Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Compositionsschau: Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte

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Compositionsschau: Variationen für Pianoforte Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Compositionsschau: Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte
Aeltere Claviermusik (1)


[186]
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte.
Erste Reihe.
I. Tedesco, Phantasie über Motive aus Robert der Teufel. Werk 6. – C. Schunke, große charakteristische Caprice über ein Thema von Meyerbeer. Werk 46. – J. Nisle, brillantes Allegro. Werk 45. – J. Schmitt, große brillante Phantasie (Douleur et triomphe. Inspiration musicale). Werk 225. – Hommage à Clara Wieck. Recueil pour le Pianoforte. – O. Gerke, Amusement. Werk 16. – J. P. E. Hartmann, 4 Capricen, Werk 18. –


Wer weiß, wie Hr. Tedesco mit obiger Phantasie in Leipzig wenigstens in Erstaunen gesetzt, ja wer sogar jener Execution selber beigewohnt hat, kann es dem Componisten nicht verargen, daß er ein bescheidenes: „Executée par l’Auteur dans ses concerts“ auf dem gedruckten Titelblatt beifügte. Ueber gewisse Dinge spräche man nicht, wenn man nicht oft gegen seinen Willen dazu gezwungen würde. Wer wird einem jungen reisenden Künstler übel wollen, ihm nicht förderlich sein! Nur das „executée“ etc. hätte der Virtuos weglassen sollen, dieses „executée“ etc. läßt mir keine [187] Ruhe und Rast, verfolgt mich seit einigen Tagen in meine Träume, versetzt mir den Athem. Und dann lesen wir in einigen norddeutschen Blättern von einem Wunderspieler, dem Hannibal der Octaven etc. Auch dies möchte sein und verdiente keine Widerlegung. Aber dies executée, dies einzige Wörtchen — — Ich kann nicht weiter.

Ueberhaupt wer hat die Schuld am Glücke so vieler junger Componisten? — Meyerbeer. Ich sage nichts vom unmittelbaren Einfluß seiner Werke auf den ganzen Menschen, nichts von dem europäischen Universalstyl, in welchen sich durch Bearbeitung seiner Themen am sichersten einzuschießen; ganz materiell deute ich nur auf das Gold, das göttliche, das eifrige Jünger aus ihm schlagen, auf den Vortheil, hinter den Fetzen eines großen Mannes sich mit in die Unsterblichkeit einschmuggeln zu können. So auch Hr. C. Schunke. Mit Wonne wälzt er sich in des Meisters Tönen, reicht vom großen Gesammteindruck noch einmal aus duftenden Schnapsgläschen, sich tausendfach zu berauschen: kurz Meyerbeer’s tapferster Herold ist er. Fragt mich nicht genauer, was ihr auf den 20 Seiten Musik für welche bekommt, gewiß gute Anfänge, verwehende Clavierseufzer, eine Menge delicater Kleinigkeiten, dann das Meyerbeer’sche und allerliebste Ausführung, zum Schluß endlich, worauf ich längst gepaßt, eine Andeutung des Luther’schen Chorals. Doch sind dies nur Worte, Winke, die nur schwach wiedergeben, was ich mir bei den Hugenotten [188] selbst vom Kleiderausziehen der Mädchen an bis zum Choral hinauf gedacht. Daher schwelge man nur von der Quelle selbst!

Beinahe traurig gegen solche Freudenmusik nimmt sich eine unschuldige Polonaise von Hrn. Nisle aus, der die Welt indeß wenig kennt, wenn er solche mit Palestrina’schen Dreiklängen zu packen meint. Das Trio allein hat etwas mehr Farbe und angenehmen Charakter: das Uebrige ergeht sich in den gewöhnlichsten Harmonieen; das Ganze scheint wie eine Composition aus Vanhal’s Zeiten.

An der Phantasie des Hrn. J. Schmitt mißfällt mir allein das bombastische Aushängeschild. Warum Douleur et Triomphe? Warum Inspiration et musicale? Warum grande Fantaisie brillante? Gewiß bleibt deshalb die Musik dieselbe: aber warum als altes bemoostes Haupt thun, was man beim Schüler belächelt, wenn er in verzeihlicher Selbstbegeisterung seine Schriften mit zolllangen Buchstaben bemalt! Und daß es mit dem Schmerz und gar mit dem Triumph nicht so weit her ist, merken gewiß auch die, auf welche selbige Schilder etwa vorn herein einen Eindruck machen. Nennen wir die Sache also beim Namen: „Introduction, Thema und Variationen,“ und urtheilen von dieser Höhe, so erhalten wir in der Phantasie ein sehr angenehm klingendes mit Geschick und Geschmack gesetztes Musikstück voll einnehmender Melodie und wenn nicht tiefem, doch anmuthendem Charakter. Von Bertini’s [189] Compositionen, mit denen unser Componist in harmonischer Behandlung, wie der des Instrumentes, viel Aehnliches hat, zeichnen sich seine durch etwas Deutscheres, Handfesteres aus, während man dort freilich mehr Modisch-Neues antrifft. Das Stück wird sich ohne unser Zuthun beliebt machen.

Scheint es doch als hätten die sämmtlichen fünf geschätzten Componisten der großen Künstlerin, der sie mit der fünften der obigen Nummern ein Andenken gebracht, zu tief in das Auge gesehen, in so romantischer Weise ergehen sie sich; ja selbst zwei ehrenfeste Organisten schwankten einen Augenblick. Im Ernst die Sammlung ist interessant. Gleich das erste Stück, eine Caprice von E. Frank, fällt durch Kürze, Frische, Kraft und Einheit auf, während sich die Rhapsodie v. A. Hesse[H 1] unter dem romantischen Einfluß noch etwas verlegen benimmt, aber mit Talent aus der Schlinge zieht. Die Vision unsers geschätzten Dr. Kahlert bekenne ich nicht ganz zu verstehen, ja bekenne, daß ich sie erst Adagiosissimo spielte, als ich zu meinem Erstaunen Presto als Tempo fand: nun war es vollends dunkel um mich. Ein kleines Ungeheuer von Romantik hält man sicherlich unter den Händen. Die Toccata von E. Köhler ist auf eine lebendige Figur gebaut und klingt, rasch gespielt, gut und brillant. Daß im zweiten Theil immer dieselben Harmonieen vorkommen, fällt etwas auf. Ein Nocturno von B. E. Philipp schließt; es ist eine Copie, aber mit einem Talent gemacht, das mehr Nahrung [190] und Aufmunterung verdient, als es vielleicht erhalten hat.

Aus dem Amusement des Hrn. Gerke wünschte ich nur den Walzer und die Polonaise weg, um es als ein gutes empfehlen zu können. Wahrhaftig man sollte eine besondere Redaction für Manuscripte honoriren, die im Voraus Tod und Verderben jungen, talentvollen Componisten schwören, wenn sie offenbar Verbotenes mit ihren besten Gaben in die Welt einzuschwärzen trachteten. Ohne jene Stücke, bei denen die Achtung, die er sich bei dem Kritiker und Künstler erwerben muß, wieder zur Gleichgiltigkeit und zum Verdruß herabfällt: welche werthvolle Sammlung hätte es gegeben! Die andern Sätze, ein Marsch, ein Scherzo, das freilich sehr an das Hummel’sche in der D dur-Sonate erinnert, ein Rondo und eine Mazurka gehören zu dem Gedankenvollsten, das mir bis jetzt von den Arbeiten dieses Componisten zu Gesicht gekommen. Halte er daran fest: die elegante Sphäre lasse er in Gottes Namen Anderen.

Die vier Capricen von Hrn. P. E. Hartmann sind wohl gearbeitet, verständig, ernst, ja finster. Es scheint aber, als wolle er des Guten zu viel, als hafte er zu lange am Einzelnen; seine Musik spricht noch nicht frei, gleich als ob ein Dämpfer darüber läge. Wo man hinfühlt, Formen und Gedanken, aber — mit einem Wort kein Gesang. In der dritten Caprice, die melodischer werden will, zeigt sich das am stärksten: sie hat wohl Melodie, schweift aber unlustig und unsicher auf [191] und nieder; wo man rechts zu kommen glaubt, geht sie links, wo man in die Tiefe, strebt sie in die Höhe. Die zarte melodische Ader, die sich in den Werken der Meister durch die verwickeltsten Labyrinthe der Harmonie hindurchzieht, kann freilich Niemand mit Gewalt in sich bringen; gewiß läßt sich aber durch stetes Aufmerken, der Harmonie nicht eine zu große Herrschaft über die Melodie einzuräumen, diese von jener nicht gänzlich unterdrücken zu lassen, gar Manches erreichen. Darauf scheint mir der Componist achten zu müssen. Wär’ es, daß wir mit unserm Rathe nicht zu spät kämen, und daß er mit freier leichter Brust das Ziel verfolge, dessen glückliche Erreichung wir jeder wahren Bestrebung von so ganzem Herzen gönnen!




Zweite Reihe.
L. Schuberth, große Phantasie in Form einer Sonate (Souvenir à Beethoven). Werk 30. – C. M. von Weber, Phantasie (les Adieux). – S. Thalberg, 3 Nocturns. Werk 21. – S. Thalberg, große Phantasie. Werk 22. – W. Taubert, brillantes Impromtu über ein Thema von Meyerbeer. Werk 25. – W. Taubert, brillantes Divertissement (Bacchanale). Mit Begleitung des Orchesters. Werk 28.


Sollte Einem der obigen Componisten vor einigen Augenblicken das linke Ohr so stark geklungen haben, daß er vor sich selbst hätte fliehen mögen, so ist das natürlich; denn ich ließ mich eben so gegen einen Bekannten [192] aus: Freund, du weißt, ein ganzer Jean Paul’scher Walt[H 2] von Sanftmuth steckt in mir; in gewissen Fällen aber könnt’ ich denn doch getrost aus der Haut fahren. Wir hatten neulich eine Symphonie vor, deren Verfasser so tapfer zusammengestohlen, daß wir uns die einzelnen Sätze recht gut zurückrufen konnten, wenn wir sie bezeichneten mit „Eroica-Satz, Sommernachtstraum-Satz“ etc. Der Symphonist ist aber ein Kind gegen unsern Beethovenverewiger … Sind wir denn dahin gekommen, daß wir Componisten, ehe sie componiren, erst fragen müssen, ob sie Knigge’s Umgang mit Menschen gelesen, — dahin, daß wir sie aufmerksam machen müssen, daß man in gebildeter Gesellschaft die Stiefel nicht ausziehen dürfe? Kennen sie nicht den Anfang des ABC der ersten Bildung? Sollen wir sie an die griechischen Schulen erinnern, in welchen den Schülern ausdrücklich gesagt wurde, daß sie die Melodieen ihrer Väter sacht und ernst nachsingen müßten und „daß sie scharfe Schläge bekamen, wenn sie jene Melodieen durch Schnörkeleien verzierlichen wollten?“ Vergeht sich die Unbildung so weit, die erhabenen Gedanken eines Meisters zu betasten? Noch mehr, wagt sie es, sie förmlich zu verändern, zu verrücken? Wahrhaftig, an ihrer Verehrung kenn’ ich sie. Hidschnu-Chan-Murzach wälzt sich vor einem Klotz im Staube, Peter kneipt seinen Schatz in den Backen, und Componisten schreiben Souvenirs à Beethoven. Mein Freund sagte, ich äußere mich etwas stark. Ich aber gelobte mir von Neuem, [193] gegen Gemeinheit und Verkehrtheit, so lange ein Tropfen Bluts in mir, anzukämpfen.

In der Phantasie mit Weber’s Namen glaubt’ ich mich etwas von meinem Verdruß erholen zu können; aber schon auf der dritten Seite schien mir jede Note wie zurufen zu wollen „ich bin nicht von Weber.“ Und wenn man mir seine Handschrift zeigte, ja stände er selbst aus dem Grabe auf und betheuerte, daß die Phantasie von ihm, ich könnt’ es nicht glauben. Die Getäuschten thun uns herzlich leid; meine moralische Ueberzeugung kann mir aber Niemand nehmen. Man wird uns vielleicht Papiere vorlegen, niemals aber beweisen können, daß mit der Veröffentlichung eines durchaus schalen, auseinanderfallenden Musikstückes, und trüge es den Namen des Besten an der Stirne, irgend etwas gefördert ist.[H 3]

Beim Durchgehen der Compositionen von Thalberg war ich von jeher immer in einer gewissen Spannung, nicht als ob ich auf Platituden lauerte, sondern weil er sie immer so gründlich vorbereitet, daß man die kommende kahle Stelle ziemlich genau vorauszubestimmen weiß. In kleineren Compositionsgattungen, die keine so nachhaltende Energie zur Vollendung erheischen, als größere Formen, finden sich solche Stellen natürlich weniger, daher mir auch das Meiste der Notturno’s gefallen hat, wenn man vorweg von Vielseitigkeit und Großartigkeit der Erfindung absieht und dem Componisten eine gewisse Süßlichkeit nicht als Schwäche anrechnet. [194] So sind die Melodieen der Notturno’s durchweg einschmeichelnd, wenn auch nicht neu und vollkommen edel. Die im ersten scheint mir nur eine Veränderung vom alten: An Alexis etc., ist aber so zu sagen schön instrumentirt. Auch der zweite melodische Gedanke (in As dur) im zweiten Notturno singt recht zart, schleppt aber zuletzt. Am besten will mir das Thema zum dritten Notturno gefallen, da es nicht so breit auseinander fließt und südlicher Natur ist; in der Folge (Tact 13 zu 14) kommt indeß eine Fortschreitung , die mir unerträglich. — Die Rückgänge, in denen sich die Meisterhand am ersten kund thut, geschehen noch nicht mit der Leichtigkeit und Natürlichkeit, wie wir es bei Field und Chopin treffen, wie sich Th. überhaupt zu Letzterem verhält, wie Carl Mayer zum Ersteren. — Die Phantasie Werk 22 besteht aus einer Menge kleiner Abtheilungen, die sich um einige Grundharmonieen bewegen, aus denen sich hier und da auch recht schöne Melodieen entwickeln. Sie enthält manches Anmuthige und Zarte, so schwierig und vollstimmig sie geschrieben ist. Ein musikalisches Blatt enthielt jüngst bei Besprechung Thalbergischer Compositionen die Bemerkung, daß man beim Anhören freilich um die Hälfte des Genusses käme, wenn man die Augen zudrücke, d. h. wenn man sie sich vierhändig gespielt dächte. Ich meine aber, daß es nicht gering anzuschlagen ist, wenn ein Einzelner vollbringt, wozu sonst Zwei gehören. Dies könnte also die Achtung nur [195] erhöhen. Daß aber bei Thalberg, wie bei Herz und Czerny, das Hand- und Fingerwerk Hauptsache bleibt und daß er mit glänzenden Mitteln über oft schwächliche Gedanken zu täuschen weiß, könnte zu einem Zweifel veranlassen, wie lange die Welt an solcher mechanischen Musik Gefallen finden möchte.

Von den Compositionen, die durch die Hugenotten hervorgerufen sind, und deren uns der Himmel nicht zu viele schenken wolle, verdient allein die von Hrn. Taubert den Namen, wenn auch nicht Kunstwerk, doch den eines guten Musikstückes. So wenig originell mir der Chor „Rataplan“ etc. vorkömmt, ja beinahe wie eine Brechung der Galoppade aus Wilhelm Tell, so hätte ich ihn doch, wenigstens einmal, unverändert zu hören gewünscht, als so wie ihn sich Herr Taubert gesetzt. Doch ist das Nebensache, und das, was der Arbeit Werth gibt, der Bau des Ganzen, worin es den deutschen Künstlern nun Niemand zuvorthut. Der Verfasser selbst legt vielleicht nur wenig Werth auf sein Hugenottenstück; indeß würden wir gar nicht dagegen sein, schriebe er auch in der Zukunft manches derlei zum Vortheil für das Publicum, wie für seinen eigenen, — für jenes, das von der gediegenen Arbeit der Schale, woraus es von seinen Lieblingsgenüssen zu kosten bekömmt, ungleich mehr lernen kann, als von den windigen französischen Champagnergläsern, — für ihn, daß er von den Feinheiten des Salons so lange für sich nütze, als es einem ernsteren Streben keinen Abbruch thut, wie denn Florestan [196] neulich in einer andern Beziehung meinte: „man müsse Manches in sich hineincomplimentiren, um es nur wieder herauszuprügeln,“ welchen Spaß wir ihm gern gönnen.

Im Bacchanale finden wir gerade kein bacchantisches Leben, für das dem Componisten wohl auch der höchste Schwung der Begeisterung mangelt, aber ein lustiges Gelage, dem keine Polizei etwas anhaben wird. Die Instrumente scheinen viel darin zu sagen zu haben, wir können es leider nicht genau angeben, fehlender Partitur halber. Anklänge an Mendelssohn, wohl auch an Weber finden sich hier und da, aber in einer Weise, die ich umgekehrte Nachahmung nennen möchte, indem mancher Componist gerade dem, dem er ähnlich wird, mit allem Fleiß auszuweichen sucht, bis er ihm in einem unbelauschten Augenblick mit dem ganzen Körper in die Arme fällt.




Anmerkungen (H)

  1. [WS] Vorlage: E. Hesse
  2. [GJ] in den „Flegeljahren“
  3. [GJ] Anmerkung 7: Schumann beurtheilte das Werk richtig, denn später hat sich erwiesen, daß es ein untergeschobenes ist. (Vgl. F. W. Jähns’ „C. M. v. Weber in seinen Werken“ S. 446.) In Finks Ztg. (1836, S. 731) wurde die Phantasie als Werk Webers beurtheilt, das „den vielen Freunden des früh Verstorbenen lieb und werth“ sein werde. Rellstab fand (Iris 1836, S. 190) das Werk „sehr schön in der Erfindung“ und „mit der sicheren Hand des Meisters geschrieben.“ II.493
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