Freiburg in der Schweiz
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Wenn der gütige Himmel dem schweizer Touristen eine Ahnung der Seligkeit geben will, dann schenkt er ihm einen sonnigen, klaren Tag. Der ward auch uns, als wir an einem frischen Augustmorgen von Laupen auszogen, um durch das Sanethal nach Lausanne zu wandern. Laupen ist ein kleines Städtchen auf der Grenze des Berner und Freiburger Landes. Zwei bewaldete Bergketten bilden das Thal, welches der Fluß durchrauscht, neben dem, am rechten Gehänge hin, die Straße zieht. Die Gewittergüsse der vorhergegangenen Tage hatten die Sane angeschwollen: noch spielten ihre Fluthen mit fortgerissenen Baumstämmen, und die hier und da auf das Ufer geschobenen Stein- und Geröllmassen zeugten von Dem, was die sonst ohnmächtige Najade vermag, wenn sie zürnt. – Zwei Stunden von Laupen, an der Stelle, wo von der entgegengesetzten Berglehne die Gebäude des kleinen Badeorts Bonn herüberschauen, verändert zwar nicht die Natur, aber der Mensch Gestalt und Stimme. Die Landschaft, die Hügel und Gründe, die Wälder und Pflanzungen, die Wiesen und Felder, die Kapellen und Burgen, das Läuten der Heerden und die Chöre der kleinen Sänger, reden nach wie vor die Sprache der Idylle: der Mensch hingegen zeigt in Form, Tracht und Wesen andere Züge. Wir stehen nämlich auf der Grenzscheide, wo sich die Nachkommen und Sprachen zweier Nationen, der Allemannen und Burgunder, berühren, ohne sich in einander aufzulösen. Die Linie der Sprachentrennung zieht sich zwei Stunden unterhalb Freiburg von dem Jura herüber quer durch das Sanethal und den Kanton. Im Dorfe Barberèche hört man zuerst das Landvolk französisch reden, ein Patois, der Sprache der Pariser so unähnlich als das Schwäbische dem Hochdeutsch in Hannover. Mit der verschiedenen Sprache treten auch verschiedene Sitten, Herkommen, Gebräuche, Gesetze, eine andere Geschichte, andere Traditionen auf; denn beide Völkerschaften, Germanen und Burgunder, führen ihr Daseyn in diesen Gegenden in das urgeschichtliche Alterthum hinan; – sie hatten schon lange vor der römischen Eroberung feste Niederlassungen gegründet. Die Römerherrschaft war in dem schweizer Lande allezeit mehr eine militärische, als administrative und sie änderte wenig oder nichts in dem Gemeindeleben
[23] der Ureinwohner. Diese blieben bei ihren Gewohnheiten und Gebräuchen, welche erst lange nachher, zur Zeit der Karolinger, in Schrift verfaßt und, nach den Bedürfnissen der fortschreitenden Kultur von Zeit zu Zeit geändert und mit Zusätzen vermehrt, für mehre zu Distrikten vereinigte Gemeinden als Gesetze anerkannt wurden. So ist es gekommen, daß in dem kleinen, kaum 20,000 Familien zählenden Kanton Freiburg wohl ein halbes Dutzend verschiedene Gesetzbücher oder „Ordnungen“, alle von einander abweichend, alle nur in Handschriften vorhanden, und diese im Texte gar manchmal verschieden, Gültigkeit haben, und Karls V. hochnothpeinliche Halsgerichtsordnung verrichtet noch gegenwärtig den Dienst als Kriminal-Kodex. Erst in neuester Zeit, seitdem die liberale Partei die Zügel der Regierung fest in Händen hält, wird auf die Einführung allgemeiner Gesetze für den ganzen Kanton beharrlich hingearbeitet. Das Fundament für solche hat die neue demokratische Verfassung gelegt, welche die liberale Volksmajorität durchsetzte, nachdem der Sonderbundskrieg die Macht der Klerikalen und Patrizier gebrochen hatte. Jene Verfassung hob die von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbte Stufenfolge der Stände und ihre partikularen Rechte und Unrechte auf und machte das Prinzip völliger Gleichheit aller Bürger zum Fundament des Staats. Das Wort Unterthan, daß den Landmann drückte, hat jetzt im Kanton aufgehört, und die Lehre, der Bauer sey bloß zum Beten, Arbeiten und Steuerzahlen auf der Welt, ist obsolet geworden. Der Landmann rückt nicht mehr die Mütze schon von fern, wenn er den Patrizier kommen sieht, und der Edelmann und der reiche Städter haben das stolze Benehmen gegenüber den ärmern Mitbürgern abgelegt. Der Ausdruck „Gemeine und Vornehme“ hat, staatsrechtlich, im Kanton Freiburg keinen Sinn mehr; seine Geltung hat sich in die Privatverhältnisse zurückgezogen.
Oberhalb Barberèche verläßt die Landstraße das Thal und sie steigt eine bedeutende Anhöhe hinan, auf deren Plateau den Wanderer eine Ueberraschung erwartet. Die ganze Berner Alpenwelt ist seinem Blick aufgethan in Herrlichkeit. In einem weiten Bogen, anfangend vom Genfer Seebecken, thürmen sich die Berge über und hinter einander auf, bis sie unter den nebelhaften, undeutlichen Riesengestalten der Ost-Schweiz verschwinden. Der Mittelpunkt des Panorama’s ist die kolossale Gruppe des Schreckhorns und Finsteraarhorns mit ihren Genossen, deren Hörner und Spitzen emporsteigen, als hätten sie das Himmelsgewölbe zu tragen. Kehrt dann der Blick, gesättigt vom Anschauen der erhabenen fernen Gebirgswelt, in die nähere Umgebung zurück, so hat er das lachende Bild der Anmuth und Fruchtbarkeit vor sich. Der Kanton Freiburg ist in der That ein weiter Park. Jede Höhe trägt eine Waldkrone, oder eine Burg, oder eine Kapelle, und aus jedem Thal, aus jedem Grunde schauen Klöster und Kirchen, Städtchen, Dörfer und Gehöfte behäbig herauf: an jedem Gelände ziehen weidende Heerden und rauschen Quellen und Bäche in Kaskaden und kleinen Wasserfällen herab. Und so mannichfaltig wie diese Landschaftsbilder sind, so mannichfaltig sind auch die Menschen in Gestalt, Gang, Haltung, Art, Sitte und [24] Gewohnheit. Zu den Deutschen und Franzosen gesellen sich im Süden des Kantons noch Romanen und Welsche, und nirgends sieht man die malerischen Trachten in größerer Verschiedenheit. Unmittelbar zu den Füßen des Beschauers liegt Freiburg selbst, die Hauptstadt des Kantons. Es gibt nichts Romantischeres, als den Anblick dieser uralten deutschen Ansiedelung (in der jedoch französische Sprache und Sitte nach und nach das Uebergewicht erlangen), mit ihren 1000 Häusern, die zwischen Bergwänden und in tiefen Schluchten sich verstecken, oder, wie vom Sturm zusammengewebt, an den meistens steilen Gehängen kleben, während die Kirchen und Klöster auf den Höhen stehen und der Palast der Jesuiten stolz von seinem Fels auf alles Andere herabschaut, als wollt’ er sagen: „Hier haben wir die Herrschaft“. In einem seltsamen Kontrast mit diesem Charakter – gleichsam wie ein Strich durch eine Heiligenlegende – erscheint in dieser Umgebung die neue Drahtbrücke, die, so leicht und luftig wie die Fäden eines Spinngewebes, 925 Fuß lang, von Berg zu Berg führt und über Strom, Thal, Kirchen, Häuser und Thürmen 160 Fuß hoch hinzieht. Das ist ein Geist aus anderer Zeit, und es muß wohl ein mächtiger Geist seyn, denn dem alten will’s nicht mehr recht behagen. Die Väter Jesu sind schon ausgezogen, die hohen Hallen ihres Hauses sind verödet und die Aufhebung der Klöster hat begonnen. Doch im Gepräge der Stadt selbst hat der neue Geist noch gar nichts verändert. Es ist ein Stück Mittelalter, wie Augsburg oder Nürnberg, und der Hauch der Neuzeit hat von den alterthümlichen Bildern und Typen in Freiburg noch viel weniger verwischt, als in jenen Städten Deutschlands. Rom selbst hat kein frommeres Ansehen. Selten ist eine Straße, in welcher wir nicht das Kreuz, oder Häuser mit Heiligenbildern bemalt erblicken. Das Leben schleicht einförmig dahin. Das starre Kirchenthum, wie es die Jesuiten und Mönche pflegten und groß zogen, hat das in alter Zeit blühende und volkreiche Freiburg in Gewerbe und Handel, in Fleiß und Wohlstand zurückgebracht, die Bevölkerung ist nur noch 8000, und das „Bete und Arbeite“ der Bibel haben hier gar viele in „Bete und Genieße“ übersetzt. Auf den stillen Gassen wandeln von Morgens bis zum Abend, fast zu allen Stunden des Tages, Andächtige, welche das Geläute bald zu dieser, bald zu jener Kirche ruft; zugleich aber sind 50 bis 60 Wirthshäuser dem Müßiggang geöffnet, und die Weinschenken und Kaffeehäuser sind öfters voller, als die Kirchen, und das lustige, lärmende Leben drinnen kontrastirt unerbaulich mit dem frommen äußern Thun. Die Stadt allein zählt, außer fünf Mönch- und vier Nonnenklöstern nebst einem Priesterhause, zwölf Kirchen und neun Kapellen.
Unter den Kirchen ist eine sehr berühmte. Sie ist dem heiligen Nikolaus geweiht. Schon zur Römerzeit soll auf ihrem Platz eine christliche Kapelle gestanden haben. Mehrmals zerstört und wieder erneuert, wurde im zwölften Jahrhundert der prachtvolle Bau aufgeführt, welchen die Architekten als eine Reliquie der gothischen Baukunst ehren. In dieser Kirche spricht sich der Geist des Mittelalters vollkommen aus. Ueberall, wohin das [25] Auge sich wendet, sey es zu den Bündelsäulen, die die Schiffe tragen, oder zu den Wänden und Gesimsen, oder zu den Altären und Kapellen, oder zu den hohen mit Glasgemälden geschmückten Bogenfenstern, aller Orten treten die Symbole jener Theokratie entgegen, welche einst der Vatikan aus den Trümmern des welterobernden Roms errichtete. Jeder Gedanke jener Zeit ist in diesem steinernen Schriftwerke niedergeschrieben. Ueberall sieht man die unveränderliche Hieroglyphe päpstlicher Einheit, Unumschränktheit, Unerforschlichkeit und Macht; überall die Priester, die Kaste; aber ganz ist der Mensch doch nicht ausgeschlossen, erwacht ist der Geist der Dichtkunst und er macht sich geltend in der Herrschaft über die Form und in dem freien Spiel mit den beiligen Symbolen.
Bis auf Guttenberg herab galten die großen Bauwerke als ein dem Volke aufgeschlagenes Buch. Das Mittelalter beschrieb die letzten Seiten desselben, in welchen früher der Orient – Indien, Aegypten, Phönicien, Palästina, das Land am Phrat und Tigris hineingeschrieben hatten. – Die Tempel des Salomo, die Paläste des Sesostris, die Pyramide des Cheops, das Rhamseion und Thebens Nekropolis, die Höhlen von Eklinga und Ellora, sie waren nicht bloß das Kleid der Geschichte; nicht bloß der Einband, sondern das Buch selbst. Alles daran und darum war Mythe, Tradition, Psalm, Epos, – heilig, unveränderlich, unantastbar, bis der aristophanische Spott des Mittelalters den Autoritätsglauben von seinem Nimbus zu entkleiden wagte. Was mit der ersten Pagode des Bramah begonnen hatte, das hat jene Schriftkunst, welche statt des Rohrs oder Gänsekiels den Meisel und das Schneidemesser führte, mit einem halbausgesprochenen Worte geendigt, – mit dem Dom zu Köln, und die Gegenwart stammelt und stottert sich müde, dieses Wort zu ergänzen! –