Geschichte Catya’s, einer russischen Leibeigenen

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Titel: Geschichte Catya’s, einer russischen Leibeigenen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 539-540
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[539] Geschichte Catya’s, einer russischen Leibeigenen. Ohne Catya zu kennen, haben Viele sie in den Bildern gesehen, in welchen sie als Modell diente. Guérin, der berühmte franz. Maler, hat ihren schönen Kopf in mehreren historischen Bildern verwendet. Der bezaubernde Frauenmaler Belloc hat sie für einen Pariser Pfarrer als heilige Cäcilie gemalt und die Sanftmuth ihres Blickes treffend wiedergegeben. Ihre frühreife Schönheit war ihr Unglück. Sie war bei ihrer Familie im Innern Rußlands, weit hinter Moskau. Die Famile war leibeigen, aber wohlhabend. Ihr Großvater, der sie unendlich liebte, handelte mit Pelz. Als das Kind in einem Alter von vier Jahren am Ufer eines Sees ganz nahe an der Straße spielte, kamen die Wagen einer großen Dame vorüber, der Frau des Gouverneurs von ***, die mit ihren Kindern und ihrem ganzen Hauswesen reiste. Catya’s Schönheit fiel ihr auf, und da ihre Kinder fast in gleichem Alter standen, so hatte sie die Laune sie zu haben und ihren Kindern als Spielzeug zu geben. Ohne alles Weitere, ohne die Familie, ohne den Herrn zu fragen, dem sie gehörte, nahm sie dieselbe wie eine Katze, die man auf der Straße findet, setzte sie in ihren Wagen und fuhr weiter.

Die Familie, die sehr beunruhigt war, erfuhr endlich die Entführung. Die Dame hatte in einer benachbarten Stadt Halt gemacht. Der arme Großvater läuft in Thränen hin und bietet ein Lösegeld, – sein ganzes Vermögen, wenn man es will – um sein Kind wieder zu erhalten. Er wird hart zurückgewiesen und vielleicht geschlagen. Die Dame lacht ihm in’s Gesicht und reist mit ihrer Beute ab.

Man kennt das Loos der Kinder der niederen Stände, die mit denen der vornehmen erzogen werden. Diese, in ihren egoistischen Launen geschmeichelt und verzogen, martern ihre lebenden Spielwaaren nach Herzenslust. Als Catya größer wurde, verwendete sie ihre Herrin zu ihrem persönlichen Dienste als Kammerfrau. Man sollte glauben, ihr Loos hätte sich dadurch gebessert. Es war das Gegentheil der Fall. Diese Damen, die Gebieterinnen der Sclaven, sind selbst große Kinder, eben so launisch wie die kleinen, und nur gewaltthätiger und grausamer. Catya, bereits ziemlich groß, ein hübsches Kind von ungefähr zehn Jahren, fing an von den Männern bemerkt zu werden, die ihrer Herrin ohne Zweifel Complimente darüber machten. Um so weniger liebte sie diese nun. Sie ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne sie hart zu behandeln. Wenn sie zum Beispiel Madame etwas langsam die Schuhe anzog, so gab ihr diese einen Stoß mit dem Fuße, daß sie mit dem Gesichte auf die Erde fiel.

Wie ein Hund schlief sie auf einer Strohmatte an der Thüre, und es war ihr Unglück, wenn man sie Nachts weinen hörte. Obwohl so früh entführt, hatte sie doch ein lebhaftes Bild mitgenommen von dem väterlichen Hause, von dem Dorfe, von den Wäldern, vom See, von ihren kleinen Gefährten, von jener guten Zeit der Milde und Freiheit und von den Liebkosungen ihres Großvaters, in dessen Armen sie oft eingeschlafen war. Diese Erinnerung begleitete sie überall hin und war ihr bis zu Ende der vierziger Jahre gegenwärtig. – Sie war kaum zwölf Jahre alt, als ihre Herrin im Jahre 1815 nach Frankreich reiste und sie mitnahm. Die Dame, die mit ihrem Manne gekommen war, ließ ihn mit der russischen Armee zurückkehren und blieb in Paris. Durch irgend eine Leidenschaft oder religiöse Laune zurückgehalten, von irgend einem Bekehrer vielleicht beherrscht, blieb sie hartnäckig in Paris und wollte von Rußland nichts mehr hören. Ihr Mann, der des vergeblichen Schreibens, Bittens und Befehlens müde wurde, schickte ihr endlich kein Geld mehr, indem er glaubte, daß die Noth sie am ersten zurückbringen würde. Sie harrte jedoch aus, ließ sich für eine kleine Pension in einem Kloster nieder und entließ ihre Dienstboten. Die kleine Catya wurde davon nicht ausgenommen. Roh und barsch, wie ihre Herrin sie genommen hatte, jagte diese sie nun weg. Sie sandte sie buchstäblich in’s Verderben. Aus der Nähe des Pantheons, wo die Herrin wohnte, wurde sie nach Marais, Rue du Chaume gebracht und beim Anbruch der Nacht unter einem Thore allein gelassen. Es war bereits dunkel und regnete. Eine vorübergehende Dame hört ein Kind weinen und nähert sich. Groß ist ihre Ueberraschung, als sie dieses Mädchen sieht, das schon groß und engelschön ist und das nur weinen kann und nicht spricht. Kaum konnte sie zwei Worte französisch. Gott hatte Mitleid mit ihr. Die Frau war Madame Leroy, die Schwester des Malers Belloc. Sie nimmt sie zu sich, sorgt für sie, erzieht sie, lehrt ihr französisch und leitet sie mit einer Sanftmuth, die sie seit dem Vaterhause nimmer gefunden hatte.

Als Madame Leroy Paris später verließ, überließ sie dieselbe zwei geliebten, hochverehrten Frauen, der achtzigjährigen geistreichen Frau von Montgolfier, der Gattin des Erfinders der Luftballons, und ihrer würdigen Tochter, einer bedeutenden Schriftstellerin, die nur um des Guten willen, nicht um Ruhm schrieb, und sich fast nie unterzeichnete. Man kann denken, daß diese mit ihren zärtlich warmen Herzen gut gegen Catya waren. Das Mädchen bedurfte der Schonung und hatte fast nöthig gehabt, selbst bedient zu werden. Sie war sehr gewachsen und sehr schwach. Die geringste Last zu tragen, Stiegen zu steigen, versetzte sie außer Athem. Man fürchtete, sie möchte ein Aneurysma des Herzens haben.

Obwohl sie in so gute Hände gefallen und gleichsam das Kind dieser Frauen, ihr Kleines war, war es doch leicht zu sehen, daß ihre Familienerinnerungen ihr überall hin folgten, daß sie immer noch in Rußland, immer noch am Ufer des heimathlichen Sees war, wovon man sie entführt hatte. In der That schien sie kaum ihr Vaterland verlassen zu haben. Ihr Geist hatte sich nur mäßig erweitert, obwohl sie französisch mit bemerkenswerther Eleganz sprach; aber ihr Herz hatte sich nur zu sehr entwickelt, doch nur zum Gewinne ihrer Erinnerungen aus der Kindheit; sie mußte immer weinen, wenn sie vor ihrer Seele schwebten.

Vergebens bemühten sich diese Damen, ihre Familie wiederzufinden. Die Andeutungen, die Catya geben konnte, waren unbestimmt und verwirrt.

Es war im Jahre 1823, als ich sie bei diesen Damen sah. Ich erinnere mich des Eindruckes noch sehr gut, den sie auf die Fremden machte, die im Salon waren. Es war anfänglich eine Bewegung der Bewunderung, [540] dann eine Art Hinneigung. Sie war sehr groß und ersichtlich schwach; mit ihren jungen feinen Armen, die für ein zwanzigjähriges Mädchen etwas dünn waren, trug sie etwas vorgebeugt eine Platte mit Theetassen. Sie schien unter dieser leichten Last gebogen zu werden, wie eine Pappel beim Windeswehen. Sie lächelte über ihre Schwäche und schien sich zu entschuldigen.

Man fühlte sich versucht, sich zu entschuldigen, daß man sich von ihr bedienen ließ. Ihre Eleganz, ihre Sprache und ihre Schönheit, die bemerkenswerther war wegen der Linien, als wegen der Frische, ließen auf eine russische Fürstin schließen, die sich verkleidet hatte. Aber ihr reines Auge voll Güte und Zärtlichkeit besaß einen ganz anderen Zauber, den man in aristokratischen Ständen so leicht nicht findet.

Dieser Ausdruck der Güte, Sanftmuth und Willfährigkeit ermuthigte nur zu sehr zu ungehöriger Keckheit und war für das arme Kind Anlaß zu fortdauernder Verlegenheit. Die leichtfertigen jungen Männer, die Glücklichen der Welt, betrübten mit ihren indiscreten Verfolgungen dieses so gebrochene Herz. Sie war zärtlich, aber von einem Herzen, das rein und kalt war wie das Eis der Pole. In dieser Beziehung schien sie noch in dem Alter zu stehen, in dem sie entführt worden war.

Sie war gerne allein. Für sich, ohne geistlichen Einfluß, ging sie oft in die Kirche. Sie wäre sehr mystisch geworden, wenn sie mehr Bildung gehabt hätte. Wahrscheinlich in der Absicht, mehr allein zu sein, ungestört träumen und beten zu können, verließ sie ihre Stelle, wollte sie ihr Zimmer haben und verlegte sich auf’s Nähen. Eine schwierige Stellung in Paris, wo die Frauen so wenig verdienen. Wenn es ihr hier und da an Arbeit fehlte, so kehrte sie in den Dienst zurück. Aber so oft sie konnte, ging sie wieder in ihr einsames Stübchen, das über den Pariser Dächern ihr gestattete, immer an ihre heimathliche Einsamkeit und an ihre Familie zu denken. Ihre Beschützerinnen, die sie niemals aus den Augen verloren, riethen ihr oft zu heirathen. An Freiern fehlte es nicht. Sie schob es immer hinaus, sei es weil sie wie die melancholischen Herzen sich zu trösten fürchtete, sei es, daß die guten redlichen, aber etwas rohen Menschen, die sich um ihre Hand bewarben, ihren Zartsinn abschreckten und ihren unbestimmten poetischen Trieben wenig entsprachen. In guter oder übler Lage hat sie immer das Ansehen einer Dame, emer vornehmen Dame, voll Adel und Sanftmuth. Nichts Stolzes, nichts Serviles. Nur Eines erinnert an ihre Vergangenheik, daß sie nämlich, wenn sie die von ihr geliebten Damen besucht, ihnen nach orientalischer Weise demüthig die Hand küßt.

Das Alter kommt heran. Die schöne Catya steht am Ende der Vierzig. Sie hat sich zuletzt einer ehrwürdigen Person angeschlossen, die mit achtzig Jahren noch von ihrer Arbeit lebt. Madame Paul, eine arme Arbeiterin, die noch dazu das Unglück hat, ungestaltet und zwerghaft zu sein, theilt die Wohnung mit ihr. Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber in ihrer großen Armuth finden sie noch Mittel, ihren armen Nachbarn Gutes zu erweisen.

Vor einigen Jahren erfuhr Catya’s Herz eine merkwürdige Prüfung. Sie begegnet auf der Straße einer bejahrten Dame, die sie zu kennen glaubt, die aber schlecht gekleidet ist und einen alten Shawl, einen alten Hut trägt, seltsamer Wechsel der Dinge! Es war ihre ehemalige Herrin, die nun ärmer geworden war, als sie. Catya tritt zu ihr, grüßt sie, küßt ihre Hand; die Andere, erstaunt und verwirrt, läßt aus ihrem übervollen Herzen einige Worte über ihr Unglück, über ihr äußerstes Elend entschlüpfen.

„Ach, Madame,“ rief sie, indem sie im Ueberströmen ihres guten Herzens sich wieder zur Leibeigenen machte, „Sie sind immer noch meine Gebieterin und was ich habe, gehört Ihnen!“

An demselben Tage hatte sie ihren Dienst verlassen und war bei Geld. Sie lief auf ihren Boden, der ganz in der Nähe war, und kehrte schnell mit ihren Ersparnissen zurück, welche sie in die Hände der Dame legte, die nur Thränen vergießen konnte. – Seit dieser Zeit habe ich sie nicht wieder gesehen.