Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Rückblick auf das Leipziger Musikleben im Winter 1837–1838

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Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Dritte Reihe Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Rückblick auf das Leipziger Musikleben im Winter 1837–1838
1839.


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Rückblick auf das Leipziger Musikleben im Winter 1837—1838.


Sinn und Geschmack, die in unsern Abonnementconcerten vorherrschend, zu beurtheilen, brauchen wir nur auf die Wahl der aufgeführten Stücke, auf die darin bevorzugten Meister zu merken. Und, wie in der Ordnung, treffen wir hier am öftersten auf Mozart (17mal), dann auf Beethoven (15mal); ihnen zunächst stehen Weber mit 7, Haydn mit 5 Nummern; zwischen 3 und 5 wurden von Cherubini, Spohr, Mendelssohn und Rossini gespielt; 2mal kamen Händel, Bach, Vogler, Cimarosa, Mehul, Onslow, Moscheles vor; 1mal Naumann, Salieri, Righini, Fesca, Hummel, Spontini, Marschner u. A. m. Die bekannteren Meister waren mithin sämmtlich vertreten und die ersten am häufigsten. Außerdem begegnen wir einigen Nummern neuster Componisten und zwar drei neuen Symphonieen, von Täglichsbeck, Robert Burgmüller und Gährich, von denen sich die letzte den rauschendsten Beifall erwarb, obgleich ihr die Symphonie von Täglichsbeck [42] nichts nachgab, die von Burgmüller aber beide hinter sich ließ; ja sie scheint mir beinahe das bedeutendste, nobelste Werk im Symphonieenfach, das die jüngere Zeit hervorgebracht, ihrer musikalischen Natur, ihres ungewöhnlich schön und kräftig ausgeprägten Instrumentalcharakters halber, trotz dem daß sie an Spohr erinnert, aber nicht wie eine Nachahmung aus Erfindungsschwäche,[H 1] sondern dasselbe edle Streben des Lehrers dankbar verfolgend.[1] Das Trio des Scherzo’s mag wohl meisterwürdig genannt werden, wie der Schluß der ganzen Symphonie eine Vorahnung des Todes, der diesen Jüngling zu früh von uns genommen. In den Symphonieen der beiden andern Herren fanden sich viel Beethoven’sche Nachklänge bei sonst geschickter Arbeit und Instrumentirung. Ein Hauptvorzug der von Gährich bestand in der Kürze der einzelnen Sätze, das Adagio ausgenommen, das nun einmal Keinem mehr gerathen will.

Von größter Bedeutung war ein neuer Psalm von Mendelssohn, mit den Anfangsworten „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser,“ dessen Unterschied von einer frühern geistlichen Musik desselben Meisters man im Concert für die Armen wahrnehmen konnte, in [43] dem ein älterer Psalm[H 2] von Mendelssohn diesem neuern vorgegeben wurde. Wie uns nun Mendelssohn seit lange schon als die gebildetste Kunstnatur unserer Tage gilt, in allen Gattungen, im Kirchenstyl wie im Concertstyl, im Chor wie im Lied gleich eigenthümlich und meisterhaft wirkend, so glauben wir ihn namentlich in diesem 42sten[H 3] Psalm auf der höchsten Stufe, die er als Kirchencomponist, die die neuere Kirchenmusik überhaupt erreicht hat. Die Grazie, in der das Handwerk, die Kunst der Arbeit, die solcher Styl erheischt, sich hier offenbart, die Zartheit und Reinlichkeit der Behandlung jedes Einzelnen, die Kraft und Innerlichkeit der Massen, vor Allem aber, da wir’s nun nicht anders nennen können, der Geist darin, — man sieht’s mit Freude, was ihm die Kunst ist, was sie uns durch ihn.

Und freilich bekommen in diesem Betracht junge Künstler, die ihre Werke hier aufführen lassen, einen gefährlichen Stand, so sehr auch immer die Direction zur bestmöglichsten Ausführung beiträgt, daß sie sich es kaum besser wünschen können. Wir haben also von einer neuen Ouverture von Dr. L. Kleinwächter, der einzigen, die uns dieser Winter von neuen brachte,[2] noch zu sagen, daß sie ihres freundlichen Charakters, ihrer leichten Beweglichkeit halber vom Publicum ziemlich gut [44] aufgenommen wurde, ohne ihr einen größeren Kunstwerth beilegen zu dürfen.

Dies über die hier zum erstenmal aufgeführten Compositionen junger Künstler. Außerdem brachte uns eines der früheren Concerte zum erstenmal Beethoven’s „glorreichen Augenblick“, dessen Entstehung bekannt ist.[H 4] Es mag wohl zu den unvergeßlichen Erlebnissen zu rechnen sein, dies Werk unter Beethoven’s eigener Leitung, in einem denkwürdigen Geschichtsaugenblick, in Umgebung der höchsten Potentaten, Gesandtschaften etc. gehört zu haben, und auch dies weggenommen, wie bei unserer Aufführung, bleibt noch manche Stelle der Musik, die noch leidlich wirken wird nach Jahrhunderten. Unrecht aber thut man, solche Gelegenheitswerke großer Künstler mit ihren andern Geniuseingebungen vergleichen zu wollen; hier ist eben der Schimmer des Flüchtigen und Zufälligen das Geniale, wie denn jene kleinen Goethe’schen Gedichte von Meistern, die die Sache verstehen, wie von ihm selbst gar hoch angeschlagen wurden. Ein solches Wesen waltet denn auch in dieser Composition, dabei eine fast ironische Breite und Pracht, bis dann auf einmal in einzelnen Momenten der ganze Meister lächelnd und in Lebensgröße vor uns steht. Dazu nun ein Gedicht, so widerhaarig zum Componiren, wie eine Pindar’sche Hymne, und man hat ein schwaches Bild, in welcher Bedrängniß der Componist sein Werk zu Ende gebracht, das ihm übrigens als einem starken Patrioten sicherlich auch am Herzen gelegen.

[45] Wo uns endlich aber wahrhaft Neues, Unerhörtes geboten wurde, lauter Altes nämlich, war in einigen der letzten Concerte, in denen uns Meister von Bach bis auf Weber in chronologischer Folge vorgeführt wurden. Ein Glück ist es, daß unsere Vorfahren nicht etwa vorwärts gedrehte historische Concerte veranstalten konnten; die Hand auf’s Herz — wir würden schlecht bestehen. So glücklich es nun machte, was man zu hören bekam, so wahrhaft mißmuthig, was man hier und da darüber hören mußte. Als ob wir Bach ehrten dadurch, als ob wir mehr wüßten als die alte Zeit, thaten Manche und fanden es curios und interessant zugleich! Und die Kenner sind die Schlimmsten dabei und lächeln, als ob Bach für sie geschrieben, — Er, der uns ziemlich sammt und sonders auf dem kleinen Finger wiegt, — Händel, feststehend wie der Himmel über uns, — Gluck nicht minder. Und man hört es, lobt es und denkt nicht weiter der Sache. Wahrhaftig, ich schätze die neue Zeit, und verstehe, verehre Meyerbeer; wer mir aber in hundert, was sag’ ich, in funfzig Jahren historische Concerte verbürgt, in dem eine Note von Meyerbeer gespielt wird, dem will ich sagen: „Beer ist ein Gott und ich habe mich geirrt.“[H 5]

– Ueber die Bach’sche Musik, die gegeben, läßt sich wenig sagen; man muß sie haben in den Händen, studiren möglichst und er bleibt unergründlich wie vorher. Händel scheint mir schon menschlich-erhabener; an Gluck verwirft man, wie gesagt, die Arien und läßt die Chöre [46] passiren, d. h. man nimmt der Statue eines Gottes das etwaige Lockengekräusel um die Stirn und lobt nichts als seine Sehnen, seinen Corpus.

Wünschenswerth aber wäre es immerhin, man gäbe alle Jahre solche Concerte und mehre zwar; die Einfältigen lernten dabei, die Klugen lächelten: kurz der Rückschritt wäre vielleicht ein Vorschritt.

Zu erwähnen gibt es noch, daß diesen drei Männern[3] als die bedeutendsten nachfolgten, im 2ten Concert: Haydn, Naumann, Cimarosa, Righini, im 3ten: Mozart, Salieri, Mehul, A. Romberg, im 4ten: Abt Vogler, Beethoven und C. M. v. Weber; aus deren vorgeführten Werken wir außer der Abschiedssymphonie[4] von Haydn, einem noch ungedruckten, höchst Mozart’schen Quartett aus dessen Zaide, einer Ouverture von Abt Vogler, den seine Zeitgenossen unserer Meinung nach bei Weitem nicht hoch genug geschätzt,[H 6] als das Interessanteste eine Symphonie von Mehul auszeichnen, so[H 7] unterschieden von deutscher Symphonieenweise erscheint sie uns, dabei gründlich und geistreich, wenn auch nicht ohne Manier, daß wir sie auswärtigen Orchestern nicht genug empfehlen [47] können. Merkwürdig dabei war auch die Aehnlichkeit des letzten Satzes mit dem ersten der C moll-Symphonie von Beethoven, und der Scherzo’s derselben beiden Symphonieen, und zwar so auffallend, daß hier eine Reminiscenz von der einen oder der andern Seite im Spiel gewesen sein muß; auf welcher vermag ich nicht zu entscheiden, da mir das Geburtsjahr der Mehul’schen nicht bekannt geworden.[H 8] – Dies waren denn unsere vier historischen Concerte, um die uns Mancher beneiden wolle. Zwar ließen sich mit leichter Mühe Ausstellungen gegen die Reihenfolge, die Wahl der Stücke etc. aufbringen, ließe sich bedeutende historische Gelehrsamkeit entwickeln; nehmen wir dankbar an, was uns geboten wurde, jedenfalls aber mit dem Wunsch, beim Anfang nicht stehen bleiben zu wollen.

Das erfreuende Bild zu vollenden, schließen wir mit Hervorhebung der einzelnen Künstler und Künstlerinnen, mit deren Vorträgen die größeren Orchesteraufführungen durchwirkt waren.

Als interessanteste Erscheinung steht Miß Clara Novello oben an. Sie kam von London aus dem Kreise ihr befreundeter Künstlerinnen ersten Ranges; man läßt sich das wohl auch in Leipzig gefallen. Seit Jahren hat mir nichts so wohlgethan, als diese Stimme, die sich überall kennt und beherrscht, des zartesten Wohllautes voll, jeder Ton scharf begränzt wie auf einer Tastatur, dieser edelste Vortrag, ihre ganze einfache bescheidene Kunst, die nur das Werk und den Schöpfer glänzen [48] läßt. Worin sie nun in ihrem Element, in dem sie geboren und groß geworden ist, das war Händel, so daß sich die Leute verwundert fragten: „Ist das Händel? Kann Händel so schreiben? Ist das möglich?“ Von solcher Kunst des Vortrags kann selbst der Componist lernen; da bekommt man wieder Achtung vor den darstellenden Künstlern, die uns so oft Caricaturen geben, weil sie zu früh aus der Schule gelaufen; vor solcher Kunst bricht all das Stelzenwerk zusammen, worauf uns gewöhnliche Virtuosität über die Schultern zu sehen glaubt; kurz Miß Clara Novello ist keine Malibran, keine Sontag, sondern sie ist es höchst selbst, was sie ist, und kann’s ihr Niemand nehmen.

Vor und nach ihr wechselten Frl. Schlegel, Mad. Bünau-Grabau und Mad. Johanna Schmidt als Solosängerinnen, und ganz zuletzt traten noch Frl. Auguste Werner und Frl. Botgorschek aus Dresden auf. Erstere als eine schöne Gestalt, war wohl gelitten; die andern Damen hatten freilich einen großen Liebling des Publicums, der uns in Clara Novello fortgegangen, zu ersetzen, wo wir uns dann loben müssen, da wir thaten, als wäre nichts geschehen, und beide bekannte immer gern gehörte Sängerinnen mit dem alten Beifall aufnahmen. Frl. Werner war uns aus Dresden zurückgekehrt, wo sie noch ein Jahr zugelernt hat. Frl. Botgorschek endlich hat einen wahren Helden-Alt, glänzende italiänische Methode und etwas Herausforderndes, wie man es wohl bei Opernsängerinnen findet; es wurde ihr [49] der erste Grad des Beifalls, der sich leicht am Schall erkennen läßt; eine Arie mußte sie wiederholen.

Von auswärtigen Sängern besuchte uns nur Hr. Genast aus Weimar und sang eine Ballade „Schwerting“ mit reicher Orchesterbegleitung, über die sich nur eine männliche Stimme aufrecht halten kann, wie der Componist sein Werk auch mit Feuer und Leidenschaft darstellte.

Von fremden Instrumentalvirtuosen hatte man auf Lipinski und Lißt gerechnet, die jedoch ausgeblieben; Henselt spielte nur einmal in seinem eigenen Concert. So hörten wir denn des Guten und Schönen mancherlei von den HH. Kotte aus Dresden, Blagrove aus London, Concertm. Hubert Ries und C. Schunke aus Berlin, Th. Sack aus Hamburg, den jungen Nicolai Schäfer, MD. Alscher (Contrabaß), Schapler aus Magdeburg, Louis Anger aus Clausthal, und in bunter Reihe zwischendurch Vorträge der Orchestermitglieder, unter denen die der HH. Queisser, Uhlrich, Grenser, Heinze und Haake als die bedeutendsten auszuzeichnen sind, mit einigem Stolze zuletzt noch der öfteren Meisterleistungen der HH. Mendelssohn und David, so wie der feinsten und kühnsten aller Künstlerinnen, Clara Wieck, zu gedenken.

Ehe wir von den Gewandhausconcerten auf ein Halbjahr Abschied nehmen, möchten wir noch erst ihren 40 bis 50 Vertretern im Orchester einen Ehrenkranz aufsetzen. Wir haben keine Solisten, wie Brod in Paris [50] oder Harper in London; doch möchten sich selbst kaum diese Städte eines solchen Zusammenspiels in der Symphonie rühmen können. Und dies liegt in der Natur der Verhältnisse. Die Musiker bilden hier eine Familie, die sich täglich sehen, täglich üben; es sind immer dieselben, so daß sie wohl die Beethoven’schen Symphonieen ohne Notenblatt spielen könnten. Dazu nun einen Concertmeister, der ebenfalls z. B. die Partituren des Letzteren auswendig, einen Director, der sie gleichfalls aus- und inwendig weiß — und der Ehrenkranz ist fertig. Ein besonderes Blatt wünschte ich noch dem Paukenschläger des Orchesters (Hrn. Pfundt) zugetheilt, der immer wie Blitz und Donner da und fertig ist; trefflich spielt er sie.

Ziemlich dasselbe Orchester, seine jüngeren Mitglieder wenigstens, findet man, wie bekannt, in den Concerten der Gesellschaft Euterpe wieder. Die Zahl ihrer Concerte war zwölf, wie herkömmlich, das Local im Saal des Hotel de Pologne, der Musik übrigens wenig günstig. Referent muß sich aber bei Aufführung ihrer Leistungen hier und da auf Referate Dritter beziehen, da er nicht allen Aufführungen beigewohnt. Eine Vergleichung der Concertzeddel läßt Beethoven als hier bevorzugten Meister erkennen; es wurden sechs Symphonieen von ihm gespielt. Haydn fehlt gänzlich, was wohl ein Zufall ist; Mozart findet sich zweimal, Spohr einmal. Neue Symphonieen gab man zwei, vom Dirigenten der Concerte C. G. Müller die eine, die andere von W. Sörgel. Letztere soll nichts Außerordentliches, [51] sonst aber einen geschickten im Orchester aufgewachsenen Musiker verrathen haben. Die erstere erwähnten wir schon mit einigen Worten in einer früheren Nummer; sie ist die vierte des Componisten und man merkt das an der rascheren Feder, die nicht mehr wie früher an Einzelnheiten, an kleinen Figuren etc. hängen bleibt. Wir nannten sie auch heiter; doch kommt die Stimmung vielleicht nicht von Innen und fordert etwa mehr zum Nachdenken über die Heiterkeit auf. Auch als wäre der Componist selbst mißtrauisch gegen sein Talent der Lustigkeit, unterbricht er sich oft in den einzelnen Sätzen durch langsamere Zwischenperioden, in der Art wie man es in vielen der späteren Arbeiten Beethoven’s findet, deren Eindruck auf unsern Componisten überhaupt oft ziemlich fühlbar hervortritt. Eigenthümlich ist das Intermezzo im Vier-Vierteltact an des Scherzos Stelle. Im letzten Satz geht es wunderlich und kopfüber; doch vermiss’ ich in ihm den feineren Duft, die Poesie, die den Humor erst liebenswürdig macht. — Von Ouverturen werden an den Euterpe-Abenden meistens zwei gegeben; hier treffen wir auf Weber, Cherubini u. A. Von Beethoven war es namentlich die in C dur in ihrer wahrhaft vernichtenden Genialität, deren Aufführung dankenswerth; sie ist die nämliche, glaub’ ich, auf deren Titel sich Beethoven des Ausdrucks: „gedichtet von“ statt des „componirt von“ bediente. Außerdem eine neue zur Oper Oleandro von C. G. Müller, und die zum Oratorium „Gutenberg“ von [52] Löwe, letztere so oberflächlich, wie erstere fleißig gearbeitet. Unter den neuen der Gesellschaft zur Aufführung überlassenen Ouverturen im Manuscript bemerken wir außer welchen von F. Nohr (in Meiningen), C. Conrad (in Leipzig), und J. Mühling (aus Magdeburg) als interessant die zu Schiller’s „Räubern“ von Ernst Weber aus Stargard, die wild und barbarisch instrumentirt, einzelne merkwürdige Instrumentalschönheiten entfaltet, der Art, daß sich der Componist vielleicht selbst verwundern muß, wenn er sie hört; denn es scheint mir noch nicht Alles aus künstlerischem Bewußtsein geflossen. Von Wirkung ist namentlich das zerstückelt angebrachte Räuberlied: „Ein freies Leben“, und von eigenthümlicher Bedeutung der Schluß des Ganzen auf der Dominante. Von Paris gekommen, würde die Ouverture vielleicht von aufmerksamern Ohren gehört worden sein, wie die nun bekannte zu den Francs-Juges von Berlioz, mit welcher das erste Concert eröffnet wurde.

Unter den Solovorträgen erhielt man manches Mittelgut, da bekanntlich Jeder, der auftreten will, zugelassen wird. Einige Auswahl wäre demohngeachtet zu wünschen. Der erste Preis gebührt Hrn. Uhlrich mit einem Lipinski’schen Concert, irre ich nicht, in D dur, dessen sarmatische Wildheit unser Virtuos so zu sagen mehr vermenschlichte, sogar zarter als der Componist selbst spielte, der freilich wieder seine andern Göttlichkeiten hat. Während man in Concertcompositionen Anderer häufig durch Gemeinheiten beleidigt wird, bricht [53] in Lipinski’schen oft etwas höchst Nobles hindurch; es ist dieser Unterschied bemerkenswerth: dort fällt das Gemeine auf, hier das Edle, wiewohl sie im Ganzen auf ziemlich gleicher Kunstlinie stehen können. –

Einen Schatz von Kunst boten auch diesen Winter die Quartetten im kleinen Saale des Gewandhauses, von den HH. David, Uhlrich, Queisser und Grenser[H 9] — an acht Abenden vier und zwanzig Nummern nämlich, darunter als Kostbarkeiten erster Größe die in Es dur (Werk 127) und Cis moll von Beethoven, für deren Größe wir keine Worte aufzufinden vermöchten. Sie scheinen mir, nebst einigen Chören und Orgelsachen von Seb. Bach, die äußersten Gränzen, die menschliche Kunst und Phantasie bis jetzt erreicht; Auslegung und Erklärung durch Worte scheitern hier wie gesagt.[H 10] Dagegen ergingen sich zwei ganz neue Quartette[H 11] von Mendelssohn in so schön menschlicher Sphäre, wie man es von ihm als Künstler wie als Menschen erwarten kann. Auch hier gebührt ihm die Palme unter den Zeitgenossen, die ihm nur, wenn er noch lebte, Franz Schubert — nicht streitig gemacht, — denn alles Eigenthümliche besteht nebeneinander — aber unter Allen der Würdigste überreichen müssen. Nur die Vorzüglichkeit eines Werkes, wie des in D moll von Schubert, wie so vieler anderer kann über den frühen und schmerzlichsten Tod dieses Erstgebornen Beethoven’s in etwas trösten; er hat in kurzer Zeit geleistet und vollendet, als Niemand vor ihm. Endlich treffen wir auch in dem [54] heurigen Cyklus auf eine neue Composition[H 12] von C. G. Müller, gründlich, klar, interessant, voll echten Quartettgeschmacks und der Veröffentlichung durchaus werth.

So ziehen wir denn den Vorhang über die reich belebte Scene. Streben überall, Kräfte die Fülle, die Ziele die würdigsten; — es wolle sich Alles in höherer Verwandlung wiederholen! –




  1. Von R. Burgmüller war neulich auch ein Heft bei Hofmeister erschienener Lieder höchst lobend angekündigt; nachdem wir sie jetzt genauer kennen gelernt, müssen auch wir sie den trefflichsten der neueren beizählen. Und so Einer mußte sterben!
  2. Rechnen wir das Concert für die Armen mit, so müßte man auch die zum Duc de Guise von Onslow erwähnen, die uns indeß nur wenig oder gar nicht zugesagt.
  3. Auch war ein Concert von Viotti der Bach-Händel’schen Periode einverleibt; Hr. Concertmeister David spielte es in glücklichster Stunde, mit größtem Beifall.
  4. Die Musiker (auch unsere) löschten dabei, wie bekannt, die Lichter aus und gingen sachte davon; auch lachte Niemand dabei, da es gar nicht zum Lachen war.

Anmerkungen (H)

  1. [GJ] In der Zeitschrift und in den Schriften: „Empfindungsschwäche“ — doch wohl ein Druckfehler. GJ II.98 Commons
  2. [GJ] Psalm 115 „Non nobis domine“. II.99 Commons
  3. [WS] Vorlage: 41sten; es geht aber um den 42. Psalm „Wie der Hirsch schrei(e)t“.
  4. [GJ] Die Cantate wurde 1814 zum Wiener Congreß componirt. II.99 Commons
  5. [GJ] Anmerkung 17: Schumann irrte in der That – wenigstens in Bezug auf die Opern Meyerbeers, die sich in Deutschland bis auf die neuste Zeit in der Gunst des Publicums behauptet haben. Lehrreich ist folgende, der Brüsseler Gazette von 1889 entnommene statistische Zusammenstellung von Opern, welche an der Pariser großen Oper in den Jahren 1828 bis 1888 mehr als 100 Aufführungen erlebt haben. Freilich läßt sich nicht daraus ersehen, ob und in welchem Maße die jährlichen Aufführungen gefallen oder gestiegen sind. II.506 Commons
    [Jahr] [Oper] Vorstellungen.
    1828 Auber, Stumme von Portici 505
      Rossini, Graf Ory 434
    1829 Rossini, Tell 743
    1830 Auber, Gott und Bajadere 143
    1831 Auber, Liebestrank 242
      Meyerbeer, Robert d. Teufel 718
    1832 Halévy, Die Versuchung 104
      Auber, Der Schwur 102
    1833 Auber, Gustav III. 169
    1834 Mozart, Don Juan 213
    1835 Halévy, Jüdin 505
    1836 Meyerbeer, Hugenotten 821
    1840 Donizetti, Favoritin 601
    1841 Weber, Freischütz 210
      Halévy, Königin von Cypern 118
    1846 Donizetti, Lucia von Lammermoor 268
    1849 Meyerbeer, Prophet 442
    1857 Verdi, Troubadour 223
    1859 Gounod, Faust 507
    1865 Meyerbeer, Afrikanerin 399
    1873 Thomas, Hamlet 277
    1880 Verdi, Aida 300
  6. [GJ] Anmerkung 18: Zu einem Aufsatz über Voglers Charlatanismen in seinen Orgelconcerten (1840, XIII, 87) machte Schumann die Anmerkung: „Indeß war der geniale Alte als Componist bedeutend; jetzt, wo über manches anders gedacht wird als im vorigen Jahrhundert, wäre es wohl nicht der Mühe unwerth, auch an Voglers Werke in einer ausführlichen kritischen Würdigung einmal zu erinnern.“ II.506. Commons
  7. [WS] bei GJ: so wenig
  8. [GJ] Anmerkung 19: Die Méhulsche Symphonie hat mehrere Anklänge an Beethovens C moll-Symphonie. Das Anfangsthema des letzten Satzes und ein daraus hergenommener Rhythmus erinnert an den ersten Satz der C moll-Symphonie; der dritte Satz (G moll ¾, pizzicato) an das Scherzo; der zweite Theil des Trios (G dur) mit dem basso solo und auch der Schluß ebenfalls an das Trio bei [507] Beethoven. – Méhuls vier Symphonieen sind in den Jahren 1797, 1808, 1809 und 1810 zum ersten Male aufgeführt worden. Das Geburtsjahr seiner ersten, der G moll-Symphonie, ist bisher nicht festgestellt worden. Ihre erste Aufführung in Deutschland (d. h. in Leipzig) war am 13. Mai 1810, im Druck erschien sie (als Nr. 1) im Juli 1810 bei Breitkopf und Härtel. Beethovens C moll-Symphonie wurde begonnen 1805, beendet 1808 und am 22. Dec. 1808 zuerst aufgeführt. Gedruckt erschien sie im April 1809. Das Thema des ersten Satzes findet sich schon in einem Notizbuch Beethovens aus 1800 angegeben. II.506–507 Commons
  9. [WS] GJ verbessert auf: Grabau. Commons
  10. [GJ] II.104–105: In einem Concertbericht in der Brockhausschen Allgem. Ztg. sagt Schumann einmal über die letzten Beethovenschen Quartette: „Es ist wahr, zum Verständnis, jener spätern Beethovenschen [Quartette] gehört mehr als blos Lust zum Hören; der empfänglichste, offenste Musikmensch wird ungerührt von ihnen gehen, wenn er nicht [105] tiefe Kenntniß des Charakters Beethovens und denen späterer Aussprache überhaupt mitbringt. Dann aber, ist er auf dem Wege dahin, hat er sie erlangt, so kann auch dem menschlichen Geiste kaum etwas Wunderwürdigeres geboten werden als jene Schöpfungen, denen in ihrer tiefsinnigen Gestaltung, ihren, alle menschlichen Satzungen überschwebenden Ideenflüge von anderer neuerer Musik gar nichts und im Uebrigen nur einiges etwa von Lord Byron oder von J. Pauls und Goethes spätern Werken verglichen werden kann. Hier liegen Schätze, hier hebe man sie, und geschähe es unter dem Schweigen des Publicums, auf das es ja ‚in höchsten Dingen‘ nie ankommt; das Verdienst bleibt nicht aus, und dem Einzelnen geht doch nach und nach die Herrlichkeit auf.“ Commons
  11. [GJ] II.105: in E moll und Es dur (Werk 44) Commons
  12. [WS] Streichquartett C-Dur
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Dritte Reihe Nach oben 1839.
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