Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/I. Studien für das Pianoforte von J. N. Hummel

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Aus den kritischen Büchern der Davidsbündler Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
I. Studien für das Pianoforte von J. N. Hummel
II. Heinrich Dorn


I. Studien für das Pianoforte von J. N. Hummel. W. 125.[H 1]


1.


Heiterkeit, Ruhe, Grazie, die Kennzeichen der antiken Kunstwerke, sind auch die der Mozart’schen Schule. Wie der Grieche seinen donnernden Jupiter noch mit heiterm Gesicht zeichnete, so hält Mozart seine Blitze.

Ein rechter Meister zieht keine Schüler, sondern eben wiederum Meister. Mit Verehrung bin ich immer an die Werke dieses gegangen, der so viel, so weit gewirkt. Sollte diese helle Art zu denken und zu dichten vielleicht einmal durch eine formlosere, mystische verdrängt werden, wie es die Zeit will, die ihre Schatten auch auf die Kunst wirft, so mögen dennoch jene schönen Kunstalter vergessen werden, die Mozart regierte und die zuerst Beethoven schüttelte in den Fugen, daß es bebte, vielleicht nicht ohne Zustimmung seines Vorfürsten Wolfgang Amadeus. Später nahmen Carl Maria von Weber und einige Ausländer den Königsthron ein. Als aber auch diese abgetreten, verwirrten sich die Völker mehr und mehr und wenden und strecken sich nun in einem unbequemen classisch romantischen Halbschlaf. –

Man hat ältern Künstlern den Rath gegeben, daß sie, hätten sie den Culminationspunct erreicht, anonym fortschaffen möchten, da man das, was vielleicht jüngeren, unbekannten Namen als Vorschritt gezählt würde, bei ihnen als Kunstnaturnachlaß ansähe. Wenn dadurch auch das erreicht würde, daß, was durch den Klang des Namens eine Zeit lang als bedeutend gegolten hatte, nun nicht mehr zum Irrthum reizte, so würde es immer Zufall, ja Uebermuth sein, wenn der Kritiker jene culminirende Spitze zu treffen behauptete — (wie hätte er nach der siebenten Beethoven’schen Symphonie eine achte, nach der achten eine neunte erwarten dürfen) — der Künstler aber, strebt er sonst vorwärts und edel, würde dennoch stets das letzte, gerade vollendete Werk für diesen Culminationspunct halten. —

Es wäre unwahr, wollte man das vorliegende Werk des alten Meisters jenen vom 60sten bis 80sten als ebenbürtig an Schönheit an die Seite stellen, jenen Kunstwerken, wo alle Kräfte harmonisch walteten. Es ist wohl noch derselbe Strom, auch majestätisch noch und achtunggebietend, aber wie sich breiter ausdehnend in das aufnehmende Meer, wo sich die Berge abdachen und die Ufer den fortziehenden nicht mehr so blüthenreich gefangen halten. Ehret ihn aber in seinem Lauf und denkt, wie er ehedem die Außenwelt so treu in seinem Schoos aufnahm und zurückspiegelte!

Bei der großen Schnelle der Entwickelung der Musik, wie keine andere Kunst ein Beispiel aufstellen kann, muß es wohl vorkommen, daß selbst das Bessere selten länger als vielleicht ein Jahrzehend im Munde der Mitwelt lebt. Daß viele der jungen Geister so undankbar vergessen und nicht bedenken, wie sie nur eine Höhe anbauen, zu der sie gar nicht den Grund gelegt, ist eine Erfahrung der Intoleranz, die jede Epoche der jüngeren gemacht hat und künftig machen wird. –

So jung ich bin, so möchte ich hierin nichts mit einem sogenannten, obschon sehr geliebten Florestan gemein und auf dem Gewissen haben. Florestan — wenn Du ein großer König wärest und du verlörest einmal eine Schlacht und Deine Unterthanen rissen dir den Purpur von der Schulter, würdest Du nicht zornig zu ihnen sagen: Ihr Undankbaren! –

Eusebius.


2.


Schönes Eusebiusgemüth, Du machst mich wahrhaftig zum Lachen. Und wenn Ihr alle Eure Uhrenzeiger zurückstellt, die Sonne wird nach wie vor aufgehen.

So hoch ich deine Gesinnung schätze, jeder Erscheinung ihre Stelle anzuweisen, so halt’ ich dich doch für einen verkappten Romantiker — nur noch mit etlicher Namensscheu, welche die Zeit wegspülen wird.

Wahrlich, Bester, ging’s nach dem Sinn Gewisser, so kämen wir ja bald an jene goldnen Zeiten, wo’s Ohrfeigen gab, wenn man den Daumen auf eine Obertaste setzte.

Auf die Falschheit einzelner Deiner Schwärmereien lass’ ich mich gar nicht ein, sondern gehe geradezu auf’s Werk selbst los.

Methode, Schulmanier bringen wohl rascher vorwärts, aber einseitig, kleinlich. Ach! wie versündigt ihr euch, Lehrer! Mit eurem Logierwesen[H 2] zieht ihr die Knospen gewaltsam aus der Scheide! Wie Falkeniere rupft ihr euren Schülern die Federn aus, damit sie nicht zu hoch fliegen — Wegweiser solltet ihr sein, die ihr die Straße wohl anzeigen aber nicht überall selbst mitlaufen sollt!

Schon bei der Clavierschule Hummel’s (Ihr wißt, Davidsbündler, daß ich allemal eine ungeheure Maschinerie anbrachte, weil das Notenpult nicht halten wollte) schöpfte ich einen leisen Verdacht, ob Hummel, wie er ein ausgezeichneter Virtuose seiner Zeit war, auch ein Pädagog für die künftige wäre. Es fand sich in ihr neben vielem Nützlichen so viel Zweckloses und bloß Aufgehäuftes, neben guten Winken so viel Bildunghemmendes, daß ich ordentlich erschrak über die Ausgabe, die Haslinger’sche[H 3] sowohl wie meine. Daß die Beispiele aus lauter Hummelianis bestanden, entschuldigt’ ich, weil jeder seine Sachen am besten kennt und so schneller und treffender wählen kann. Auf den eigentlichen Grund, daß Hummel mit der einstweilen raschgehenden Zeit vielleicht nicht Schritt gehalten, fiel ich nicht. Die Zukunft und diese Etuden belehrten mich.

Studien, vortrefflichste Bündler, sind Studien, d. h. man soll etwas aus ihnen lernen, was man nicht gekonnt hat.

Der hochpreisliche Bach, der Millionenmal mehr gewußt, als wir vermuthen, fing zuerst an für Lernende zu schreiben, aber gleich so gewaltig und riesenübermäßig, daß er erst nach vielen Jahren von den Einzelnen, die indessen auf eignem Wege fortgegangen waren, der Welt als Gründer einer strengen aber kerngesunden Schule bekannt wurde.[H 4]

Dem Sohn Emanuel[H 5] waren schöne Talente angeerbt. Er feilte, verfeinerte, legte dem vorherrschenden Harmonie- und Figurenwesen Melodie, Gesang unter, erreichte aber seinen Vater als schaffender Musiker bei weitem nicht, wie Mendelssohn einstmals sagte: „es wäre, als wenn ein Zwerg unter die Riesen käme.” —

Clementi[H 6] und Cramer[H 7] folgten. Der erste konnte wegen seiner contrapunctischen, oft kalten Kunst im jungen[H 8] Gemüth wenig Eingang finden. Cramer wurde vorgezogen wegen der lichtvollen Klarheit seiner Etudenmusik.

Später gestand man Einzelnen wohl speciellere Vorzüge zu, keiner als der Cramer’schen Schule aber das Allgemeinbildende für Hand und Kopf.

Jetzt wollte man auch dem Gemüth etwas geben. Man sah ein, daß die (geistige) Monotonie dieser Etuden oft geschadet hatte, man sah auch, dem Himmel sei Dank! daß man sie nicht gerade gänseartig eine nach der andern und so fort einzulernen brauchte, um Fortschritte zu bemerken, obwohl dieselben.

Der feine Moscheles[H 9] sann nun auf interessante Charakterstücke, durch die auch die Phantasie beschäftigt würde.

Nun tritt Hummel heran. — Eusebius, ich sag’ es gerade heraus, die Etuden kommen etliche Jahre zu spät. Wirst du, wenn du reife, goldne Früchte die Fülle hast, dem verlangenden Kind bittre Wurzeln geben? Lieber führ’ es gleich in die reiche, frühere Welt seiner Werke, daß es trinke am Geist und an der Phantasie, die da in tausend Farben spielen.

Wer dürfte läugnen, daß die meisten dieser Studien meisterhaft angelegt und vollendet sind, daß in jeder ein bestimmtes Bild ausgeprägt ist, daß endlich alle in jener Meisterbehaglichkeit entsprungen sind, welche eine lange, wohlverlebte Zeit giebt? — Aber das, wodurch wir die Jugend anreizen, daß sie über der Schönheit des Werkes die Mühsamkeit es sich eigen zu machen, vergesse, fehlt durchgängig: — der Reiz der Phantasie.

Denn glaube mir, Euseb — ist auch, in Deiner Bildersprache zu reden, die Theorie der treue, aber leblose Spiegel, der die Wahrheit stumm zurückwirft, aber ohne belebendes Object todt bleibt, so nenn’ ich die Phantasie die Seherin mit dem verbundenen Auge, der nichts verschlossen ist und die in ihren Irrthümern oft am reizendsten erscheint. — Was sagt ihr aber, Meister?

Florestan.


3.


Jünglinge, Ihr irrt beide! Ein berühmter Name hat den einen befangen, den andern trotzig gemacht. Was steht doch im westöstlichen Divan?


Als wenn das auf Namen ruhte,
Was sich schweigend nur entfaltet[H 10]
Lieb’ ich doch das schöne Gute,
Wie es sich aus Gott gestaltet. [H 11]

Raro.



Anmerkungen (H)

  1. [WS] Johann Nepomuk Hummel (1778–1837) österreichischer Komponist und Pianist. Die 24 Etüden Op. 125 (1833) als Gemeinfreie Notenausgaben von Johann Nepomuk Hummel im International Music Score Library Project
  2. [GJ] Logier war der Erfinder des Chiroplasten, einer mechanischen Vorrichtung an der Claviatur zur Erlangung einer festen und sicheren Handhaltung; er unterrichtete immer mehrere Clavierschüler gleichzeitig. [WS] Johann Bernhard Logier (1777–1846), deutscher Musiker, Komponist und Musikpädagoge.
  3. [WS] Tobias Haslinger (1787–1842), österreichischer Musikverleger und Komponist. Siehe Hummels Ausführliche theoretisch-practische Anweisung zum Piano-Forte-Spiel (IMSLP) (1827).
  4. [MK] Zu vergleichen hierzu der um die selbe Zeit geschriebene Artikel „Bach“ im Damenlexikon. [WS] Schumann schrieb mehrer Personen- und Sachartikel über Musik für das Damen Conversations-Lexikon, hg. von C. Herlofssohn, Leipzig 1834 ff., Volckmar. Hier Bd. 1, S. 402–03.
  5. [WS] Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788), zweitältester Sohn von Johann Sebastian Bach.
  6. [WS] Muzio Clementi (1752–1832), italienischer Komponist und Pianist; wurde berühmt durch sein Lehrwerk Gradus ad Parnassum Op. 44 (1817–1826), siehe Gradus ad Parnassum Op. 44 (IMSLP).
  7. [WS] Johann Baptist Cramer (1771–1851), deutscher Pianist, Komponist und Verleger. Wurde berühmt durch seine 84 Etüden (1804–10) Studio per il pianoforte (IMSLP).
  8. [WS] Vorlage: ungen
  9. [WS] Ignaz Moscheles (1794-1870), böhmisch-österreichischer Komponist und Pianist; neben Franz Liszt bedeutendster Klavier-Virtuose seiner Zeit und mit Schumann befreundet. Hier gemeint sind seine 24 Etudes, Op.70 (IMSLP) von 1825–26.
  10. [WS] Vorlage: gestaltet. [MK] „gestaltet“ war als Druckfehler der Zeitung auch in die Gesammelten Schriften übergegangen.
  11. [WS] Johann Wolfgang von Goethe West-oestlicher Divan (1819), Buch 5 Rendsch Nameh – Buch des Unmuths, Gedicht 6 Google
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