht. „Du scheinst gar keine Empfindung für das unerhört Unpassende dieser Bekanntschaft zu haben. Wie ich Dich frage, wer denn diese Jugendfreundin Tonis, die in Waldhofen erwartet wird, eigentlich ist, giebst Du mir mit der ruhigsten Miene zur Antwort, sie sei Sängerin und seit kurzem am Hoftheater angestellt! Eine Komödiantin! Eine Theaterprinzessin! Eins von jenen leichtsinnigen Geschöpfen –“

„Aber Regine, so ereifere Dich doch nicht so!“ unterbrach sie der Oberforstmeister ärgerlich. „Du thust ja, als ob das arme Ding schan mit Haut und Haar verloren wäre, weil es auf der Bühne aufgetreten ist!“

„Das ist sie auch!“ eiferte Regine. „Wer einmal in dies Sodom und Gomorrha gerathen ist, der ist nicht mehr zu retten, der geht zu Grunde darin.“

„Recht schmeichelhaft für unser Hoftheater!“ meinte Schönau trocken. „Uebrigens gehen wir doch allesammt hinein.“

„Als Zuschauer! Das ist etwas anderes, und ich bin überhaupt immer dagegen gewesen. Willy hat nur sehr selten in das Theater gehen dürfen und nur in meiner Begleitung, und während ich meine Mutterpflicht in gewissenhafter Weise erfülle, meinen Sohn behüte vor jeder Berührung mit solchen Kreisen, giebst Du seine künftige Frau ihrem vergiftenden Einflusse preis. Es ist himmelschreiend!“

Sie erhob die Stimme sehr laut, theils aus Entrüstung, zum Theil aber auch, um sich verständlich zu machen, denn die musikalische Produktion in dem Zimmer, dessen Glasthüren weit offen standen, war etwas lärmender Natur. Die junge Dame hatte einen ziemlich harten Anschlag und ihre Vortragsweise erinnerte einigermaßen an die Arbeit einer Axt in hartem Holze. Ihre Zuhörer hatten zwar alle drei starke Nerven, aber ein leises Gespräch wurde dabei doch zur Unmöglichkeit.

[107] „So laß Dir die Sache doch erst erklären,“ beschwichtigte der Oberforstmeister. „Ich habe Dir ja schon gesagt, daß es sich hier um einen Ausnahmefall handelt. Marietta Volkmar ist die Enkelin unseres alten, braven Doktors in Waldhofen. Er hatte das Unglück, seinen Sohn in der Blüthe des Lebens zu verlieren, die junge Witwe folgte ihrem Manne schon im nächsten Jahre, und das Kind, die kleine Waise, kam zu dem Großvater. Das war gerade, als ich vor zehn Jahren nach Fürstenstein versetzt wurde. Doktor Volkmar wurde mein Hausarzt, seine Enkelin die Spielgefährtin meiner Kinder, und weil es mit der Schule in Waldhofen sehr schwach bestellt war, bot ich ihm an, die Kleine an dem Unterricht meiner Kinder theilnehmen zu lassen. Daher schreibt sich diese Jugendfreundschaft. Später, als Toni noch auf zwei Jahre in die Pension und Marietta zu ihrer musikalischen Ausbildung in die Stadt kam, hörte der tägliche Verkehr natürlich auf, aber Marietta besucht uns regelmäßig, wenn sie in den Ferien zu ihrem Großvater kommt, und ich sehe nicht ein, weshalb ich das verbieten soll, so lange das Mädchen brav und ordentlich bleibt.“

Frau von Eschenhagen hatte der Auseinandersetzung zugehört, ohne ihre strenge Richtermiene fahren zu lassen, und jetzt lachte sie spöttisch auf.

„Brav und ordentlich beim Theater! Man weiß ja, wie es da zugeht; aber Du scheinst das ebenso leicht zu nehmen wie dieser Doktor Volkmar, der so ehrwürdig aussieht mit seinen weißen Haaren und es zuläßt, daß seine Enkelin, daß eine junge, ihm anvertraute Seele den Weg des Verderbens wandelt.“

Herr von Schönau machte eine ungeduldige Bewegung.

„Regine, Du bist sonst eine vernünftige Frau, aber in diesem Punkte hast Du nie Vernunft annehmen wollen. Das Theater und alles, was dazu gehört, war bei Dir von jeher in Acht und Bann gethan. Dem Doktor ist der Entschluß nicht leicht geworden, das weiß ich, und wenn man wie wir im warmen Neste sitzt und seine Kinder reichlich versorgen kann, soll man nicht so ohne weiteres den Stab brechen über andere Eltern, die sich mit bitteren Sorgen herumschlagen. Volkmar plagt sich mit seinen siebzig Jahren noch Tag und Nacht, aber die Praxis bringt ihm wenig ein, denn unsere Gegend ist arm, und nach seinem Tode bleibt Marietta ganz mittellos zurück.

„So hätte er sie Erzieherin oder Gesellschafterin werden lassen sollen, das ist ein anständiges Brot.“

„Aber ein Brot, daß Gott erbarm! Man weiß es ja, wie die armen Dinger behandelt und ausgenutzt werden. Wenn ich ein Kind, das mir ans Herz gewachsen ist, dem Lose preisgeben soll, und es wird mir dann von allen Seiten gesagt, daß das Mädchen Gold in der Kehle hat und eine glänzende Zukunft ihr gewiß ist, dann lasse ich sie auch zur Bühne gehen, darauf verlaß Dich.“

Dies Geständniß schlug dem Fasse den Boden aus. Frau Regine stand einen Augenblick ganz starr vor Schrecken, dann sagte sie feierlich:

„Moritz – mich schaudert’s vor Dir!“

„Meinetwegen! Wenn es Dir Vergnügen macht, so laß Dich’s schaudern! Aber wenn Marietta wie sonst nach Fürstenstein kommt, so werde ich sie nicht zurückweisen, und ich habe auch nichts dagegen, wenn Toni zu ihr nach Waldhofen geht. Punktum!“

Herr von Schönau schrie gleichfalls ziemlich laut, denn seine Tochter schlug jetzt auf die Tasten, daß die Fensterscheiben klirrten und die Saiten des Flügels in ernstliche Gefahr geriethen. Der Oberforstmeister beachtete das freilich in der Hitze des Streites so wenig wie seine Schwägerin, die jetzt mit voller Schärfe erwiderte:

„Nun, dann ist es wenigstens ein Glück, daß Toni bald heirathet. Dann hat diese Freundschaft mit der Theaterprinzessin ein Ende, darauf gebe ich Dir mein Wort. In unserem ehrbaren Burgsdorf werden solche Gäste nicht geduldet, und Willy wird seiner Frau auch den Briefwechsel nicht gestatten, der jetzt in voller Blüthe zu stehen scheint.“

„Das heißt, Du wirst ihn nicht gestatten,“ spottete der Oberforstmeister. „Willy hat ja überhaupt nichts zu verbieten oder zu erlauben, der ist nur der gehorsame Diener seiner Frau Mama. Es ist eigentlich unverantwortlich, wie Du den Jungen, der doch nun Bräutigam ist und bald Ehemann werden soll, noch immer unter der Fuchtel hast.“

Frau von Eschenhagen richtete sich beleidigt auf.

„Ich glaube, ich bin mir meiner Verantwortlichkeit mehr bewußt als Du. Willst Du mir vielleicht einen Vorwurf daraus machen, daß ich meinen Sohn in kindlicher Ehrfurcht und Liebe erzogen habe?“

„Ach was, es giebt einen Punkt, wo die Liebe aufhört und das Maltraitiren anfängt! Du hast den Willy schon ganz dumm gemacht mit Deiner ewigen Bevormundung, nicht einmal den Heirathsantrag durfte er auf eigene Hand machen. Als Dir die Geschichte zu lange dauerte, fuhrst Du wie gewöhnlich dazwischen. ‚Wozu denn die Umstände, Kinder? Ihr sollt Euch haben und wollt Euch haben, die Eltern sind einverstanden, meinen Segen habt Ihr, also gebt Euch einen Kuß, dann ist die Geschichte abgemacht!‘ Das ist Dein Standpunkt. Ich habe auch kindliche Ehrfurcht vor meinen Eltern gehegt, wenn sie mir aber bei meiner Brautwerbung so dazwischen gekommen wären, dann hätten sie etwas sehr Unkindliches zu hören bekommen. Und der Junge, der Willy, nahm das ganz ruhig hin; ich glaube, er war noch obendrein froh, daß er seiner Braut keine Erklärung zu machen brauchte.“

Die Erregung der beiden war wieder bis zum Siedepunkte gestiegen und es war ein Glück, daß der musikalische Lärm drinnen sich jetzt so steigerte, daß man sein eigenes Wort nicht mehr hören konnte. Fräulein Antonie hatte wenigstens Kraft in den Händen und schien dies für die Hauptsache zu halten, ihr Spiel klang genau so, als ob ein Regiment Soldaten zur Attacke stürmte. Jetzt wurde es auch ihrem Vater zu arg, er brach plötzlich das Gespräch ab und trat in das Zimmer.

„Nun, Toni, Du brauchst den neuen Flügel nicht gerade entzweizuschlagen,“ sagte er ärgerlich. „Was spielst Du denn da eigentlich?“

Toni saß am Flügel und arbeitete im Schweiße ihres Angesichtes; nicht weit von ihr, auf einem kleinen Sofa, saß ihr Bräutigam, den Kopf auf den Arm gestützt und die Augen mit der Hand beschattend, anscheinend ganz versunken in die Musik. Bei der Frage ihres Vaters wandte die junge Dame sich um und sagte in dem gewohnten schläfrigen Tone:

„Ich spiele den ‚Janitscharenmarsch‘, Papa. Ich dachte, es würde Willy Vergnügen machen, da er auch Soldat gewesen ist.“

„So? Er hat aber zufällig bei den Dragonern gestanden,“ brummte Schönau und trat zu seinem künftigen Schwiegersohn, der die zarte Aufmerksamkeit seiner Braut doch nicht recht zu würdigen schien, denn er gab kein Zeichen des Beifalls.

„Willy, was sagst Du denn dazu? – Willy, hörst Du nicht? – Ich glaube wahrhaftig, er ist eingeschlafen!“

Die Voraussetzung erwies sich leider als richtig. Willy war, während der Janitscharenmarsch über die Tasten donnerte, süß und sanft entschlummert und schlief so fest, daß er auch jetzt nicht erwachte. Das schien selbst seiner Mutter zu stark, die gleichfalls eingetreten war; sie ergriff ihn derb am Arme.

„Aber Willy, was soll denn das heißen? Schämst Du Dich denn gar nicht?“

Der junge Majoratsherr, von allen Seiten geschüttelt und gescholten, wachte jetzt endlich auf und blickte schlaftrunken um sich.

„Was – was soll ich? Ja, es war sehr schön, liebe Toni.“

„Das glaube ich!“ rief der Oberforstmeister mit einem zornigen Auflachen. „Gieb Dir keine Mühe weiter mit Deinem Spiel, mein Kind. Komm, wir wollen Deinen Herrn Bräutigam ruhig ausschlafen lassen. Aber gute Nerven hat er, das muß man sagen!“

Damit nahm er den Arm seiner Tochter und verließ mit ihr das Zimmer, wo sich nun der ganze mütterliche Zorn über den armen Willibald ergoß. Frau von Eschenhagen, schon gereizt durch das vorhergehende Gespräch, schonte ihren Sohn durchaus nicht, aber sie rechtfertigte dabei nur zu sehr die Vorwürfe ihres Schwagers, sie schalt den Bräutigam und baldigen Ehemann aus wie einen Schulknaben.

„Das übersteigt denn doch alle Begriffe!“ schloß sie in voller Entrüstung. „Dein seliger Vater war auch nicht sehr für das Courmachen; wenn er mir aber zwei Tage nach der Verlobung eingeschlafen wäre, während ich ihn mit meinem Klavierspiel unterhielt, dann hätte ich ihn sehr unsanft geweckt. Jetzt gehst Du augenblicklich zu Deiner Braut und entschuldigst Dich bei ihr, sie hat ganz recht, wenn sie sich gekränkt fühlt.“

Damit ergriff sie ihn bei den Schultern und schob ihn nach [108] der Thür. Willy nahm das de- und wehmüthig hin, denn er war selbst ganz erschrocken über seinen unzeitigen Schlummer, aber er konnte doch nicht dafür, daß er so müde und die Musik so langweilig war. Ganz zerknirscht trat er in das Nebenzimmer, wo seine Braut, doch etwas gekränkt, am Fenster stand.

„Liebe Toni, sei mir nicht böse,“ begann er stockend. „Es war so heiß und Dein schönes Spiel hatte etwas so Beruhigendes –“

Toni wandte sich um. Es war ihr doch neu, daß der Janitscharenmarsch, zumal in ihrer Vortragsweise, beruhigend wirke, als sie aber die zerknirschte Miene des Bräutigams sah, der wie ein armer Sünder dastand, siegte ihre Gutmüthigkeit und sie streckte ihm die Hand hin.

„Nein, ich bin Dir nicht böse, Willy,“ sagte sie herzlich. „Ich mache mir ja auch nichts aus der dummen Musik. Wir wollen etwas Gescheiteres anfangen, wenn wir in Burgsdorf sind.“

„Ja, das wollen wir!“ rief Willibald, freudig die dargebotene Hand drückend, denn bis zu einem Handkusse hatte er sich noch nie verstiegen. „Du bist so gut, Toni!“

Als Frau von Eschenhagen bald darauf eintrat, fand sie das Brautpaar in vollster Eintracht und in ein äußerst lehrreiches Gespräch über die Milchwirthschaft vertieft, die in Süddeutschland etwas anders betrieben wurde als in Burgsdorf. Das war ein Thema, bei dem Willy nicht einschlief, und seine Mutter beglückwünschte sich im stillen zu dieser vortrefflichen Schwiegertochter, die so gar keine unbequeme Empfindlichkeit zeigte.

Uebrigens fand der junge Majoratsherr sofort Gelegenheit, sich für die bewiesene Nachsicht dankbar zu zeigen. Toni klagte, daß eine Sendung, die sie bestellt hatte und für den Abendtisch nothwendig brauchte, nicht in ihre Hände gelangt sei. Sie war auf der Post in Waldhofen rechtzeitig eingetroffen, aber wie es schien, mit einer falschen Adresse. Man hatte sie dem Boten nicht ausgehändigt, dieser war inzwischen von dem Oberforstmeister anderswohin geschickt worden und von den anderen Leuten augenblicklich niemand verfügbar, während doch die Zeit drängte. Willibald erbot sich daher, die Sache persönlich in Ordnung zu bringen, und das Anerbieten schien seiner Braut sehr willkommen zu sein.

Waldhofen war die bedeutendste Ortschaft in der Umgegend, trotzdem aber nur ein kleines Städtchen. Es lag etwa eine halbe Stunde von Fürstenstein entfernt und bildete eine Art Mittelpunkt für die überall zerstreuten Dörfer und Weiler des „Waldes“.

Während der Nachmittagsstunden, in denen sich kein Mensch auf der Straße befand, sah es recht öde und langweilig aus, das fand auch Herr von Eschenhagen, der über den Marktplatz schlenderte, wo sich die Post befand.

Er hatte die Angelegenheit, welche ihn nach Waldhofen geführt hatte, bereits erledigt und auch einen Boten gefunden, der die Kiste nach dem Schlosse trug. Da die Straßen des stillen kleinen Ortes aber nichts Interessantes boten, so bog er in einen Heckengang ein, der hinten an den Gärten der Häuser entlang geradeswegs auf die Landstraße führte. Der Weg war zwar etwas sumpfig und der gestrige anhaltende Regen hatte ihn stellenweise ganz grundlos gemacht, aber Willibald fragte als Landmann nicht viel nach solchen Dingen, sondern schritt unbekümmert vorwärts.

Er befand sich in einer äußerst behaglichen Stimmung; es war doch ein angenehmes Gefühl, Bräutigam zu sein, und er zweifelte durchaus nicht daran, daß er mit seiner guten Toni eine sehr glückliche Ehe führen werde.

Da kam ihm ein Wagen entgegen, der sich nur mühsam durch den sumpfigen Boden arbeitete und offenbar Reisende brachte, denn zwischen den Hinterrädern war ein großer Koffer festgeschnallt und das Innere schien auch noch verschiedenes Reisegepäck zu bergen. Willibald konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß man gerade diesen Heckenweg benutzte, der in seinem jetzigen Zustande für ein Fuhrwerk äußerst beschwerlich war, statt in die Straßen einzubiegen, und der Kutscher schien gleichfalls sehr unzufrieden damit zu sein. Er hatte sich umgewendet und verhandelte mit den Reisenden, die vorläufig nicht sichtbar waren.

„Jetzt geht es aber wirklich nicht weiter, Fräulein. Ich habe es ja vorher gesagt, wir kommen hier nicht durch, die Räder bleiben im Schlamme stecken – jetzt haben wir die Bescherung!“

„Es ist ja nicht mehr weit,“ ließ sich eine helle Stimme aus dem Inneren des Wagens vernehmen. „Nur noch einige hundert Schritte, versuchen Sie es doch!“

„Was nicht geht, das geht nicht!“ versetzte der Kutscher mit philosophischer Ruhe. „Durch den Sumpf da vorn kommen wir nicht, wir müssen umkehren.“

„Ich will aber nicht durch die Stadt fahren.“ Die helle Stimme hatte einen ganz entschiedenen Anflug von Trotz. „Wenn es durchaus nicht weiter geht, so halten Sie, ich werde aussteigen.“

Der Kutscher hielt, der Schlag wurde geöffnet, und eine leichte, zierliche Gestalt sprang aus dem Wagen. so geschickt, daß sie mit einem Satze über den Schlamm hinweg eine höher gelegene trockene Stelle erreichte. Dort blieb sie stehen und blickte prüfend um sich. Da aber der Weg gerade hier eine Biegung machte, ließ er sich nur zum kleinsten Theile übersehen.

Die junge Dame schien das sehr mißfällig zu bemerken; da fiel ihr Blick auf Herrn von Eschenhagen, der von der anderen Seite kam und eben die Biegung erreicht hatte.

„Bitte, mein Herr, ist der Weg zu begehen?“ rief sie ihm zu.

Er antwortete nicht sogleich, denn er war noch ganz starr vor Verwunderung über den ebenso gewagten als graziösen Sprung. Das flog ja wie eine Feder durch die Luft und stand doch fest und sicher auf den Füßen.

„Hören Sie denn nicht?“ wiederholte das Fräulein ungeduldig. „Ich frage, ob der Weg gangbar ist.“

„Ja – ich bin ihn gegangen,“ sagte Willibald, etwas aus der Fassung gebracht durch die sehr diktatorisch klingende Frage.

„Das sehe ich, aber ich habe keine Wasserstiefel wie Sie und kann nicht mitten durch den Sumpf waten. Ist es möglich, da an den Hecken entlang zu kommen? Mein Gott, so antworten Sie doch!“

„Ich – ich glaube wohl, drüben ist es etwas trockener.“

„Nun, dann will ich es wagen. Kehren Sie um, Kutscher, und geben Sie mein Gepäck auf der Post am Markte ab, ich werde es abholen lassen! Halt! Den kleinen Handkoffer da nehme ich mit, reichen Sie ihn mir herüber!“

„Aber der Koffer ist zu schwer für Sie, Fräulein,“ wandte der Kutscher ein, „und ich kann die Pferde nicht allein lassen.“

„Nun, dann trägt ihn mir der Herr dort! Es ist ja nicht weit bis zu unserem Garten. Bitte, mein Herr, nehmen Sie den Koffer, den kleinen da auf dem Rücksitz, mit dem schwarzen Lederüberzuge – so beeilen Sie sich doch!“

Der kleine Fuß trat ungeduldig auf den Boden, denn der junge Majoratsherr stand mit offenem Munde da. Er begriff es weder, daß eine Wildfremde so ohne weiteres über ihn verfügte, noch daß ein so junges Mädchen in dieser Weise befahl und kommandirte; bei den letzten sehr ungnädig klingenden Worten aber kam er schleunigst herbei und nahm den bezeichneten Koffer, was das Fräulein ganz selbstverständlich zu finden schien.

„So!“ sagte sie kurz. „Also, Sie fahren nach der Post, Kutscher, und nun hinein in die Sümpfe von Waldhofen!“

Sie nahm das graue Reisekleid auf und schritt dicht an den Hecken hin, wo der Weg etwas höher und trockener war. Willibald, von dem gar keine Notiz genommen wurde, trottete mit dem Koffer hinterher. Er hatte noch nie etwas so Zierliches gesehen wie diese schlanke, leichte Gestalt, die ihm kaum bis zur Schulter reichte, und er beschäftigte sich angelegentlich damit, diese Gestalt zu betrachten, da er sonst nichts zu thun hatte.

Das junge Mädchen hatte etwas ungemein Anmuthiges und Graziöses in den Bewegungen, wie in der ganzen Erscheinung, aber das Köpfchen mit dem krausen dunklen Haar, das sich unter dem Hute hervordrängte, wurde mit unverkennbarem Selbstbewußtsein getragen. Das Gesicht war ziemlich unregelmäßig in seinen Formen, aber allerliebst mit den schelmischen dunklen Augen und dem kleinen rosigen Munde, um den ein Zug von Trotz lag, und die beiden Grübchen im Kinn machten es vollends reizend. Der graue Reiseanzug war trotz seiner Einfachheit doch äußerst geschmackvoll und trug allen Anforderungen der Mode Rechnung – zu den biederen Kleinstädtern von Waldhofen gehörte die junge Reisende offenbar nicht.

Der Weg zeigte sich jenseit der Biegung wirklich etwas trockener, doch mußte man fortgesetzt den schmalen Wall benutzen, auf dem die Hecken standen, und bisweilen über nasse Stellen hinwegspringen. Dabei ließ sich nun allerdings keine Unterhaltung führen und Willy dachte auch nicht daran, sie einzuleiten, er trug geduldig seinen Koffer und nahm es ebenso geduldig hin, daß seine [109] Begleiterin sich gar nicht weiter um ihn kümmerte, bis sie nach etwa zehn Minuten an der niedrigen Pforte eines Gartens standen.

Die junge Dame beugte sich über die Staketen des Pförtchens und schob einen von innen angebrachten Holzriegel zurück, dann wandte sie sich um.

„Ich danke, mein Herr! Bike, geben Sie mir jetzt mein Gepäck!“

Das Köfferchen war trotz seines geringent Umfanges doch ziemlich schwer, viel zu schwer für die kleinen Hände, die danach griffen. Willibald bekam plötzlich einen Anfall von Ritterlichkeit, die sonst gar nicht seine Sache war, und erklärte, er werde den Koffer bis in das Haus tragen, was mit einem kurzen gnädigen Kopfnicken angenommen wurde. Sie schritten durch den kleinen, aber sehr sorgfältig gepflegten Garten bis zu einem alten einfachen Hause und traten durch die Hinterthür in den dämmerig kühlen Hausflur, wo ihr Erscheinen sofort bemerkt wurde. Eine alte Magd stürzte eiligst aus der Küche herbei.

„Fräulein! Fräulein Marietta! Sie kommen heute schon? Ach, welche Freude wird –“

Sie kam nicht weiter, denn Marietta flog auf sie zu und drückte ihr die Hand auf den Mund.

„Still doch, Babette! Sprich leise, es soll ja eine Ueberraschung sein! Ist der Großpapa zu Haus?“

„Jawohl, der Herr Dokor ist im Studierzimmer. Wollen Sie hineingehen, Fräulein?“

„Nein, ich schleiche mich in das Wohnzimmer, setze mich ganz leise an das Klavier und singe ihm sein Lieblingslied. Vorsichtig, Babette, daß er uns nicht hört!“

Sie huschte leicht und lautlos wie eine Elfe nach der andern Seite des Hauses und öffnete die Thür eines zu ebener Erde gelegenen Zimmers; Babette, die in der Ueberraschung und Freude über die Ankunft ihres Fräuleins gar nicht bemerkte, daß noch jemand in dem halbdunklen Hausflur stand, folgte ihr. Die Thür blieb weit offen, man hörte, wie vorsichtig ein Deckel zurückgeklappt und ein Stuhl gerückt wurde, dann begann ein leises Präludiren, dünne, zitternde Klänge, die offenbar einem alten, ehrwürdigen Spinett entlockt wurden, aber es klang wie Harfenton, und nun erhob sich eine Stimme, hell und süß wie Lerchengesang und jubelnd wie dieser.

Das dauerte freilich nur wenige Minuten, dann wurde hastig die gegenüberliegende Thür aufgerissen und ein alter Mann mit weißen Haaren erschien auf der Schwelle.

„Marietta! Meine Marietta, bist Du es wirklich?“

„Großpapa!“ klang es jubelnd zurück, der Gesang brach plötzlich ab und Marietta hing an des Großvaters Halse.

„Du böses Kind, wie Du mich erschreckt hast!“ schalt er zärtlich. „Ich erwartete Dich ja erst übermorgen und wollte Dir bis zur Bahnstation entgegenkommen, da höre ich plötzlich Deine Stimme im Wohnzimmer, ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu dürfen.“

Das junge Mädchen lachte fröhlich auf wie ein ausgelassenes Kind.

„Ja, die Ueberraschung ist gelungen; gelt, Großpapa? Ich bin ja eigens deswegen den Gartenweg gefahren und richtig mit dem Wagen im Sumpfe stecken geblieben. Ich kam zur Hinterthür herein und – was willst Du denn, Babette?“

„Fräulein, der Kofferträger ist noch da,“ sagte die alte Magd, die jetzt erst den Fremden bemerkt hatte, „soll ich ihm ein Trinkgeld geben?“

Der junge Majoratsherr stand noch immer da mit dem Koffer in der Hand, jetzt aber wandte sich auch Doktor Volkmar um und rief erschrocken.

„Mein Gott – Herr von Eschenhagen!“

„Kennst Du den Herrn?“ fragte Marietta, ohne besondere Verwunderung, denn ihr Großvater kannte ja in seiner Eigenschaft als Arzt ganz Waldhofen und dessen Nachbarschaft.

„Allerdings! Aber Babette, so nimm dem Herrn doch den Koffer ab! Ich bitte um Entschuldigung, ich wußte nicht, daß Sie schon mit meiner Enkelin bekannt seien.“

„Nein, wir kennen uns nicht im mindesten,“ sagte das junge Mädchen, „willst Du mir den Herrn nicht vorstellen, Großpapa?“

„Gewiß, mein Kind – Herr Willibald von Eschenhagen auf Burgsdorf –“

„Tonis Bräutigam!“ fiel Marietta fröhlich ein. „O, wie komisch, daß wir uns so kennen lernen mußten, mitten im Sumpfe! Wenn ich das gewußt hätte, dann würde ich Sie nicht so schlecht behandelt haben, Herr von Eschenhagen. Ich ließ Sie ja wie einen wirklichen Kofferträger immer hinter mir drein laufen! Aber weshalb sagten Sie denn nicht ein Wort?“

Willibald sagte auch jetzt nichts, sondern blickte stumm auf die kleine Hand, die sich ihm vertraulich entgegenstreckte. Da er doch aber fühlte, daß er irgend etwas thun oder sagen müsse, so ergriff er das rosige Händchen und drückte und schüttelte es kräftiglich mit seiner Hünenfaust.

„Au!“ rief die junge Dame, indem sie entsetzt zurückwich. „Sie haben ja einen fürchterlichen Händedruck, Herr von Eschenhagen! Ich glaube, Sie haben mir die Finger zerbrochen.“

Willibald wurde dunkelroth vor Verlegenheit und stotterte eine Entschuldigung. Glücklicherweise mischte sich aber jetzt der Doktor ein und bat ihn, näher zu treten.

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 5, S. 133–140

[133] Willibald war wortlos der Einladung des Doktors gefolgt; allmählich kam man in ein Gespräch, bei dem Marietta allerdings den Hauptantheil trug. Sie erzählte ausführlich und in höchst komischer Weise das Zusammentreffen mit Willibald. Da sie von der bevorstehenden Verlobung längst unterrichtet war, so behandelte sie den Bräutigam ihrer Freundin wie einen alten Bekannten, sie fragte nach Toni, nach dem Oberforstmeister, und der kleine rothe Mund ging dabei wie ein Mühlwerk.

Der junge Majoratsherr war um so schweigsamer, die helle Stimme, die selbst beim Sprechen so lieblich klang wie Vogelgezwitscher, machte ihn ganz verwirrt. Er hatte den Doktor erst gestern kennen gelernt, als dieser in Fürstenstein einen Besuch abstattete, und es war dabei auch von einer gewissen Marietta die Rede gewesen, die mit seiner Braut befreundet war. Näheres aber wußte er nicht, denn Toni war nicht besonders mittheilsam.

„Und da läßt dies übermüthige Kind Sie nun ohne weiteres im Hausflur stehen und setzt sich an das Klavier, um mir seine Ankunft anzukündigen!“ sagte Volkmar kopfschüttelnd. „Das war sehr unartig, Marietta.“

Das junge Mädchen lachte und schüttelte die kurzen krausen Locken.

„O, Herr von Eschenhagen nimmt es nicht übel, dafür darf er auch zuhören, wenn ich Dir Dein Lieblingslied noch einmal vorsinge, Du hast ja kaum ein paar Takte gehört. Soll ich gleich anfangen?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie an das Klavier, und nun erhob sich wieder jene silberhelle Stimme, die das Ohr förmlich bestrickte mit ihrem Zauber. Sie sang eine alte einfache Volksweise, aber es klang so lockend und schmeichelnd, so weich und süß, als sei plötzlich der Frühling und der Sonnenschein eingezogen in die stillen öden Räume des alten Hauses. Und es legte sich dabei auch wie Sonnenschein auf das Gesicht des alten weißhaarigen Mannes, in das sich so manche Falte der Sorge und des Kummers gegraben hatte. Mit einem halb wehmüthigen, halb freundlichen Lächeln hörte er dem Liede zu, das ihn wohl an die Zeit erinnern mochte, wo er noch jung und glücklich war.

Aber er war nicht der einzige aufmerksame Zuhörer. Der junge Majoratsherr von Burgsdorf, der vor zwei Stunden bei den donnernden Klängen des Janitscharenmarsches eingeschlafen war, der in vollster Uebereinstimmung mit seiner Braut die „dumme Musik“ für eine sehr langweilige Sache hielt, er lauschte diesen weichen, quellenden Tönen so andächtig, als ob sie ihm eine neue Offenbarung verkündeten. Weit vorbeugt saß er da, die Augen unverwandt auf das junge Mädchen gerichtet, das augenscheinlich mit ganzer Seele bei dem Gesange war und dabei mit einer unendlich reizenden Bewegung das Köpfchen hin und her wiegte, und als das Lied zu Ende war, athmete er tief auf und fuhr mit der Hand über die Stirn.

„Mein kleines Singvögelchen!“ sagte Doktor Volkmar zärtlich, [134] indem er sich zu seiner Enkelin niederbeugte und einen Kuß auf ihre Stirn drückte.

„Gelt, Großpapa, meine Stimme hat nicht gerade verloren in den letzten Monaten?“ fragte sie neckisch. „Aber Herrn von Eschenhagen scheint sie doch nicht zu gefallen, er sagt mir kein Wort darüber.“

Sie blickte mit der Miene eines schmollenden Kindes zu Willibald hinüber, der sich jetzt erhob und gleichfalls an das Klavier trat. Auf seinem Gesicht lag eine leise Röthe und in seinen sonst so ausdruckslosen braunen Augen leuchtete es auf, als er halblaut sagte:

„O, es war sehr, sehr schön!“

Die junge Sängerin mochte wohl an andere Komplimente gewöhnt sein, aber sie fühlte doch die tiefe, ehrliche Bewunderung in den lakonischen Worten und bemerkte recht gut, welchen Eindruck ihr Gesang gemacht hatte; sie lächelte deshalb, als sie erwiderte:

„Ja, das Lied ist auch sehr schön. Ich habe jedesmal einen förmlichen Triumph damit gefeiert, wenn ich es als Einlage zu meiner Rolle sang.“

„Zu Ihrer Rolle?“ wiederholte Willy, der sich diesen Ausdruck nicht erklären konnte.

„Nun ja, bei dem Gastspiel, von dem ich eben zurückkomme. O, es ist glänzend verlaufen, Großpapa, und der Direktor hätte es gern verlängert, aber ich hatte schon den größten Theil meines Urlaubs darauf verwandt und wollte doch wenigstens noch einige Wochen bei Dir sein.“

Der junge Majoratsherr hörte in steigender Verwunderung zu. Gastspiel – Urlaub – Direktor – was sollte denn das alles bedeuten? Der Doktor bemerkte sein Erstaunen.

„Herr von Eschenhagen kennt Deinen Beruf noch nicht, mein Kind,“ sagte er ruhig. „Meine Enkelin hat sich zur Sängerin ausgebildet.“

„Wie nüchtern Du das sagst, Großpapa!“ rief Marietta aufspringend; und sich zu der vollen Höhe ihrer zierlichen Gestalt aufrichtend, fügte sie mit komischer Feierlichkeit hinzu:

„Seit fünf Monaten Mitglied eines hochzuverehrenden herzoglichen Hoftheaters, eine Person in Amt und Würden, also – Hut ab, mein Herr!“

Mitglied des Hoftheaters! Willibald zuckte förmlich zusammen bei dem verhängnißvollen Worte. Der wohlerzogene Sohn seiner Mutter theilte deren ganzen Abscheu vor dem „Komödiantenwesen“. Er trat unwillkürlich drei Schritte zurück und starrte entsetzt auf die junge Dame, die ihm so Schreckliches verkündete. Sie lachte laut auf bei der Bewegung.

„Nun, so viel Respekt brauchen Sie nicht zu haben, Herr von Eschenhagen! Ich erlaube Ihnen, hier am Klavier stehen zu bleiben. Hat Ihnen denn Toni nicht gesagt, daß ich beim Theater bin?“

„Toni? – Nein!“ stieß Willibald ganz fassungslos hervor. „Aber sie erwartet mich, ich muß nach Fürstenstein – ich bin schon viel zu lange hier gewesen!“

„Recht artig!“ lachte das junge Mädchen ausgelassen. „Das ist wirklich nicht sehr schmeichelhaft für uns; aber da Sie Bräutigam sind, müssen Sie natürlich zu Ihrer Braut.“

„Ja, und zu meiner Mama,“ sagte Willy, der ein dunkles Gefühl hatte, daß ihm irgend etwas Fürchterliches drohe, und dem seine Mutter als ein rettender Engel erschien. „Ich bitte um Entschuldigung, aber ich – ich bin wirklich schon viel zu lange hier gewesen …“

Er stockte, denn er erinnerte sich, daß er das schon einmal gesagt hatte, und suchte nach anderen Worten, fand sie aber nicht und wiederholte glücklich die Artigkeit zum drittenmal.

Marietta wollte sich ausschütten vor Lachen. Doktor Volkmar aber erklärte höflich, seinen Gast nicht länger aufhalten zu wollen, und bat, seine Empfehlungen an den Oberforstmeister und an Fräulein von Schönau auszurichten. Der junge Majoratsherr hörte kaum darauf, er suchte seinen Hut, machte eine Verbeugung, stotterte einen Abschiedsgruß und lief davon, als ob ihm der Kopf brenne. Er hatte nur den einen Gedanken, daß er so schnell als möglich fort müsse; dies übermüthige, neckische Lachen machte ihn ganz verrückt.

Als Volkmar, der ihn bis zur Thür begleitet hatte, zurückkehrte, wischte sich seine Enkelin, halb erstickt vor Lachen, die Thränen aus den Augen.

„Ich glaube, bei Tonis Bräutigam ist es hier nicht recht richtig!“ rief sie, die zierlichen Finger an die Stirn legend. „Zuerst lief er stumm wie ein Fisch mit dem Koffer hinter mir drein, dann schien er etwas aufzuthauen bei meinem Gesange, und nun bekommt er wieder einen förmlichen Anfall zum Davonlaufen und rennt nach Fürstenstein zu seiner ‚Mama‘, so daß ich ihm nicht einmal einen Gruß an seine Braut mitgeben kann.“

Der Doktor lächelte ein wenig schmerzlich; er hatte besser beobachtet und errieth, woher die plötzliche Veränderung in dem Benehmen seines Gastes stammte.

„Der junge Mann hat wohl noch nicht viel mit Damen verkehrt,“ versetzte er ausweichend, „und er scheint auch noch einigermaßen unter der Vormundschaft seiner Mutter zu stehen; aber seiner Braut gefällt er offenbar ganz gut, und das ist schließlich die Hauptsache.“

„Ja, hübsch ist er!“ sagte Marietta etwas nachdenklich, „sogar sehr hübsch, aber ich glaube, Großpapa, er ist auch sehr dumm.“

Willibald war inzwischen im Sturmschritt bis zur nächsten Straßenecke gelaufen; da blieb er stehen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, die vollständig in Verwirrung gerathen waren. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er damit zustande kam, aber er blickte noch einmal nach dem Hause des Doktors zurück, ehe er langsam weiter ging.

Was würde seine Mutter dazu sagen! Sie, die das ganze „Komödiantenvolk“ ohne Ausnahme in Acht und Bann gethan hatte. Und sie hatte recht, Willy spürte ja ganz deutlich, daß so etwas wie Hexerei von diesem Volke ausging, man mußte sich vor ihm hüten!

Aber wenn diese Marietta Volkmar sich nun einfallen ließe, ihre Jugendfreundin in Fürstenstein zu besuchen? der junge Majoratsherr hätte sich doch eigentlich entsetzen müssen bei dem Gedanken und war auch fest überzeugt, daß er sich entsetze; aber dabei trat wieder jenes seltsame Leuchten in seine Augen. Er sah urplötzlich in dem Empfangszimmer am Flügel, wo vorhin seine Braut gesessen hatte, eine zarte, kleine Elfengestalt, die das Köpfchen mit dem lockigen dunklen Haar wie ein Singvögelchen hin und her wiegte, und der Donner des Janitscharenmarsches verwandelte sich in die weichen quellenden Töne des alten Volksliedes, und dazwischen schallte wieder jenes übermüthige, silberhelle Lachen, das auch wie Musik klang.

Und das alles sollte nun verdorben und verloren sein, weil es der Bühne angehörte? Frau von Eschenhagen hatte oft genug solche Ansichten ausgesprochen und Willibald war ein viel zu guter Sohn, um das nicht für ein Orakel zu halten; aber er stieß einen tiefen Seufzer aus, als er halblaut sagte:

„O wie schade! Wie jammerschade!“




Ungefähr in der Mitte zwischen Fürstenstein und Rodeck, da wo das Waldgebirge sich zu seiner vollen Höhe erhob, lag der Hochberg, ein beliebter und besuchter Aussichtspunkt, der wegen seiner weiten Rundsicht berühmt war. Der uralte steinerne Thurm auf seinem Gipfel, der letzte Ueberrest einer im übrigen längst verschwundenen Burgruine, war zugänglich gemacht worden, und zu seinen Füßen hatte sich eine kleine Wirthschaft angesiedelt, die während der Sommermonate reichlichen Zuspruch aus der Umgegend fand. Denn Fremde kamen nicht allzuhäufig in diese wenig bekannten Waldberge und Thäler.

Jetzt im Herbste war der Besuch allerdings spärlich, aber der heutige schöne Tag hatte doch noch einige Menschen zu dem Ausfluge verlockt. Vor einer halben Stunde waren zwei Herren in Begleitung eines Dieners zu Pferde angekommen, und soeben fuhr ein Wagen vor dem Wirthshause vor, der neue Gäste brachte.

Auf der Plattform des Thurmes, an der steinernen Brüstung standen die beiden Herren. und der jüngere war eifrig bemüht, seinem Freunde die einzelnen Punkte der Landschaft zu zeigen und zu erklären.

„Ja, unser Hochberg ist berühmt wegen seiner Aussicht,“ sagte er. „Ich mußte ihn Dir doch endlich einmal zeigen, Hartmut. Nicht wahr, der Blick über dies weite grüne Waldmeer ist unvergleichlich?“

Hartmut antwortete nicht, er schien mit dem Fernglase irgend einen Punkt zu suchen.

„Wo liegt denn Fürstenstein? Ah dort! Es scheint ein mächtiges altes Bauwerk zu sein.“

[135] „Ja, das Schloß ist immerhin sehenswerth,“ meinte Fürst Adelsberg. „Im übrigen aber hattest Du ganz recht, vorgestern zu Haus zu bleiben. Ich habe mich sträflich gelangweilt bei dem Besuche.“

„So? Du schienst doch sehr eingenommen von dem Oberforstmeister.“

„Gewiß, ich plaudere sehr gern mit ihm, aber er war ausgefahren und kam erst kurz vor meinem Aufbruche wieder zurück. Sein Sohn ist jetzt überhaupt nicht in Fürstenstein, er studiert noch auf der Forstakademie, und so hatte ich denn nur dem Fräulein von Schönau aufzuwarten, aber kurzweilig war dies ‚Vergnügen‘ gerade nicht. Alle fünf Minuten ein Wort und zu jedem Wort eine Minute! Sehr viel Wirthschaftlichkeit und Häuslichkeit, und sehr wenig da oben hinter der Stirn! Ich hielt im Schweiße meines Angesichtes die Unterhaltung im Gange und hatte dann noch die Ehre, den Bräutigam der Baroneß kennen zu lernen, einen echten, unverfälschten Landjunker, mit einer sehr energischen Frau Mama, die ihn und die künftige Schwiegertochter gänzlich unter dem Kommando hat. Wir führten unendlich geistreiche Gespräche und kamen schließlich sogar auf die Rübenkultur, über die ich eingehend belehrt wurde. Es wurde erst menschlich, als der Oberforstmeister mit seinem Schwager, dem Baron Wallmoden, zurückkehrte.“

Rojanow hielt das Glas immer noch auf Fürstenstein gerichtet, während er anscheinend gleichgültig zuhörte. Jetzt wiederholte er in fragendem Tone:

„Wallmoden?“

„Der neue preußische Gesandte an unserem Hofe. Eine echte Diplomatenerscheinung, vornehm, kühl, zugeknöpft bis zum Halse, übrigens von sehr angenehmen Formen. Excellenz die Frau Baronin waren nicht sichtbar, was ich mit Fassung ertrug, denn da der Herr Gemahl schon graue Haare hat, so wird sich die Dame wohl auch in dem Alter befinden, dem man nur noch Hochachtung zollt.“

Um Hartmuts Lippen spielte ein eigenthümlich bitterer Ausdruck, als er jetzt das Glas sinken ließ. Er hatte seinem Freunde das Zusammentreffen mit Frau von Wallmoden verschwiegen. Wozu auch diesen Namen erwähnen? Er wollte so wenig als möglich daran erinnert sein.

„Uebrigens wird es mit unserer romantischen Waldeinsamkeit bald vorbei sein,“ fuhr Egon fort. „Wie ich von dem Oberforstmeister hörte, kommt der Hof diesmal zu den Jagden nach Fürstenstein, und ich kann mich dann auch auf einen Besuch des Herzogs in Rodeck gefaßt machen. Sehr entzückt bin ich darüber nicht, denn mein erlauchter Herr Onkel pflegt mir ebenso oft und ebenso eindringlich Moral zu predigen wie der Stadinger, und da muß ich natürlich standhalten. Aber bei Gelegenheit dieses Besuches werde ich Dich vorstellen, Hartmut, Du bist doch einverstanden?“

„Wenn Du es für nothwendig hältst und die Etikette Eures Hofes es gestattet –“

„Bah, die Etikette wird bei uns nicht so streng gehandhabt, und überdies – die Rojanows gehören doch zu den Bojarenfamilien Deiner Heimath?“

„Gewiß!“

„Nun, dann bist Du ohne weiteres zu der Vorstellung berechtigt. Ich halte sie allerdings für wünschenswerth, denn ich habe mir nun einmal in den Kopf gesetzt, Deine ‚Arivana‘ auf unserer Hofbühne zu sehen, und sobald der Herzog Dich und Dein Werk kennt, steht das gar nicht mehr in Frage.“

Die Worte verriethen die ganze leidenschaftliche Bewunderung, die der junge Fürst für seinen Freund hegte; aber dieser zuckte nur leicht die Achseln.

„Möglich, besonders wenn Du dafür eintrittst, aber ich mag das nicht der Protektion verdankest. Ich bin kein Dichter von Beruf, weiß noch nicht einmal, ob ich überhaupt ein Dichter bin, und wenn mein Werth sich nicht selbst den Weg bahnen und erzwingen kann –“

„So wärst Du starrsinnig genug, es der Oeffentlichkeit zu entziehen – das sieht Dir ähnlich! Hast Du denn gar keinen Ehrgeiz?“

„Vielleicht nur zu viel, und daher stammt das, was Du meinen Starrsinn nennst. Ich habe mich nie fügen und unterordnen können im Leben, ich konnte nicht, meine ganze Natur bäumte sich auf dagegen, und für die Verhältnisse an Euren deutschen Höfen bin ich nun vollends nicht geschaffen.“

„Wer sagt Dir denn das?“ fragte Egon lachend. „Man wird Dich dort wie überall verwöhnen und umschmeicheln. Es ist nun einmal Deine Art, wie ein Meteor aufzusteigen, und von solchen Sternen verlangt man es gar nicht, daß sie die gewöhnlichen Bahnen ziehen. Ueberdies hast Du als Gast und Ausländer von vornherein eine Ausnahmestellung, und wenn Dich erst noch der Nimbus des Dichters umgiebt, dann –“

„Denkst Du mich damit in Deiner Heimath festzuhalten!“ ergänzte Hartmut.

„Nun ja denn! Ich allein traue mir nicht die Macht zu, Dich dauernd zu fesseln, Du wilder, ruheloser Gast, aber ein aufsteigender Dichterruhm ist eine Fessel, die man nicht so leicht abstreift, und seit heute morgen habe ich mir geschworen, Dich um keinen Preis wieder fortzulassen.“

Rojanow stutzte und sah ihn forschend an.

„Warum gerade seit heut morgen?“

„Das ist vorläufig mein Geheimniß,“ sagte Egon neckend. „Ah, da kommen noch mehr Gäste, wie es scheint!“

Man hörte in der That Schritte auf der schmalen steinernen Wendeltreppe, und in der Oeffnung, welche auf die Plattform führte, erschien das bärtige Gesicht des alten Thurmwächters.

„Bitte, nehmen Sie sich in acht, Gnädigste,“ ermahnte er, sich besorgt umschauend. „Die letzten Stufen sind sehr steil und ganz ausgetreten – so, da wären wir oben!“

Er wollte der nachfolgenden Dame die Hand reichen, aber sie bedurfte seiner Hilfe nicht, sondern stieg leicht und mühelos vollends empor.

„Welch ein schönes Mädchen!“ flüsterte Fürst Adelsberg seinem Freunde zu; aber dieser machte statt aller Antwort eine tiefe und sehr förmliche Verbeugung vor der Dame, die bei seinem Anblick eine gewisse Ueberraschung nicht verbergen konnte.

„Ah, Herr Rojanow, Sie hier?“

„Ich bewundere die Aussicht des Hochberges, die man wohl auch Ihnen gerühmt hat, Excellenz!“

Das Gesicht des jungen Fürsten verrieth ein grenzenloses Erstaunen, als das „schöne Mädchen“ Excellenz titulirt wurde und er aus der Anrede ersah, daß sie seinem Freunde nicht fremd sei. Er kam schleunigst herbei, um gleichfalls dieser Bekanntschaft theilhaftig zu werden, und Hartmut konnte nicht umhin, den Fürsten Adelsberg der Baronin Wallmoden vorzustellen; aber er berührte nur sehr flüchtig die Begegnung im Walde, denn die junge Frau fand es auch heute für gut, sich in ihre stolze Unnahbarkeit zu hüllen. Es wäre kaum nöthig gewesen, denn Rojanow beobachtete die äußerste Zurückhaltung, sie schienen beiderseits entschlossen, die Bekanntschaft als eine durchaus flüchtige und oberflächliche zu behandeln.

Egon hatte mit einem vorwurfsvollen Blicke seinen Freund gestreift, er begriff nicht, wie man eine solche Begegnung verschweigen konnte, dann aber stürzte er sich mit vollster Lebhaftigkeit in die Unterhaltung. Er stellte sich als Nachbar vor, erwähnte seines vorgestrigen Besuches in Fürstenstein und sprach sein Bedauern aus, Frau von Wallmoden damals verfehlt zu haben. Damit war ein Gespräch eingeleitet, bei dem der junge Fürst seine volle Liebenswürdigkeit entfaltete, während er zugleich in den Schranken gemessenster Artigkeit blieb. Er wußte freilich von Anfang an, daß er der Gemahlin des Gesandten gegenüberstand, der man nicht mit einem kecken Komplimente nahen durfte, wie Hartmut es gegen die Unbekannte gewagt hatte, und dieser heiteren, unbefangenen Liebenswürdigkeit gelang es sogar, den eisigen Hauch zu mildern, der die schöne Frau umgab. Egon hatte schließlich den Vorzug, ihr die Landschaft zeigen und erklären zu dürfen.

Hartmut betheiligte sich nicht so lebhaft an der Unterhaltung, wie es sonst seine Art war, und als er das Fernglas, um das ihn der Fürst gebeten hatte, wieder hervorzog, vermißte er auf einmal seine Brieftasche. Der Thurmwächter erbot sich sofort, sie zu suchen, aber Rojanow erklärte, er werde das selbst thun. Er erinnerte sich noch genau der Stelle, wo beim Heraufsteigen irgend etwas zu Boden geglitten war, das er nicht weiter beachtet hatte. Es war jedenfalls die Brieftasche gewesen, er würde sie mit leichter Mühe finden und dann die Herrschaften wieder aufsuchen. Damit grüßte er und verließ die Plattform.

[136] Egon hätte es unter anderen Umständen vielleicht sonderbar gefunden, daß sein Freund so entschieden das Anerbieten des alten Mannes ablehnte und sich selbst der Mühe des Suchens auf der dunklen Wendeltreppe unterzog, jetzt aber war er gänzlich von seinem Erkläreramte in Anspruch genommen und schien es nicht gerade ungern zu sehen, daß man ihm das Feld allein überließ. Frau von Wallmoden hatte das Fernglas angenommen, das er ihr bot, und folgte mit offenbarer Aufmerksamkeit seinen Erläuterungen, während er ihr die einzelnen Höhen und Ortschaften nannte.

„Und dort drüben, hinter jenen Waldbergen, liegt Rodeck,“ schloß er endlich, „das kleine Jagdschloß, wo wir wie zwei menschenfeindliche Einsiedler hausen, abgeschnitten von aller Welt, nur in Gesellschaft einiger Affen und Papageien, die wir aus dem Orient mitgebracht haben und die auch schon ganz melancholisch geworden sind.“

„Sie sehen aber gar nicht aus wie ein Menschenfeind, Durchlaucht,“ sagte die junge Frau mit einem flüchtigen Lächeln.

„Ich habe allerdings nicht viel Anlage dazu, aber Hartmut hat bisweilen förmliche Anfälle von dieser Krankheit, und ihm zu Gefallen vergrabe ich mich dann auch wochenlang mit in die Einsamkeit.“

„Hartmut? Das ist ja ein urgermanischer Name, und es ist auch überraschend, daß Herr Rojanow das Deutsche mit so vollkommener Reinheit, ohne jede fremdartige Beimischung spricht. Er stellte sich mir doch als Ausländer vor.“

„Gewiß, er stammt aus Rumänien, ist aber in Deutschland bei Verwandten erzogen, von denen er wohl auch den deutschen Vornamen geerbt hat,“ sagte der junge Fürst so unbefangen, daß man sah, er wußte selbst nichts anderes über die Herkunft seines Freundes. „Ich lernte ihn in Paris kennen, als ich gerade im Begriff stand, meine Orientreise anzutreten, und er entschloß sich, mich zu begleiten. Es war mein Glücksstern, der ihn mir zuführte!“

„Sie scheinen sehr eingenommen von Ihrem Freunde zu sein.“ Es lag etwas wie leise Mißbilligung in dem Tone.

„Ja, Excellenz, das bin ich auch,“ fiel Egon aufflammend ein, „und nicht ich allein! Hartmut ist eine von jenen genialen Naturen, die überall, wo sie nur erscheinen, die Menschen im Sturme erobern und gewinnen. Man muß ihn sehen und hören, wenn er sich ganz und voll giebt, ohne jeden Rückhalt, dann flammt es wie Feuer aus seiner Seele in die der anderen, dann taucht er alles um sich in Gluth und Begeisterung, reißt alles mit sich fort, und man muß ihm folgen, gleichviel wohin der Flug trägt.“

Die begeisterte Schilderung fand eine sehr kühle Zuhörerin, die junge Frau schien ihre Sinne ganz der Landschaft zuzuwenden, während sie erwiderte:

„Sie mögen recht haben, Herrn Rojanows Augen verrathen etwas davon, aber auf mich machen solche Feuerseelen einen mehr unheimlichen als sympathischen Eindruck.“

„Vielleicht weil sie den dämonischen Zug tragen, der fast immer dem Genie eigen ist. Auch Hartmut hat ihn, er erschreckt mich bisweilen damit, und doch ziehen mich gerade diese dunklen Tiefen seines Wesens unwiderstehlich an. Ich habe es wirklich verlernt, ohne ihn zu leben, und werde alles dran setzen, ihn hier in meiner Heimath zu fesseln.“

„In Deutschland? Das wird Ihnen schwerlich gelingen, Durchlaucht. Herr Rojanow hegt eine sehr geringe Meinung von unserem Vaterlande, er verrieth das vorgestern bei unserer Begegnung in ziemlich verletzender Weise.“

Der junge Fürst wurde aufmerksam. Die Worte erklärten ihm auf einmal jene kalte Zurückhaltung, deren sich Hartmut einer schönen Frau gegenüber sonst nie schuldig machte und die ihn gleich im ersten Augenblick befremdet hatte. Aber er lächelte.

„Ah, deshalb also schwieg er über das Zusammentreffen! Excellenz haben ihm vermuthlich Ihren Unwillen gezeigt; es geschieht ihm ganz recht, warum lügt er mit einer solchen Beharrlichkeit! Auch mich hat er oft genug gereizt mit dieser angeblichen Geringschätzung, die ich auf Treu und Glauben hinnahm; jetzt freilich weiß ich besser Bescheid.“

„Sie glauben nicht daran?“ Adelheid wandte sich plötzlich von der Aussicht ab und dem Sprechenden zu.

„Nein, und ich habe den Beweis dafür in Händen. Er schwärmt für unsere deutschen Landschaften! Sie sehen mich ungläubig an, Excellenz; darf ich Ihnen ein Geheimniß mittheilen?“

„Nun?“

„Ich suchte Hartmut heut morgen auf seinem Zimmer, fand ihn aber nicht; statt dessen fand ich auf seinem Schreibtische ein Gedicht, das er vermuthlich einzuschließen vergessen hatte, denn für meine Augen war es sicher nicht bestimmt. Ich habe es gestohlen ohne alle Gewissensbisse und trage den Raub noch bei mir; befehlen Sie, daß ich Ihnen den Inhalt –“

„Ich verstehe nicht Rumänisch,“ sagte Frau von Wallmoden mit kühlem Spott, „und Herr Rojanow hat sich schwerlich herabgelassen, in deutscher Sprache zu dichten.“

Egon zog statt aller Antwort ein Papier hervor und entfaltete es.

„Sie sind gegen meinen Freund eingenommen, ich sehe es und ich möchte nicht, daß Sie ihn in dem falschen Lichte betrachten, in das er sich selbst gestellt hat. Darf ich ihn mit seinen eigenen Worten rechtfertigen?“

„Bitte!“

Das Wort klang sehr gleichgültig und doch heftete sich der Blick Adelheids mit einer eigenthümlichen Spannung auf das Papier, das nur einige, augenscheinlich mit flüchtiger Hand hingeworfene Verse enthielt.

Egon begann zu lesen. Es waren in der That deutsche Verse, aber von einer Reinheit und einem Wohllaut, wie sie sonst nur einem Meister der Sprache zu Gebote stehen, und das Bild, das sie vor der Zuhörerin heraufbeschworen, trug so seltsam bekannte Züge. Tiefe, träumerische Waldeseinsamkeit, durchweht von dem ersten Hauch des nahenden Herbstes, endlose grüne Tiefen, die unwiderstehlich locken und winken mit ihren dämmernden Schatten, duftige Wiesen, überfluthet vom goldigen Sonnenlichte, stille kleine Gewässer, die in der Ferne aufblinken, und der schäumende Waldbach, der von der Höhe niederbraust. Und dies Bild hatte Leben und Sprache gewonnen, was darin klang und flüsterte, das war das uralte Lied des Waldes selbst, sein Wehen und Rauschen, sein geheimnißvolles Weben, in Worte gebannt, die wie eine Melodie das Ohr des Hörers bestrickten, und aus dem Ganzen wehte und klagte es wie eine tiefe, eine unendliche Sehnsucht nach diesem Waldesfrieden.

Der Fürst hatte anfangs warm, dann mit voller Begeisterung gelesen, jetzt ließ er das Blatt sinken und fragte triumphirend:

„Nun?“

Die junge Frau hatte regungslos zugehört, aber sie sah den Lesenden nicht an, sondern blickte unverwandt in die Ferne hinaus. Erst bei der Frage zuckte sie leicht zusammen und wandte sich dann hastig um.

„Wie meinten Sie, Durchlaucht?“

„Ist das die Sprache eines Verächters unserer Heimath? Ich glaube nicht!“ sagte Egon in voller Siegesgewißheit; aber so sehr ihn auch die Dichtung seines Freundes in Anspruch nahm, er sah es doch, wie schön Frau von Wallmoden gerade in diesem Augenblicke war. Freilich war es wohl nur die eben sinkende Sonne, die ihrem Antlitz diesen rosigen Schimmer, ihren Augen diesen Glanz lieh, denn ihre Haltung war ebenso kalt wie die Antwort:

„Es ist wirklich überraschend, daß ein Fremder die deutsche Sprache so vollständig beherrscht.“

Egon sah sie betroffen an. Das war alles? Er hatte doch einen anderen Eindruck erwartet.

„Und wie finden Sie das Gedicht selbst?“ fragte er.

„Recht stimmungsvoll, Herr Rojanow scheint in der That viel poetisches Talent zu besitzen. – Hier ist Ihr Fernglas, Durchlaucht! Ich danke; aber ich muß wohl jetzt an das Hinabsteigen denken und darf meinen Gatten nicht zu lange harren lassen.“

Egon faltete langsam das Papier zusammen und barg es in seiner Brusttasche. In seiner warmen, herzlichen Begeisterung empfand er doppelt den eisigen Hauch, der jetzt wieder von der jungen Frau ausging und der ihn bis ins Innerste hinein erkältete.

„Ich habe bereits die Ehre, Seine Excellenz zu kennen,“ sagte er. „Ich darf die Bekanntschaft doch heute erneuern?“

Ein leises Neigen des Hauptes gab ihm die Erlaubniß zu der Begleitung, sie verließen die Plattform, aber Fürst Adelsberg war etwas einsilbig geworden. Er fühlte sich in seinem Freunde gekränkt und bereute jetzt seine Aufwallung, diese Dichtung, deren poetische Schönheit ihn hinriß, einer Dame preisgegeben zu haben, die so gar kein Verständniß für Poesie besaß.

Hartmut war, als er sich verabschiedete, langsam die Wendeltreppe [138] hinabgestiegen. Die angeblich verlorene Brieftasche ruhte sicher an ihrem gewohnten Platze, sie hatte ihrem Besitzer nur den Vorwand liefern müssen, um sich auf kurze Zeit frei zu machen. Adelheid von Wallmoden hatte im Laufe des Gespräches erwähnt, daß sie in Begleitung ihres Gemahls gekommen, daß er aber unten im Wirthshause geblieben sei, weil er das beschwerliche Steigen auf den steilen dunklen Stufen scheue. Hartmut konnte also ein Zusammentreffen mit ihm nicht vermeiden, aber es sollte wenigstens ohne Zeugen stattfinden. Wenn Wallmoden den Sohn des Jugendfreundes, den er ja nur als Knaben gesehen hatte, trotzdem wiedererkannte, so blieb er vielleicht doch nicht Herr seiner Ueberraschung.

Hartmut fürchtete dies Zusammentreffen nicht, wenn es ihm auch peinlich und unbequem war. Es gab nur eins auf der ganzen Welt, was er fürchtete, ein Antlitz, zu dem er nicht gewagt hätte, das Auge zu erheben, und das weilte fern, das sah er voraussichtlich niemals wieder. Jedem anderen trat er mit dem stolzen Trotze eines Mannes gegenüber, der nur sein Recht gebraucht hatte, als er sich einem gehaßten Berufe entzog. Er war entschlossen, es zu keiner Frage und keinem Vorwurfe kommen zu lassen, sondern, wenn er erkannt würde, den Gesandten in der entschiedensten Weise zu ersuchen, gewisse alte Beziehungen, mit denen er völlig gebrochen habe, als nicht mehr bestehend anzusehen. Mit diesem Entschluß trat er in das Freie.

Auf der kleinen Veranda vor dem Wirthshause saß Herbert von Wallmoden mit seiner Schwester. Der Oberforstmeister wurde durch die bevorstehende Ankunft des Hofes, dessen Jagden er zu leiten hatte, sehr in Anspruch genommen, und auch das Brautpaar war zu Haus geblieben, aber der Tag hätte zu dem Ausfluge nicht besser gewählt werden können. Die Aussicht war vollkommen klar und die Luft warm wie im Sommer.

„Dieser Hochberg ist wirklich sehenswerth!“ sagte Frau von Eschenhagen, indem sie die Augen über die Landschaft schweifen ließ. „Aber wir haben hier fast denselben Blick wie droben auf dem Thurme. Wozu da erst klettern und sich erhitzen und den Athem verlieren auf den endlosen Stufen – ich danke dafür!“

„Adelheid war doch anderer Meinung,“ entgegnete Wallmoden, mit einem flüchtigen Blick nach dem Thurme. „Sie kennt freilich keine Ermüdung und Erhitzung.“

„Und auch keine Erkältung. Das zeigte sich vorgestern, als sie so durchnäßt zurückkam, sie hat nicht einmal einen Schnupfen davongetragen!“

„Ich habe sie aber doch gebeten, künftig auf ihren Spaziergängen Begleitung mitzunehmen,“ sagte der Gesandte ruhig. „Sich im Walde verirren, einen Bach durchwaten und sich schließlich von dem ersten besten Jäger führen und zurechtweisen lassen, das sind doch Dinge, die sich nicht wiederholen dürfen. Adelheid sah das auch vollkommen ein und versprach sofort, meinem Wunsche nachzukommen.“

„Ja, sie ist eine vernünftige Frau, eine durch und durch gesunde Natur, der alles Romantische und Abenteuerliche fern liegt,“ lobte Regine. „Aber es scheint noch mehr Besuch auf dem Thurme gewesen zu sein, ich glaubte, wir seien heut die einzigen Gäste.“

Wallmoden blickte gleichgültig dem hochgewachsenen, schlanken Herrn entgegen, der soeben aus der kleinen Pforte des Thurmes trat und nach dem Wirthshause schritt; auch Frau von Eschenhagen sah ihn nur flüchtig an, auf einmal aber schärfte sich ihr Blick und sie fuhr auf.

„Herbert – sieh nur!“

„Was?“

„Den Fremden da – welche seltsame Aehnlichkeit!“

„Mit wem?“ fragte Herbert, der jetzt auch aufmerksam wurde und den Fremden genauer in das Auge faßte.

„Mit – unmöglich, das ist keine bloße Aehnlichkeit. Das ist er selbst!“

Sie war aufgesprungen, bleich vor Erregung, und ihr Blick bohrte sich förmlich in das Gesicht des Nahenden, der eben den Fuß auf die erste Stufe der Veranda setzte. Jetzt begegnete sie seinen Augen, diesen dunklen Flammenaugen, die ihr so oft aus dem Antlitz des Knaben geleuchtet hatten. und jetzt schwand der letzte Zweifel.

„Hartmut! Hartmut Falkenried, Du –“

Sie verstummte plötzlich, denn Wallmoden legte schwer die Hand auf ihren Arm und sagte langsam, aber mit Schärfe: „Du bist im Irrthum, Regine, wir kennen den Herrn da nicht!“

Hartmut stutzte, als er Frau von Eschenhagen erblickte, die seinem Blicke bisher durch das Laubwerk der Veranda entzogen gewesen war; auf ihre Anwesenheit war er allerdings nicht vorbereitet. Aber in dem Augenblick, wo er sie erkannte, trafen auch jene Worte des Gesandten sein Ohr, und er verstand nur zu gut diesen Ton, der ihm das Blut in die Schläfe trieb.

„Herbert!“ Regine sah ungewiß den Bruder an, der ihren Arm noch immer fest hielt.

„Wir kennen ihn nicht!“ wiederholte er in dem gleichen Tone. „Muß ich Dir das erst sagen, Regine?“

Sie begriff jetzt auch die Mahnung, mit einem halb drohenden, halb schmerzlichen Blicke wandte sie dem Sohne des Jugendfreundes den Rücken und sagte mit tiefer Bitterkeit:

„Du hast recht – ich habe mich geirrt.“

Hartmut zuckte zusammen und wie im auflodernden Zorne trat er einen Schritt näher.

„Herr von Wallmoden!“

„Sie wünschen?“ fragte dieser, ebenso scharf und ebenso verächtlich wie vorhin.

„Sie kommen meinen Wünschen zuvor, Excellenz,“ sagte Hartmut, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend. „Ich wollte Sie soeben ersuchen, mich nicht zu kennen. Wir sind uns also fremd.“

Damit wandte er sich um und trotzig, hoch aufgerichtet davonschreitend, trat er durch einen anderen Eingang in das Haus.

Wallmoden sah ihm mit gerunzelter Stirn nach, dann wandte er sich zu seiner Schwester.

„Konntest Du Dich nicht besser beherrschen, Regine? Wozu die Scene bei einer derartigen Begegnung! Dieser Hartmut existirt nicht mehr für uns.“

Regines Gesicht verrieth nur zu sehr, wie das Zusammentreffen sie erschüttert hatte, ihre Lippen bebten noch, als sie erwiderte:

„Ich bin kein gewiegter Diplomat wie Du, Herbert. Ich habe es noch nicht gelernt, ruhig dazusitzen, wenn einer, den ich längst gestorben und verdorben glaubte, urplötzlich leibhaftig vor mir steht.“

„Gestorben? Das war wohl nicht anzunehmen bei seiner Jugend. Verdorben? Das mag allerdings zutreffen – sein bisheriges Leben war danach!“

„Das weißt Du?“ fuhr Frau von Eschenhagen betroffen auf. „Kennst Du dies Leben etwa?“

„Wenigstens theilweise. Falkenried steht mir denn doch zu nahe, als daß ich nicht hätte nachforschen sollen, was aus seinem Sohne geworden ist. Selbstverständlich schwieg ich darüber gegen ihn und auch gegen Dich, aber sobald ich damals auf meinen Posten zurückgekehrt war, benutzte ich unsere diplomatischen Verbindungen, die ja überall hinreichen, um Nachrichten einzuziehen.“

„Nun, und was erfuhrst Du?“

„Im Grunde nur das, was sich voraussehen ließ. Zalika hatte sich mit ihrem Sohne zunächst nach ihrer Heimath gewendet. Du weißt ja, daß ihr Stiefvater, unser Vetter Wallmoden, bereits todt war, als sie nach der Scheidung zu ihrer damals noch lebenden Mutter zurückkehrte. Seitdem wurden die Beziehungen unsererseits abgebrochen, jetzt aber erfuhr ich, daß sie kurz vor ihrem Wiederauftauchen in Deutschland in Besitz der Rojanowschen Güter gelangt war.“

„Zalika? Hatte sie nicht einen Bruder?“

„Allerdings, und er war auch etwa zehn Jahre lang Herr der Güter, aber er starb unvermählt und plötzlich durch einen Unfall auf der Jagd, und da die zweite Ehe der Mutter kinderlos geblieben war, so trat Zalika allein die Erbschaft an – wenigstens dem Namen nach, denn bei dieser verlotterten Bojarenwirthschaft gehörte natürlich das Meiste den Wucherern. Gleichviel, sie fühlte sich als Herrin und plante nun jenen Gewaltstreich, mit dem sie ihren Sohn an sich riß. Einige Jahre wurde dann noch das alte, wilde Leben auf den Gütern fortgesetzt und unsinnig weiter gewirthschaftet, dann brach die Herrlichkeit zusammen. Es kam zum Bankerott und Mutter und Sohn gingen wie ein paar Zigeuner in die weite Welt hinaus!“

Wallmoden berichtete das alles mit derselben kalten Verachtung, die er vorhin Hartmut gegenüber gezeigt hatte, und auch in den Zügen seiner Schwester malte sich der Abscheu, den die pflichttreue, [139] sittenstrenge Frau vor einem derartigen Treiben empfand. Trotzdem verrieth sich eine unwillkürliche Theilnahme in ihrer Stimme, als sie fragte:

„Und seitdem hast Du nichts wieder von ihnen gehört?“

„Doch, noch einige Male! Als ich bei der Gesandtschaft in Florenz war, leitete mich ihr Name, der zufällig genannt wurde, auf die Spur; sie waren damals in Rom, einige Jahre später tauchten sie in Paris wieder auf, und von dort erhielt ich auch die Nachricht von dem Tode der Frau Zalika Rojanow.“

„Also sie ist todt!“ sagte Regine leise. „Wovon mögen sie denn gelebt haben in all den Jahren?“

Wallmoden zuckte die Achseln.

„Wovon leben all die Abenteurer, die unstet durch die Welt ziehen! Vielleicht hatten sie noch etwas gerettet aus dem Schiffbruch, vielleicht auch nicht, jedenfalls verkehrten sie in den Salons von Rom und Paris. Eine Frau wie Zalika findet ja überall Hilfsquellen und Protektion. Als Bojarentochter führte sie den Adelstitel, und die rumänischen Güter, von deren Zwangsverkauf man schwerlich wußte, mögen wohl ihre Rolle gespielt haben bei diesem Auftreten. Die Gesellschaft öffnet sich nur zu bereitwillig solchen Elementen, sobald sie sich äußerlich zu behaupten wissen, und das scheint der Fall gewesen zu sein. Durch welche Mittel – das ist freilich eine andere Frage.“

„Aber Hartmut, den sie gewaltsam mit hineinriß in dies Leben! Was mag aus ihm geworden sein?“

„Ein Abenteurer – was sonst!“ sagte der Gesandte mit vollster Härte. „Die Anlage dazu hatte er von jeher, in dieser Schule wird sie sich wohl entwickelt haben. Seit dem Tode seiner Mutter, der vor drei Jahren erfolgte, hörte ich nichts weiter von ihm.“

„Und mir machtest Du ein Geheimniß aus dem allem?“ klagte Regine vorwurfsvoll.

„Ich wollte Dich schonen, Du hattest diesen Buben, den Hartmut, nur allzusehr ins Herz geschlossen, und überdies fürchtete ich, Du könntest Dich Falkenried gegenüber zu irgend einer Andeutung hinreißen lassen.“

„Das war eine unnöthige Sorge. Ich habe es nur ein einziges Mal gewagt, von der Vergangenheit zu sprechen, ich hoffte, die starre Eisrinde zu durchbrechen, mit der er sich auch mir gegenüber umgab. Er sah mich nur an – ich werde den Blick nicht vergessen – und sagte mit einem geradezu furchtbaren Ausdruck: ‚Mein Sohn ist todt, das wissen Sie ja, Regine, lassen Sie die Todten ruhen!‘ Ich nenne den Namen sicher nicht wieder vor ihm.“

„So brauche ich Dir nicht erst Schweigen zu empfehlen, wenn Du nach Haus zurückkehrst,“ entgegnete Wallmoden. „Du solltest aber auch Willibald nichts von diesem Zusammentreffen mittheilen, seine Gutmüthigkeit könnte ihm doch einen Streich spielen, wenn er weiß, daß der einstige Jugendfreund in seiner Nähe ist; es ist besser, er erfährt nichts davon. Ich werde bei einer immerhin möglichen zweiten Begegnung diesen ‚Herrn‘ einfach ignoriren und Adelheid kennt ihn ja überhaupt nicht, sie weiß nicht einmal, daß Falkenried einen Sohn gehabt hat.“

Er brach ab und erhob sich, denn soeben trat die junge Frau mit ihrem Begleiter aus dem Thurme. Man begrüßte sich, erneuerte die Bekanntschaft von vorgestern, und Fürst Adelsberg erkundigte sich ganz harmlos, ob sein Freund Rojanow, dessen Verschwinden er sich nicht erklären konnte, hier vorübergekommen sei.

Ein Blick Wallmodens warnte seine Schwester, die diesmal auch der Ueberraschung stand hielt; er selbst bedauerte höflich, den betreffenden Herrn nicht gesehen zu haben, und erklärte zugleich, er sei im Begriff, mit seinen Damen aufzubrechen, und habe nur auf die Rückkehr seiner Frau gewartet. Der Befehl zum Anspannen wurde auch sofort gegeben, Egon leistete den Herrschaften bis zur Abfahrt Gesellschaft und begleitete sie an den Wagen. Mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete er sich von dem Gesandten und seiner Gemahlin, aber er blickte noch minutenlang dem davonrollenden Wagen nach.

In dem Gastzimmer des Wirthshauses, wo sich sonst niemand befand, stand Hartmut am Fenster und sah gleichfalls der Abfahrt zu. Auf seinem Gesicht lag wieder dieselbe fahle Blässe wie damals, als er zuerst den Namen Wallmoden hörte, aber jetzt war es die Blässe eines wilden Zornes, der ihn fast erstickte.

Er war auf Fragen und Vorwürfe gefaßt gewesen, die er freilich hochmüthig abweisen wollte, und begegnete statt dessen einer Nichtachtung, die seinen Stolz tödlich verletzte. Die schroffe Mahnung Wallmodens an seine Schwester: „Wir kennen ihn nicht! Muß ich Dir das erst sagen?“ hatte sein ganzes Wesen in Aufruhr gebracht, er fühlte das vernichtende Urtheil, das darin lag. Und auch die Frau, die ihm stets eine mütterliche Liebe bewiesen hatte, auch Regine von Eschenhagen stimmte bei und wandte ihm den Rücken wie einem Menschen, den man sich schämt, einst gekannt zu haben – das war zu viel!

„Nun, da bist Du endlich!“ klang Egons Stimme von der Thür her: „Du warst ja wie vom Erdboden verschwunden! Hat sich die unglückliche Brieftasche denn nun endlich gefunden?“

Rojanow wandte sich um, er mußte sich erst auf den Vorwand besinnen, den er gebraucht hatte.

„Jawohl,“ antwortete er zerstreut, „sie lag auf der Wendeltreppe.“

„Nun, dann würde sie wohl auch der Thurmwächter gefunden haben. Warum bist Du denn nicht zurückgekommen? Recht artig, Frau von Wallmoden und mich so ohne weiteres im Stich zu lassen! Du hast Dich bei der Dame nicht einmal empfohlen, die allerhöchste Ungnade ist Dir gewiß.“

„Ich werde dies Unglück zu tragen wissen,“ sagte Hartmut achselzuckend; der junge Fürst kam näher und legte neckend die Hand auf seine Schulter.

„So? Vermuthlich, weil Du vorgestern schon in Ungnade gefallen bist. Es ist doch sonst Deine Art nicht, davonzulaufen, wenn es die Unterhaltung mit einer schönen Frau gilt. O, ich weiß bereits Bescheid, Ihre Excellenz haben geruht, Dir den Text zu lesen bei Deinen beliebten Ausfällen auf Deutschland, und der verwöhnte Herr hat das übelgenommen. Nun, von solchen Lippen kann man sich immerhin die Wahrheit sagen lassen.“

„Du scheinst ja ganz hingerissen zu sein,“ spottete Hartmut. „Nimm Dich in acht, daß der Herr Gemahl nicht eifersüchtig wird, trotz seiner Jahre!“

„Ja, es ist ein seltsames Paar,“ sagte Egon halblaut wie in Gedanken verloren. „Dieser alte Diplomat, mit seinen grauen Haaren und seinem kalten, unbewegten Gesicht, und diese junge Frau, mit ihrer strahlenden Schönheit wie –“

„Ein Nordlicht, das aus einem Eismeer aufsteigt! Es ist nur noch die Frage, wer von den beiden tiefer unter dem Gefrierpunkte steht!“

Der junge Fürst lachte laut auf bei dem Vergleich.

„Sehr poetisch und sehr boshaft! Uebrigens hast Du nicht ganz unrecht, ich habe auch etwas von diesem Polarhauch gespürt, der mich einige Male sehr erkältend anwehte, und das ist ein Glück, denn sonst würde ich mich rettungslos in die schöne Excellenz verlieben. – Aber ich denke, wir brechen jetzt auch auf, meinst Du nicht?“

Er ging nach der Thür, um den Diener herbeizurufen. Hartmut, im Begriff, ihm zu folgen, warf noch einen Blick hinaus, wo an einer freien Stelle des Weges der Wagen des Gesandten wieder sichtbar wurde, und seine Hand ballte sich unwillkürlich.

„Wir sprechen uns noch, Herr von Wallmoden!“ murmelte er. „Jetzt werde ich bleiben! Er soll nicht glauben, daß ich seine Nähe fliehe, jetzt werde ich mich von Egon einführen lassen und alles dran setzen, daß mein Werk einen Erfolg erringt. Wir wollen doch sehen, ob er es dann noch wagt, mich wie den ersten besten Abenteurer zu behandeln. Er soll mir diesen Blick und diesen Ton bezahlen!“




In Fürstenstein rüstete man sich zu dem Empfange des Hofes. Es handelte sich diesmal nicht um einen kurzen Jagdausflug, sondern um einen Herbstaufenthalt, der mehrere Wochen dauern sollte und zu dem auch die Herzogin erwartet wurde. Die oberen Stockwerke des Schlosses mit ihren zahlreichen Räumen wurden gelüftet und in stand gesetzt, ein Theil der Hofbeamten und der Dienerschaft war bereits eingetroffen und in Waldhofen traf man festliche Anstalten für die Ankunft des Landesherrn, der auf seiner Fahrt durch das Städtchen kommen mußte.

Auch der Aufenthalt Wallmodens, der unter anderen Umständen nur ein sehr kurzer gewesen wäre, verlängerte sich dadurch. Der Herzog, der den Gesandten in jeder Weise auszeichnete, hatte erfahren, daß dieser zu einem Familienfeste nach Fürstenstein reiste, und den bestimmten Wunsch ausgesprochen, ihn und seine Gemahlin [140] noch dort zu finden. Das war so viel als eine Einladung, der man nachkommen mußte; Frau von Eschenhagen mit ihrem Sohne wollte gleichfalls noch bleiben, um sich die „Hofgeschichte einmal in der Nähe anzusehen“, und der Oberforstmeister, der mit den voraussichtlich stattfindenden großen Jagden Ehre einlegen wollte, hatte täglich Berathungen mit seinen Ober- und Unterförstern und brachte das ganze Forstpersonal auf die Beine. Es herrschte jetzt schon ein ungewöhnlich reges Leben in dem Schlosse.

Aus dem Zimmer des Fraulein von Schönau klang lustiges Geplauder und helles, übermüthiges Lachen. Marietta Volkmar war auf ein Plauderstündchen zu der Jugendfreundin gekommen und fand wie gewöhnlich des Lachens und Erzählens kein Ende. Toni saß am Fenster und neben ihr stand Willibald, der auf Befehl seiner Mutter hier die Rolle einer Schildwache spielen mußte.

Frau von Eschenhagen hatte vorläufig ihren Willen noch nicht durchgesetzt, ihr Schwager war hartnäckig geblieben und auch bei der künftigen Schwiegertochter, die sich sonst so fügsam zeigte, stieß sie auf unerwarteten Widerstand, als sie den Abbruch jenes Verkehrs forderte. „Ich kann nicht, liebe Tante,“ hatte Toni geantwortet. „Marietta ist so lieb und brav, ich kann sie wirklich nicht so bitter kränken.“

Lieb und brav! Frau Regine zuckte die Achseln über diese Unerfahrenheit des jungen Mädchens, dem sie nicht die Augen öffnen mochte; aber sie fühlte sich verpflichtet, einzugreifen, und beschloß nunmehr, in diplomatischer Weise vorzugehen.

Willibald, gewohnt, seiner Mutter alles zu beichten, hatte ihr auch seine Begegnung mit der jungen Sängerin haarklein berichtet, und Frau von Eschenhagen war natürlich außer sich darüber gewesen, daß der Majoratsherr von Burgsdorf einer „Theaterprinzessin“ den Koffer nachgetragen hatte. Dagegen nahm sie die Schilderung seines Entsetzens, als er erfuhr, weß Geistes Kind diese Dame eigentlich sei, und seines Davonlaufens mit höchstem Wohlgefallen entgegen und fand es auch nur lobenswerth, daß er sich anfangs förmlich angstvoll gegen die ihm angesonnene Aufpasserrolle sträubte. Er scheute natürlich jede Berührung mit einer solchen Person. Da seine Mutter es aber unter ihrer Würde hielt, diesen Zusammenkünften beizuwohnen, so sollte er seine Braut beschützen.

Er erhielt gemessenen Befehl, die jungen Mädchen nie allein zu lassen und ausführlich zu berichten, wie diese Marietta sich denn eigentlich benehme. Bei dem ersten derartigen Berichte, der sicher haarsträubend ausfiel, wollte Frau Regine ihrem Schwager zu Gemüth führen, welchem leichtsinnigen Umgange er sein Kind preisgegeben hatte, wollte ihren Sohn als Zeugen aufrufen und dann gebieterisch den Abbruch dieser Beziehungen verlangen. Willibald hatte sich denn auch gefügt, er war dabei gewesen, als Fräulein Volkmar das erste Mal nach Fürstenstein kam, hatte seine Braut bei dem Gegenbesuche in Waldhofen begleitet und stand auch heute wieder auf Posten.

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 6, S. 166–173

[166] Antonie und Marietta unterhielten sich von der bevorstehenden Ankunft des Hofes, und erstere, die in Toilettensachen sehr wenig Geschmack besaß, hatte den Rath der Freundin erbeten, der ihr auch bereitwillig ertheilt wurde.

„Was Du zu dem Kleide nehmen sollst?“ fragte Marietta. „Natürlich Rosen, weiße oder mattfarbige Rosen, sie werden sich sehr gut ausnehmen zu dem zarten Blau.“

„Ich mag aber die Rosen nicht,“ erklärte Toni. „Ich wollte Astern nehmen.“

„Warum nicht lieber gar Sonnenblumen! Willst Du als junges Mädchen und als Braut durchaus herbstlich erscheinen? Und wie kann man überhaupt die Rosen nicht mögen? Ich liebe sie leidenschaftlich und verwende sie bei jeder Gelegenheit. Ich hätte heute abend in der Gesellschaft beim Bürgermeister so gern eine frische Rose im Haar getragen und bin ganz unglücklich darüber, daß in Waldhofen keine mehr aufzutreiben ist. Es ist freilich schon spät im Jahre.“

„Der Schloßgärtner hat im Treibhause einen blühenden Rosenbaum,“ bemerkte Antonie in ihrer schläfrigen Art, die einen so scharfen Gegensatz zu der Lebendigkeit ihrer Jugendfreundin bildete. Diese schüttelte lachend den Kopf.

„Nun, der ist vermuthlich für die Frau Herzogin bestimmt, und da darf sich unsereins nicht unterfangen, um eine Blüthe zu betteln. Was hilft’s, ich muß darauf verzichten! Um nun wieder auf die Toilettenfrage zu kommen – dabei sind Sie aber eigentlich ganz überflüssig, Herr von Eschenhagen; Sie verstehen ja gar nichts davon und müssen sich sträflich dabei langweilen. Trotzdem wanken und weichen Sie nicht – und was habe ich denn überhaupt so Merkwürdiges an mir, daß Sie mich fortwährend ansehen?“

Die Worte klangen sehr ungnädig; Willy erschrak, denn der letzte Vorwurf war nur zu begründet. Er hatte darüber nachgedacht, wie sich eine frische, halberschlossene Rose in dem krausen dunklen Gelock ausnehmen würde, und dabei allerdings dies Gelock und den dazu gehörigen Kopf einer eingehenden Betrachtung unterzogen, was seiner Braut völlig entging.

„Ja, Willy, geh’!“ sagte diese gutmüthig. „Du langweilst Dich wirklich bei unseren Putzgeschichten, und ich habe noch viel mit Marietta zu besprechen.“

„Wie Du meinst, liebe Toni,“ versetzte der junge Majoratsherr, „aber ich darf doch wiederkommen?“

„Natürlich, sobald Du willst!“

Willibald ging. Es fiel ihm gar nicht ein, daß er dabei seinen Posten vernachlässigte, er dachte an etwas ganz anderes, als er noch einige Minuten in dem kleinen Vorzimmer stand. Infolge dieses Nachdenkens stieg er endlich die Treppe hinunter und lenkte seine Schritte geradenwegs nach der Wohnung des Schloßgärtners.

Kaum war er fort, so sprang Marietta auf und rief mit komischer Verzweiflung:

„Gott im Himmel, was seid Ihr für ein langweiliges Brautpaar!“

„Aber Marietta!“ sagte Toni verletzt.

„Ja, ob Du das übelnimmst oder nicht, ich erkläre es für ein Freundschaftsopfer, wenn ich in Eurer Nähe aushalte, und ich hatte mich auf eine so lustige Zeit gefreut, als ich hörte, daß Du verlobt seist! Du warst zwar nie besonders lebhaft, aber Deinem Herrn Bräutigam scheint die Sprache ganz und gar abhanden gekommen zu sein. Wie habt Ihr Euch denn eigentlich verlobt? Hat er wirklich dabei gesprochen, oder hat das seine Frau Mama besorgt?“

„Laß doch die Possen!“ versetzte Antonie unwillig. „Willy ist nur in Deiner Gegenwart so schweigsam, wenn wir allein sind, kann er recht mittheilsam sein.“

„Ja, über die neue Dreschmaschine, die er sich angeschafft hat. Ich horchte nämlich vorhin bei meinem Kommen, ehe ich eintrat, da sang er das Lob der besagten Dreschmaschine und Du hörtest ganz andächtig zu. O, Ihr werdet als ein Musterehepaar auf der Burgsdorfschen Musterwirthschaft herrschen, aber der Himmel bewahre mich gnädiglich vor solchem Eheglück!“

„Marietta, Du bist recht unartig,“ sagte die junge Baroneß, die jetzt wirklich ärgerlich wurde, aber in derselben Minute hing der kleine Uebermuth auch schon schmeichelnd an ihrem Halse.

„Nicht böse sein, Toni! Ich meine es ja nicht schlimm und gönne Dir Dein Glück von Herzen; aber siehst Du – mein Mann müßte doch etwas anders beschaffen sein.“

„So, und wie denn?“ fragte Toni halb schmollend und halb versöhnt durch die schmeichelnde Bitte.

„Erstens muß er nur unter meinem Pantoffel stehen, nicht unter dem seiner Mutter, zweitens muß er ein echter, rechter Mann sein, in dessen Schutz ich mich sicher fühle – das verträgt sich ganz gut mit einem sanften Pantoffelregiment. Zu reden braucht er nicht viel, das besorge ich, aber er muß mich so lieb haben – so lieb, daß er weder nach Papa und Mama, noch nach seinen Gütern, noch nach der neuen Dreschmaschine fragt, sondern sie allesammt zum Kuckuck gehen läßt, wenn er mich nur hat!“

Toni zuckte mit mitleidiger Ueberlegenheit die Achseln.

„Du hast bisweilen noch recht kindische Ansichten, Marietta; aber nun wollen wir endlich von den Kleidern reden!“

„Ja, das wollen wir, sonst kommt Dein Bräutigam zurück und pflanzt sich wieder neben uns auf wie eine Schildwache. Er hat ein merkwürdiges Talent zum Schildwachestehen. Also Du nimmst zu der blauen Seide –“

Die Toilettenfrage sollte auch diesmal nicht zur Erledigung kommen, denn soeben öffnete sich die Thür, Frau von Eschenhagen trat ein und rief ihre künftige Schwiegertochter ab, deren Gegenwart bei einer häuslichen Anordnung nothwendig war. Antonie erhob sich bereitwillig und verließ das Zimmer, Frau Regine machte aber keine Miene, ihr zu folgen, sondern ließ sich auf den leeren Platz am Fenster nieder.

Die regierende Herrin von Burgsdorf war nun einmal nicht diplomatisch angelegt wie ihr Bruder, sie mußte überall mit Gewaltmitteln eingreifen. Sie war ungeduldig geworden, denn Willy hatte so gut wie gar nichts berichtet, er wurde jedesmal roth und stotterte, wenn er wiederholen sollte, was die „Theaterprinzessin“ denn eigentlich gesagt oder gethan hatte, und seine Mutter, die nicht an ein harmloses Mädchengeplauder glauben wollte, beschloß daher, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Marietta hatte sich pflichtschuldigst erhoben bei dem Eintritt der älteren Dame, die sie bei ihrem ersten Besuche nur flüchtig gesehen und deren feindselige Haltung sie in der Freude des Wiedersehens gar nicht bemerkt hatte. Sie fand nur, daß Tonis künftige Schwiegermutter wenig Freundliches habe, und kümmerte sich nicht weiter um die gestrenge Frau, die sie jetzt mit einer wahren Richtermiene von oben bis unten musterte.

Im Grunde sah diese Marietta aus wie alle anderen jungen Mädchen, aber sie war hübsch, sehr hübsch – um so schlimmer! Sie trug das Haar in kurzen krausen Locken, das war unpassend! Die übrigen schlimmen Eigenschaften kamen sicher zum Vorschein in der Unterhaltung, die jetzt eingeleitet wurde.

„Sie sind mit der Braut meines Sohnes befreundet, mein Kind?“

„Jawohl, gnädige Frau,“ war die unbefangene Antwort.

„Eine Jugendbekanntschaft, die noch aus der Kinderzeit stammt, wie ich höre. Sie wurden im Hause des Doktors Volkmar erzogen?“

„Gewiß, ich habe meine Eltern sehr früh verloren.“

„Ganz recht, mein Schwager erzählte es mir. Und welchem Berufe gehörte Ihr Vater an?“

„Er war Arzt wie mein Großvater,“ versetzte Marietta, mehr belustigt als befremdet über dies Examen, dessen Zweck sie nicht errieth. „Auch meine Mutter war die Tochter eines Arztes, eine ganze medizinische Familie, nicht wahr? Nur ich bin aus der Art geschlagen.“

„Ja – leider!“ sagte Frau von Eschenhagen mit Nachdruck. Das junge Mädchen sah sie verwundert an. Sollte das Scherz sein? Die Miene der Dame war aber durchaus nicht scherzhaft, als sie fortfuhr: „Sie werden mir zugeben, mein Kind, daß, wenn man das Glück hat, aus einer achtbaren und ehrenwerthen Familie zu stammen, man sich dessen würdig zeigen muß. Sie hätten Ihren Beruf danach wählen sollen.“

[167] „Mein Gott, ich kann doch nicht auch Medizin studieren, wie mein Vater und Großvater!“ rief Marietta hell auflachend. Die Sache machte ihr unendlichen Spaß, die Bemerkung mißfiel jedoch ihrer strengen Richterin, die mit voller Schärfe erwiderte:

„Es giebt Gott sei Dank noch genug anständige und ehrenvolle Berufswege für ein junges Mädchen. Sie sind Sängerin?“

„Ja, gnädige Frau, am Hoftheater.“

„Ich weiß es! – Sind Sie geneigt, Ihre Entlassung zu nehmen?“

Die Frage wurde so plötzlich und in einem so herrischen Tone gestellt, daß Marietta unwillkürlich zurückwich. Sie war noch immer der Meinung, daß der Majoratsherr von Burgsdorf mit seiner hartnäckigen Schweigsamkeit und seinem stürmischen Davonlaufen nicht ganz zurechnungsfähig sei, und jetzt kam ihr der Gedanke, das könne ein Familienübel sein, das er von seiner Mutter ererbt habe; denn mit dieser war es offenbar auch nicht ganz richtig.

„Meine Entlassung?“ wiederholte sie. „Aber weshalb denn?“

„Aus Gründen der Moral! Ich bin bereit, Ihnen dazu die helfende Hand zu bieten. Wenden Sie sich ab von diesem Pfade des Leichtsinns, und ich mache mich anheischig, Ihnen eine Stelle als Gesellschafterin zu verschaffen.“

Die junge Sängerin begriff jetzt endlich, um was es sich handelte; halb gereizt und halb spöttisch warf sie das Köpfchen mit den krausen Locken zurück.

„Ich muß sehr danken. Ich liebe meinen Beruf und denke nicht daran, ihn gegen eine abhängige Stellung zu vertauschen; ich passe überhaupt nicht zu einer höheren Kammerjungfer.“

„Die Antwort habe ich erwartet,“ sagte Frau von Eschenhagen mit einem düsteren Kopfnicken; „aber ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen noch einmal ins Gewissen zu reden. Sie sind noch sehr jung und daher nicht im vollen Maße verantwortlich; der schwerste Vorwurf fällt auf den Dokor Volkmar, der das Kind seines Sohnes einem solchen Leben überantwortete.“

„Gnädige Frau, ich muß bitten, meinen Großvater aus dem Spiel zu lassen,“ fuhr Marietta heftig auf. „Sie sind Tonis künftige Schwiegermutter, sonst hätte ich Ihrem Examen überhaupt nicht standgehalten. Eine Beleidigung meines Großvaters aber dulde ich nicht, von keinem Menschen auf der Welt!“

Die beiden bemerkten es in ihrer Erregung nicht, daß die nach dem Vorzimmer führende Thür leise geöffnet wurde und Willibald erschien. Er erschrak sichtlich, als er seine Mutter erblickte, und versenkte etwas, das er sorgfältig in Papier eingehüllt in der Hand trag, schleunigst in seine Rocktasche, aber er blieb auf der Schwelle stehen.

„Ich beabsichtige nicht, mit Ihnen zu streiten, mein Kind,“ sagte Frau Regine in sehr hohem Tone; „aber ich bin allerdings Tonis künftige Schwiegermutter und habe als solche das Recht, sie vor einem Umgang zu bewahren, der mir nicht passend erscheint. Bitte, mißverstehen Sie mich nicht! Ich bin nicht hochmüthig, und die Enkelin des Doktors Volkmar wäre in meinen Augen durchaus berechtigt zur Fortsetzung dieser Jugendfreundschaft; aber eine Dame vom Theater hat ihren Verkehr wohl ausschließlich in Theaterkreisen zu suchen, und hier in Fürstenstein – ich hoffe, Sie verstehen mich.“

„O ja, ich verstehe Sie, gnädige Frau!“ rief Marietta, deren Antlitz sich plötzlich in flammende Gluth tauchte. „Sie brauchen nichts weiter zu sagen, ich bitte nur noch um ein Wort. Ist Herr von Schönau, ist Antonie einverstanden mit dem, was Sie mir da mittheilen?“

„In der Sache selbst allerdings, aber man wollte Sie begreiflicherweise nicht durch eine Abweisung –“ ein sehr bezeichnendes Achselzucken vervollständigte den Satz. Die sonst so gerechte und wahrheitsliebende Frau fühlte es nicht einmal, daß sie sich einfach einer Unwahrheit schuldig machte; sie hatte sich so verrannt in ihre Auffassung, daß sie fest überzeugt war, der Oberforstmeister halte nur aus Widerspruchsgeist und Antonie nur aus Gutmüthigkeit an einem Verkehr fest, der ihnen selbst peinlich sei, und war fest entschlossen, der Sache ein Ende zu machen. Da geschah etwas ganz Unerwartetes; Willibald, der noch immer auf der Schwelle stand, trat in das Zimmer und sagte, halb bittend und halb vorwurfsvoll:

„Aber Mama!“

„Du bist es, Willy? Was thust Du hier?“ fragte Frau von Eschenhagen, die ihn erst jetzt bemerkte und der die Unterbrechung sehr unwillkommen war.

Willibald sah und hörte es recht gut, daß die Frau Mutter höchst ungnädig war, und pflegte sonst stets den Rückzug zu nehmen, wenn er sie in dieser Stimmung wußte. Heute aber hielt er mit ungewohnter Tapferkeit stand. Er trat noch näher und wiederholte:

„Aber Mama, ich bitte Dich, Toni hat ja nie daran gedacht, Fräulein Volkmar –“

„Was unterstehst Du Dich? Willst Du mich vielleicht Lügen strafen?“ fuhr ihn die gereizte Mutter an. „Was geht es Dich an, was ich mit Fräulein Volkmar verhandle. Deine Braut ist nicht hier, das stehst Du doch, also mach’, daß Du fortkommst!“

Der junge Majoratsherr wurde dunkelroth bei diesem Tone, an den er allerdings gewöhnt war; aber er schien sich vor dem jungen Mädchen doch einigermaßen dieser Behandlung zu schämen und sah aus, als wolle er einen Widerspruch versuchen. Sein Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an, auf ein drohendes „Nun, hast Du nicht gehört?“ aus dem Munde seiner Mutter aber siegte die alte Gewohnheit. Er wandte sich zögernd zum Gehen und ging auch wirklich, aber die Thür blieb zur Hälfte offen.

Marietta blickte ihm mit verächtlich gekräuselten Lippen nach und wandte sich dann zu ihrer Gegnerin.

„Sie können unbesorgt sein, gnädige Frau, ich bin das letzte Mal in Fürstenstein gewesen. Als der Herr Oberforstmeister mich mit der alten Güte und Antonie mit der alten Herzlichkeit empfingen, da konnte ich nicht ahnen, daß mir jetzt in ihren Augen ein Makel aufgedrückt ist, sonst wäre ich ihnen sicher nicht lästig gefallen mit meinen Besuchen. Es wird in Zukunft nicht geschehen – nie mehr!“

Die Stimme versagte ihr, sie drängte gewaltsam die Thränen zurück, aber um den kleinen Mund zuckte es so bitter und schmerzlich, daß Frau von Eschenhagen doch fühlte, sie sei in der Rücksichtslosigkeit zu weit gegangen.

„Ich wollte Sie nicht kränken, mein Kind,“ sagte sie einlenkend. „Ich beabsichtigte nur, Ihnen klar zu machen –“

„Nicht kränken wollen Sie mich und sagen mir solche Dinge?“ unterbrach das junge Mädchen sie in aufflammendem Zorn. „Sie behandeln mich ja wie eine Ausgestoßene, die es nicht mehr wagen darf, anständigen Kreisen zu nahen, weil ich mit einem Talent, das mir Gott gegeben hat, mein Brot erwerbe und den Menschen Freude mache. Sie schmähen meinen alten lieben Großvater, der so mühselig die Opfer für meine Ausbildung gebracht hat, der mich mit so schwerem Herzen in die Welt hinausziehen ließ. Die bitteren Thränen haben ihm in den Augen gestanden, als er mich beim Abschied noch einmal in seine Arme zog und sagte: ‚Bleib’ brav, meine Marietta, man kann es in jedem Stande sein. Ich kann Dir nichts zurücklassen, wenn ich heut oder morgen die Augen schließe, Du mußt für Dich selbst sorgen!‘ Nun, ich bin brav geblieben und werde es bleiben, wenn es mir auch nicht so leicht gemacht wird wie der Toni, die das Kind eines reichen Vaters ist und ihr Elternhaus nur verläßt, um in das Haus ihres Mannes zu gehen. Aber ich beneide sie nicht um das Glück, Sie Mutter zu nennen!“

„Fräulein Volkmar, Sie vergessen sich!“ rief Regine beleidigt, indem sie sich zu ihrer ganzen stattlichen Höhe aufrichtete. Aber Marietta ließ sich nicht einschüchtern, sie wurde nur noch heftiger.

„O nein, ich bin es nicht, die sich vergißt, Sie waren es, die mich ohne allen Grund beleidigte, und ich weiß auch, daß der Oberforstmeister und Antonie unter Ihrem Einfluß stehen, wenn sie sich von mir abwenden. Gleichviel, ich will keine Güte und keine Freundschaft, die so wenig fest steht, und mit einer Freundin, die mich aufgiebt nur auf Befehl ihrer Schwiegermutter, bin ich ein für allemal fertig – sagen Sie ihr das, Frau von Eschenhagen!“

Sie wandte sich mit einer stürmischen Bewegung ab und verließ das Gemach. Draußen im Vorzimmer aber wollte die mühsam behauptete Fassung nicht mehr standhalten, der Schmerz überwog den Zorn und die bisher so tapfer bekämpften Thränen brachen heiß hervor. Mit einem leidenschaftlichen Schluchzen lehnte das junge Mädchen den Kopf an die Wand und weinte bitter und schmerzlich über die erlittene Kränkung.

Da hörte sie leise und schüchtern ihren Namen nennen und aufblickend gewahrte sie Willibald von Eschenhagen, der vor ihr stand und ihr das Papier entgegenhielt, das er vorhin so eilig verborgen hatte. Es war jetzt auseinandergeschlagen und darin [168] lag ein Rosenzweig, der eine wundervolle, duftende Blüthe und zwei halb erschlossene Knospen trug.

„Fräulein Volkmar,“ wiederholte er stockend, „Sie wünschten vorhin eine Rose – bitte, nehmen Sie –“

In seinen Augen und seiner ganzen Haltung lag deutlich genug eine stumme Abbitte wegen der Rücksichtslosigkeit seiner Mutter. Marietta hatte ihr Schluchzen unterdrückt, in ihren dunklen Augen funkelten noch die Thränen, aber es lag zugleich ein unsäglich verächtlicher Ausdruck darin.

„Ich danke, Herr von Eschenhagen,“ versetzte sie herb. „Sie haben ja wohl gehört, was da drinnen gesprochen wurde, und jedenfalls den Befehl erhalten, mich auch zu meiden. Warum gehorchen Sie denn nicht?“

„Meine Mutter hat Ihnen unrecht gethan,“ sagte Willibald halblaut, „und sie sprach auch nicht im Namen der anderen. Toni weiß nichts davon, glauben Sie es mir –“

„So, das wissen Sie und haben nicht ein Wort des Widerspruches gefunden?“ unterbrach ihn das junge Mädchen glühend vor Zorn. „Sie haben es mit angehört, wie Ihre Mutter ein schutzloses Mädchen kränkte und beleidigte, und hatten nicht einmal so viel Ritterlichkeit, dazwischen zu treten? Freilich, Sie versuchten es ja, aber Sie wurden ausgescholten und fortgeschickt wie ein Schulknabe und ließen sich das geduldig gefallen!“

Willibald stand da wie vom Donner gerührt, Er hatte allerdings tief die Ungerechtigkeit seiner Mutter empfunden und sie nach Kräften wieder gutmachen wollen, und nun wurde er so behandelt! Ganz betäubt starrte er auf Marietta, die durch sein Schweigen nur noch zorniger wurde.

„Und nun kommen Sie und bringen mir Blumen,“ fuhr sie mit steigender Leidenschaftlichkeit fort, „heimlich hinter dem Rücken Ihrer Mutter, und meinen, ich würde eine solche Entschuldigung annehmen? Erst lernen Sie, wie ein Mann sich zu benehmen hat, wenn er Zeuge solcher Ungerechtigkeiten ist, und dann bringen Sie Ihre Aufmerksamkeiten an. Jetzt – jetzt will ich Ihnen zeigen, was ich von Ihrem Geschenk und von Ihnen halte.“

Sie riß ihm das Papier sammt seinem Inhalt aus der Hand, warf es zu Boden und in der nächsten Sekunde zertrat der kleine Fuß kräftig die duftenden Rosen.

„Mein Fräulein –!“ Willibald, schwankend zwischen Scham und Entrüstung, wollte auffahren, aber ein sprühender Blick aus den sonst so schelmischen dunklen Augen machte ihn verstummen, und zum Ueberfluß wurden die armen Rosen noch verächtlich mit dem Fuße fortgestoßen.

„So, nun sind wir zu Ende! Wenn Toni wirklich nichts von der Sache weiß, so thut es mir leid, deshalb muß ich ihr in Zukunft doch fern bleiben, denn ich werde mich nicht neuen Kränkungen aussetzen. Möge sie glücklich sein, ich wäre es nicht an ihrer Stelle. Ich bin ein armes Mädchen, aber einen Mann, der sich noch vor der Ruthe seiner Mutter fürchtet, nähme ich nicht, und wenn er zehnmal Majoratsherr von Burgsdorf wäre.“

Damit ließ sie den armen Majoratsherrn stehen und war in der nächsten Minute verschwunden.

„Willy, was soll das heißen?“ tönte plötzlich die Stimme der Frau von Eschenhagen, die in der halboffenen Thür stand. Als keine Antwort erfolgte, trat sie heraus und schritt mit unheilverkündender Miene auf ihren Sohn zu.

„Das war ja eine ganz merkwürdige Scene, die ich da mit ansehen mußte. Willst Du nicht so gut sein und mir erklären, was sie eigentlich bedeutet? Dieses kleine Ding sprühte ja wie ein Kobold vor Zorn und sagte Dir die empörendsten Dinge in das Gesicht, und Du standest dabei wie ein Schaf, ohne Dich zu wehren.“

„Weil sie recht hatte,“ murmelte Willy, der noch immer auf die zertretenen Rosen blickte.

„Was hatte sie?“ fragte die Mutter, die nicht recht gehört zu haben glaubte; der junge Majoratsherr hob den Kopf und sah sie an; er hatte einen ganz eigenthümlichen Ausdruck im Gesichte.

„Recht, sage ich, Mama! Es ist wahr, Du hast mich wie einen Schulknaben behandel, dagegen hätte ich mich wehren müssen.“

„Junge, ich glaube, Du bist nicht recht bei Troste,“ sagte Frau Regine, aber Willibald fuhr gereizt auf:

„Ich bin kein Junge! Ich bin der Majoratsherr von Burgsdorf und siebenundzwanzig Jahre alt. Das vergißt Du immer, Mama, und ich habe es leider auch vergessen, aber endlich fällt es mir doch einmal ein.

Frau von Eschenhagen blickte mit maßlosem Erstaunen auf ihren sonst so folgsamen Sohn, der auf einmal Anstalten zur Widersetzlichkeit machte.

„Ich glaube wahrhaftig, Du willst aufsässig werden, Junge! Laß Dir das nicht einfallen, Du weißt, dergleichen leide ich nicht. Was ist Dir denn überhaupt in den Kopf gefahren, daß Du Dir solche Eigenmächtigkeiten erlaubst? Während ich mich bemühe, einem im höchsten Grade unpassenden Umgange ein Ende zu machen und diese Marietta zu beseitigen, leistest Du ihr hinter meinem Rücken eine förmliche Abbitte deswegen, bietest ihr sogar die Rosen an, die Du für Deine Braut bestimmt hast. Ich weiß zwar nicht, wie Du dazu kommst, es ist das erste Mal in Deinem Leben, aber Toni wird sich dafür bedanken, wenn sie erfährt, was aus ihren Blumen geworden ist. Es geschah Dir ganz recht, daß der kleine Sprühteufel sie zertreten hat, künftig wirst Du solche Dummheiten bleiben lassen.“

Sie schalt ihn in dem gewohnten Tone aus, ohne sich im mindesten an seinen Widerspruch zu kehren, aber Willibald nahm das diesmal übel. Er, der noch vor zehn Minuten ängstlich die Blumen in seine Tasche versenkt hatte, um ja nicht bei der Aufmerksamkeit ertappt zu werden, bekam plötzlich einen Anfall von Heldenmuth, und anstatt seine Mutter in ihrem Glauben zu lassen und den gefährlichen Sturm damit zu beschwichtigen, forderte er ihn geradezu heraus.

„Die Rosen waren gar nicht für Toni bestimmt, sondern für Fräulein Volkmar,“ erklärte er trotzig.

„Für –?“ Der entsetzten Frau blieb das Wort im Munde stecken.

„Für Marietta Volkmar! Sie wünschte heute abend eine Rose im Haar zu tragen, und da in Waldhofen keine mehr aufzutreiben war, so ging ich zum Schloßgärtner und verschaffte mir die Blumen – nun weißt Du es, Mama!“

Frau von Eschenhagen stand da wie eine Salzsäule, sie war kreidebleich geworden, denn mit einem Male ging ihr ein Licht auf, aber es zeigte ihr etwas so Furchtbares, daß sie für einige Sekunden Sprache und Bewegung verlor. Dann freilich kam ihr die alte Thatkraft zurück. Sie packte den Arm ihres Sohnes so nachdrücklich, als wolle sie sich seiner für alle Fälle versichern, und sagte kurz und bündig:

„Willy – wir reisen morgen ab!“

„Abreisen?“ wiederholte er. „Wohin denn?“

„Nach Hause! Wir fahren morgen früh um acht Uhr, dann erreichen wir vormittags den Schnellzug und sind übermorgen in Burgsdorf. Du gehst augenblicklich auf Dein Zimmer und packst!“

Der Kommandoton machte diesmal leider gar keinen Eindruck auf Willy.

„Ich packe nicht,“ erklärte er verstockt.

„Du packst, sage ich Dir!“

„Nein,“ trotzte der junge Majoratsherr. „Wenn Du durchaus abreisen willst, Mama, so reise – ich bleibe hier.“

Das war unerhört, aber es beseitigte auch den letzten Zweifel, und die entschlossene Frau, die ihren Sohn noch immer festhielt, schüttelte ihn jetzt in der derbsten Weise.

„Junge, wach auf, komm zu Dir! Ich glaube, Du weißt es noch gar nicht einmal, was eigentlich mit Dir ist! Nun, dann will ich es Dir sagen! Verliebt bist Du – verliebt in diese Marietta Volkmar!“

Sie schleuderte das letzte Wort mit einem geradezu niederschmetternden Tone heraus, aber Willy war gar nicht niedergeschmettert. Eine Minute lang stand er allerdings starr vor Ueberraschung, das war ihm wirklich noch nicht eingefallen, aber jetzt begann es auch bei ihm zu tagen. „O!“ sagte er mit einem tiefen Athemzuge, und dabei ging etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht.

„O! Ist das Deine ganze Antwort?“ brach die erzürnte Mutter los, die trotz alledem auf einen Widerspruch gehofft hatte. „Du leugnest es also nicht einmal! Und das muß ich erleben an meinem einzigen Sohne, den ich erzogen, den ich nie von meiner Seite gelassen habe! Während ich Dich zum Wächter bestelle, wenn diese Person bei Deiner Braut ist, behext sie Dich selbst, denn das ist doch offenbar Hexerei, und da spielt sie mir gegenüber noch die Tugendhafte, Tiefbeleidigte, dies Geschöpf –“

„Mama, hör’ auf, das leide ich nicht!“ unterbrach sie Willibald gereizt.

„Du leidest es nicht – was soll das heißen?“

[170] Frau von Eschenhagen hielt plötzlich inne und horchte nach der Thür.

„Da kommt Toni zurück, Deine verlobte Braut, der Du Dein Wort verpfändet hast, die Deinen Ring trägt – wie willst Du ihr jetzt gegenübertreten?“

Sie hatte endlich das rechte Mittel gefunden, der junge Majoratsherr zuckte zusammen bei dieser Mahnung und senkte stumm den Kopf, als Antonie ganz unbefangen eintrat.

„Du bist schon wieder da, Willy?“ fragte sie, „ich glaubte – aber was hast Du denn? Ist etwas vorgefallen?“

„Ja,“ sagte Regine, die wie gewöhnlich die Zügel ergriff, mit voller Bestimmtheit. „Wir haben soeben eine Mittheilung aus Burgsdorf erhalten, die uns zwingt, morgen früh abzureisen. Du brauchst nicht zu erschrecken, mein Kind, es ist nichts Gefährliches, nur eine Dummheit“ – sie legte einen scharfen Nachdruck auf das Wort – „eine Dummheit, die da angerichtet worden ist und die durch schnelles Eingreifen ebenso schnell beseitigt wird. Ich erzähle Dir das später ausführlich, einstweilen hilft es nichts, wir müssen fort.“

Die Neugier gehörte durchaus nicht zu den Fehlern Antoniens, und selbst diese ganz unerwartete Nachricht vermochte nicht, sie aus ihrer Gelassenheit zu bringen; die Erklärung, daß es sich um nichts Ernstes handelte, beruhigte sie vollkommen.

„Muß Willy denn auch mit abreisen?“ fragte sie ohne besondere Aufregung. „Kann er nicht wenigstens hier bleiben?“

„Nun, Willy, so antworte Deiner Braut doch!“ sagte Frau von Eschenhagen, die scharfen grauen Augen fest auf ihren Sohn richtend. „Du weißt es ja am besten, wie die Verhältnisse liegen, kannst Du es wirklich verantworten, wenn Du jetzt hier bleibst?“

Es folgte eine kurze Pause; Willibalds Blick begegnete dem seiner Mutter, dann wandte er sich ab und sagte mit halb unterdrückter Stimme:

„Nein, Toni, ich muß nach Haus – es geht nicht anders.“

Antonie nahm diese Nachricht, die eine andere Braut doch wohl geschmerzt hätte, mit sehr mäßigem Bedauern auf und begann sofort die Frage zu erörtern, wo die Reisenden denn morgen mittag essen würden, da der Schnellzug nirgends einen längeren Aufenthalt habe. Das bekümmerte sie fast ebenso sehr wie die Trennung, und sie kam endlich zu dem Ergebniß, daß es am besten sei, kalte Küche mitzunehmen und unterwegs zu speisen.

Frau von Eschenhagen triumphirte, als sie zu ihrem Schwager ging, um ihm die Abreise anzukündigen, für die sie bereits einen Vorwand gefunden hatte. Auf einem großen Gute konnte ja mancherlei vorfallen, was den Herrn unerwartet zurückrief, und der Oberforstmeister durfte natürlich die Wahrheit so wenig erfahren wie seine Tochter, obgleich er in seiner Verblendung das ganze Unheil verschuldet hatte. Uebrigens zweifelte Regine durchaus nicht daran, daß, sobald sie ihren Willy nur erst glücklich dem Bannkreise dieser „Hexerei“ entzogen habe, er wieder zur Vernunft kommen werde; er hatte das ja schon vorhin gezeigt. Sie wollte schlechterdings nicht einsehen, daß nur Willibalds Ehrenhaftigkeit seiner Braut gegenüber gesiegt hatte und daß es ein schwerer Mißgriff gewesen war, ihn über seine Gefühle für eine andere aufzuklären.

„Warte, mein Junge,“ murmelte sie ingrimmig. „Ich will Dich lehren, solche Geschichten anzufangen und Dich gegen Deine Mutter zu empören. Wenn ich Dich nur erst wieder in Burgsdorf habe, dann gnade Dir Gott!“




An dem festgesetzten Tage war der Herzog mit seiner Gemahlin und einem zahlreichen Gefolge in Fürstenstein eingetroffen und damit zog auch jenes glänzende, bewegte Leben ein, das sich in früheren Zeiten so oft in dem weiten, prachtvollen Jagdrevier des „Waldes“ entfaltet hatte.

Der jetzige Landesherr war allerdings kein leidenschaftlicher Jäger, und der alte Jagdsitz seiner Vorfahren hatte jahrelang vereinsamt gestanden oder war nur flüchtig aufgesucht worden. Jetzt aber, wo man einen wochenlangen Aufenthalt in Aussicht genommen hatte, bot das weitläufige Schloß nicht Raum für all die Gäste. Man mußte einen Theil derselben in dem nahen Waldhofen unterbringen, und das Städtchen befand sich wie die ganze Umgegend in festlicher, freudiger Aufregung. Die Besitzer der einzelnen benachbarten Schlösser und Landsitze, die wie Fürst Adelsberg meist den ersten Familien des Landes angehörten, wurden durch die Anwesenheit des Hofes veranlaßt, gleichfalls ihren Herbstaufenthalt hier zu nehmen, fast jeder hatte eine Anzahl von Jagdgästen mitgebracht, und so entwickelte sich in den sonst so stillen Waldbergen ein ungewohntes Leben und Treiben, dessen Mittelpunkt selbstverständlich Fürstenstein bildete.

Heute strahlte das Schloß im vollsten Lichtglanze, die sämmtlichen Fenster der oberen Stockwerke waren erleuchtet und im Hofe warfen die Pechfackeln ihr rothes Licht auf die altersgrauen Mauern und Thürme. Es war die erste größere Festlichkeit seit der Ankunft des fürstlichen Paares, zu welcher die sämmtlichen Gutsherren der Nachbarschaft, die höheren Beamten des Bezirkes und überhaupt alles geladen war, was auf Beachtung Anspruch machen konnte. Das durchweg im großen Stile angelegte Schloß verfügte auch über eine Anzahl stattlicher Festräume, die jetzt, im hellen Kerzenschein, mit ihrer alterthümlichen aber kostbaren Einrichtung und der zahlreichen Gesellschaft, die sich darin bewegte, einen äußerst glänzenden Eindruck machten.

Unter den gleichfalls zahlreich anwesenden Damen war die junge Gemahlin des preußischen Gesandten eine völlig neue Erscheinung. Die Trauer um den kurz nach ihrer Vermählung verstorbenen Vater hatte sie bisher von jeder Festlichkeit ferngehalten, sie trat heut zum ersten Male in diesen glänzenden Kreis, wo die Stellung ihres Gatten ihr einen bevorzugten Platz sicherte, und wurde auch von dem Herzog und seiner Gemahlin mit sichtbarer Auszeichnung behandelt.

Von seiten der Damen wurde freilich das Aufgehen dieses neuen Sternes mit einigem Mißvergnügen betrachtet. Man fand, daß Frau von Wallmoden in ihrer kühlen stolzen Ruhe sehr hochmüthig sei, und sie hätte doch am wenigsten Grund dazu. Man wüßte es ja, daß sie eine geborene Bürgerliche war, die von Rechts wegen gar nicht in diese Kreise gehörte, wenn der Reichthum ihres Vaters und dessen hervorragende Stellung in der Industrie seines Landes ihr auch einen gewissen Vorzug gaben. Trotzdem bewegte sie sich auf dem ihr völlig fremden Boden mit einer merkwürdigen Sicherheit, der Herr Gemahl mußte sie gut geschult haben für dies erste Auftreten.

Die Herren waren anderer Meinung: sie fanden, daß Seine Excellenz der Gesandte sein diplomatisches Talent am glänzendsten in eigener Sache bewährt hatte. Er, der schon an der Schwelle des Alters stand, hatte es gleichwohl verstanden, mit der Hand dieser jungen schönen Frau ein Vermögen zu erringen, welches, an sich schon bedeutend genug, durch das Gerücht ins Ungemessene vergrößert wurde. Das war ein Erfolg, um den man ihn allseitig beneidete. Wallmoden selbst schien keineswegs überrascht durch den Eindruck, den die Schönheit und das Auftreten seiner Gemahlin so sichtbar hervorbrachte, sondern nahm das als selbstverständlich hin. Er hatte es nicht anders erwartet, das Gegentheil würde ihn im höchsten Grade befremdet haben.

Augenblicklich stand er mit seinem Schwager, dem Oberforstmeister, in einer Fensternische und fragte, nachdem sie einige gleichgültige Bemerkungen über das Fest und die Gäste ausgetauscht hatten, wie beiläufig:

„Was ist denn das für eine Persönlichkeit, die Fürst Adelsberg eingeführt hat? Kennst Du sie?“

„Du meinst den jungen Rumänen?“ fragte Schönau. „Nein, ich sehe ihn heut zum ersten Male, habe aber allerdings schon von ihm gehört. Es ist der Busenfreund des Fürsten, den er auch auf seiner Orientreise begleitet hat, übrigens ein bildschöner Junge, das Feuer sprüht ihm nur so aus den Augen!“

„Auf mich macht er den Eindruck des Abenteuerlichen,“ bemerkte Wallmoden kalt. „Wie kommt er denn zu der Einladung? Ist er dem Herzoge vorgestellt?“

„Ja; so viel ich weiß, in Rodeck, als der Herzog neulich dort war; Fürst Adelsberg liebt es nun einmal, die Etikette möglichst über den Haufen zu werfen. Uebrigens bedeutet diese Einladung noch keine Einführung, heut ist ja alle Welt geladen.“

Der Gesandte zuckte die Achseln.

„Gleichviel, man sollte sich doch bedenken, solche Elemente, die nicht hinreichend beglaubigt sind, in seine Nähe zu ziehen.“

„Bei Euch Diplomaten muß alles gleich mit Brief und Siegel beglaubigt sein,“ lachte der Oberforstmeister. „Etwas Vornehmes hat dieser Rojanow entschieden und bei einem Ausländer nimmt man es überhaupt nicht so genau. Verdenken kann ich es den Herrschaften nicht, sie wollen auch einmal etwas anderes [171] sehen und hören als die gewohnte Hofgesellschaft, die ihnen jahraus jahrein dasselbe langweilige Gesicht zeigt. Der Herzog scheint bereits ganz eingenommen zu sein von dem Rumänen.“

„Ja, es scheint so,“ murmelte Wallmoden, auf dessen Stirn sich eine Wolke legte.

„Uebrigens, was geht uns die Geschichte an!“ meinte Schönau. „Ich will mich jetzt einmal nach Toni umsehen, die nun überall ohne ihren Bräutigam erscheinen muß. Das war wieder ein Einfall von Regine. Wie eine Rakete fuhr sie mit ihrem Sohne ab. Sobald das geliebte Burgsdorf ins Spiel kommt, ist Deine Schwester nicht zu halten. Hätte sie mir nur wenigstens den Willy hier gelassen! Kein Mensch begreift es, daß mein künftiger Schwiegersohn vor den Festen Reißaus genommen hat, und ich begreife es erst recht nicht.“

„Ein Glück, daß sie fort sind!“ dachte Wallmoden, als er sich von seinem Schwager trennte. Wenn Willibald hier unvermuthet dem einstigen Jugendfreunde begegnet wäre, hätte sich vielleicht eine ähnliche Scene abgespielt wie neulich auf dem Hochberge. Wer konnte denn auch ahnen, daß Hartmut den Trotz so weit treiben würde, in einem Kreise zu erscheinen, wo er sicher war, dem Gesandten zu begegnen!

Fürst Adelsberg, der durch seinen Namen und seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem regierenden Hause in diesem Kreise eine der ersten Stellen einnahm, hatte in der That die Einführung seines Freundes durchgesetzt, und der Herzog schien von jener ersten Begegnung in Rodeck einen sehr günstigen Eindruck empfangen zu haben, denn er stellte selbst den jungen Fremden der Herzogin vor. Dieser Rojanow, mit dem bestechenden Zauber seiner Persönlichkeit und dem Hauch des Fremdartigen, der ihn umgab, war allerdings eine ungewöhnliche Erscheinung, die nur aufzutreten brauchte, um sofort allgemeine Beachtung zu finden, und heut entfaltete er all die glänzenden Eigenschaften, die ihm so reich zu Gebote standen, im vollsten Maße. Seine Unterhaltung und seine Bemerkungen sprühten von Geist und Leben, sein feuriges Temperament, das sich unwillkürlich verrieth, lieh allem, was er sagte und that, ein eigenartiges Gepräge, während er sich andererseits als Meister der gesellschaftlichen Formen zeigte. Kurz, die Voraussetzung des jungen Fürsten erfüllte sich: Hartmut wußte auch hier alles im Sturme zu erobern und hatte kaum den Fuß auf diesen Boden gesetzt, als er ihn auch schon mit der Macht seiner Persönlichkeit beherrschte.

Dem Gesandten konnte das nicht entgehen, wenn er dem „Rumänen“ auch noch nicht unmittelbar gegenüber getreten war; in dem Gewühl der Gäste war es ja nicht schwer, sich gegenseitig zu vermeiden, und gesucht wurde die Begegnung von beiden Seiten nicht. Wallmoden schritt soeben durch einen Nebensaal, wo die Schwester des Herzogs, Prinzessin Sophie, einen größeren Kreis um sich versammelt hatte. Die Prinzessin, die an den jüngeren Sohn eines fürstlichen Hauses vermählt gewesen, aber früh zur Witwe geworden war, lebte seitdem wieder am Hofe ihres Bruders, wo sie aber keineswegs beliebt war. Während die Herzogin mit ihrer Anmuth und Herzensgüte alles gewann, was in ihre Nähe kam, galt ihre bedeutend ältere Schwägerin für hochmüthig und ränkesüchtig. Man fürchtete allgemein die scharfe Zunge der Dame, welche überdies die liebenswürdige Gewohnheit hatte, jedem etwas Unangenehmes zu sagen. Auch Herr von Wallmoden entging diesem Schicksal nicht; er wurde huldvoll herangewinkt und empfing Schmeicheleien über die Schönheit seiner Gemahlin, die nun allerdings nicht zu leugnen war.

„Ich statte Ihnen meinen Glückwunsch äb, Excellenz. Ich war ganz überrascht, als mir Ihre junge Frau vorgestellt wurde, ich hatte selbstverständlich eine ältere Dame erwartet!“

Das „selbstverständlich“ klang ziemlich boshaft, denn Prinzessin Sophie wußte natürlich schon seit Monaten, daß die Gemahlin des Gesandten neunzehn Jahre alt war; aber dieser lächelte in der verbindlichsten Weise, als er antwortete:

„Hoheit sind sehr gütig, ich kann nur dankbar sein, wenn meine Frau das Glück hat, bei den fürstlichen Herrschaften einen günstigen Eindruck zu machen.“

„O, daran dürfen Sie nicht zweifeln, der Herzog und die Herzogin sind ganz meiner Meinung. Frau von Wallmoden ist wirklich eine Schönheit – Fürst Adelsberg scheint das auch zu finden. Sie haben es wohl gar nicht bemerkt, wie sehr er Ihre Gemahlin bewundert?“

„Doch, Hoheit, das habe ich bemerkt!“

„Wirklich? Und was sagen Sie dazu?“

„Ich?“ fragte Wallmoden mit vollkommener Ruhe; „es ist ja lediglich Sache meiner Frau, ob sie die Huldigungen des jungen Fürsten annehmen will. Wenn sie Vergnügen daran findet – ich mache ihr in dieser Beziehung gar keine Vorschriften.“

„Eine beneidenswerthe Sicherheit, an der sich unsere jüngeren Herren ein Beispiel nehmen könnten,“ sagte die Prinzeß, die sich ärgerte, daß der Pfeil sein Ziel verfehlt hatte. „Jedenfalls ist es sehr angenehm für eine junge Frau, wenn der Gemahl nicht eifersüchtig ist. – Ah, da haben wir ja Frau von Wallmoden selbst, natürlich mit dem Ritter an ihrer Seite! Meine liebe Baronin, wir sprachen gerade von Ihnen!“

Adelheid von Wallmoden, die eben in Begleitung des Fürsten Adelsberg eingetreten war, verneigte sich. Sie machte heute in der That einen blendenden Eindruck, denn die reiche Hoftoilette ließ ihre Schönheit noch siegreicher hervortreten. Der kostbare Brokatstoff des weißen Kleides, der in schweren Falten niederfloß, paßte vortrefflich zu der hohen schlanken Gestalt, die Perlen, welche sich um ihren Hals schlangen, und die Diamanten, die in dem mattblonden Haar funkelten, waren vielleicht die werthvollsten, die heute abend überhaupt getragen wurden; aber schärfer als je prägte sich auch das eigenthümlich Kalte und Ernste in der Erscheinung der jungen Frau aus. Sie glich so gar nicht ihren Altersgenossinnen, die auch schon zum Theil vermählt waren und doch noch in duftigen Spitzen und Blumen das Recht der Jugend geltend machten. Freilich besaß sie auch nichts von jener lächelnden Anmuth, jener geschmeidigen Liebenswürdigkeit, die man dort so geflissentlich zur Schau trug, der herbe strenge Zug, der als ein Erbtheil des Vaters ihrer Natur nun einmal unverwischbar eingeprägt war, verrieth sich immer in einzelnen Andeutungen.

Egon hatte seiner erlauchten Tante die Hand geküßt und war mit einigen gnädigen Worten beehrt worden, einstweilen aber galt die liebenswürdige Aufmerksamkeit Ihrer Hoheit der jungen Frau, die sofort in die Unterhaltung gezogen wurde.

„Ich sprach soeben Seiner Excellenz meine Freude darüber aus, daß Sie sich so schnell und leicht in unseren Hofkreisen zurecht zu finden scheinen, liebe Baronin. Sie betreten diese Kreise ja heute zum ersten Male und haben vermuthlich bisher in ganz anderen Umgebungen gelebt. Sie sind eine geborene –?“

„Stahlberg, Hoheit,“ lautete die ruhige Antwort.

„Ganz recht, ich erinnere mich des Namens, der mir schon öfter genannt wurde. Er ist ja vortheilhaft bekannt in der – Industrie.“

„Meine allergnädigste Tante, Sie müssen mir schon erlauben, Sie etwas genauer zu unterrichten,“ fiel Fürst Adelsberg ein, der selten eine Gelegenheit vorübergehen ließ, wo er seine allergnädigste Tante ärgern konnte. „Die Stahlbergschen Industriewerke haben einen Weltruf und sind jenseit des Oceans ebenso rühmlich bekannt wie hier zu Lande. Ich hatte vor einigen Jahren, als ich in Norddeutschland war, Gelegenheit, sie kennen zu lernen, und kann Sie versichern, daß diese Werke mit ihren Eisenhütten und Fabriken, ihren Beamtenkolonien und ihrem Arbeiterheere es mit manchem kleinen Fürstenthume aufnehmen können, dessen Herrscher aber jedenfalls kein so unumschränkter Machthaber ist, als der Vater Ihrer Excellenz es war.“

Die Dame warf ihrem durchlauchtigen Neffen einen nicht gerade freundlichen Blick zu, seine Einmischung war ihr sehr unerwünscht.

„In der That, von dieser Großartigkeit hatte ich keinen Begriff,“ sagte sie im harmlosesten Tone. „Da dürfen wir also jetzt wohl Seine Excellenz als einen solchen Herrscher begrüßen?“

„Nur als Reichsverweser, Hoheit,“ fiel der Gesandte mit einem anscheinend ebenso harmlosen Scherze ein. „Ich bin nur Testamentsvollstrecker meines Schwiegervaters und Vormund meines noch jugendlichen Schwagers, auf den die sämmtlichen Werke übergehen, sobald er seine Mündigkeit erreicht.“

„Ah so! Nun, der Sohn wird dies Erbtheil wohl zu wahren wissen. Es ist wirklich staunenswerth, was in unseren Tagen die Thatkraft eines einzelnen zu leisten vermag, und das ist um so anerkennenswerther, wenn er wie der Vater unserer lieben Baronin aus den einfachsten Verhältnissen hervorgegangen ist. So glaube ich wenigstens gehört zu haben, oder irre ich mich darin?“

[172] Prinzessin Sophie wußte sehr genau, daß dem Gesandten mit seinem altpreußischen Adel diese Erörterungen über die Herkunft seines Schwiegervaters nicht angenehm waren, und es gereichte ihr zur Genugthuung, daß der sie umgebende Kreis kein Wort von der Unterhaltung verlor, die ja nur darauf berechnet war, die bürgerlich Geborene zu demüthigen. Aber sie irrte sich, wenn sie bei dieser auf irgend eine Verlegenheit oder ein Ausweichen rechnete. Die junge Frau richtete sich mit ihrem ganzen Stolze empor.

„Hoheit sind ganz recht berichtet. Mein Vater kam als armer Knabe, ohne alle Hilfsmittel nach der Hauptstadt. Er hat sich schwer emporringen müssen und jahrelang als einfacher Handwerker gearbeitet, ehe er den Grund zu seinen späteren Unternehmungen legte.“

„Wie stolz Frau von Wallmoden das sagt!“ rief die Prinzessin lächelnd. „O, ich liebe diese kindliche Anhänglichkeit über alles! Also Herr Stahlberg – oder wohl von Stahlberg? Die großen Industriellen führen ja oft den Adelstitel!“

„Mein Vater führte ihn nicht, Hoheit,“ erklärte Adelheid, dem Blick der fürstlichen Dame fest und ruhig begegnend. „Der Adel wurde ihm allerdings angeboten, er hat ihn aber abgelehnt.“

Der Gesandte preßte die schmalen Lippen zusammen, er konnte doch nicht umhin, diese Aeußerung seiner Gemahlin sehr undiplomatisch zu finden. In der That nahmen die Züge der Prinzessin einen gereizten Ausdruck an, und sie entgegnete mit beißendem Spotte: „Nun, dann ist es wenigstens ein Glück, daß diese Abneigung sich nicht auf seine Tochter vererbt hat, Seine Excellenz wird das zu schätzen wissen! – Ich bitte um Ihren Arm, Egon, ich möchte meinen Bruder aufsuchen.“

Sie neigte das Haupt gegen ihre Umgebung und rauschte davon am Arm des jungen Fürsten, in dessen Mienen deutlich die Ueberzeugung zu lesen war:

„Jetzt komme ich an die Reihe!“

Er hatte sich nicht getäuscht, Ihre Hoheit dachte nicht daran, den Herzog aufzusuchen, sondern ließ sich in einem der nächsten Zimmer mit dem jungen Verwandten nieder, den sie unter vier Augen zu haben wünschte. Zunächst freilich ergoß sich ihr Zorn über diese unerträglich hochmüthige Frau von Wallmoden, die mit dem Bürgerstolze ihres Vaters prahlte, während sie aus Eitelkeit einen Baron heirathete, denn Neigung konnte sie doch unmöglich für einen Mann fühlen, der dem Alter nach ihr Vater hätte sein können. Egon schwieg dazu, denn er hatte sich selbst schon die Frage vorgelegt, wie diese ungleiche Ehe eigentlich zustande gekommen sei, ohne eine Antwort darauf zu finden; sein Schweigen wurde ihm aber sehr verübelt.

„Nun, Egon, Sie sagen gar nichts? Freilich, Sie scheinen sich ja dieser Dame zum Ritter geschworen zu haben, Sie waren unaufhörlich an ihrer Seite!“

„Ich huldige der Schönheit, wo sie mir entgegentritt, das wissen Sie ja, gnädigste Tante,“ vertheidigte sich der junge Fürst, rief aber damit nur einen neuen Sturm wach.

„Ja, das weiß ich – leider! Sie sind in dieser Beziehung von einem unglaublichen Leichtsinn. Sie erinnern sich wohl gar nicht mehr meiner Mahnungen und Warnungen vor Ihrer Abreise?“

„O, nur zu sehr!“ seufzte Egon, dem es jetzt noch ganz schwül wurde bei der Erinnerung an die endlose Predigt, die er damals hatte hinnehmen müssen.

„Wirklich? Sie sind deshalb aber nicht vernünftiger und gesetzter zurückgekommen. Ich habe Dinge gehört – Egon, für die giebt es nur noch eine Rettung – Sie müssen heirathen!“

„Um Gotteswillen! Nur das nicht!“ fuhr der junge Fürst so entsetzt auf, daß Prinzessin Sophie entrüstet ihren Fächer auseinanderschlug.

„Was meinen Sie damit?“ fragte sie in ihrem schärfsten Tone.

„O, nur meine eigene Unwürdigkeit, in diesen heiligen Stand zu treten. Sie selbst, Hoheit, haben mich unendlich oft versichert, ich sei eigens geschaffen, eine Frau unglücklich zu machen.“

„Wenn es dieser Frau nicht gelingt, Sie zu bessern, allerdings! Aber ich gebe diese Hoffnung noch immer nicht auf. Hier ist freilich nicht der Ort, über solche Dinge zu reden, aber die Herzogin plant einen Besuch in Rodeck, und ich beabsichtige, mich ihr anzuschließen.“

„Welch ein reizender Gedanke!“ rief Egon, den der angekündigte Besuch fast ebenso sehr in Schrecken jagte wie der Heirathsplan. „Ich bin ganz stolz darauf, daß Rodeck, sonst ein kleines langweiliges Waldnest, gerade jetzt imstande ist, einige Merkwürdigkeiten zu bieten. Ich habe so vieles von der Reise mitgebracht, unter anderem auch einen Löwen, zwei junge Tiger, verschiedene Schlangen –“

„Doch nicht etwa lebendige?“ fiel die Dame erschrocken ein.

„Natürlich, Hoheit!“

„Aber mein Gott, dann ist man bei Ihnen ja seines Lebens nicht sicher!“

„O, die Sache ist nicht so gefährlich. Allerdings sind uns schon einige der Bestien ausgebrochen – die Leute sind so nachlässig bei der Fütterung – aber sie wurden stets wieder eingefangen und haben bis jetzt noch keinen Schaden angerichtet.“

„Bis jetzt! Das sind ja liebliche Zustände!“ sagte die Prinzessin ärgerlich. „Sie setzen ja die ganze Umgegend in Gefahr damit, der Herzog sollte Ihnen diese gefährliche Spielerei verbieten.“

„Das will ich nicht hoffen, denn ich beschäftige mich gerade jetzt ernstlich mit Zähmungsversuchen. Uebrigens kann ich auch manches Einheimische bieten, das des Anschauens werth ist, unter meiner Dienerschaft befinden sich einige Mädchen aus hiesiger Gegend, die in ihrer Landestracht ganz allerliebst aussehen.“

Egon dachte mit geheimem Schauder an seine „Weiblichkeit mit den wackelnden Köpfen“, deren er sich durch die Fürsorge Stadingers noch immer erfreute, aber er hatte ganz richtig gerechnet: seine allergnädigste Tante war empört und maß ihn mit einem vernichtenden Blick.

„So? Dergleichen haben Sie also auch in Rodeck?“

„Gewiß, da ist besonders die Zenz, die Enkelin meines Schloßverwalters, ein reizendes kleines Ding, und wenn Sie mir die Ehre Ihres Besuches schenken, gnädigste Tante –“

„Das werde ich jetzt wohl unterlassen!“ fiel die erzürnte Dame ein, indem sie heftig ihren Fächer gebrauchte. „Das muß ja eine seltsame Wirthschaft sein, die Sie da in Rodeck führen, mit dem jungen Ausländer, den Sie sich wohl auch als eine Merkwürdigkeit von der Reise mitgebracht haben. Er hat ein vollständiges Brigantengesicht.“

„Mein Freund Rojanow! Er geizt schon längst nach der Ehre, Ihnen vorgestellt zu werden, Hoheit, Sie erlauben mir das, nicht wahr?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er davon und bemächtigte sich Hartmuts.

„Jetzt kommst Du an die Reihe!“ raunte er ihm zu, während er ihn rücksichtslos mit sich schleppte. „Ich bin lange genug das Opferlamm gewesen und meine allergnädigste Tante muß nun einmal jemand haben, den sie langsam auf dem Roste braten kann. Mich will sie nebenbei auch noch verheirathen und Du hast in ihren Augen ein Brigantengesicht, aber nach Rodeck kommt sie Gott sei Dank nicht, dafür habe ich gesorgt.“

In der nächsten Minute stand er mit seinem Freunde vor Ihrer Hoheit und stellte ihn mit dem liebenswürdigsten Lächeln vor.

Herr von Wallmoden hatte nach der Entfernung der Prinzessin noch einige Minuten in jenem Kreise verweilt, dann schritt er, seine Gemahlin am Arme, langsam durch die Säle, hier einen Bekannten grüßend, dort ein flüchtiges Gespräch anknüpfend, bis sie in den letzten der Festräume gelangten, der verhältnißmäßig leer war. Das Thurmzimmer, das sich unmittelbar daran schloß, wurde für gewöhnlich nur als Aussichtspunkt benutzt, für den heutigen Abend aber hatte man es mit Vorhängen, Teppichen und einer malerisch geordneten Blumengruppe zu einem lauschigen kleinen Gemach umgeschaffen, das, nur matt erhellt, einen wohlthuenden Gegensatz zu der blendenden Helle und dem Gewühl der Säle bildete. Es befand sich augenblicklich niemand dort, und darauf schien der Gesandte gerechnet zu haben, als er mit seiner Frau eintrat und sie auf dem Divan Platz nehmen ließ.

„Ich muß Dich doch darauf aufmerksam machen, Adelheid, daß Du Dir vorhin eine Unklugheit zu Schulden kommen ließest,“ begann er in gedämpftem Tone. „Deine Aeußerung der Prinzessin gegenüber –“

„War Nothwehr!“ unterbrach ihn die junge Frau. „Du fühltest doch wohl so gut wie ich, was der eigentliche Zweck dieses Gespräches war.“

„Gleichviel, Du hast Dir gleich bei Deinem ersten Auftreten eine Gegnerin geschaffen, deren Ungnade Dir und mir die Stellung empfindlich erschweren kann.“

[173] „Dir?“ Adelheid sah ihn befremdet an. „Hast Du, der Gesandte einer großen Macht, etwa nach der Ungnade einer boshaften Frau zu fragen, die zufällig mit dem herzoglichen Hause verwandt ist?“

„Mein Kind, das verstehst Du nicht,“ versetzte Wallmoden kühl. „Eine ränkesüchtige Frau kann gefährlicher werden als ein politischer Gegner, und Prinzessin Sophie ist bekannt in dieser Hinsicht, selbst die Herzogin fürchtet ihre boshafte Zunge.“

„Das ist Sache der Herzogin – ich fürchte sie nicht!“

„Meine liebe Adelheid,“ sagte der Gesandte mit einem überlegenen Lächeln, „diese stolze Kopfbewegung steht Dir ausgezeichnet, und ich billige es durchaus, wenn Du Dich anderen Kreisen gegenüber damit unnahbar machst. Bei Hofe aber wirst Du sie Dir doch abgewöhnen müssen wie so manches andere. Man giebt fürstlichen Personen nicht eine Lehre vor so vielen Zeugen, und das thatest Du, als Du von der Ablehnung des Adels sprachest. Es war überhaupt nicht nothwendig, daß Du die Herkunft Deines Vaters so entschieden betontest.“

„Sollte ich sie vielleicht verleugnen?“

„Nein, denn es ist eine allbekannte Thatsache –“

„Auf die ich stolz bin, wie mein Vater es war!“

„Du bist aber jetzt nicht mehr Adelheid Stahlberg, sondern die Baronin Wallmoden“ – die Stimme des Gesandten hatte eine gewisse Schärfe angenommen – „und Du wirst Dir selbst sagen, daß es einigermaßen widerspruchsvoll ist, seinen Bürgerstolz so zur Schau zu tragen, wenn man einem Manne von altem Adel die Hand gereicht hat.“

Um die Lippen der jungen Frau zuckte es wie eine leise Bitterkeit, und obgleich das Gespräch durchweg in gedämpftem Tone geführt wurde, sank ihre Stimme noch mehr, als sie erwiderte:

„Du hast wohl vergessen, Herbert, weshalb ich Dir meine Hand reichte!“

„Hast Du vielleicht Ursache gehabt, es zu bereuen?“ fragte er statt aller Antwort.

„Nein,“ sagte Adelheid mit einem tiefen Athemzuge.

„Ich dächte auch, Du könntest mit der Stellung zufrieden sein, die Du an meiner Seite einnimmst. Uebrigens weißt Du, daß ich keinen Zwang ausgeübt habe, ich ließ Dir vollkommen freie Wahl.“

Die junge Frau schwieg, aber jener bittere Ausdruck wich nicht von ihren Lippen.

Wallmoden erhob sich und bot ihr den Arm.

„Du mußt mir schon erlauben, mein Kind, Deiner Unerfahrenheit bisweilen zu Hilfe zu kommen,“ sagte er in dem gewohnten artigen Tone. „Ich habe bisher allen Grund gehabt, mit Deinem Takt und Deinem Auftreten zufrieden zu sein, es ist heut das erste Mal, daß ich Dir einen Wink geben muß. – Darf ich Dich bitten?“

„Ich möchte noch einige Minuten hier bleiben,“ sagte Adelheid leise. „Es ist so erstickend heiß in den Sälen.“

„Ganz wie Du wünschest, aber ich bitte Dich doch, nicht allzulange zu verweilen, Deine Zurückgezogenheit könnte auffallen.“

Er sah und fühlte es, daß sie verletzt war, aber er fand es nicht für gut, Rücksicht darauf zu nehmen. Baron Wallmoden verstand sich bei aller Artigkeit und Aufmerksamkeit doch ausgezeichnet auf die Erziehung seiner jungen Gattin, dergleichen Empfindlichkeiten durfte man ihr nicht gestatten. Er ging, und Adelheid blieb allein zurück; sie stützte den Kopf in die Hand und betrachtete anscheinend aufmerksam die Blumengruppe, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand, aber dabei flüsterte sie fast unhörbar:

„Freie Wahl? – O mein Gott!“

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 7, S. 212–219

[212] Inzwischen wurden Fürst Adelsberg und sein Gefährte in Gnaden entlassen, sie verbeugten sich soeben vor der Prinzessin, die sich erhob und den Saal verließ; aber die scharfen Züge Ihrer Hoheit hatten einen ungewöhnlich milden Ausdruck und Rojanow besonders wurde mit einem gnädigen Lächeln verabschiedet.

„Hartmut, ich glaube, Du kannst hexen!“ sagte Egon halblaut. „Ich habe zwar schon manche Proben Deiner Unwiderstehlichkeit gesehen, daß aber meine allergnädigste Tante in Deiner Nähe einen förmlichen Anfall von Liebenswürdigkeit bekommt, das ist unerhört, das stellt alle Deine bisherigen Leistungen in Schatten.“

„Nun, der Empfang war doch ungnädig genug,“ spottete Hartmut, „Ihre Hoheit schienen mich anfangs wirklich für eine Art Briganten zu halten.“

„Und nach zehn Minuten standest Du bereits im vollen Sonnenschein der Gnade und wurdest als erklärter Günstling entlassen. Mensch, was hast Du eigentlich an Dir, daß sich alles ohne Ausnahme Deinem Zauber beugt! Man sollte an das alte Märchen vom Rattenfänger glauben.“

Um Hartmuts Lippen zuckte wieder jener herbe, verletzende Spott, der seinem Gesichte auf Augenblicke alle Schönheit nahm und ihm einen gradezu teuflischen Zug gab.

„Ich verstehe eben die Weise zu spielen, die sie am liebsten hören. Sie klingt freilich anders für jede, aber wenn man nur den rechten Ton zu treffen weiß, dann widersteht keine.“

„Keine?“ wiederholte Egon, während sein Blick wie suchend durch den Saal glitt.

„Nicht eine einzige, sage ich Dir!“

„Ja, Du bist ein Pessimist in dieser Beziehung, ich für meine Person lasse wenigstens Ausnahmen gelten. – Wenn ich nur wüßte, wo Frau von Wallmoden geblieben ist, ich sehe sie nirgends.“

„Seine Excellenz wird ihr wohl den Text lesen wegen der undiplomatischen Aeußerung von vorhin.“

„Hast Du diese Aeußerung auch gehört?“ fragte Egon rasch.

„Gewiß, ich stand an der Thür.“

„Nun, ich gönne unserer Allergnädigsten die Lehre von Herzen, sie war selbstverständlich wüthend darüber., aber glaubst Du im Ernste, daß der Gesandte deswegen – still, da ist er selbst!“

Sie sahen in der That den Gesandten vor sich, der soeben aus dem Thurmzimmer zurückkehrte. Eine Begegnung war diesmal [213] nicht zu vermeiden, und der junge Fürst, der keine Ahnung von den hier obwaltenden geheimen Beziehungen hatte, beeilte sich, seinen Freund vorzustellen.

„Erlauben Sie mir, Excellenz, ein Versäumniß nachzuholen, zu dem mich damals auf dem Hochberge das spurlose Verschwinden meines Begleiters zwang; ich bin erst nach Ihrer Abfahrt seiner wieder habhaft geworden. Herr Hartmut Rojanow – Baron von Wallmoden.“

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, der scharfe, durchbohrende Blick des einen traf auf den Ausdruck eines heraus- fordernden Trotzes bei dem anderen, aber Wallmoden wäre nicht der vollendete Diplomat gewesen, wenn er nicht hier den Umständen Rechnung getragen hätte. Sein Gruß war kühl, aber höflich, nur wendete er sich allerdings in seiner Antwort an den Fürsten allein und bedauerte, nicht mit den Herren plaudern zu können, da er zum Herzoge gerufen sei. Die ganze Begegnung beschränkte sich auf zwei Minuten, aber sie hatte doch stattgefunden.

„Excellenz sind heute noch zugeknöpfter als sonst,“ bemerkte Egon, als sie weiter gingen. „So oft ich dies kalte, unbewegliche Diplomatengesicht vor mir sehe, spüre ich ein Frösteln und das dringende Verlangen, wärmere Zonen aufzusuchen.“

„Deshalb gehen wir wohl so beharrlich den Spuren des schönen kalten Nordlichtes nach?“ spottete Hartmut. „Wen suchen wir denn eigentlich auf diesem Spaziergang durch die Säle, den Du so unermüdlich fortsetzest?“

„Den Oberforstmeister!“ sagte der junge Fürst, ärgerlich, sich verrathen zu sehen. „Ich wollte Dich ja mit ihm bekannt machen, aber Du bist heut wieder in Deiner Spötterlaune. Vielleicht finde ich Schönau drüben im Pfeilersaale, ich muß mich dort einmal umsehen.“

Er machte sich schleunigst los und lenkte wirklich seine Schritte nach dem Pfeilersaal, wo sich das herzogliche Paar befand und wo er auch Adelheid von Wallmoden vermuthete. Unglücklicherweise aber kreuzte er beim Eintritt wieder den Weg seiner allergnädigsten Tante, die ihn von neuem in Beschlag nahm. Sie wollte Näheres über den jungen, interessanten Rumänen hören, der in der That im Sonnenschein ihrer Gunst stand, und der ungeduldige Neffe mußte wohl oder übel ihren Fragen standhalten.




Das Fest nahm seinen Fortgang, die Gesellschaft fluthete und wogte durcheinander, während Hartmut langsam und scheinbar absichtslos durch die lange Flucht der Gemächer schritt. Auch er suchte etwas und er war darin glücklicher als Egon: ein flüchtiger Blick in das Thurmzimmer, dessen Eingang die schweren Vorhänge halb verhüllten, zeigte ihm den Saum einer weißen Schleppe, die dort über den Boden floß, und in der nächsten Minute stand er auf der Schwelle.

Adelheid von Wallmoden saß noch an demselben Platze wie vorhin und wendete langsam den Kopf nach dem Eintretenden. Plötzlich zuckte sie jäh zusammen, freilich nur einen Augenblick, dann erwiderte sie mit der gewohnten kühlen Ruhe die tiefe [214] Verneigung des jungen Mannes, der an der Thür stehen geblieben war.

„Ich habe doch nicht gestört, Excellenz?“ fragte er. „Ich fürchte, Sie suchten hier die Einsamkeit, in die ich nun so plötzlich einbreche; aber es geschah ganz absichtslos.“

„Nicht doch, ich suchte nur auf einige Minuten Zuflucht vor der drückenden Hitze, die in den Sälen herrscht.“

„Derselbe Grund führte mich her, und da ich heut noch nicht die Ehre hatte, Sie zu begrüßen, Excellenz, so erlauben Sie mir wohl, dies jetzt zu thun.“

Die Worte klangen sehr förmlich. Rojanow war näher getreten, blieb aber in gemessener Entfernung stehen. Dennoch war ihm jenes Aufzucken bei seinem Eintritt nicht entgangen, es spielte ein seltsames Lächeln um seine Lippen, als er die Augen auf die junge Frau richtete.

Diese hatte eine Bewegung gemacht, als wolle sie sich erheben und gehen, aber sie schien sich noch rechtzeitig zu erinnern, daß ein solcher plötzlicher Aufbruch einer Flucht ähnlich sehen würde. Sie blieb an ihrem Platze und beugte sich über die Blumengruppe. Wie zerstreut pflückte sie eine der großen, purpurfarbenen Kamelien, während sie die Frage nach ihrem Befinden beantwortete, aber dabei trat wieder scharf und deutlich jener Zug starrer Willenskraft hervor wie in jenem Augenblick, wo sie mitten in der schäumenden Fluth des Waldbaches stand. Damals glitt sie ohne Besinnen in das fußtiefe Wasser, um eine Hilfe nicht annehmen zu müssen, die ihr geboten wurde, aber das war mitten in der Einsamkeit des Waldes gewesen. Hier, in dem herzoglichen Schlosse, das ein rauschendes Fest durchwogte, gab es keine solchen Hindernisse zu überwinden, aber der Mann mit dem dunklen, verzehrenden Blick stand ihr auch hier gegenüber und ließ das Auge nicht von ihrem Gesicht.

„Werden Sie noch längere Zeit in Rodeck bleiben, Herr Rojanow?“ fragte Adelheid in jenem gleichgültigen Tone, mit dem man in der Gesellschaft allgemeine Fragen und Bemerkungen austauscht.

„Vermuthlich noch einige Wochen. So lange der Herzog in Fürstenstein ist, wird Fürst Adelsberg kaum sein Jagdschloß verlassen. Später beabsichtige ich, ihn nach der Stadt zu begleiten.“

„Und dort werden wir Sie als Dichter kennen lernen?“

„Mich, Excellenz?“

„Ich hörte es wenigstens von dem Fürsten.“

„Das ist vorläufig nur Egons Idee,“ sagte Hartmut leichthin. „Er hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, meine ‚Arivana‘ auf der Bühne zu sehen.“

„Arivana? Ein seltsamer Titel!“

„Es ist ein orientalischer Name, aus einer indischen Sage, deren poetischer Zauber mich so mächtig gefangen nahm, daß ich der Versuchung nicht widerstand, ein Drama daraus zu schaffen.“

„Und die Heldin dieses Dramas heißt Arivana?“

„Nein, das ist nur der Name einer uralt geheiligten Stätte, an die sich jene Sage knüpft. Die Heldin heißt – Ada!“

Rojanow sprach den Namen halblaut, wie zögernd aus, aber es blitzte triumphiren auf in seinen Augen, denn jetzt sah er es wieder, jenes leise Zusammenbeben wie vorhin bei seinem Eintritt; langsam trat er einige Schritte näher, während er fortfuhr:

„Ich hörte den Namen zum ersten Male auf Indiens Boden und er hatte für mich einen fremdartig süßen Klang, den ich festhielt in meiner Sagengestalt – und nun erfahre ich hier, daß die Abkürzung eines deutschen Namens ganz ebenso lautet.“

„Des Namens Adelheid – ja! Ich wurde in meinem Vaterhause stets so genannt, aber es ist doch nichts besonders Merkwürdiges, daß dieselben Laute in verschiedenen Sprachen wiederkehren.“

Die Worte klangen abwehrend, aber die junge Frau hob das Auge nicht empor dabei, sie blickte unverwandt auf die Blume nieder, mit der ihre Hand spielte.

„Gewiß nicht,“ stimmte Hartmut bei. „Mir fiel es auch nur auf, überrascht hat es mich nicht, wiederholen sich doch auch die Sagen bei fast allen Völkern. Sie tragen ein mehr oder minder verschiedenes Gewand, aber was in ihnen lebt, die Leidenschaft, das Glück und Weh der Menschen, das ist überall das gleiche.“

Adelheid zuckte leicht die Achseln.

„Darüber mag ich mit einem Dichter nicht streiten, aber ich glaube denn doch, daß unsere deutschen Sagen ein anderes Antlitz haben, als die indischen Märchenträume.“

„Vielleicht, aber wenn Sie tiefer blicken, werden Sie in diesem Antlitz verwandte Züge entdecken. Auch die Arivana-Sage hat diese Züge, wenigstens in ihrer Hauptgestalt, dem jungen Priester, der sich mit Leib und Seele der Gottheit geschworen hat, dem lodernden, heiligen Feuer, und den nun die irdische Liebe ergreift mit all ihrer Gluth und Leidenschaft, bis sein Priestergelübde stirbt in dieser Flammengluth.“

Er stand ihr ruhig und ehrfurchtsvoll gegenüber, aber seine Stimme hatte einen seltsam verschleierten Klang, als berge sich hinter dieser Erzählung noch eine andere geheime Bedeutung.

Da plötzlich schlug die junge Frau die gesenkten Augen auf und heftete sie voll und ernst auf das Gesicht des Sprechenden.

„Und – das Ende?“

„Das Ende ist der Tod wie in den meisten Sagen! Der Bruch des Gelübdes wird entdeckt und die Schuldigen werden der beleidigten Gottheit geopfert – der Priester stirbt in den Flammen, mit dem Weibe, das er liebt!“

Es folgte eine sekundenlange Pause, dann erhob sich Adelheid mit einer raschen Bewegung; sie wollte offenbar das Gespräch abbrechen.

„Sie haben recht, die Sage hat etwas Verwandtes mit den unsrigen, und wäre es auch nur in der alten Lehre von Schuld und Sühne.“

„Schuld nennen Sie das, gnädige Frau?“ Hartmut ließ urplötzlich die förmliche Anrede „Excellenz“ fallen. „Nun ja, vor den Menschen ist es Schuld und sie strafen es ja auch mit dem Tode, ohne zu ahnen, daß eine solche Strafe zur Seligkeit werden kann. So in Feuersgluthen zu vergehen, wenn man das höchste irdische Glück genossen hat und dies Glück noch im Tode umfängt, das ist ein leuchtendes, göttliches Sterben, mehr werth als ein ganzes Leben voll dumpfer Alltäglichkeit. Da lodert das ewige unsterbliche Recht der Liebe als Flammenzeichen zum Himmel empor, allen Menschensatzungen zum Trotz – finden Sie ein solches Ende denn nicht beneidenswerth?“

Auf dem Gesicht der jungen Frau lag eine leichte Blässe, aber ihre Stimme klang fest, als sie erwiderte: „Nein! Beneidenswerth ist nur der Tod für eine hohe heilige Pflicht, das Opfer eines reinen Lebens. Eine Schuld kann man verzeihen, aber man bewundert sie nicht.“

Hartmut biß sich auf die Lippen und ein drohender Blitz zuckte aus seinen Augen über die weiße Gestalt hin, die so ernst und unnahbar vor ihm stand. Dann aber lächelte er.

„Ein harter Richterspruch, der auch mein Werk trifft, denn ich habe meine ganze Kraft an die Verklärung jenes Liebens und Sterbens gesetzt! Wenn die Welt ebenso urtheilt – ah, Sie erlauben, gnädige Frau!“

Er trat rasch zu dem Divan, wo sie gesessen hatte und wo mit ihrem Fächer auch die Kamelie liegen geblieben war.

„Ich danke,“ sagte Adelheid, die Hand danach ausstreckend, aber er reichte ihr nur den Fächer allein.

„Verzeihung – aber als ich meine ‚Arivana‘ dichtete, auf der Veranda eines kleinen indischen Hauses, da glühten und leuchteten diese Blüthen überall aus dem dunklen Laube und jetzt grüßen Sie mich hier, im kalten Norden. – Darf ich die Blume nicht behalten?“

Adelheid machte eine halb unwillige Bewegung.

„Nein, wozu?“

„Wozu? Als eine Erinnerung an das herbe Urtheil aus dem Munde einer Frau, die doch den holden Namen meiner Sagengestalt trägt. Sehen Sie, gnädige Frau, es blühen ja dort auch weiße Kamelien, zarte schneeige Blüthen, Sie haben unbewußt die rothe, die gluthfarbene gebrochen, und Dichter sind nun einmal abergläubisch. Lassen Sie mir die Blume als ein Zeichen, daß mein Werk trotz alledem noch Gnade finden wird vor Ihren Augen, wenn Sie es erst kennen. Sie ahnen nicht, wie viel mir daran liegt!“

„Herr Rojanow, ich –“ sie wollte augenscheinlich eine Ablehnung aussprechen, aber er fiel ihr ins Wort, in gedämpftem und doch leidenschaftlichem Tone fuhr er fort:

„Was ist Ihnen eine einzelne Blüthe, die Sie achtlos brechen und achtlos verwelken lassen? Mir aber – lassen Sie mir dies Zeichen, gnädige Frau, ich – ich bitte darum!“

Er stand dicht an ihrer Seite. Der Zauber, den einst schon der Knabe unbewußt ausübte, wenn er die Menschen „wehrlos“ machte mit seinem Schmeicheln, der Mann hatte ihn als eine Macht kennengelernt, die nie versagte und die er zu brauchen [215] wußte. Seine Stimme hatte wieder jenen weichen, verhaltenen Ton, der wie Musik das Ohr bestrickte, und seine Augen, diese dunklen, räthselhaften Augen waren mit einem halb düsteren, halb flehenden Ausdruck auf die junge Frau gerichtet. Die Blässe in ihrem Gesichte war noch fahler geworden, aber sie antwortete nicht.

„Ich bitte!“ wiederholte er, noch leiser, noch flehender, und drückte die „gluthfarbene“ Blüthe an die Lippen; aber gerade diese Bewegung brach den Bann. Adelheid richtete sich plötzlich auf.

„Ich muß Sie ersuchen, Herr Rojanow, mir die Blume zurückzugeben. Sie ist für meinen Gatten bestimmt.“

„Ah so – ich bitte um Verzeihung, Excellenz!“

Er reichte ihr mit einer tiefen Verneigung die Kamelie, die sie mit einer kaum merklichen Bewegung des Kopfes in Empfang nahm, dann rauschte die schwere Schleppe des weißen Gewandes an ihm vorüber – er war allein.

Umsonst! An dieser Eisnatur glitt alles ab! Hartmut stampfte wüthend mit dem Fuße. Noch vor zehn Minuten hatte er dem Fürsten gegenüber ein so herbes Urtheil über alle Frauen ohne Ausnahme gefällt, jetzt hatte er es wieder gesungen, das zauberische Lied, das er so oft erprobt, und jetzt fand er eine, die diesem Liede widerstand. Aber der stolze, verwöhnte Mann wollte nicht daran glauben, daß er das Spiel, das er so oft gewonnen, auch einmal verlieren könne, und gerade hier lag ihm alles daran, es zu gewinnen.

Und sollte es denn wirklich nur ein Spiel bleiben? Er hatte sich noch keine Rechenschaft darüber gegeben, er fühlte nur, daß in die Leidenschaft, die ihn zu der schönen Frau zog, sich bisweilen etwas wie Haß mischte. Es waren widerstreitende Empfindungen, die sich schon damals geregt hatten, als er an ihrer Seite durch den Wald ging, halb Bewunderung, halb Abneigung; aber gerade das machte die Jagd so spannend für den geübten Jäger.

Liebe! Die hohe reine Bedeutung des Wortes war dem Sohne Zalikas fremd geblieben. Als er überhaupt empfinden lernte, da lebte er bereits an der Seite seiner Mutter, die mit der Liebe ihres Gatten ein so schmähliches Spiel getrieben hatte, und die Frauen, mit denen sie in ihrer Heimath verkehrte, waren nicht besser als sie. Das spätere Leben, das sie mit ihrem Sohne führte, unstet, abenteuerlich, ohne festen Boden unter den Füßen, hatte vollends den Rest von Idealismus ertödtet in dem jungen Manne; er lernte verachten, ehe er lieben lernte, und jetzt empfand er die verdiente Demüthigung, die ihm widerfuhr, als eine Beleidigung.

„Sträube Dich nur!“ murmelte er. „Du kämpfst gegen Dich selber. Ich habe es gesehen und gefühlt, und in solchem Kampfe siegt man nicht!“

Ein leichtes Geräusch am Eingange ließ ihn aufblicken. Es war der Gesandte, der dort auf der Schwelle erschien und einen suchenden Blick durch das Zimmer gleiten ließ. Er kam, seine Frau zu holen, die er noch hier vermuthete. Beim Anblick Hartmuts stutzte er und schien einen Augenblick unentschlossen zu sein, dann aber sagte er halblaut:

„Herr Rojanow –“

„Excellenz?“

„Ich möchte unter vier Augen mit Ihnen sprechen.“

„Ich stehe zu Befehl!“

Wallmoden trat ein, aber er nahm seinen Standpunkt so, daß er den Eingang im Auge behielt. Es war kaum nöthig, denn soeben waren die Thüren zu dem Speisesaal geöffnet worden und die ganze Gesellschaft fluthete dorthin, der Raum, an den sich das Thurmzimmer schloß, hatte sich bereits völlig geleert.

„Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen,“ begann der Gesandte in gedämpftem Tone, aber mit derselben verletzenden Kälte, die er schon bei der ersten Begegnung gezeigt hatte und die dem jungen Manne auch jetzt wieder das Blut in die Stirn trieb; er richtete sich drohend auf.

„Weshalb, Excellenz?“

„Die Frage ist wohl überflüssig, jedenfalls ersuche ich Sie, mich nicht wieder in eine solche Zwangslage zu bringen wie vorhin, als Fürst Adelsberg Sie mir vorstellte.“

„Die Zwangslage war auf meiner Seite,“ gab Hartmut ebenso schroff zurück. „Ich will nicht hoffen, daß Sie mich hier als einen Eindringling betrachten, Sie wissen doch am besten, daß ich zu einem solchen Verkehr berechtigt bin.“

„Hartmut von Falkenried war das allerdings einst – das hat sich geändert.“

„Herr von Wallmoden!“

„Bitte, nicht so laut,“ unterbrach ihn der Gesandte. „Man könnte uns hören, und Ihnen wäre es wohl sicher nicht erwünscht, wenn der Name, den ich soeben aussprach, vor fremden Ohren genannt würde.“

„Ich führe allerdings gegenwärtig den Namen meiner Mutter, auf den ich doch wohl ein Recht habe. Wenn ich jenen andern ablegte, so geschah es aus Rücksicht –“

„Auf Ihren Vater!“ ergänzte Wallmoden mit schwerer Betonung.

Hartmut zuckte zusammen, das war eine Mahnung, die er noch immer nicht ertrug. „Ja,“ entgegnete er kurz, „und ich gestehe, daß es mir peinlich wäre, wenn ich gezwungen werden sollte, diese Rücksicht zu verletzen.“

„Nur deshalb? Ihre Rolle hier würde in diesem Falle auch wohl ausgespielt sein.“

Rojanow trat mit einer heftigen Bewegung dicht vor den Gesandten hin.

„Sie sind der Jugendfreund meines Vaters, Herr von Wallmoden, und ich habe Sie in meiner Knabenzeit Onkel genannt, Sie vergessen aber, daß ich nicht mehr der Knabe bin, den Sie damals hofmeistern und ausschelten durften. Der Mann sieht das jetzt als eine Beleidigung an.“

„Ich beabsichtige weder Sie zu beleidigen noch alte Beziehungen geltend zu machen, die wir beiderseitig als nicht mehr bestehend ansehen,“ sagte Wallmoden kalt. „Wenn ich diese Unterredung wünschte, so geschah es, um Ihnen zu erklären, daß es mir in meiner amtlichen Stellung nicht möglich ist, Sie im Verkehr mit dem hiesigen Hofe zu sehen und dazu zu schweigen, während es doch wohl meine Pflicht wäre, den Herzog aufzuklären.“

„Aufzuklären? Worüber?“

„Ueber so manches, was man hier nicht weiß und was auch wohl dem Fürsten Adelsberg unbekannt geblieben ist. – Bitte, fahren Sie nicht auf, Herr Rojanow! Ich würde das nur im äußersten Nothfalle thun, denn ich habe einen Freund zu schonen. Ich weiß, wie ihn vor zehn Jahren ein gewisser Vorfall getroffen hat, der jetzt in unserer Heimath vergessen und begraben ist; wenn das alles wieder auflebte und in die Oeffentlichkeit gebracht würde – Oberst Falkenried würde daran sterben.“

Hartmut erbleichte und die trotzige Erwiderung kam nicht über seine Lippen. „Er würde daran sterben!“ Das furchtbare Wort, dessen Wahrheit er nur zu gut fühlte, drängte für den Augenblick selbst das Beleidigende jener Erklärung in den Hintergrund.

„Ueber jenen Vorfall bin ich nur meinem Vater Rechenschaft schuldig,“ entgegnete er mit mühsam beherrschter Stimme. „Nur ihm allein und keinem anderen!“

„Er wird sie schwerlich fordern – sein Sohn ist todt für ihn! Doch lassen wir das ruhen. Ich spreche hauptsächlich von den späteren Jahren, von Ihrem Aufenthalt in Rom und Paris, wo Sie mit Ihrer Mutter auf ziemlich glänzendem Fuße lebten, trotzdem die rumänischen Güter im Zwangswege verkauft waren.“

„Sie scheinen ja allwissend zu sein, Excellenz,“ stieß Rojanow in äußerster Gereiztheit hervor. „Wir ahnten wirklich nicht, daß wir unter so gewissenhafter Beaufsichtigung standen. Uebrigens lebten wir von dem Rest unseres Vermögens, der aus jenem Zusammenbruch gerettet war.“

„Es wurde nichts gerettet, das ganze Vermögen ging damals verloren bis auf den letzten Heller!“

„Das ist nicht wahr!“ fiel Hartmut stürmisch ein.

„Das ist wahr! Sollte ich darin wirklich besser unterrichtet sein als Sie?“ Die Stimme des Gesandten klang in schneidender Scharfe. „Es ist möglich, daß Frau Rojanow ihrem Sohne nicht die Quellen nennen wollte, aus denen ihre Mittel flossen, und ihn absichtlich im Irrthum darüber ließ. Ich kenne diese Quellen – wenn sie Ihnen unbekannt geblieben sind, um so besser für Sie!“

„Hüten Sie sich. meine Mutter zu beleidigen!“ brauste der junge Mann auf. „Ich könnte sonst vergessen, daß Sie graue Haare tragen, und Genugthuung fordern –“

„Wofür? Etwa für eine Behauptung, die ich mit Beweisen unterstützen kann? Lassen Sie solche Tollheiten beiseite, auf die ich doch nicht eingehen würde. Es war Ihre Mutter und sie ist todt! Also wollen wir diesen Punkt nicht weiter erörtern. Ich [216] möchte an Sie nur die Frage stellen, ob Sie auch nach dieser Unterredung noch beabsichtigen, hier zu bleiben und in den Kreisen zu verkehren, die Ihnen Fürst Adelsberg öffnet.“

Hartmut war leichenblaß geworden bei jener Andeutung von den trüben Quellen, aus denen die Mittel seiner Mutter geflossen sein könnten, und das starre Entsetzen, mit dem er den Sprechenden anblickte, verrieth, daß er in der That nichts wußte; bei der letzten Frage aber gewann er seine Fassung zurück. Seine Augen begegneten flammend denen des Gegners, und eine wilde Entschlossenheit klang aus seiner Stimme, als er antwortete:

„Ja, Herr von Wallmoden – ich bleibe!“

Der Gesandte schien diesen Trotz doch nicht erwartet zu haben, er hatte sich offenbar die Sache leichter gedacht, aber er bewahrte seine Gelassenheit.

„Wirklich? Nun, Sie sind es gewohnt, ein hohes Spiel zu spielen, Sie scheinen das auch hier – still, wir werden gestört! Ueberlegen Sie sich die Sache, vielleicht besinnen Sie sich doch eines Besseren.“

Er trat rasch in den anstoßenden Saal, wo jetzt der Oberforstmeister erschien.

„Wo steckst Du denn eigentlich, Herbert?“ fragte dieser, als er des Gesandten ansichtig wurde. „Ich habe mich überall nach Dir umgesehen.“

„Ich wollte meine Frau holen –“

„Die ist bereits im Speisesaal wie alle Welt, und Du wirst auch schon vermißt. Komm, es ist Zeit, daß wir etwas zu essen bekommen!“ Damit bemächtigte sich Herr von Schönau in seiner immer frohgelaunten Weise seines Schwagers und entfernte sich mit ihm.

Hartmut stand noch an seinem Platze, aber er rang nach Athem, die Aufregung drohte ihn zu ersticken, Scham. Haß und Empörung, das alles fluthete wild durcheinander in seinem Innern. Jene Andeutung Wallmodens hatte ihn furchtbar getroffen, obwohl er sie nur halb verstand. Sie zerriß den Schleier, mit dem er sich unbewußt, halb absichtlich die Wahrheit verhüllte. Er hatte in der That geglaubt, daß ein geretteter Rest des Vermögens ihm und seiner Mutter die Mittel zum Weiterleben lieferte, aber es war nicht das einzige Mal gewesen, wo er nicht hatte sehen wollen, was er doch hätte sehen müssen.

Als die Hand der Mutter ihn so jäh und plötzlich aus dem Zwange der väterlichen Erziehung in die schrankenloseste Freiheit riß, als er den Kreis strenger Pflichten mit einem Dasein voll berauschenden Genusses vertauschte, da hatte er dies Dasein in vollen Zügen genossen, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben. Er war zu jung, um zu urtheilen, und später – da war es eben zu spät für ihn, da hatten Beispiel und Gewohnheit ein unzerreißbares Netz um ihn gewoben. Jetzt zum ersten Male wurde ihm klar und deutlich gezeigt, was das Leben war, das er so lange geführt hatte, das Leben eines Abenteurers, und wie einen Abenteurer wies man ihn fort aus den Kreisen der Gesellschaft.

Aber noch heißer als die Scham darüber brannte der Schimpf, den man ihm angethan hatte, der Haß gegen den Mann, der ihm diese unerbittliche Wahrheit aufzwang. Das unselige Erbtheil der Mutter, das heiße, wilde Blut, das einst schon dem Knaben so verhängnißvoll geworden war, wallte auf wie ein Feuerstrom, und jeder andere Gedanke ging unter in dem Gefühl einer wilden, maßlosen Rachsucht. Die sonst so schönen Züge Hartmuts waren entstellt bis zur Unkenntlichkeit, als er endlich stumm, mit zusammengebissenen Zähnen das Zimmer verließ. Er wußte und fühlte nur eins, daß er sich rächen mußte, rächen um jeden Preis! – –

Es war schon ziemlich spät, als das Fest sein Ende erreichte. Nachdem das herzogliche Paar sich zurückgezogen hatte, erfolgte der allgemeine Aufbruch, ein Wagen nach dem anderen rollte den Schloßberg hinab, das helle Licht der Säle erlosch und Fürstenstein begann, sich in Dunkel und Schweigen zu hüllen.

Die beiden Zimmer, welche der Gesandte und seine Gemahlin in der Wohnung des Oberforstmeisters innehatten, waren noch erleuchtet; Adelheid stand am Fenster, sie trug noch die reiche Festkleidung und blickte wie in Gedanken verloren hinaus, aber es war eine eigenthümlich müde Bewegung, mit der sie das Haupt an die Scheiben lehnte.

Wallmoden saß am Schreibtische und durchflog einige Briefe und Depeschen, die während der letzten Stunden eingegangen waren. Sie schienen Wichtiges zu enthalten, denn er legte sie nicht zu den übrigen Papieren, die morgen früh erledigt werden sollten, sondern ergriff eine Feder und warf rasch einige Zeilen hin; dann erhob er sich und trat zu seiner Frau.

„Das kommt unerwartet,“ sagte er. „Ich werde nach Berlin reisen müssen.“

Adelheid wandte sich überrascht um.

„So plötzlich?“

„Ja, ich dachte die betreffende, allerdings wichtige Sache brieflich zu erledigen, aber der Minister wünscht dringend persönliche Rücksprache. Ich werde mich also morgen früh von dem Herzog beurlauben, vorläufig auf acht Tage, und dann sofort abreisen.“

Man konnte in dem Halbdunkel die Züge der jungen Frau nicht unterscheiden, aber ihre Brust hob sich unter einem tiefen Athemzuge, der eine vielleicht unbewußte Erleichterung verrieth.

„Und um welche Stunde fahren wir?“ fragte sie rasch. „Ich möchte meine Kammerfrau benachrichtigen.“

„Wir? Es ist eine rein geschäftliche Angelegenheit und da reise ich selbstverständlich allein.“

„Aber ich könnte Dich trotzdem begleiten.“

„Wozu denn, Du hörst ja, daß es sich nur um eine Abwesenheit von acht bis vierzehn Tagen handelt.“

„Gleichviel, ich – ich möchte Berlin einmal wiedersehen.“

„Welch ein Einfall!“ sagte Wallmoden achselzuckend. „Ich werde diesmal so in Anspruch genommen sein, daß ich Dich nirgends begleiten kann.“

Die junge Frau war an den Tisch getreten und stand jetzt im vollen Schein der Lampe. Sie war viel bleicher als sonst und ihre Stimme hatte einen gepreßten Klang, als sie antwortete:

„Nun, so bleibe ich zu Haus, aber hier in Fürstenstein möchte ich wirklich nicht allein bleiben, ohne Dich.“

„Allein?“ Der Gefandte sah sie befremdet an. „Du bleibst bei unseren Verwandten, deren Gäste wir sind. Seit wann bist Du denn überhaupt so schutzbedürftig? Das ist eine Eigenschaft, die ich bisher noch nie an Dir bemerkt habe. Ich begreife Dich nicht, Adelheid, was ist das für eine seltsame Laune, daß Du mich durchaus begleiten willst?“

„Nun, so nimm es als eine Laune, aber laß mich mit Dir reisen, Herbert – ich bitte Dich darum!“

Sie legte bittend die Hand auf seinen Arm und ihre Augen waren mit einem beinahe angstvollen Ausdruck auf den Gatten gerichtet, dessen schmale Lippen sich jetzt spöttisch verzogen. Es war jenes überlegene Lächeln, das bisweilen so verletzend sein konnte.

„Ah so, jetzt begreife ich! Die Scene mit der Prinzessin ist Dir unangenehm gewesen, Du fürchtest erneute Plänkeleien, die ja allerdings nicht ausbleiben werden. Diese Empfindlichkeit mußt Du Dir abgewöhnen, mein Kind, Du solltest im Gegentheil einsehen, daß gerade diese Begegnung Dich in die Nothwendigkeit versetzt, hier zu bleiben. Bei Hofe wird jedes Wort, jeder Blick gedeutet, und eine plötzliche Abreise Deinerseits würde zu allen möglichen Deutungen Anlaß geben. Du hast jetzt standzuhalten, wenn Du Dir Deine Beziehungen zum Hofe nicht dauernd erschweren willst.“

Die Hand der jungen Frau glitt langsam von seinem Arme und ihr Blick sank zu Boden bei dieser kühlen Abweisung ihrer fast flehenden Bitte, der ersten, die sie überhaupt aussprach in ihrer kurzen Ehe.

„Standhalten!“ wiederholte sie leise. „Das thue ich, aber ich hoffte, Du würdest mir zur Seite bleiben.“

„Das ist für den Augenblick nicht möglich, wie Du siehst. Uebrigens verstehst Du es ja meisterhaft, Dich zu wehren. Das hast Du heute mir und dem ganzen Hofe gezeigt, aber ich verlasse mich darauf, daß der Wink, den ich Dir vorhin gab, befolgt wird und Du künftig vorsichtiger in Deinen Antworten bist. Jedenfalls bleibst Du in Fürstenstein, bis ich zurückkehre und Dich abhole.“

Adelheid schwieg, sie sah, daß hier nichts zu erreichen war. Wallmoden trat wieder an den Schreibtisch und verschloß die eingegangenen Schriftstücke; dann ergriff er das Blatt, auf dem er die Antwort niedergeschrieben hatte, und faltete es zusammen.

„Noch eins, Adelheid!“ sagte er flüchtig. „Der junge Fürst Adelsberg war heut unausgesetzt in Deiner Nähe, er huldigt Dir in etwas auffallender Weise.“

„Wünschest Du, daß ich diese Huldigungen zurückweise?“ Sie fragte das sehr obenhin.

[218] „Nein, ich bitte Dich nur, ihnen die nöthigen Schranken zu ziehen, damit kein unnützes Gerede entsteht. Ich denke nicht daran, Dir Deine Erfolge in der Gesellschaft zu verkümmern. Wir leben nicht in bürgerlichen Verhältnissen, und in meiner Stellung wäre es lächerlich, wollte ich den eifersüchtigen Ehemann spielen, der jede Aufmerksamkeit, die man seiner Frau erweist, mit Argwohn betrachtet. Ich muß Dich darin ganz Deinem eigenen Taktgefühl überlassen, dem ich unbedingt vertraue.“

Das klang alles so gelassen, so vernünftig und so grenzenlos gleichgültig. Von dem Vorwurf der Eifersucht konnte man Herrn von Wallmoden in der That freisprechen, die offen zur Schau getragene Bewunderung des jungen, liebenswürdigen Fürsten flößte ihm gar keine Besorgniß ein, er überließ seine Frau ruhig ihrem „Taktgefühl“.

„Ich werde die Depesche selbst besorgen,“ fuhr er fort, „seit der Herzog hier ist, haben wir ja ein Telegraphenamt im Schlosse. Du solltest Deiner Kammerfrau klingeln, mein Kind, Du siehst etwas angegriffen aus und bist wahrscheinlich ermüdet – gute Nacht.“

Damit ging er, aber Adelheid befolgte den ihr ertheilten Rath nicht. Sie war wieder an das Fenster getreten und ein halb bitterer, halb schmerzlicher Ausdruck zuckte um ihre Lippen. Sie hatte es noch nie so deutlich wie jetzt gefühlt, daß sie ihrem Gatten nichts war als ein glänzendes Schmuckstück, mit dem man Staat macht – eine Frau, die man stets mit vollendeter Höflichkeit und Artigkeit behandelt, weil man mit ihrer Hand ein fürstliches Vermögen empfangen hat, und der man mit derselben Höflichkeit eine Bitte abschlägt, die doch so leicht zu gewähren war.

Ueber dem Walde lagerte die Nacht, der Himmel war dunkel und verschleiert, nur hin und wieder schimmerte ein einzelner Stern durch die ziehenden Wolken, und zu diesem düsteren Nachthimmel blickte jetzt ein Antlitz empor, nicht in der kühlen stolzen Ruhe, in der die Welt es zu sehen gewohnt war, sondern mit dem Ausdruck flehender Angst.

Die junge Frau hatte beide Hände gegen die Brust gepreßt, als schmerze sie dort etwas. Sie hatte ja fliehen wollen vor der dunklen Macht, deren Nahen sie längst schon gefühlt hatte, und die jetzt immer näher, immer dichter ihre Kreise zog, sie hatte sich in den Schutz des Gatten flüchten wollen – vergebens! Er ging und ließ sie allein, und ein anderer blieb, ein anderer, der mit seinen dunklen, heißen Augen, mit dem Klange seiner Stimme eine so geheimnißvolle unwiderstehliche Gewalt ausübte. „Ada!“ Der Name mit seinem fremdartig süßen Klange wehte wie Geisterhauch an ihrem Ohr vorüber. Es war ja ihr Name, den die Sagengestalt der Arivana trug.




Es war Oktober geworden und der Herbst begann seine Herrschaft schon nachdrücklich zu zeigen. Das Laub der Bäume färbte sich bunt, die Landschaft lag morgens und abends im Nebelduft und die Nächte brachten bisweilen Reif, während die Tage meist schön und sonnig waren.

Mit Ausnahme jenes großen Abendfestes, das die ganze Umgegend in Fürstenstein versammelt hatte, und der Jagden, die um diese Jahreszeit selbstverständlich im Vordergrunde standen, fanden keine besonderen Festlichkeiten statt. Der Herzog wie seine Gemahlin liebten es, im kleineren Kreise zu verkehren, und wollten sich die Ruhe und Zwanglosigkeit ihres Herbstaufenthaltes nicht durch rauschende Vergnügungen stören lassen. Um so häufiger wurden Ausflüge unternommen, die Waldberge zu Pferd und zu Wagen durchstreift, und die fürstliche Tafel sah täglich eine größere Anzahl von Gästen.

Auch Adelheid von Wallmoden gehörte zu diesem engeren Kreise. Die Herzogin, die es erfuhr, in welcher Art ihre Schwägerin der jungen Frau die Stellung zu erschweren suchte, glich das durch um so größere Liebenswürdigkeit aus und zog sie bei jeder Gelegenheit in ihre Nähe, der Herzog aber, der den Gesandten in seiner Gemahlin auszuzeichnen wünschte, war durchaus einverstanden damit. Wallmoden selbst befand sich noch in Berlin, die zwei Wochen, die er für seine Reise in Aussicht genommen hatte, waren bereits verstrichen, und noch verlautete nichts über seine Rückkehr.

Einer der häufigsten Gäste in Fürstenstein war Egon von Adelsberg, der erklärte Liebling seiner fürstlichen Verwandten, und mit ihm wurde auch seinem Freunde Rojanow stets die Ehre einer Einladung zutheil. Der junge Fürst hatte recht prophezeit, Hartmut stieg wie ein leuchtender Meteor auf, dem alle Blicke bewundernd folgten und von dem man gar nicht erwartete, daß es die altgewohnten Bahnen des Hoflebens ziehen werde. Er hatte auf Wunsch der Herzogin bereits seine „Arivana“ vorgelesen und damit einen förmlichen Triumph gefeiert. Der Herzog hatte ihm sofort die Aufführung des Dramas am Hoftheater zugesichert, und Prinzessin Sophie wandte dem jungen Dichter ihre besondere Gnade zu. Die Umgebung folgte selbstverständlich dem Beispiele der Fürstlichkeiten und folgte in diesem Falle nur zu gern, denn der Zauber, den dieser Mann nun einmal auf alle ausübte, that auch hier seine Wirkung. –

Vor dem Schlosse zu Rodeck hielt der Jagdwagen des Fürsten Adelsberg. Es war noch früh am Tage und der nebelduftige Oktobermorgen schien einen klaren, schönen Tag zu verheißen. Soeben trat Egon in voller Jagdausrüstung auf die Terrasse und sprach mit dem Schloßverwalter, der ihm folgte.

„Also Du willst Dir die Jagd auch anschauen?“ fragte er. „Natürlich, wo es etwas zu sehen giebt, muß Peter Stadinger dabei sein! Mein Kammerdiener hat gleichfalls um Urlaub gebeten, und ich glaube, die ganze Bevölkerung des ‚Waldes‘ wandert heute aus, um mit Kind und Kegel nach dem Jagdrevier zu ziehen.“

„Ja, Durchlaucht, so etwas giebt es auch nicht oft zu schauen,“ meinte Stadinger. „Die großen Hof- und Staatsjagden sind selten geworden in unserem Walde. Gejagt wird ja überall, aber dann sind die Herren meist unter sich wie hier in Rodeck, und wenn die Damen nicht dabei sind –“

„Dann ist es sträflich langweilig!“ ergänzte der Fürst. „Ganz meine Meinung, aber Du bist ja sonst so eingenommen gegen die Weiblichkeit und schreist Ach und Wehe, wenn irgend etwas, was noch nicht das kanonische Alter erreicht hat, die Grenze von Rodeck uberschreitet. Hast Du Dich auf Deine alten Tage noch bekehrt?“

„Ich meinte die hochfürstlichen Damen, Durchlaucht,“ erklärte der Alte mit nachdrücklicher Betonung.

„Die fürstlichen Damen können mich höchstens auf einer Spazierfahrt mit ihrem Besuche beehren, zur Jagd einladen kann ich sie nicht, da ich Junggeselle bin.“

„Und warum sind Durchlaucht denn noch immer Junggesell?“ fragte Stadinger in vorwurfsvollem Tone.

„Mensch, ich glaube, Du hast auch schon Heirathspläne für mich, wie meine aller – wie alle Welt, meine ich!“ rief Egon lachend. „Gieb Dir keine Mühe, ich heirathe nicht!“

„Das ist unrecht, Durchlaucht,“ belehrte Stadinger, der den Titel seines Herrn mindestens einmal in jedem Satze vorbrachte, weil das zum Respekt gehörte, während er zugleich seiner jungen Durchlaucht nach allen Regeln den Text las – „und unchristlich ist es auch, denn der Ehestand ist ein heiliger Stand, in dem man sich wohl befindet; Dero hochseliger Herr Vater haben auch geheirathet – und ich auch!“

„Natürlich, Du auch! Du bist sogar Großvater einer allerliebsten Enkelin, die Du schändlicherweise fortgeschickt hast. Wann kommt denn eigentlich die Zenz zurück?“

Der Schloßverwalter fand für gut, die letzte Frage zu überhören, aber er blieb hartnäckig bei seinem Thema.

„Ihre Hoheiten die Frau Herzogin und die Prinzessin Sophie sind auch dieser Meinung, Durchlaucht sollten sich die Sache doch überlegen.“

„Nun, da Du mich so väterlich ermahnst, werde ich sie mir überlegen. Was aber die Prinzessin Sophie betrifft – sie beabsichtigt nach Bucheneck zu fahren, wo das Stelldichein der heutigen Jagd ist, und da ist es möglich, daß sie Dich dort bemerkt und anredet.“

„Sehr möglich, Durchlaucht!“ bestätigte der Alte mit großem Selbstbewußtsein. „Hoheit beehren mich stets mit einer Anrede, da sie mich als ältesten Diener des fürstlichen Hauses kennen.“

„Gut, wenn die Prinzessin sich also zufällig nach den Schlangen und Raubthieren erkundigen sollte, die ich von der Reise mitgebracht habe, so sagst Du, sie wären bereits nach einem der anderen Schlösser geschickt worden.“

„Ist gar nicht nöthig, Durchlaucht!“ versicherte Stadinger wohlwollend. „Dero allergnädigste Tante weiß bereits genau Bescheid.“

„Bescheid? Worüber? Hast Du ihn vielleicht gegeben?“

„Zu Befehl; vorgestern, als ich in Fürstenstein war. Hoheit kamen gerade von einer Spazierfahrt zurück und geruhten, mich heranzuwinken und auszufragen, Hoheit thun das sehr gern.“

[219] „Ja, das weiß der Himmel!“ murmelte der junge Fürst, der bereits Unheil ahnte. „Und was hast Du denn da geantwortet?“

„‚Hoheit können ganz ruhig sein‘, habe ich gesagt. ‚Von lebendigem Gethier haben wir nur Affen und Papageien im Schlosse, Schlangen sind überhaupt nie dagewesen, es sollte zwar eine große Seeschlange ankommen, aber sie ist auf der Ueberfahrt gestorben, und die Elefanten haben sich bei der Einschiffung losgerissen und sind wieder in die Palmenwälder zurückgelaufen – so sagt Durchlaucht wenigstens! Zwei Tiger haben wir allerdings, aber sie sind ausgestopft, und von dem Löwen ist nur das Fell da, das liegt im Jagdsaal, also sehen Hoheit doch selbst, daß die Bestien nicht ausbrechen und Schaden anrichten können.‘“

„Nein, aber Du hast ihn angerichtet mit Deinem Geschwätz!“ rief Egon ärgerlich. „Und die Prinzessin? Was sagte sie darauf?“

„Hoheit lächelten nur und erkundigten sich dann noch, wie es mit dem weiblichen Dienstpersonal in Rodeck bestellt sei und ob Mädchen aus hiesiger Gegend darunter wären, aber da sagte ich“ – Stadinger warf sich gewaltig in die Brust – „‚Was von Frauenzimmern im Schlosse ist, das habe ich in Dienst genommen. Arbeitsam und tüchtig sind sie alle, dafür habe ich gesorgt; aber Durchlaucht läuft, wenn er sie zu Gesicht bekommt, und Herr Rojanow läuft noch ärger, und in der Küche sind die Herren nie wieder gewesen, seit sie einmal darin waren.‘ – Darauf waren Hoheit sehr gnädig und geruhten, mich zu loben, und entließen mich in allerhöchster Zufriedenheit.“

„Und ich möchte Dich in allerhöchster Unzufriedenheit zum Kuckuck jagen!“ fuhr der junge Fürst wüthend auf. „Du verwünschter alter Waldgeist, was hast Du da wieder angestiftet!“

Der Alte, der offenbar glaubte, seine Sache sehr gut gemacht zu haben, sah seinen Herrn mit verblüffter Miene an.

„Ich habe ja doch nur die Wahrheit gesagt, Durchlaucht!“

„Es giebt aber Fälle, wo man die Wahrheit nicht sagen darf.“

„So? Das wußte ich bisher noch nicht.“

„Stadinger, Du hast eine ganz verwünschte Art, zu antworten! Hast Du vielleicht auch der Prinzessin erzählt, daß die Zenz schon seit vier Wochen in der Stadt ist?“

„Zu Befehl, Durchlaucht!“

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 8, S. 255–259

[255] „Was ist denn wieder mit dem Stadinger?“ fragte Hartmut, der, gleichfalls zur Jagd gerüstet, aus dem Schlosse trat und die letzten Worte des Gespräches hörte.

„Eine Dummheit allerersten Ranges hat er gemacht!“ erklärte Egon. Aber da kam er übel an bei dem „ältesten Diener des fürstlichen Hauses“, der sich tiefbeleidigt aufrichtete.

„Halten zu Gnaden, Durchlaucht, ich habe die Dummheit nicht gemacht.“

„Meinst Du vielleicht, daß ich sie gemacht habe?“

Stadinger guckte seinen Herrn scharf von der Seite an, dann entgegnete er bedächtig:

„Das weiß ich nicht, Durchlaucht – aber es kann schon sein.“

„Du bist ein Grobian!“ rief der Fürst hitzig.

„Dafür bekannt im ganzen Walde, Durchlaucht.“

„Komm, Hartmut, mit dem alten Brummbär ist doch nichts anzufangen!“ sagte Egon halb ärgerlich, halb lachend. „Erst bringt er mich in Ungelegenheiten, und dann kanzelt er mich noch obendrein ab. Gnade Dir Gott, Stadinger, wenn Du noch öfter solche Berichte erstattest!“

Damit ging er in Begleitung Rojanows zum Wagen und stieg ein. Stadinger aber blieb in strammer Haltung stehen und grüßte vorschriftsmäßig und „respektvoll“, denn der Respekt war die Hauptsache. Deshalb fiel es ihm indessen nicht ein, nachzugeben, das mußte Seine Durchlaucht Fürst Egon thun, er kam nun einmal nicht auf gegen seinen Peter Stadinger.

Egon war gleichfalls dieser Meinung, als er seinem Freunde während der Fahrt das Vorgefallene erzählte und mit komischer Verzweiflung schloß:

„Nun kannst Du Dir denken, welcher Empfang bei der Allergnädigsten mir bevorsteht! Sie hat es jedenfalls errathen, daß ich sie von Rodeck fernhalten wollte, meine Moral ist allerdings gerettet in ihren Augen, aber auf Kosten meiner Wahrheitsliebe. Hartmut, thu’ mir den Gefallen und laß Deine ganze Liebenswürdigkeit gegen meine hochverehrte Tante los! Mache nöthigenfalls ein Gedicht auf sie, als Blitzableiter, sonst trifft mich der Strahl des allerhöchsten Zornes!“

„Nun, ich dächte, Du wärst ziemlich wetterfest in diesem Punkte,“ spottete Hartmut. „Man hat Dir schon öfter solche Streiche verzeihen müssen. – Die Herzogin und die jüngeren Damen werden der Jagd also zu Pferde beiwohnen?“

„Gewiß, im Wagen ist ja nicht viel davon zu sehen. Weißt Du übrigens, daß Frau von Wallmoden vorzüglich reitet? Ich begegnete ihr vorgestern, als sie mit ihrem Schwager, dem Oberforstmeister, von einem Spazierritte zurückkam.“

„Ah so! Nun, dann weiß man also, wo der Platz des Fürsten Adelsberg heut ausschließlich sein wird.“

Egon, der bequem zurückgelehnt saß, richtete sich auf und sah seinen Freund forschend an.

„Bitte, nicht so spöttisch! Du bist allerdings nicht so häufig in der Nähe der besagten Dame zu finden und trägst sogar eine gewisse Zurückhaltung zur Schau, aber ich kenne Dich viel zu genau, um nicht zu wissen, daß wir nur zu sehr einer Meinung sind.“

„Und wenn das wäre – würdest Du es mir als einen Bruch der Freundschaft auslegen?“

„In diesem Falle nicht, wo das Ziel uns beiden unerreichbar ist.“

„Unerreichbar?“ um die Lippen Rojanows spielte wieder jenes unheimliche Lächeln.

[256] „Ja, Hartmut,“ sagte der junge Fürst halb ernst, halb scherzend, „das ‚schöne kalte Nordlicht‘, wie Du es getauft hast, bleibt seiner Natur getreu. Es steht fern und unnahbar am Horizont und das Eismeer, aus dem es emporsteigt, ist nicht zu durchbrechen. Die Frau hat eben kein Herz, sie ist jeder leidenschaftlicheren Empfindung unzugänglich und das giebt ihr diese beneidenswerthe Sicherheit. Gestehe es nur, hier scheitert auch Deine sonstige Allmacht, der Eishauch hat Dich erkältet und darum hältst Du Dich jetzt fern.“

Hartmut schwieg, er dachte an jene Minuten im Thurmzimmer, wo er um die „gluthfarbene“ Blüthe bat. Sie war ihm verweigert worden, aber Eishauch war es nicht gewesen, was damals von der jungen Frau ausging, als sie unter dem Blick des Bittenden erbebte. Er hatte sie seitdem fast täglich gesehen, genaht war er ihr nur selten, aber er wußte doch, daß er sie nach wie vor in seinem Banne hielt.

„Und trotzdem komme ich nicht los von dieser thörichten Schwärmerei,“ fuhr Egon mit einem halb träumerischen Ausdruck fort. „Mir ist es immer, als könnte da einmal Gluth und Leben aufstrahlen und die Schneeregion in eine blühende Welt verwandeln. Wenn Adelheid von Wallmoden noch frei wäre – ich glaube, ich wagte den Versuch.“

Rojanow, der wie in Gedanken verloren in den noch vom Frühnebel verschleierten Wald hinausblickte, wandte sich jäh und heftig um.

„Welchen Versuch? Soll das etwa heißen, daß Du ihr Deine Hand anbieten würdest?“

„Du entsetzest Dich ja förmlich darüber!“ rief der Fürst laut auflachend. „Das meinte ich allerdings. Ich habe keine Vorurtheile gegen die ‚Industrie‘ wie meine allergnädigste Tante, der eine solche Möglichkeit allerdings Krämpfe zuziehen würde, und Du scheinst merkwürdigerweise ebenso zu empfinden. Nun, Ihr könnt Euch beide beruhigen, Seine Excellenz der Herr Gemahl hat sich den Preis bereits gesichert und der weckt sicher keine Blüthenwelt mit seinem langweiligen Diplomatengesichte – aber der Mann hat ein beneidenswerthes Glück gehabt!“

„Man soll niemand vor seinem Tode glücklich preisen!“ sagte Hartmut halblaut.

„Eine sehr weise Bemerkung, nur ist sie nicht ganz neu. Aber Du hast manchmal etwas in deinen Augen, was geradezu erschrecken kann. Nimm es mir nicht übel, Hartmut, aber in diesem Augenblick sahst Du wie ein Dämon aus!“

Rojanow blieb die Antwort schuldig. Die Fahrstraße verließ jetzt den Wald, drüben wurde Fürstenstein sichtbar, wo die herzogliche Fahne im Morgenwinde flatterte, und eine halbe Stunde später rollte der Wagen in den Schloßhof, wo ein bewegtes Leben herrschte. Die ganze Dienerschaft war auf den Beinen, Reitpferde und Wagen standen bereit und der größte Theil der zur Jagd Geladenen war bereits eingetroffen.

Zur festgesetzten Stunde erfolgte der Aufbruch, und in dem hellen Schein der Sonne, die jetzt den Nebel durchbrach, bot der Jagdzug, der sich den Schloßberg hinabbewegte, ein glänzendes Bild. An der Spitze der Herzog und seine Gemahlin, dann das zahlreiche Gefolge und die ganze Schar der Gäste, die jüngeren Damen gleichfalls zu Pferde, das Jagdpersonal, soweit es den Zug begleitete, in voller Gala – so ging es hinein in den sonnigen Herbstmorgen, in die Wälder und Höhen des Jagdreviers, wo es bald lebendig wurde. Von allen Seiten knallten die Schüsse, das fliehende Wild brach bald einzeln, bald in Rudeln durch das Dickicht oder jagte über die Lichtungen hin, um schließlich doch von der Kugel ereilt zu werden, und die sonst so stillen Waldgründe hallten wieder von dem Lärm des Weidwerks.

Der Oberforstmeister hatte das ganze Forstpersonal der Umgegend aufgeboten und die Anordnungen vorzüglich getroffen, so daß er Ehre einlegte mit seiner Leitung der Jagd, die kein Unfall trübte. Gegen mittag fand die Zusammenkunft in Bucheneck statt, einem kleinen herzoglichen Jagdhause, das mitten im Walde lag und bei etwaiger ungünstiger Witterung eine Unterkunft bieten konnte. Das war nun heute nicht nöthig, denn das Wetter war prachtvoll geworden, nur etwas zu heiß für einen Oktobertag. Die Sonne brannte förmlich nieder und machte sich geradezu lästig bei dem Frühstück, das im Freien eingenommen wurde.

Sonst aber ging es sehr heiter und zwanglos zu, und auf der weiten, grünen Wiese, an deren Saum Bucheneck lag, entwickelte sich ein lustiges Treiben. Die ganze Jagdgesellschaft war hier versammelt. Der Herzog, der heut besonders glücklich im Treffen gewesen war, befand sich in allerbester Laune, die Herzogin plauderte lebhaft mit den sie umgebenden Damen und der Oberforstmeister strahlte vor Vergnügen, denn der Fürst hatte ihm in schmeichelhaftester Weise seine Zufriedenheit ausgesprochen.

Frau von Wallmoden, die sich in der Nähe der Herzogin befand, war auch heute der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit; war sie doch unbedingt die schönste von all den Damen, die meist des Kerzenschimmers und der reichen Toilette bedurften, um schön zu sein. Hier, im hellen Glanze der Mittagssonne, in dem einfach dunklen Reitkleide, das keine Farben und keinen Schmuck erlaubte, erbleichte so manche sonst vielbewunderte Erscheinung, nur die junge Frau behauptete sich siegreich in dieser Einfachheit. Ihre hohe, schlanke Gestalt war wie eigens geschaffen für diese Tracht und die blendende Frische ihrer Haut, das matt schimmernde Blond der Haare kamen im Tageslichte noch mehr zur Geltung als bei jenem Abendfeste. Ueberdies hatte sie sich wirklich als geübte Reiterin gezeigt, die ebenso leicht wie sicher zu Pferde saß; kurz das schöne „Nordlicht“, wie Frau von Wallmoden jetzt auch in den Hofkreisen hieß, da Fürst Adelsberg den Namen ausgeplaudert hatte, wurde von allen Seiten bewundert und dies um so mehr, als man wußte, daß es für einige Wochen verschwinden werde.

Der Gesandte hatte gestern seiner Gemahlin mitgetheilt, daß seine diplomatischen Geschäfte allerdings beendigt seien, daß er aber seine Anwesenheit in Norddeutschland benutzen werde, um sich nach den Stahlbergschen Industriewerken zu begeben. Man plante dort bedeutende Veränderungen, neue Einrichtungen, über die jetzt endgültig Beschluß gefaßt werden sollte, und Wallmoden, als Testamentsvollstrecker und Vormund des Erben, hatte eine entscheidende Stimme dabei. Seine Anwesenheit bei den Sitzungen war unerläßlich, er hatte bereits von seiner Regierung den nöthigen Urlaub erbeten und dem Herzog seine verspätete Rückkehr gemeldet. Gleichzeitig stellte er es seiner Gattin frei, in Fürstenstein zu bleiben oder mit ihm die Reise nach ihrer Heimath zu machen, wenn sie wünsche, ihren Bruder wiederzusehen; jetzt, nach vollen vierzehn Tagen, konnte ihre Abreise ja nicht mehr „mißdeutet“ werden. Die junge Frau hatte sofort das letztere gewählt und der Herzogin bereits mitgetheilt, daß sie morgen abreisen werde.

Prinzessin Sophie war mit ihrer Hofdame und den älteren Damen zu Wagen nach Bucheneck gekommen und versuchte nun vor allen Dingen, ihres durchlauchtigen Neffen habhaft zu werden. Aber dieser entwickelte ein unglaubliches Geschick, sich ihr zu entziehen. Er war überall, nur nicht in der Nähe seiner fürstlichen Tante, bis diese endlich die Geduld verlor und einem der Herren befahl, den Fürsten Adelsberg zu ihr zu rufen. Diesem Befehl mußte Egon nun allerdings nachkommen, aber er gebrauchte die Vorsicht, seinen „Blitzableiter“ mit sich zu nehmen: Rojanow war an seiner Seite, als er vor die Prinzessin trat.

„Nun, Egon, bekommt man Sie wirklich einmal zu Gesicht?“ lautete der nichts weniger als gnädige Empfang. „Sie scheinen ja heut von allen Seiten in Anspruch genommen zu sein.“

„Zu dem Dienste meiner allergnädigsten Tante bist ich immer bereit,“ erklärte Egon, aber die Liebenswürdigkeit half ihm nichts, die Prinzessin maß ihn mit einem vernichtenden Blick.

„Soweit Ihnen der Ritterdienst bei Frau von Wallmoden Zeit dazu läßt! Sie wird dieser Ritterlichkeit ein glänzendes Zeugniß ausstellen, wenn sie zu ihrem Gemahl kommt – Sie kennen ihn ja wohl auch näher?“

„Gewiß, ich schätze ihn hoch, als Mensch, als Diplomat und Excellenz, Hoheit dürfen mir das glauben.“

„Ich glaube Ihnen unbedingt, Egon, Ihre Wahrheitsliebe ist für mich über allen Zweifel erhaben,“ sagte die Dame mit beißender Ironie. „Dabei fällt mir ein, ich sprach vorgestern zufällig den Schloßverwalter von Rodeck, den alten Stadinger, der noch sehr rüstig ist für seine Jahre.“

„Er leidet aber sehr an Gedächtnißschwäche,“ beeilte sich der junge Fürst zu versichern. „Stadinger vergißt leider alles – nicht wahr, Hartmut? – er weiß heute nicht mehr, was er gestern leibhaftig gesehen hat.“

„Ich fand im Gegentheil, daß sein Gedächtniß noch sehr frisch war, überdies ist er der älteste und treueste Diener Ihres Hauses, zuverlässig, umsichtig –“

„Und grob!“ fiel Egon seufzend ein. „Hoheit, Sie haben keine Ahnung von der unendlichen Grobheit, die in diesem Peter Stadinger [257] wohnt. Er tyrannisiert mich und Herrn Rojanow förmlich, ich habe wirklich schon daran gedacht, ihn zur Ruhe zu setzen.“

Er dachte natürlich nicht im Traume daran. Seine Durchlaucht hätten sich gehütet, dem Peter Stadinger einen solchen Vorschlag zu machen, und wären auch übel damit gefahren; aber Prinzessin Sophie, die in dem Rufe stand, sehr hochmüthig und unnachsichtig gegen ihre Diener zu sein, huldigte diesmal einer sehr milden Auffassung.

„Das sollten Sie unterlassen,“ bemerkte sie. „Einem Manne, der schon der dritten Generation der fürstlichen Familie dient, kann man immerhin etwas nachsehen, besonders im Angesicht der doch etwas genialen Wirthschaft, welche die jungen Herren da in Rodeck führen. Es scheint, man sieht dort nicht gern Gäste, sondern zieht die Einsamkeit vor.“

„Ach ja, die Einsamkeit!“ sagte Egon gefühlvoll. „Sie thut so wohl nach dem stürmischen Reiseleben und wir genießen sie in vollen Zügen. Ich beschäftige mich hauptsächlich –“

„Mit der Zähmung Ihrer wilden indischen Raubthiere,“ schaltete die Prinzessin boshaft ein.

„Nein, mit – mit meinen Reiseerinnerungen, die ich herauszugeben beabsichtige, und Hartmut dichtet schwermuthsvolle Lieder. Er hat jetzt gerade den Balladenstoff unter der Feder, auf den ihn Hoheit aufmerksam machten.“

„Wie, Herr Rojanow, haben Sie diesen Stoff wirklich benutzt?“ fragte die fürstliche Dame, deren Gesicht urplötzlich vollen Sonnenschein zeigte, als sie sich zu dem jungen Dichter wandte.

„Gewiß, Hoheit, ich bin Ihnen sehr dankbar für den Wink,“ sagte Hartmut, der keine Ahnung mehr hatte, wovon die Rede war, der aber doch merkte, daß er jetzt in Thätigkeit treten mußte.

„Das freut mich; ich liebe die Poesie und fördere sie bei jeder Gelegenheit.“

„Und mit welchem Verständniß!“ rief Egon begeistert, benutzte aber schleunigst die Gelegenheit, zu entrinnen, indem er seinen Freund als Opfer zurückließ, der denn auch einem sehr langen poetischen Gespräche standhalten mußte. Der Fürst selbst hatte sich schlenuigst wieder in die Nähe der Herzogin, das heißt zu Frau von Wallmoden begeben, wo er sich entschieden besser zu befinden schien, als bei seiner allergnädigsten Tante.

Nach beendigtem Frühstück wurde das Weidwerk fortgesetzt, es galt noch ein Jagen auf Hochwild, das mit erneutem Eifer begonnen wurde. Aber in den Nachmittagstunden änderte sich das bisher so sonnig klare Wetter; der Himmel umschleierte sich nach und nach völlig, dabei blieb es warm, beinahe schwül und im Westen stieg eine schwere Wolkenwand auf. Es sah aus, als bereite sich eins von den Spätgewittern vor, die in dieser Jahreszeit bisweilen über den „Wald“ hinzogen.

Die Herzogin hatte mit einem Theil ihrer Umgebung ihren Standpunkt auf einer Anhöhe genommen, die anscheinend den besten Ueberblick gewährte, bald aber nahm die Jagd eine andere, unerwartete Richtung und die Zuschauer schickten sich an, zu folgen. Dabei hatte Frau von Wallmoden einen kleinen Unfall, der Sattelgurt ihres Pferdes zerriß plötzlich, und nur die Geistesgegenwart, mit der sie rasch aus dem Bügel zur Erde sprang, bewahrte sie vor dem Falle. Die Fortsetzung des Rittes war freilich nicht möglich, denn wenn die begleitenden Diener der Dame auch ein Pferd hätten abtreten können, so war doch kein anderer Damensattel zu beschaffen. Sie mußte deshalb auf die weitere Theilnahme verzichten und wollte zu Fuß nach Bucheneck, wohin einer der Leute das Pferd führen sollte.

Adelheid hatte den Diener vorausgehen lassen und verweilte noch auf der Anhöhe, wo es still und einsam geworden war. Es schien fast, als sei ihr der Unfall willkommen gewesen, der sie der Nothwendigkeit überhob, der Jagd bis zum Schlusse beizuwohnen. Es ist ja immer eine Erleichterung, wenn man die Maske fallen lassen kann, die alle Welt täuscht, und aufathmen in der Einsamkeit, wäre es auch nur, um zu fühlen, wie schwer man an jener Maske getragen hat.

Wohin war die kalte, stolze Ruhe gekommen, mit der die junge Frau vor wenigen Monaten an der Hand ihres Gatten [258] die neue Heimath betrat! Jetzt, wo sie sich allein und unbeobachtet wußte, sah man es deutlich, daß sie eine ganz andere geworden war. Jener willenskräftige Zug, der sie ihrem Vater so ähnlich machte, hatte sich noch geschärft und vertieft, aber daneben prägte sich noch ein anderer, ein Schmerzenszug aus, wie bei einem Menschen, der mit geheimer Qual und Angst zu ringen hat. Die blauen Augen hatten den kühlen, leidenschaftslosen Blick verloren, es lag ein tiefer Schatten darin, der auch von Kampf und Qual erzählte, und das blonde Haupt senkte sich, wie unter einer unsichtbaren schweren Last.

Und doch athmete Adelheid auf bei dem Gedanken, daß dieser Tag der letzte war, den sie in Fürstenstein verleben sollte. Morgen um diese Zeit war sie schon weit weg, vielleicht gab es in der Ferne Rettung vor der dunklen Gewalt, gegen die sie nun schon wochenlang so angstvoll und so vergeblich kämpfte, vielleicht wurde es besser, wenn sie nicht Tag für Tag diese Augen sah und diese Stimme hörte. Wenn sie dem Bannkreise entfloh, mußte auch der Zauber brechen, und jetzt endlich durfte sie fliehen – Gott sei Dank!

Der Lärm der Jagd verklang in immer weiterer Ferne und verstummte endlich ganz; aber in dem Walde, der die Anhöhe dicht umzog, ließen sich jetzt Schritte vernehmen und mahnten die junge Frau, daß sie nicht mehr allein sei. Sie wollte gehen, doch in dem Augenblick, wo sie sich umwandte, trat der Nahende schon zwischen den Bäumen hervor – Hartmut Rojanow stand ihr gegenüber.

Die Begegnung war so plötzlich und unerwartet, daß die Selbstbeherrschung Adelheids nicht davor standhielt. Sie wich zurück, bis an den Stamm des Baumes, unter dessen Zweigen sie vorhin gestanden hatte, als müßte sie dort Schutz suchen vor dem Manne, dem sie entgegensah mit starrem, angstvollem Blick, mit dem Blick des verwundeten Wildes, das den Jäger kommen sieht.

Rojanow schien das nicht zu bemerken. Er grüßte und fragte hastig: „Sie sind allein, Excellenz? Der Unfall hat doch keine schlimmen Folgen gehabt?“

„Welcher Unfall?“

„Es hieß doch, Sie seien gestürzt mit dem Pferde.“

„Welche Uebertreibung! Nur das Sattelzeug ist gerissen, aber ich bemerkte es noch rechtzeitig und sprang aus dem Bügel, während das Thier ruhig stehen blieb – das ist der Unfall.“

„Gott sei Dank! Ich hörte etwas von einem Sturze, einer Verletzung, und da Sie nicht wieder bei der Jagd erschienen, so fürchtete ich –“

Er hielt inne, denn Adelheids Blick sagte ihm deutlich, daß sie dem Vorwande nicht glaubte; er kannte jedenfalls ganz genau den Hergang und hatte erfahren, warum und wo man Frau von Wallmoden zurückgelassen hatte, die jetzt allmählich ihre Fassung wiedergewann.

„Ich danke Ihnen, Herr Rojanow, aber Ihre Besorgniß war wirklich überflüssig,“ sagte sie kalt. „Sie hätten sich selbst denken können, daß die Herzogin und die anderen Damen mich bei einem wirklichen Unfall nicht hilflos im Walde zurückgelassen hätten. Ich bin eben auf dem Wege nach Bucheneck.“

Sie wollte an ihm vorüberschreiten, er verneigte sich und trat einen Schritt seitwärts, wie um sie vorbeizulassen, dabei aber sagte er leise: „Gnädige Frau – ich habe noch um Verzeihung zu bitten!“

„Verzeihung – wofür?“

„Für eine Bitte, die ich unbedachtsamerweise aussprach und nun so hart büßen muß. Ich bat ja nur um eine Blume, ist denn das ein so schweres Vergehen, daß man wochenlang darüber zürnen kann?“

Adelheid war stehen geblieben, fast ohne es zu wissen. Sie war wieder im Banne dieser Augen, dieser Stimme, die sie magnetisch festhielten.

„Sie sind im Irrthum, Herr Rojanow,“ entgegnete sie. „Ich zürne Ihnen nicht.“

„Nicht? Und doch ist es wieder der eiskalte Ton, den ich stets hören mußte, wenn ich seit jener Stunde es wagte, Ihnen zu nahen, und doch haben Sie seitdem das Werk kennengelernt, für das ich mir ein Zeichen erbat. Sie waren ja anwesend, als ich es in Fürstenstein vorlas. Meine ‚Arivana‘ wurde überschwenglich gelobt von allen Seiten, nur aus Ihrem Munde vernahm ich kein Wort, kein einziges – werden Sie es mir auch jetzt verweigern?“

„Ich dächte, wir wären heut auf der Jagd,“ sagte Adelheid mit einem Versuche auszuweichen, „da ist doch nicht Zeit und Ort, um über poetische Werke zu sprechen!“

„Wir haben beide die Jagd verlassen und sie geht jetzt nach dem Rodecker Gebiet hinüber. Hier ist nur Waldeinsamkeit! Sehen Sie dieses herbstliche Laub, das so schwermuthvoll an das Vergehen mahnt, dies schweigsame Gewässer da unten, diese Gewitterwolken in der Ferne – ich glaube, es liegt unendlich mehr Poesie darin, als in den Sälen von Fürstenstein.“

Er wies in die Landschaft hinaus, die sich vor ihnen ausbreitete, aber nicht mehr in dem hellen Sonnenglanze, der anfangs die Jagd begünstigt hatte, sondern in dem trüben Lichte eines dicht verschleierten Himmels, das selbst das bunte Laubgewand der Waldberge matt und welk erscheinen ließ.

Man sah weit hinaus in diese Berge, die, zu beiden Seiten zurücktretend, den Blick in die Ferne frei ließen, aber das endlose Meer von Waldwipfeln, das vor wenigen Wochen noch so grün und duftig im Winde wogte, trug jetzt die Farbe des Herbstes.

Vom dunklen Braun bis zum leuchtenden Goldgelb schimmerte es nah und fern in allen Schattirungen, und dazwischen leuchtete es roth aus den Gebüschen. Das sterbende Laub schmückte sich noch einmal mit trügerischer Pracht, aber es war doch nur die Farbe des Vergehens und Verwelkens, es war zu Ende mit dem Leben und Blühen!

Tief im Grunde lag ein kleiner Waldsee, der, dunkel und regungslos, zu träumen schien in dem Kranze von Schilf und Riedgras, der ihn umgab. Er glich so seltsam einem anderen Gewässer, das fern in Norddeutschland im einsamen Föhrenwalde lag – dem Burgsdorfer Weiher – und wie dieser endigte er in einer Wiese, auf der üppiges Grün winkte, genährt von dem Sumpf- und Moorboden, der sich tückisch darunter verbarg und den Unkundigen rettungslos in seine Tiefe zog. Er schien schon jetzt, im Tageslicht, Nebel und Dämmerung auszuathmen, und wenn die Nacht niedersank, begannen wohl auch hier die Irrlichter ihr geisterhaftes Spiel.

Am Horizont aber, wo bei klarer Witterung die Gipfel des Hochgebirges sichtbar waren, thürmte sich eine dunkle Wolkenwand gewitterhaft auf. Noch stand sie in weiter Ferne, aber ihr dumpfer, schwüler Hauch lagerte bereits über dem Walde, und bisweilen zuckte ein fahles Leuchten aus ihrem Schoße auf.

Adelheid hatte Hartmuts Frage nicht beantwortet, sie sah noch immer in die Landschaft hinaus, um nicht in das Antlitz des Mannes sehen zu müssen, der ihr gegenüber stand, und doch fühlte sie den dunklen, verzehrenden Blick, der auf ihrem Gesichte ruhte, wie sie ihn stets gefühlt hatte in den letzten Wochen, sobald Rojanow in ihrer Nähe war.

„Sie gehen ja morgen fort, gnädige Frau,“ hob er wieder an. „Wer weiß, wann Sie zurückkehren, wann ich Sie wiedersehe. Darf ich wirklich nicht um Ihr Urtheil bitten, nicht fragen, ob mein Werk Gnade gefunden hat vor den Augen – Adas?“

Das war wieder ihr Name auf seinen Lippen, wieder jener weiche, verschleierte und doch so leidenschaftliche Klang, den sie fürchtete, und dem sie doch lauschte wie einer Zaubermelodie. Adelheid fühlte, daß es hier kein Entrinnen und keine Flucht mehr gab, sie mußte der Gefahr ins Auge sehen. Langsam wandte sie sich dem Fragenden zu, aber ihr Antlitz verrieth, daß sie entschlossen war, den schweren Kampf auszufechten – den Kampf mit sich selber.

„Sie treiben ein seltsames Spiel mit diesem Namen, Herr Rojanow,“ sagte sie ernst und stolz. „Er stand über dem Gedichte, das mir in der letzten Woche auf räthselhafte Weise zugestellt wurde, von fremder Hand, ohne Unterschrift –“

„Und das Sie trotzdem gelesen haben?“ fiel er triumphirend ein.

„Ja – und verbrannt!“

„Verbrannt?“ Aus Hartmuts Augen zuckte wieder jener unheimliche Blick, der selbst Egon erschreckt und ihm den Ausruf entrissen hatte: „Du siehst aus wie ein Dämon!“ Sie bäumten sich wieder wild auf, die Dämonen des Hasses und der Rachsucht gegen den Mann, der ihn so tödlich beleidigt hatte und den er tödlich dafür treffen wollte, und doch liebte er diese Frau, wie der Sohn Zalikas eben lieben konnte, mit wilder, verzehrender Leidenschaft. Aber was er in diesem Augenblick empfand, das war mehr dem Hasse als der Liebe verwandt.

„Das arme Blatt!“ sagte er mit unverhehlter Bitterkeit. „Also den Flammentod hat es erlitten – es hätte vielleicht ein besseres Los verdient.“

„Dann hätten Sie es mir nicht senden müssen. Ich will und darf nicht solche Poesien annehmen.“

[259] „Sie dürfen nicht, gnädige Frau? Es ist die Huldigung eines Dichters, die er einer Frau zu Füßen legt, das ist sein Recht gewesen zu allen Zeiten und das werden auch Sie ihm zugestehen.“ Die Worte kamen nur halblaut, aber so heiß und leidenschaftlich von seinen Lippen, daß Adelheid erbebte.

„So huldigen Sie den Frauen Ihrer Heimath in solchen Worten!“ sagte sie. „Eine deutsche Frau versteht sie nicht.“

„Sie haben sie aber doch verstanden!“ stieß Hartmut stürmisch hervor, „und Sie verstanden auch die Gluth- und Flammenlehre meiner ‚Arivana‘, die über alle Menschensatzungen den Sieg davonträgt. Ich habe es gesehen an jenem Abende, wenn Sie mir auch anscheinend kalt den Rücken wandten, während alle anderen mich mit Bewunderung überschütteten. Täuschen Sie sich nicht, Ada! Wo der göttliche Funke in zwei Seelen fällt, da flammt er auf, im heißen Süden wie im kalten Norden, und er flammt ja in uns beiden! In diesem Feuerathem sterben Wille und Kraft, er löscht alles aus, was gewesen, und nichts bleibt zurück als die heilige, lodernde Flamme, die noch leuchtet und beglückt, selbst wenn sie vernichtet. Sie lieben mich, Ada, ich weiß es, versuchen Sie nicht, es mir abzuleugnen, und ich – ich liebe Sie grenzenlos!“

Er stand vor ihr, in dem stürmischen Triumph des Siegers, und seine düstere, dämonische Schönheit war vielleicht noch nie so hinreißend gewesen wie jetzt, wo die Gluth, die in seinen Worten wehte, auch aus seinen Augen, seinem ganzen Wesen hervorbrach. Und er sprach ja die Wahrheit! Die Frau, die da so todtenbleich am Stamme des Baumes lehnte, liebte ihn, wie nur eine reine stolze Natur lieben kann, die bisher in dem Wahne gelebt hat, ihre Empfindungen würden ewig in dem Schlummer liegen, den die Welt Herzenskälte nannte. Jetzt sah sie sich erwachend einer Leidenschaft gegenüber, die ein tausendfaches Echo in ihrer eigenen Brust fand, jetzt umwehte auch sie jener Flammenathem mit seiner versengenden Gluth – jetzt kam die Probe.

„Verlassen Sie mich, Herr Rojanow – auf der Stelle!“ sagte Adelheid. Es klang halb erstickt, fast unhörbar, und es wurde einem Mann gesagt, der nicht gewohnt war, zu weichen, wo er sich bereits als Sieger fühlte. Er wollte ihr heftig näher treten – und blieb plötzlich stehen. Es lag etwas in den Augen, in der Haltung der jungen Frau, was ihn trotz alledem in Schranken hielt, aber er sprach wieder ihren Namen aus mit jenem Tone, dessen Macht er am besten kannte: „Ada!“

Sie schauerte zusammen und machte eine abwehrende Bewegung.

„Nicht diesen Namen! Für Sie bin ich nur Adelheid von Wallmoden – ich bin vermählt, Sie wissen es!“

„Vermählt an einen Mann, der an der Schwelle des Greisenalters steht, den Sie nicht lieben und der Ihnen keine Liebe geben könnte, selbst wenn er noch jung wäre. Diese kalte, berechnende Diplomatennatur kennt ja keine Regung der Leidenschaft. Der Hof, seine Stellung, sein Aufsteigen ist ihm alles, sein Weib ist ihm nichts, er prahlt höchstens mit dem Besitze eines Kleinodes, das er nicht zu schätzen weiß und für das andere ihre Seligkeit hingehen würden.“

Adelheids Lippen zuckten – sie wußte nur zu sehr, daß er recht hatte, aber sie antwortete nicht.

„Und was bindet Sie denn an diesen Mann?“ fuhr Rojanow noch dringender fort. „Ein Wort, ein einziges Ja, das Sie aussprachen, ohne seine volle Bedeutung, ohne sich selbst zu kennen. Soll es Sie binden für das ganze Leben, soll es uns beide elend machen? Nein, Ada, die Liebe, das ewige unsterbliche Recht des Menschenherzens, beugt sich nicht davor. Mögen die Menschen es Schuld, mögen sie es Verhängniß nennen, wir stehen nun einmal unter diesem Verhängniß und müssen ihm folgen, ein bloßes Wort trennt uns nicht!“

Fern am Horizont blitzte es auf mit so grellem, blendendem Lichte, daß der Wiederschein auch über die Höhe hinflammte. Hartmnt stand nur einen Augenblick lang in diesem Scheine, er war jetzt so ganz der Sohn seiner Mutter, ihr zum Sprechen ähnlich, schön und verderbenbringend, wie sie es gewesen war. Aber war es jener Blitz, der Adelheid zur Besinnung brachte, oder hatte er ihr das dämonische Feuer gezeigt, das in den Augen vor ihr loderte, sie wich mit dem Ausdruck unverhüllten Grauens zurück.

„Ein feierlich gegebenes und empfangenes Wort ist ein Schwur,“ sagte sie langsam, „und wer es bricht, der bricht seine Ehre!“

Hartmut zuckte zusammen, jäh und grell wie jener Blitz flammte eine Erinnerung in seiner Seele auf, die Erinnerung an jene Stunde, wo auch er ein feierliches Wort, ein Ehrenwort gegeben und – gebrochen hatte.

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aus: Die Gartenlaube 1890, Heft 9, S. 277–284

[277] Adelheid von Wallmoden richtete sich empor, ihr Antlitz zeigte noch immer Todtenblässe, als sie in leisem, aber nervendurchzitterndem Tone zu Rojanow weiter sprach:

„Lassen Sie ab von der Verfolgung, die ich nun schon seit Wochen fühle. Mir graut vor Ihnen, vor Ihren Augen, Ihren Worten, ich fühle, daß es Verderben ist, was von Ihnen ausgeht, und das Verderben liebt man nicht!“

„Ada!“ Es lag ein leidenschaftliches Flehen in dem Worte, aber die bebende Stimme Adelheids gewann zusehends an Festigkeit, als sie fortfuhr:

„Und Sie lieben mich auch nicht. Es ist mir oft gewesen, als sei es Ihr Haß, der mich verfolge. Sie und Ihresgleichen können überhaupt nicht lieben.“

Rojanow schwieg betroffen. Wer lehrte diese junge, mit dem Leben noch so unbekannte Frau so tief in sein Inneres blicken? Er hatte es sich selbst noch nicht klar gemacht, wie untrennbar sich Haß und Liebe in dieser Leidenschaft einten.

„Und das sagen Sie dem Dichter der ‚Arivana‘?“ stieß er mit Bitterkeit hervor. „Man hat mein Werk das Hohelied der Liebe genannt – –“

[278] „Dann hat man sich täuschen lassen durch den Schleier der orientalischen Sage, in den Sie Ihre Gestalten hüllten, man hat nur den indischen Priester gesehen, der mit seiner Geliebten einem eisernen, unmenschlichen Gesetze erliegt. Sie sind vielleicht ein großer Dichter, und vielleicht überschüttet Sie die Welt mit Ruhm, aber mir sagt sie etwas anderes, die Gluth- und Flammensprache Ihrer ‚Arivana‘, mich hat sie ihren Schöpfer kennen gelehrt: einen Mann, der an nichts mehr glaubt und dem nichts mehr heilig ist in der Welt, keine Pflicht und kein Gelübde, keine Mannesehre und keine Frauentugend, der sich nicht bedenken würde, das Höchste in den Staub zu reißen, zum Spiel seiner Leidenschaft. Ich glaube noch an Pflicht und Ehre, glaube noch an mich selbst, und mit diesem Glauben biete ich dem Verhängniß Trotz, das Sie mir so siegesgewiß entgegenhalten. Es kann mich in den Tod treiben – in Ihre Arme nicht!“

Sie stand ihm gegenüber, nicht wie vorhin in bebender Angst, in dem qualvollen Ringen eines geheimen Kampfes, es war, als ob mit jedem dieser vernichtenden Worte sich ein Ring der Kette löste, die sie so geheimnißvoll umspann. Ihr Auge begegnete voll und frei dem dunklen Blick, der sie so lange in Bann gehalten hatte – jetzt war der Bann gebrochen, sie fühlte es und athmete tief auf wie eine Erlöste.

Wieder blitzte es in der Ferne auf, lautlos, ohne Donnergrollen, aber es war, als thue sich der Himmel auf in all seinen Tiefen. In dem zuckenden Lichte sah man phantastische Wolkengebilde, Gestalten, die miteinander zu ringen und zu kämpfen schienen, wie vom Sturme getragen, und doch stand jene Gewitterwand unbeweglich am Horizont, und ebenso unbeweglich stand der Mann, dessen dunkles Antlitz jetzt eine fahle Blässe zeigte im Scheine des Wetterleuchtens. Seine Augen waren unverwandt auf die junge Frau gerichtet, aber die wilde Gluth darin war erloschen, und seine Stimme hatte einen fremden Klang, als er sagte:

Das also ist das Urtheil, das ich mir erbat! Ich bin in Ihren Augen nichts anderes als ein – Verworfener?“

„Ein Verlorener vielleicht! – Sie haben mich zu dem Geständniß gezwungen.“

Hartmut trat langsam einige Schritte zurück.

„Verloren!“ wiederholte er herb. „In Ihrem Sinne wahrscheinlich. Sie können ruhig sein. gnädige Frau, ich werde Ihnen nicht wieder nahen, man verlangt nicht zum zweiten Male solche Worte zu hören. Sie stehen so hoch und stolz auf Ihrer Tugendwarte und richten so streng. Sie haben freilich keine Ahnung davon, was ein heißes, wildes Leben aus einem Menschen machen kann, der unstet, ohne Heimath und Familie durch die Welt zieht. Sie haben recht, ich glaube an nichts mehr dort oben in der Höhe und glaubte an nichts auf Erden – bis zu dieser Stunde.“

Es lag etwas in seinem Tone und seiner ganzen Haltung, was Adelheid entwaffnete. Sie fühlte, daß sie keinen Ausbruch seiner Leidenschaft mehr zu fürchten hatte, und ihre Stimme milderte sich unwillkürlich bei der Antwort:

„Ich richte niemand, aber ich gehöre mit meinem ganzen Sein und Wesen einer andern Welt an, die andere Gesetze hat als die Ihrige. Ich bin die Tochter eines über alles geliebten Vaters, der sein ganzes Leben lang nur einen Weg gekannt hat, den der ernsten, strengen Pflicht. Auf diesem Wege hat er sich emporgerungen aus Armuth und Entbehrung zu Reichthum und Ehre, diesen Weg hat er seine Kinder geführt, und sein Andenken ist der Schild, der mich deckt in jeder schweren Stunde. Ich könnte es nicht ertragen, müßte ich die Augen niederschlagen vor diesem Erinnerungsbilde. – Sie haben wohl keinen Vater mehr?“

Es folgte eine lange, schwere Pause; Hartmut antwortete nicht, aber sein Haupt senkte sich unter diesen Worten, von deren zermalmendem Gewicht die junge Frau keine Ahnung hatte, und sein Blick bohrte sich in den Boden.

„Nein!“ sagte er endlich dumpf.

„Aber Sie haben die Erinnerung an ihn und an Ihre Mutter?“

„Meine Mutter?“ fuhr Rojanow jäh und heftig auf. „Sprechen Sie nicht von ihr, in dieser Stunde nicht – sprechen Sie mir nicht von meiner Mutter!“

Es war ein erschreckender Ausbruch, ein Gemisch von grenzenloser Bitterkeit, von Anklage und Verzweiflung. Die Mutter wurde gerichtet von ihrem Sohne in diesem Ausruf, er wies ihr Andenken von sich als eine Entweihung dieser Stunde.

Adelheid verstand ihn nicht, sie sah nur, daß sie einen Punkt berührt hatte, der keine Erörterung vertrug, aber sie sah auch daß der Mann, der jetzt vor ihr stand mit diesem düsteren Blick, mit diesem Ton der Verzweiflung, ein anderer war als jener, der vor einer Viertelstunde vor sie hingetreten war. Es war eine dunkle, räthselhafte Tiefe, in die sie blickte, aber sie flößte ihr keine Furcht mehr ein.

„Lassen Sie uns diese Unterredung endigen,“ sagte sie tiefernst. „Sie werden keine zweite suchen, ich glaube es Ihnen; aber ein Wort noch, ehe wir scheiden. Sie sind ein Dichter, ich habe es trotzalledem gefühlt, als ich Ihr Werk kennen lernte, und Dichter sind Lehrer der Menschheit, sie können zum Heil und zum Verderben führen. Die wilden Flammen Ihrer ‚Arivana‘ schlagen aus der Tiefe eines Lebens auf, das Sie selbst zu hassen scheinen. Sehen Sie dorthin!“ sie deutete in die Ferne, wo es eben wieder aufleuchtete in lodernder Gluth. „Das sind auch Flammenzeichen, aber sie stammen aus der Höhe und sie weisen einen anderen Weg – leben Sie wohl!“ –

Sie war längst verschwunden und Hartmut stand noch immer wie an den Boden gefesselt. Er hatte kein Wort erwidert, keine Bewegung gemacht, er blickte nur mit heißen, starren Augen dort hin, wo jetzt Blitz auf Blitz die Wolken zerriß und die ganze Landschaft in einen feurigen Mantel hüllte, und dann nieder zu dem kleinen dunklen Waldsee, der so seltsam dem Burgsdorfer Weiher glich, mit seinem wehenden Schilf und der trügerischen, nebelathmenden Wiese, die sich auch hier so dicht an das Gewässer schmiegte.

Unter solchem flüsternden Schilf hatte der Knabe einst davon geträumt, emporzusteigen wie die Falken, von denen sein Geschlecht den Namen führte, in schrankenloser Freiheit, immer höher, der Sonne entgegen, und an demselben Orte war die Entscheidung über sein Schicksal gefallen, in jener dunklen Herbstnacht, da die Irrlichter ihren Gespensterreigen führten. Aber der Flüchtling war nicht zur Sonne gestiegen, die Erde hatte ihn festgehalten, die üppig grüne Wiese, und ihn tief, tief hinabgezogen. Er hatte es wohl bisweilen gefühlt, daß der berauschende Trank der Freiheit und des Lebens, den die Hand der Mutter ihm reichte, vergiftet war, aber ihn schützte kein theures Erinnerungsbild – er durfte es nicht wagen, an seinen Vater zu denken.

Immer dunkler zog es sich zusammen dort in der wetterumlagerten Ferne, immer wilder kämpften und rangen die Wolkengestalten miteinander, und mitten in diesem Kampfe und diesem Dunkel leuchteten sie immer wieder siegreich auf – die mächtigen Flammenzeichen aus der Höhe!




In der Haupt- und Residenzstadt des Landes hatte bereits das winterliche Gesellschaftsleben begonnen, in dem das künstlerische Element eine hervorragende Rolle spielte. Der Herzog, der die Kunst liebte und förderte, setzte seinen Stolz darein, bedeutende Vertreter derselben in seine Nähe zu ziehen und möglichst an seine Hauptstadt zu fesseln, und die Gesellschaft huldigte größtentheils derselben Richtung. Der junge Dichter, der von dem Hofe so sehr begünstigt wurde, und dessen erstes größeres Werk jetzt auf der Hofbühne aufgeführt werden sollte, war daher von vornherein eine interessante Persönlichkeit für alle Welt, und was man sonst über ihn vernahm, diente nur dazu, dies Interesse zu steigern.

Es war schon ungewöhnlich, daß dieser Rojanow als Rumäne ein Werk in deutscher Sprache dichtete, wenn man auch erfuhr, daß er seine Erziehung in Deutschland empfangen habe. Außerdem war er der Busenfreund und auch hier in der Stadt der Gast des Fürsten Adelsberg, und man erzählte sich allerlei rührende und wundersame Geschichten über diese Freundschaft. Vor allem aber schuf Hartmuts Persönlichkeit ihm eine bevorzugte Stellung in allen Kreisen, wo er verkehrte. Der junge, schöne und geniale Fremde, den ein halb romantischer, halb geheimnißvoller Hauch umgab, brauchte auch hier nur aufzutreten, um aller Augen auf sich zu ziehen.

Die Proben zu „Arivana“ hatten unmittelbar nach der Rückkehr des Hofes in die Stadt begonnen, unter persönlicher Theilnahme des Dichters und des Fürsten Adelsberg, der sich in seiner Begeisterung für das Werk seines Freundes zu einer Art von Regisseur umwandelte und dem Intendanten das Leben schwer machte mit allen nur möglichen Anforderungen hinsichtlich der Besetzung der Rollen und der Ausstattung des Dramas. Er wußte [279] seinen Willen auch durchzusetzen, die äußere Zurüstung war eine glänzende, die Rollen wurden durchweg mit den ersten Kräften des Hoftheaters besetzt, und sogar das Opernpersonal wurde herangezogen, da eine der Rollen eine ziemlich bedeutende Gesangspartie enthielt. Einer Schauspielerin konnte man das nicht zumuthen, so wurde denn eine junge Sängerin, Marietta Volkmar, damit betraut. Die Aufführung, die ursprünglich weit später stattfinden sollte. wurde jetzt so viel als möglich beschleunigt, weil man bei Hofe fürstlichen Besuch erwartete und das neue Drama, das sich so poetisch und märchenhaft auf dem Hintergrunde der indischen Sagenwelt abspielte, den hohen Gästen vorführen wollte. Man versprach sich einen ungewöhnlichen Erfolg davon.

Das war die Lage der Dinge, als Herbert von Wallmoden zurückkehrte, der natürlich dadurch aufs peinlichste überrascht wurde. Er hatte allerdings auf eine kurze, wie beiläufig hingeworfene Frage von seiner Frau erfahren, daß Rojanow noch in Fürstenstein verkehre, aber er hatte auch nicht auf ein plötzliches Verschwinden desselben gerechnet, das nothwendig hätte auffallen müssen. Dagegen war er der festen Ueberzeugung, Hartmut werde, trotz seiner hochmüthigen Erklärung, bleiben zu wollen, sich eines Besseren besinnen und, sobald Fürst Adelsberg Rodeck verließ, seinen Rückzug antreten. Jedenfalls durfte er es nicht wagen, an der Seite des Fürsten in der Stadt zu erscheinen, wo man ihm mit den angedrohten „Aufklärungen“ das Auftreten unmöglich machen konnte.

Aber der Gesandte hatte nicht mit dem unbeugsamen Trotze des Mannes gerechnet, der in der That auch hier ein hohes Spiel wagte. Jetzt, nach wenigen Wochen, fand er ihn bereits in einer nach allen Seiten hin bevorzugten Stellung, im engsten Verkehr mit dem Hofe und der Gesellschaft. Wenn man jetzt, unmittelbar vor der Aufführung eines Werkes, das der Herzog so auffallend begünstigte, von dem bereits die ganze Stadt sprach, Enthüllungen über das Vorleben des Dichters brachte, so mußte das in allen Kreisen ebenso peinlich berühren als gehässig erscheinen. Der erfahrene Diplomat verhehlte sich nicht, daß die tiefe Mißstimmung, die dann zweifellos bei dem Herzog eintrat, auf ihn selbst zurückfallen würde, weil er nicht rechtzeitig, bei dem ersten Erscheinen Rojanows, gesprochen hatte. Es blieb nichts übrig, als einstweilen noch abzuwarten und zu schweigen.

Wallmoden war weit entfernt, zu ahnen, daß gerade ihm von jener Seite eine schwere Gefahr gedroht hatte, denn er nahm an, seine Frau kenne Hartmut höchstens als Begleiter des Fürsten Adelsberg. Sie hatte den Namen nicht wieder ausgesprochen, seit sie damals bei ihrer Ankunft in Berlin auf eine anscheinend flüchtige Frage eine ebenso flüchtige Antwort gab, und er hatte das gleichfalls nicht gethan. Sie sollte und durfte nicht von jenen alten Beziehungen erfahren, die er ihr von Anfang an verschwiegen hatte.

Aber seinem Neffen Willibald gegenüber durfte er nicht schweigen, wenn er nicht eine ähnliche Erkennungsscene erleben wollte wie damals auf dem Hochberg. Der junge Majoratsherr hatte seine Verwandten nach Süddeutschland begleitet, sollte aber nur einige Tage in der Residenzstadt bleiben und sich dann nach Fürstenstein zu seiner Braut begeben, denn der Oberforstmeister forderte nachdrücklichst, daß der im September so plötzlich abgebrochene Besuch nunmehr nachgeholt werde.

„Ihr seid kaum acht Tage hier gewesen,“ schrieb er seiner Schwägerin, „und jetzt bitte ich mir meinen Herrn Schwiegersohn doch auf etwas länger aus. In Eurem vielgeliebten Burgsdorf ist ja nun glücklich alles wieder in Ordnung gebracht und zu thun giebt es auch nicht viel im November. Also schicke uns wenigstens den Willy, wenn Du nicht abkommen kannst. Ein Nein wird nicht angenommen, Toni erwartet ihren Bräutigam – Punktum!“

Frau von Eschenhagen sah ein, daß er recht hatte, und war auch geneigt, ihren Willy zu schicken, denn sie bestimmte natürlich allein über seine Reise. Er hatte keinen Versuch mehr gemacht, sich gegen die mütterliche Herrschaft aufzulehnen, und schien überhaupt vollständig wieder zu Vernunft gekommen zu sein. Er war wohl stiller als sonst und stürzte sich nach der Rückkehr mit ganz ungewohntem Eifer in seine landwirthschaftliche Thätigkeit, benahm sich aber sonst musterhaft. Nur in einem Punkte blieb er hartnäckig: er wollte seiner Mutter durchaus nicht Rede stehen über jene „Dummheit“, welche damals die plötzliche Abreise veranlaßt hatte, und vermied jede Erörterung darüber. Er schämte sich offenbar jener flüchtig auflodernden Regung, die wohl überhaupt nie bedenklich gewesen war, und wollte nicht daran erinnert sein. Uebrigens schrieb er regelmäßig an seine Braut und erhielt ebenso pünktlich Antwort. Der Briefwechsel war allerdings mehr praktischer als zärtlicher Natur und drehte sich hauptsächlich um Wohnungs- und Wirthschaftseinrichtungen, aber man ersah doch daraus, daß der junge Majoratsherr seine Heirath, für welche der Zeitpunkt bereits festgesetzt war, als selbstverständlich betrachtete, und Frau Regine, die es als ihr unbestreitbares Recht ansah, die Briefe des Brautpaares zu lesen, erklärte sich zufrieden mit denselben.

Willibald erhielt also die allerhöchste Erlaubniß, seine Braut besuchen zu dürfen, was um so weniger bedenklich war, als die gefährliche kleine Person, diese Marietta Volkmar, jetzt in der Stadt weilte, wo ihre Stellung sie festhielt. Um aber ganz sicher zu gehen, stellte Frau von Eschenhagen ihren Sohn unter den Schutz ihres Bruders, der auf der Rückreise von den Stahlbergschen Werken mit seiner Frau einen kurzen Besuch in Burgsdorf abgestattet hatte. Wenn Willibald während der zwei oder drei Tage seines Aufenthaltes in der Stadt im Wallmodenschen Hause wohnte und ausschließlich dort verkehrte, war nichts zu besorgen.

Der Gesandte sah nun freilich sofort nach der Ankunft ein, daß er genöthigt sein werde, seinen Neffen aufzuklären, denn der Name Hartmut Rojanow wurde schon am ersten Tage von verschiedenen Seiten genannt. Willy, der seinerzeit der Vertraute der geheimen Zusammenkünfte Hartmuts mit seiner Mutter gewesen war und deren Namen und Abstammung kannte, horchte auf dabei, und die Bemerkung, daß es sich um einen jungen Rumänen handele, machte ihn vollends stutzig. Er sah in äußerster Betroffenheit seinen Onkel an, der ihm noch rechtzeitig einen Wink gab, nicht weiter zu fragen, und dann das erste Alleinsein benutzte, um ihm die Wahrheit zu enthüllen.

Er that das selbstverständlich in der rücksichtslosesten Weise und stellte Hartmut als einen Abenteurer der schlimmsten Art dar, den er schon in der nächsten Zeit zwingen werde, die Rolle aufzugeben, die er hier so unberechtigterweise spiele.

Dem armen Willibald wirbelte der Kopf bei diesen Nachrichten. Sein Jugendfreund, an dem er stets mit herzlicher Zuneigung gehangen hatte und noch immer hing trotz des Verdammungsurtheils, das man daheim über ihn fällte, war hier, in seiner unmittelbaren Nähe, und er durfte ihn nicht wiedersehen, nicht einmal kennen, wenn der Zufall eine Begegnung herbeiführte! Das letztere schärfte Wallmoden seinem Neffen besonders ein, und dieser, ganz betäubt, versprach auch Gehorsam und Schweigen sowohl Adelheid als seiner Braut und dem Oberforstmeister gegenüber, aber begreifen konnte er die Sache noch lange nicht. Er brauchte Zeit dazu, wie überhaupt zu allen Dingen.

Der Tag, an welchem „Arivana“ auf der Bühne erscheinen sollte, war herangekommen. Es war das erste Werk eines jungen, als Dichter noch ganz unbekannten Verfassers, aber die Umstände machten es zu einem künstlerischen Ereigniß, dem man mit allseitiger Spannung entgegensah. Das Hoftheater war beim Beginn der Vorstellung bis auf den letzten Platz gefüllt, und jetzt erschien auch das fürstliche Paar mit seinen Gästen und nahm in der großen Hofloge Platz. Die Aufführung hatte, obgleich das nicht förmlich angekündigt war, doch den Charakter einer Festvorstellung, und das in all seinen Räumen blendend erhellte Haus und der reiche Schmuck der Damen trugen dem Rechnung.

Fürst Adelsberg, der gleichfalls in der Hofloge erschien, war so aufgeregt, als habe er selbst das Drama geschrieben. Uebrigens befand er sich heute in einer ebenso seltenen als erfreulichen Uebereinstimmung mit seiner allergnädigsten Tante, die ihn zu sich gerufen hatte und gerade jetzt mit ihm über die Dichtung sprach, die sie mit ihrer höchsten Aufmerksamkeit beehrte.

„Unser junger Dichter scheint Launen zu haben wie alle Poeten,“ bemerkte sie. „Welch ein Einfall, noch in letzter Stunde den Namen der Heldin zu ändern!“

„In letzter Stunde geschah das gerade nicht,“ entgegnete Egon, „die Aenderung wurde schon in Rodeck vorgenommen. Hartmut hatte es sich auf einmal in den Kopf gesetzt, der Name ‚Ada‘ sei zu kühl und rein für die Gluthgestalt seiner Heldin, und sie wurde ohne weiteres umgetauft!“

„Aber der Name Ada steht doch hier auf dem Theaterzettel,“ warf die Prinzessin ein.

„Gewiß, aber er ist auf eine ganz andere Person des Dramas übergegangen, die überhaupt nur in einer einzigen Scene auftritt.“

[280] „Dann hat Rojanow also Aenderungen vorgenommen seit jener Vorlesung in Fürstenstein?“

„Nur wenige, das Stück selbst ist ganz unverändert geblieben bis auf den Namenstausch und jenes kurze Auftreten Adas, aber ich versichere Sie, Hoheit, diese Scene, die Hartmut da hinzugedichtet hat, ist das Schönste, was er je geschrieben hat.“

„Ja, Sie finden natürlich alles schön, was aus der Feder Ihres Freundes stammt,“ sagte die Prinzessin, aber das gnädige Lächeln, mit dem sie den jungen Fürsten entließ, zeigte, daß sie so ziemlich derselben Meinung war.

In einer der Prosceniumslogen des ersten Ranges erblickte man auch den preußischen Gesandten mit seiner Gemahlin, der erst vorgestern von seinem Urlaub zurückgekehrt war. Sein heutiges Erscheinen im Hoftheater war allerdings kein freiwilliges, sonst wäre er dieser Aufführung wohl fern geblieben, sondern eine Rücksicht, die er seiner Stellung schuldete. Der Herzog hatte über einen Theil der Logen verfügt und auch die fremden Diplomaten mit ihren Damen eingeladen; da gab es keine Möglichkeit, zurückzubleiben, um so weniger, als Herr und Frau von Wallmoden noch vor wenigen Stunden an der Festtafel im Schlosse theilgenommen hatten.

Im Parkett saß Willibald, der aus der Anwesenheit seines Onkels auch für sich das Recht herleitete, wenigstens das Werk seines Jugendfreundes kennen zu lernen. Wallmoden war zwar nicht einverstanden damit, konnte ihm aber doch füglich nicht verbieten, was er selbst that. Willy, der sich mit vieler Mühe noch einen Platz beschafft hatte, dachte natürlich nicht daran, daß in einem Drama auch ein Mitglied der Oper beschäftigt sein könnte: erst jetzt, als er den Theaterzettel entfaltete und urplötzlich auf den Namen „Marietta Volkmar“ stieß, wurde ihm klar, wen er heute abend wiedersehen werde. Mit einer hastigen Bewegung faltete er den Zettel zusammen und barg ihn in seiner Tasche; er bereute es in diesem Augenblicke doch, in das Theater gegangen zu sein.

Jetzt begann die Vorstellung, der Vorhang hob sich und die Eingangsscenen gingen rasch vorüber. Es war eine Art Vorspiel, welches die Zuschauer erst mit der seltsam phantastischen Welt vertraut machen sollte, in die sie eingeführt wurden. Arivana, die uralte, geheiligte Opferstätte, zeigte sich in einer pracht- und stimmungsvollen Ausstattung; die Hauptgestalt des Werkes, der junge Priester, der im Fanatismus seines Glaubens alles Irdische und Unheilige weit von sich weist, erschien, und in mächtigen, schwungvollen Versen erklang das Gelübde, das ihn für Zeit und Ewigkeit diesem Irdischen entrückte und mit Leib und Seele der Gottheit verband. Der Schwur war geleistet, die heilige Flamme loderte hoch empor und der Vorhang sank.

Von allen Seiten ertönte Beifall, zu dem der Herzog das erste Zeichen gab. Es stand ja allerdings fest, daß ein Werk, das so von allen Seiten gestützt und getragen wurde, einen gewissen Erfolg haben mußte, wenigstens an dem heutigen Abend. Aber es mischte sich doch noch etwas anderes in diesen Beifall. Die Zuschauer fühlten es bereits, daß ein Dichter zu ihnen sprach; seine Schöpfung hatte vielleicht der Hofgunst bedurft, um vor die Oeffentlichkeit treten zu können, jetzt, wo sie dastand, trug sie sich allein. Man war gefesselt von dieser Sprache, diesen Gestalten, von dem Inhalt des Dramas, der sich bereits in den Hauptzügen verrieth, und als der Vorhang sich von neuem hob, lag gespanntes, erwartungsvolles Schweigen über dem ganzen Zuschauerraume.

Und nun entrollte sich das Drama, auf einem Hintergrunde, der ebenso glühend und farbenreich war wie seine Sprache und seine Gestalten. Die mächtige Natur Indiens, die märchenhafte Pracht seiner Tempel und Paläste, die Menschen mit ihrem wilden Hoffen und Lieben und den starren, eisernen Gesetzen ihres Glaubens, das alles war phantastisch, fremdartig; aber wie diese Menschen fühlten und handelten, das war jedem vertraut. Standen sie doch im Banne einer Macht, die schon vor Jahrhunderten dieselbe war wie heute, die unter dem heißen Tropenhimmel die gleichen Wurzeln schlägt wie in der kalten nordischen Zone – der Leidenschaft im Menschenherzen.

Es war in der That eine „Gluth- und Flammenlehre“, und sie predigte ohne Rückhalt das Recht der Leidenschaft, gegen alle Schranken anzustürmen, hinweg über Gesetz und Sitte, über Gelübde und Schwur bis zu ihrem Ziele; ein Recht, wie es Hartmut Rojanow verstand und übte, mit seinem ungezügelten Wollen. das kein Gesetz und keine Pflicht anerkannte, dem das eigene Ich allein das Höchste war.

Das Erwachen dieser Leidenschaft, ihr übermächtiges Wachsen, ihr endlicher Triumph, das alles wurde in hinreißender Sprache, in Worten und Bildern geschildert, die bald aus der reinen Höhe des Ideals und bald aus der Tiefe des Abgrundes zu stammen schienen. Der Dichter hatte seine Gestalten nicht umsonst in den Schleier der orientalischen Sage gehüllt; unter diesem Schleier durfte er sagen und vertreten, was man ihm sonst schwerlich verziehen hätte, und er that es mit einer Kühnheit, die zündende Funken in die Seelen der Zuhörer warf und sie dämonisch fesselte. Schon nach dem zweiten Akte war der Erfolg „Arivanas“ entschieden.

Allerdings wurde das Werk von einer Darstellung getragen, die zu dem Besten gehörte, was die Bühne je geleistet hatte. Vor allem spielten die Vertreter der beiden Hauptrollen mit einem Feuer und einer Vollendung, wie sie nur wirkliche Begeisterung geben konnte. Die Heldin hieß freilich nicht mehr Ada, den Namen trug jetzt eine andere Gestalt, die seltsam fremd in diesem erregten Bilde der Leidenschaften stand, eines jener halb märchenhaften Wesen, mit denen die indischen Sagen die „Schneewohnung“, die eisigen Höhen des Himalaya bevölkern, kühl und rein wie der ewige Schnee, der dort oben leuchtet.

Nur in einem einzigen Auftritt, in der Entscheidungsscene, schwebte sie wie mit Geisterfittigen durch die stürmisch bewegte Handlung, mahnend, warnend, und Egon hatte recht: die Worte, die der Dichter ihr auf die Lippen legte, waren wohl die schönsten der ganzen Dichtung. Mitten in die lodernde Gluth eines Kraters brach es plötzlich wie reines Himmelslicht, aber so schön die Scene war, so kurz war sie auch. Flüchtig wie ein Hauch entwich die Gestalt wieder zu den Schneewohnungen ihrer Heimath, und dort unten, an dem mondbeglänzten Ufer des Flusses, erklang das Lied des Hindumädchens – Mariettas weiche quellende Stimme – und unter diesen lockenden, schmeichelnden Tönen verwehte jener Warnungsruf aus der Höhe.

Der letzte Akt brachte den tragischen Schluß: das Hereinbrechen des Verhängnisses über das schuldige Paar, den Tod in den Flammen. Aber dieser Tod war keine Sühne, sondern ein Triumph, ein „leuchtendes, göttliches Sterben“, und mit den Flammen loderte auch jene dämonische Lehre von dem unbedingten Recht der Leidenschaft zum Himmel empor.

Zum letzten Male sank der Vorhang, und der Beifall, der sich von Akt zu Akt gesteigert hatte, wuchs jetzt zu einem förmlichen Sturme an. Sonst pflegten bei solchen Festvorstellungen Beifall und Begeisterung in gemessenen Grenzen zu bleiben. Heute flutheten sie über alle Schranken hinaus. Die Flammen Arivanas hatten gezündet, das sah und fühlte man an dem Jubel, mit dem das ganze Haus einstimmig das Erscheinen des Dichters verlangte.

Endlich trat Hartmut vor. Ohne Scheu und Befangenheit, strahlend vor Stolz und Freude neigte er sich dankend vor dem Publikum, das ihm heute einen Trank kredenzte, den er in seinem wildbewegten Leben doch noch nicht gekostet hatte. Sie waren berauschend, diese ersten Züge aus dem Becher des Ruhmes, und mit diesem berauschenden Siegesbewußtsein blickte der Gefeierte jetzt zu der Prosceniumsloge empor, deren Insassen er längst erkannt hatte. Er fand freilich nicht, was er suchte; Adelheid hatte sich zurückgelehnt und ihr Antlitz verschwand hinter dem ausgebreiteten Fächer, er sah nur das kalte, unbewegte Gesicht des Mannes, der ihn so tief beleidigt hatte, und der nun Zeuge seines Triumphes war. Wallmoden verstand es nur zu gut, was das Aufblitzen dieser dunklen Augen ihm sagte.

„Jetzt wage es noch, mich zu verachten!“

Es war am andern Morgen zu noch ziemlich früher Stunde, als Willibald von Eschenhagen durch die Anlagen des städtischen Parkes schritt, die er sich „besehen“ wollte, wie er seinem Onkel beim Fortgehen erklärt hatte. Der ausgedehnte waldartige Park, der unmittelbar vor den Thoren der Stadt lag, war allerdings sehenswerth, aber Willy achtete nicht auf die Anlagen, die zudem heute, an dem trüben Novembertage, wenig einladend erschienen. Ohne rechts oder links zu blicken, schritt er hastig vorwärts, schlug planlos bald diesen, bald jenen Weg ein und merkte es nicht, daß er dabei mehrmals an dieselbe Stelle zurückkehrte. Es schien beinahe, als wollte er mit diesem Sturmschritt eine innere Unruhe [282] betäuben, und er war ja auch nur ausgegangen, um im Freien und allein zu sein.

Der junge Majoratsherr redete sich allerdings ein, es sei nur das Wiedersehen des Jugendfreundes, das ihn so aus der Fassung brachte. Zehn volle Jahre hatte er nichts von Hartmut gehört, durfte er ihn nicht einmal nennen daheim, und nun sah er den Verschollenen plötzlich wieder, im Glanze eines aufsteigenden Dichterruhms, wohl tief und mächtig verändert in Erscheinung und Auftreten, aber trotz alledem doch der Hartmut, mit dem er so oft die Knabenspiele getrieben. Er hätte ihn auch unvorbereitet im ersten Augenblick wiedererkannt.

Wallmoden freilich schien durch den gestrigen Erfolg sehr peinlich berührt zu sein. Er hatte kaum gesprochen auf der Rückfahrt, so wenig wie seine Frau, die schon im Wagen erklärte, die Hitze im Theater habe ihr einen heftigen Kopfschmerz verursacht, und sich sofort nach der Nachhausekunft zurückzog. Der Gesandte folgte ihrem Beispiel, und als er seinem Neffen, der ihm gute Nacht wünschte, die Hand reichte, sagte er kurz:

„Es bleibt bei unserer Abrede, Willibald, Du schweigst gegen jeden, wer es auch sei! Sieh zu, daß Du Dich nicht verräthst, denn der Name Rojanow wird in den nächsten Tagen wohl in aller Mund sein! Er hat auch diesmal Glück gehabt, wie alle Abenteurer.“

Willibald hatte die Bemerkung schweigend hingenommen, aber er fühlte doch, daß es noch etwas anderes war, was dem Dichter der „Arivana“ diesen Erfolg schuf. Unter anderen Umständen hätte er dies Werk als etwas Unerhörtes, Unbegreifliches angestaunt, ohne es zu verstehen, aber gestern war ihm merkwürdigerweise das Verständniß dafür aufgegangen.

Man konnte sich verlieben auch ohne die feierliche Zustimmung der geehrten Eltern, Vormünder und Verwandten, das kam nicht bloß in Indien vor, das geschah bisweilen auch hier zu Lande. Man konnte sich auch unvorsichtigerweise mit einem Gelübde übereilen und es brechen, aber was dann? Ja, dann kam das Verhängniß, das Hartmut so grausig und doch so schön geschildert hatte! Willy war im vollen Ernste dabei, den hochromantischen Inhalt von „Arivana“ in Burgsdorfer Verhältnisse zu versetzen, und das Verhängniß nahm dabei unverkennbar die Züge der Frau von Eschenhagen an, die in ihrem Zorne jedenfalls noch grimmiger war als eine wüthende Priesterkaste.

Der junge Majoratsherr seufzte tief auf. Er dachte an den zweiten Akt des Dramas, wo aus dem Kreise der Hindumädchen, die zur Opferstätte zogen, eine zarte Gestalt hervorgetreten war, unendlich reizend in den weißen Schleiergewändern und mit dem Blumenkranz in den Locken. Seine Augen hatten wie gebannt an ihr gehangen, die nur zwei- oder dreimal flüchtig auf der Bühne erschien; aber dann erklang ihr Lied am Ufer des mondschimmernden Flusses, dann erklang die helle, süße Stimme, die schon damals in Waldhofen den Zuhörer so bestrickt hatte, und nun war das alte Unheil, das er niedergekämpft und vergessen wähnte, auf einmal wieder da. Es stand riesengroß vor ihm, und das Schlimmste war, daß er es gar nicht mehr als ein Unheil ansah.

Der unermüdliche Spaziergänger kam nun schon zum dritten Male an einem kleinen Tempel vorbei, der an der Vorderseite offen war und in dessen Mitte eine Büste stand, während im Hintergrunde eine Bank zum Sitzen einlud. Willibald trat diesmal ein und ließ sich nieder, weniger aus Ruhebedürfniß, als um noch ungestörter seinen Gedanken nachzuhängen.

Es mochte zehn Uhr morgens sein und die Anlagen waren um diese Stunde fast ganz leer und einsam. Nur ein einzelner Spaziergänger, ein junger Mann in vornehmer Kleidung, schlenderte langsam und scheinbar absichtslos in den Wegen umher. Er mußte aber doch wohl jemand erwarten, denn er blickte mit offenbarer Ungeduld bald nach der Stadt und bald nach der Parkstraße, die in ziemlicher Entfernung die Anlagen begrenzte. Plötzlich aber schritt er rasch auf den Tempel zu und faßte an der Hinterwand desselben Posten, wo er nicht gesehen werden konnte, während er selbst den vorüberführenden Pfad im Auge behielt.

Nach etwa fünf Minuten kam eine junge Dame von der Stadt her, eine leichte, zierliche Gestalt, in dunklem Mantel und Pelzkragen, ein Pelzmützchen auf die krausen Locken gedrückt und einen Muff in der Hand, aus dem eine Notenrolle hervorblickte. Sie wollte rasch vorübergehen, ließ aber plötzlich einen Ausruf der Ueberraschung hören, der freilich nichts weniger als freudig klang:

„Ah – Graf Westerburg!“

Der junge Mann war hervorgetreten und verneigte sich.

„Welch ein glücklicher Zufall! Wie konnte ich ahnen, daß Fräulein Marietta Volkmar so früh schon in den Anlagen lustwandeln würde!“

Marietta war stehengeblieben und sah den Sprechenden von oben bis unten an, aber ihre Stimme hatte einen halb gereizten, halb verächtlichen Ton, als sie antwortete:

„Ich glaube nicht an diesen Zufall, Herr Graf, dazu kreuzen Sie zu oft und zu beharrlich meinen Weg, obgleich ich Ihnen doch hinreichend gezeigt habe, wie lästig mir Ihre Aufmerksamkeiten sind.“

„Ja, Sie sind unendlich grausam gegen mich!“ sagte der Graf vorwurfsvoll, aber doch mit unverkennbarer Dreistigkeit. „Sie nehmen meine Besuche nicht an, verschmähen meine Blumengaben, erwidern nicht einmal meinen Gruß mehr bei einer Begegnung. Was habe ich Ihnen denn gethan? Ich habe es gewagt, Ihnen eine Huldigung zu Füßen zu legen in Gestalt eines Schmuckes, den Sie leider zurücksandten –“

„Mit der Erklärung, daß ich mir solche Unverschämtheiten ein für allemal verbitte,“ unterbrach ihn das junge Mädchen heftig. „Ich verbitte mir überhaupt Ihre fortwährenden Dreistigkeiten. Sie haben mir ja hier förmlich aufgelauert, wie es scheint.“

„Mein Gott, ich wollte ja nur um Verzeihung bitten wegen jener Kühnheit,“ versicherte Graf Westerburg, anscheinend unterwürfig, aber dabei trat er zugleich mitten in den schmalen Weg, so daß es nicht möglich war, an ihm vorbeizukommen. „Ich hätte es freilich wissen können, daß Sie unnahbar sind für jeden, und daß keine ihren Ruf so eifersüchtig hütet wie Sie, schöne Marietta!“

„Ich heiße Fräulein Volkmar!“ rief Marietta zornig. „Sparen Sie solche vertrauliche Anreden für diejenigen, die sich dergleichen gefallen lassen. Ich thue es nicht, und wenn Ihre Zudringlichkeiten nicht aufhören, so werde ich anderweitigen Schutz in Anspruch nehmen.“

„Welchen Schutz?“ spottete der Graf. „Vielleicht den der alten Dame, bei der Sie leben, und die sonst immer und überall an Ihrer Seite ist, wo Sie auch erscheinen? Nur bei Ihrem Gange zu dem Professor Marani bleibt sie zurück; die Gesangsstudien bei dem alten Herrn sind allerdings nicht gefährlich, das ist aber auch der einzige Weg, den Sie allein machen.“

„Sie wußten es also, daß ich um diese Zeit nach der Parkstraße gehe? Das ist ja ein vollständiger Ueberfall! Gehen Sie mir aus dem Wege, ich will fort!“

Sie versuchte an ihm vorbeizukommen, aber der junge Mann breitete beide Arme aus, so daß er den Weg völlig versperrte.

„Sie werden mir doch erlauben, Sie zu begleiten, mein Fräulein? Sehen Sie nur, die Anlagen sind ganz einsam und verlassen; es ist kein Mensch in der Nähe, da muß ich Ihnen wirklich meinen Schutz anbieten.“

Der Park schien in der That völlig menschenleer zu sein und eine andere wäre durch diesen Hinweis auf ihre Schutzlosigkeit wohl eingeschüchtert worden; die kleine, tapfere Marietta aber richtete sich unerschrocken auf.

„Unterstehen Sie sich nicht, mir auch nur einen Schritt zu folgen!“ rief sie in voller Empörung. „Ihre Begleitung ist mir ebenso unerträglich wie Ihre Persönlichkeit – wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?“

„Ei, so zornig?“ fragte der Graf, mit einem boshaften Lächeln. „Nun, ganz umsonst will ich diesen ‚Ueberfall‘ doch nicht gewagt haben, wenigstens soll er mir einen Kuß eintragen von diesen reizenden, feindlichen Lippen.“

Er machte wirklich Miene, seinen Vorsatz auszuführen, und näherte sich dem hastig zurückweichenden Mädchen, aber in dem selben Augenblick flog er auch, von einem furchtbaren Stoße getroffen, seitwärts und stürzte dann der Länge nach auf den feuchten Boden hin, wo er in einer sehr kläglichen Stellung liegen blieb.

Marietta hatte sich erschrocken umgewendet bei diesem ebenso unerwarteten als stürmischen Beistande, und ihr von Zorn und Kränkung heißgeröthetes Gesicht nahm den Ausdruck einer grenzenlosen Ueberraschung an, als sie den Helfer erkannte, der an ihrer Seite stand und so grimmig auf den Daliegenden blickte, als habe er die größte Lust, ihm den Garaus zu machen.

[283] „Herr von Eschenhagen – Sie?“

Graf Westerburg hatte sich inzwischen mit einiger Mühe wieder aufgerafft und trat jetzt wüthend seinem Angreifer entgegen.

„Mein Herr, was unterstehen Sie sich? Wer giebt Ihnen das Recht –“

„Bleiben Sie mir und dem Fräulein zehn Schritt vom Leibe, ich rathe es Ihnen!“ unterbrach ihn Willibald, indem er sich vor das junge Mädchen stellte. „Sonst fliegen Sie noch einmal gegen die Bäume, und der zweite Stoß möchte nicht so gelind ausfallen wie der erste.“

Der Graf, eine schmächtige und nichts weniger als kraftvolle Gestalt, maß den vor ihm stehenden Hünen, desen Faust er bereits gespürt hatte, einen Augenblick lang, aber das war genug, ihn zu überzeugen, daß er hier unbedingt den kürzeren ziehen müßte.

„Sie werden mir Genugthuung geben – wenn Sie überhaupt satisfaktionsfähig sind!“ stieß er mit halberstickter Stimme hervor. „Sie wissen vermuthlich nicht, wen Sie vor sich haben –“

„Einen frechen Burschen, den man mit Vergnügen züchtigt,“ sagte Willy mit großer Gemüthsruhe. „Bleiben Sie gefälligst da stehen, sonst thue ich es gleich auf der Stelle. Uebrigens heiße ich Willibald von Eschenhagen, Majoratsherr auf Burgsdorf, und bin in der Wohnung des preußischen Gesandten zu finden, wenn Sie mir noch mehr zu sagen haben. – Bitte, mein Fräulein, meinem Schutze können Sie sich unbesorgt anvertrauen, ich stehe Ihnen dafür, daß Sie nicht mehr belästigt werden.“

Und nun geschah etwas Unerhörtes, Unglaubliches. Herr von Eschenhagen bot, ohne zu stottern oder irgendwie in Verlegenheit zu gerathen, mit einer echt ritterlichen Bewegung der jungen Dame den Arm und führte sie fort, ohne sich um den zurückbleibenden Grafen weiter zu kümmern.

Marietta hatte den dargebotenen Arm angenommen, aber sie sprach kein Wort; erst als sie längst außer Hörweite waren, begann sie mit einer Schüchternheit, die sonst gar nicht in ihrem Wesen lag: „Herr von Eschenhagen –“

„Mein Fräulein?“

„Ich – ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Schutz, aber der Graf – Sie haben ihn beleidigt, thätlich sogar – er wird Sie fordern und Sie werden das annehmen müssen.“

„Natürlich, mit dem größten Vergnügen,“ sagte Willy, und dabei strahlte sein ganzes Gesicht, als ob diese Aussicht ihm wirklich das allergrößte Vergnügen machte. Sein blödes, linkisches Wesen war auf einmal verschwunden, er fühlte sich als Held und Retter und gefiel sich außerordentlich in dieser neuen Stellung. Marietta blickte ihn in sprachloser Verwunderung an.

„Aber es ist furchtbar, daß das um meinetwillen geschehen soll,“ hob sie wieder an. „Und daß gerade Sie es sein müssen!“

„Das ist Ihnen wohl gar nicht einmal recht?“ fragte der junge Majoratsherr, der in seiner jetzigen gehobenen Stimmung die letzte Bemerkung übelnahm. „Ja, mein Fräulein, in solcher Lage hat man aber keine Wahl, Sie mußten mich nothgedrungen zum Beschützer annehmen, wenn ich auch nicht gerade sehr hoch in Ihrer Achtung stehe.“

Ueber Mariettas Gesicht floß eine glühende Röthe bei der Erinnerung an jene Stunde, wo sie ihre ganze Verachtung über den Mann ausgeschüttet hatte, der jetzt so tapfer für sie eintrat.

„Ich dachte nur an Toni und ihren Vater,“ versetzte sie leise. „Ich bin ja schuldlos an der Sache, aber wenn ich die Ursache sein sollte, daß Sie Ihrer Braut entrissen würden –“

„Dann muß Toni das eben als eine Schickung hinnehmen,“ sagte Willibald, auf den die Erwähnung seiner Braut sehr wenig Eindruck machte. „Man kann sein Leben überall verlieren und man muß nicht immer gleich den schlimmsten Fall voraussetzen. – Wohin soll ich Sie führen, mein Fräulein? Nach der Parkstraße? Ich glaube gehört zu haben, daß Sie dahin wollten.“

Sie schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, nein! Ich wollte allerdings zu dem Professor Marani, der mir eine neue Rolle einstudirt, aber jetzt kann ich nicht singen, das ist unmöglich. Lassen Sie uns einen Wagen suchen, dort drüben werden wir einen finden, ich möchte nach Hause.“

Willibald lenkte sofort seine Schritte nach der angedeuteten Richtung, und sie gingen schweigend weiter bis zum Rande der Anlagen, wo wirklich einige Miethwagen hielten. Hier blieb das junge Mädchen stehen und blickte bittend und angstvoll zu ihrem Begleiter empor.

„Herr von Eschenhagen, muß es denn sein? Läßt sich die Sache nicht ausgleichen?“

„Schwerlich, ich habe dem Grafen einen sehr ausgiebigen Faustschlag versetzt und ihn einen frechen Burschen genannt und werde natürlich dabei stehen bleiben, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt. Aber ängstigen Sie sich nicht darüber, die Geschichte wird morgen oder übermorgen hoffentlich mit ein paar Schrammen abgemacht werden.“

„Und ich soll zwei oder drei Tage lang in dieser Angst und Ungewißheit bleiben? Wollen Sie mir denn nicht wenigstens Nachricht senden?“

Willy sah in die dunklen, thränenerfüllten Augen, und dabei trat in die seinigen wieder jenes Leuchten wie damals, als er zum ersten Male die Stimme des kleinen „Singvögelchens“ hörte.

„Wenn alles glücklich vorüber ist, komme ich selbst und bringe Ihnen Nachricht,“ erwiderte er. „Darf ich das?“

„O gewiß, gewiß! Aber wenn es nun ein Unglück giebt, wenn Sie fallen?“

„Dann bewahren Sie mir ein besseres Andenken als bisher, mein Fräulein,“ sagte Willibald ernst und herzlich. „Sie haben mich wohl für einen rechten Feigling gehalten. – O, sagen Sie nichts, Sie hatten ja recht; ich habe das selbst bitter genug gefühlt, aber es war meine Mutter, der ich gewohnt bin zu gehorchen, und die mich sehr lieb hat. Jetzt aber sollen Sie sehen, daß ich auch weiß, wie ein Mann sich zu benehmen hat, wenn ein schutzloses Mädchen in seiner Gegenwart beleidigt wird, jetzt will ich jene schlimme Stunde bei Ihnen auslöschen – wenn es sein muß, mit meinem Blute!“

Ohne ihr Zeit zu einer Antwort zu lassen, rief er einen der harrenden Wagen herbei, öffnete den Schlag und wiederholte dem Kutscher Straße und Hausnummer, die Marietta ihm nannte. Sie stieg ein und streckte ihm noch einmal die kleine Hand entgegen, die er einen Augenblick lang in der seinigen hielt, dann warf sich das junge Mädchen mit einem lauten Aufschluchzen in die Polster zurück und der Wagen rollte davon. Willy blickte ihm nach, so lange, bis nichts mehr davon zu sehen war, dann richtete er sich auf und sagte mit einer Art von grimmigem Wohlbehagen:

„Nun nehmen Sie sich in acht, Herr Graf! Mir ist es jetzt eine wahre Wonne, drauf loszuknallen, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht!“




Die Dämmerung brach früh herein an diesem trüben Novembertage, und das Adelsbergsche Palais war bereits erleuchtet, als der Fürst, der von einer kurzen Ausfahrt heimkehrte, an der Rampe vorfuhr.

„Ist Herr Rojanow in seinen Zimmern?“ fragte er beim Eintreten einen herbeieilenden Diener.

„Zu Befehl, Durchlaucht!“ erwiderte dieser mit einer Verbeugung.

„So bestellen Sie den Wagen auf neun Uhr, wir fahren nach dem Schlosse.“

Damit stieg Egon rasch die Treppe hinauf und begab sich in die Wohnung seines Freundes, die neben der seinigen im ersten Stock lag und wie die sämmtlichen Räume des fürstlichen Hauses mit alterthümlicher Pracht eingerichtet war. Auf dem Tische des Wohnzimmers brannte eine Lampe, Hartmut aber lag ausgestreckt auf dem Ruhebett in einer Stellung, die Ermüdung und Abspannung verrieth.

„Du ruhst wohl auf Deinen Lorbeeren?“ fragte der junge Fürst lachend, indem er näher trat. „Verdenken kann ich Dir das nicht, denn Du hast heute keine Minute lang Ruhe gehabt. Es ist doch ein etwas anstrengendes Geschäft, ein neu aufgehender Stern am Dichterhimmel zu sein, es gehören wirklich Nerven dazu. Die Leute reißen sich ja beinahe um die Ehre, Dir Schmeicheleien sagen zu dürfen. Du hast heut einen förmlichen Empfang abgehalten.“

„Ja, und nun müssen wir noch zu Hofe!“ sagte Hartmut in einem matten, gleichgültigen Tone. Die Aussicht schien ihm nichts weniger als angenehm zu sein.

„Das müssen wir allerdings. Die hohen und höchsten Herrschaften wollen dem Sänger gleichfalls ihre Huldigung darbringen, meine allergnädigste Tante an der Spitze. Du weißt ja, sie ist

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so eine Art Schöngeist und glaubt in Dir eine verwandte Seele gefunden zu haben. Gott sei Dank! Dann befiehlt sie mich wenigstens nicht fortwährend an ihre Seite und vielleicht vergißt sie darüber auch die unglückseligen Heirathspläne. Aber Du scheinst mir sehr unempfindlich zu sein gegen die fürstlichen Liebenswürdigkeiten, die schon gestern von allen Seiten auf Dich einregneten. Du antwortest ja kaum, bist Du nicht wohl?“

„Ich bin müde! Ich wollte, ich könnte all diesem Lärm entrinnen und mich nach dem stillen Rodeck flüchten.“

„Nach Rodeck? Nun, da muß es jetzt lieblich sein, im Novembernebel und in den nassen entblätterten Wäldern. Brrr – ein wahrer Gespensteraufenthalt!“

„Gleichviel, ich habe eine förmliche Sehnsucht nach dieser düsteren Einsamkeit und ich gehe auch nächstens auf einige Tage dorthin. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?“

„Sehr viel habe ich dagegen!“ rief Egon entrüstet. „Ich bitte Dich um Gotteswillen, was ist das für ein Einfall! Jetzt, wo die ganze Stadt den Dichter der ‚Arivana‘ auf den Schild hebt, willst Du ihr Deine hohe Gegenwart entziehen und all den Triumphen und Huldigungen entfliehen, um Dich bei lebendigem Leibe in ein spukhaftes kleines Waldnest zu vergraben, das höchstens bei Sonnenschein erträglich ist. Man wird das unerhört finden.“

„Meinetwegen! Ich brauche jetzt Einsamkeit und Ruhe – Ich gehe nach Rodeck!“

Der junge Fürst schüttelte den Kopf. Er war es zwar gewohnt, daß sein Freund in dieser herrischen rücksichtslosen Weise verfügte, wenn ihn gerade die Laune anwandelte, und hatte ihn selbst nach Kräften darin verwöhnt; dieser Einfall aber erschien ihm doch gar zu sonderbar.

„Ich glaube, unsere Allergnädigste hat recht,“ sagte er, halb scherzend, halb vorwurfsvoll. „Sie meinte gestern im Theater: ‚Unser junger Dichter hat Launen, wie alle Poeten!‘ Ich finde das auch. Was hast Du denn eigentlich, Hartmut? Gestern und heute den ganzen Tag strahltest Du nur Triumph und Freude, und jetzt, wo ich Dich kaum eine Stunde allein gelassen habe, finde ich Dich in einem förmlichen Schwermuthsanfall. Haben Dich etwa die Zeitungen geärgert? Vielleicht irgend eine boshafte, neidische Kritik?“

Er deutete nach dem Schreibtische, wo die Abendzeitungen entfaltet lagen.

„Nein, nein!“ entgegnete Rojanow hastig, aber er wandte dabei den Kopf seitwärts, so daß sein Gesicht im Schatten blieb.„Die Blätter bringen ja erst vorläufige Besprechungen und die sind sämmtlich schmeichelhaft. Du weißt ja, ich bin bisweilen solchen Stimmungen unterworfen, die mich oft ohne jede Ursache überfallen.“

„Ja, das weiß ich, aber jetzt, wo das Glück Dich von allen Seiten überströmt, sollten sie Dir doch fern bleiben. Du siehst wirklich angegriffen aus, das kommt von der Aufregung, die wir beide in den letzten Wochen durchgemacht haben.“

Er beugte sich besorgt über den Freund, der ihm, wie in aufwallender Reue über sein schroffes Wesen, die Hand hinstreckte.

„Verzeih, Egon! Du mußt Geduld mit mir haben – es wird vorübergehen.“

„Das hoffe ich, denn ich will doch heut abend Ehre einlegen mit meinem Dichter. Jetzt aber werde ich gehen, damit Du Dich ausruhen kannst. Laß Dich heut von niemand mehr stören, wir haben noch drei volle Stunden bis zur Abfahrt.“

Der junge Fürst ging. Er hatte es nicht gesehen, wie bitter es um Hartmuts Lippen zuckte, als er von dem „überströmenden Glück“ sprach, und doch hatte er die Wahrheit gesprochen. Ruhm war ja Glück, vielleicht das höchste im Leben, und der heutige Tag hatte den Triumph des gestrigen nur fortgesetzt bis plötzlich, vor einer Stunde, ein greller Mißton in diese schmeichelnden Klänge gefallen war.

Der junge Dichter hatte, als er in sein Zimmer zurückkehrte, die Zeitungen durchflogen, die er auf denm Schreibtische fand. Sie brachten zwar noch keine ausführlichen Besprechungen der „Arivana“, erkannten aber einstimmig den großen Erfolg und den mächtigen Eindruck des Werkes an und verhießen eingehende Kritiken für morgen; überall war von Hartmut Rojanow die Rede. Da stieß dieser, als er das letzte Blatt umwandte, auf einen anderen Namen, bei dem es ihn mit jäher, schreckensvoller Ueberraschung durchzuckte. Im nächsten Augenblick erkannte er freilich, daß er nicht damit gemeint war. Die betreffende Notiz berichtete, die jüngste Reise des preußischen Gesandten nach Berlin scheine doch bedeutungsvoller gewesen zu sein, als man annehme. Herr von Walmoden habe in der Audienz, die er gleich nach seiner Ankunft bei dem Herzog gehabt, offenbar wichtige Dinge zur Sprache gebracht, und jetzt werde ein höherer preußischer Offizier erwartet, der Träger einer besonderen Sendung bei Seiner Hoheit sei. Es handele sich zweifellos um militärische Angelegenheiten, und Oberst Hartmut von Falkenried werde schon in den nächsten Tagen eintreffen.

Hartmut hatte das Blatt fallen lassen, als sei es plötzlich glühendes Eisen geworden. Sein Vater kam hierher und erfuhr dann sicher durch Walmoden alles, musste alles erfahren; die Möglichkeit eines Zusammentreffens war ja dann unendlich nahe gerückt!

„Wenn Du Dir eine große, stolze Zukunft errungen hast, dann tritt wieder vor ihn hin und frage, ob er es noch wagt, Dich zu verachten!“ hatte Zalika ihrem Sohne zugeflüstert, als er sich gegen die Flucht, gegen den Bruch seines Ehrenwortes sträubte. Jetzt war der Anfang zu dieser Zukunft gemacht. Der Name Rojanow trug bereits den Lorbeer des Dichters, und damit war die ganze Vergangenheit ausgelöscht; sie sollte und mußte es sein, diese Ueberzeugung stand in dem Blick, den Hartmut gestern so triumphierend zu der Loge des Gesandten emporgeschickt hatte. Aber jetzt, wo es sich darum handelte, dem Auge des Vaters zu begegnen, erbebte der Trotzige doch, dies Auge war das einzige, was er fürchtete auf der Welt.

Er war halb und halb entschlossen, nach Rodeck zu gehen und erst zurückzukehren, wenn er durch die Zeitungen erführe, daß jener „hohe Offizier“ wieder abgereist sei. Und doch hielt ihn etwas, eine geheime, aber brennende Sehnsucht. Vielleicht war gerade jetzt, wo sein Dichterruhm so glänzend aufstieg, die Stunde der Versöhnung gekommen, vielleicht sah Falkenried ein, daß eine solche Kraft Freiheit und Leben brauchte, um sich zu enthalten, und verzieh den unseligen Knabenstreich, der ihn bei seinen Anschauungen sicher tief und schwer getroffen hatte. Es war ja doch sein Kind, sein einziger Sohn, den er damals an jenem letzten Abende in Burgsdorf mit so leidenschaftlicher Zärtlichkeit in die Arme geschlossen hatte. In der Seele Hartmuts wuchs bei dieser Erinnerung übermächtig die Sehnsucht nach diesen Armen, nach der Heimath, die ihm ja dann auch nicht mehr verloren war, nach der ganzen, trotz des äußeren Zwanges doch so glücklichen, so reinen und schuldlosen Knabenzeit.

Da öffnete sich die Thür, und der Diener trat ein mit einer Karte auf dem Teller, die er überreichen wollte. Rojanow machte eine ungeduldig zurückweisende Bewegung.

„Ich sagte Ihnen doch, daß ich heute niemand mehr spreche, ich will ungestört sein.“

„Ich habe den Herrn auch abgewiesen,“ berichtete der Diener, „aber er bat mich, in diesem Falle Herrn Rojanow wenigstens seinen Namen zu nennen – Willibald von Eschenhagen.“

Hartmut fuhr plötzlich aus seiner liegenden Stellung empor, er glaubte nicht recht gehört zu haben.

„Wie nennt sich der Herr?“

„Von Eschenhagen, hier ist seine Karte.“

„Ah – lassen Sie ihn eintreten! Sofort!“

Der Diener ging, und in der nächsten Minute trat Willibald ein, blieb aber ungewiß und zögernd an der Thür stehen. Hartmut war aufgesprungen und blickte ihm entgegen: ja, das waren noch die alten Züge, das liebe vertraute Gesicht, die ehrlichen blauen Augen seines Jugendfreundes, und mit dem leidenschaftlichen Ausrufe: „Willy! Mein alter lieber Willy, Du bist es! Du kommst zu mir!“ warf er sich stürmisch an seine Brust.

Der junge Majoratsherr, der nicht ahnte, wie seltsam sein Erscheinen gerade in diesem Augenblick mit alten Erinnerungsträumen seines Jugendfreundes zusammenfiel, war fast bestürzt über diesen Empfang. Er erinnerte sich, wie Hartmut sich immer herrisch gegen ihn gezeigt und ihn seine geistige Ueberlegenheit bei jeder Gelegenheit hatte fühlen lassen; er hatte gemeint, der gestern so hoch gefeierte Dichter der „Arivana“ müsse noch viel herrischer und hochmüthiger sein, und nun fand er eine überströmende Zärtlichkeit.

(Fortsetzung folgt.)