Goethes „weder-weder“ und Schillers „noch-noch“

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Autor: Hanns von Gumppenberg
unter dem Pseudonym
Professor Dr. Immanuel Tiefbohrer
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Titel: Goethes „weder-weder“ und Schillers „noch-noch“
Untertitel:
aus: Das teutsche Dichterroß, S. 146–161
Herausgeber:
Auflage: 13. und 14. erweiterte Auflage
Entstehungsdatum: 1901
Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Callwey Verlag
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Commons
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[146]
GOETHES „WEDER-WEDER“
UND
SCHILLERS „NOCH-NOCH“


Zwei Weimarer Festvorträge

von

Professor Dr. Immanuel Tiefbohrer


VORWORT

Nachstehende in Weimar gehaltene Gedächtnisreden, die erst nur ihrem besonderen Zwecke dienen sollten, haben bei dem erlesenen Auditorium ein so ungewöhnliches Interesse gefunden, daß ich dem Drängen mehrerer Fachgenossen nachgebe und sie hiermit auch der weiteren Öffentlichkeit zugänglich mache. Es mag dies auch insoferne nicht unberechtigt erscheinen, als die eine der beiden aufschlußreichen Textstellen bisher noch nicht in ihrer ganzen schwerwiegenden Bedeutung gewürdigt, die andere aber seltsamerweise überhaupt noch jeder wissenschaftlichen Beachtung entgangen war.

Weimar, im Wonnemond 19...

Dr. Immanuel Tiefbohrer.     

[147]
I.
Goethe-Gedächtnisrede,
gehalten am 22. März.


Hochgeehrte Versammlung!

Der Genius läßt sich nur dann wahrhaft nachgenießen, wenn wir mit Anspannung aller unserer geistigen Kräfte versuchen, seinen Spuren auch bis in die kleinsten Einzelheiten seines Wollens und Vollbringens ehrfürchtig zu folgen. Nachdem mir heute die Auszeichnung zuteil geworden ist, Ihnen, meine Damen und Herrn, den Vortrag zum Gedächtnis unseres großen Meisters halten zu dürfen, glaubte ich daher dieser hohen Aufgabe nicht besser gerecht werden zu können, als indem ich Sie in das Verständnis eines solchen Einzelphänomens Goethescher Dichtkunst einführe, dessen wahrer Wert und weittragende Bedeutung durch kurzsichtige Bedenken profan-grammatikalischer Art bis heute eine traurige Verschleierung, ja fast eine trübe Negation erfuhren. Ich meine jene Stelle in dem großen Lebenspoem des Meisters, wo Gretchen Faustens erster Annäherung entgegnet:

„Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach Hause gehn.“

Noch heute gibt es, Gott Apollo und den Musen sei es geklagt, allerlei schwächere Intellekte, die nicht begreifen können, welche tiefen inneren Notwendigkeiten den Meister hier zwangen, von der grammatikalisch üblichen Form „weder – noch“ in kühner Überzeugungssicherheit abzuweichen und dafür die ungewöhnliche, aber jedes wahrhaft unbefangene Empfinden schon an [148] sich höchst reizvoll berührende Form „weder – weder“ zu gebrauchen. Ich will, meine verehrten Damen und Herrn, ganz auf den wohlfeilen Hinweis verzichten, daß der Genius stets seine ureigensten Bahnen wandelt, und daß es daher gar nicht überraschen könnte, wenn er ganz grundsätzlich und bei jeder Gelegenheit sich in Widerspruch mit der gemeinen Normalgrammatik setzen würde. Allein, wie gesagt, die begeisternde Wahrheit der schrankenlosen Abnormität des Genius ist ja uns allen so gegenwärtig, daß sie keiner näheren Beleuchtung bedarf. Vielmehr möchte ich zeigen, daß dieser allgemeinen Tatsache, die den Genius nur negativ von uns minderwertigen Sterblichen unterscheidet, in jenem besonderen Falle der Abweichung auch sehr positive Rechtfertigungen zur Seite stehen, und zwar in Hülle und Fülle. Ich maße mir nicht an, diese Fülle der positiven Rechtfertigungen zu erschöpfen: würden doch meine bescheidenen Kräfte hierfür ebenso wenig ausreichen als Ihre eigene physische Ausdauer. Aber ich hoffe, meine verehrten Damen und Herrn, daß meine Ausführungen Ihnen das freudige Bewußtsein von jener unbeirrbar elementaren Treffsicherheit unseres Meisters geben werden, die sich ausspricht in seinem herrlichen Wort:

„Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt;“

oder vielleicht noch bezeichnender in der Gedichtstelle

„Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg.“

Nach diesen notwendigen Vorbemerkungen trete ich meinem Thema mit der bewährten Sonde der literar-ästhetischen Forschung näher und frage:

[149] Warum ließ Goethe an jener Stelle sein Gretchen „weder – weder“ sagen, und nicht „weder – noch“?

Die Antwort lautet erstens: weil Goethe ein Klassiker war und sich dementsprechend auch immer streng-klassisch ausdrücken mußte. Denn was allein läßt sich als strengklassische Ausdrucksweise bezeichnen? Offenbar nur jene Ausdrucksweise, welche der Antike am innigsten angenähert ist. Wie aber sagte der antike Kulturmensch für „weder – noch“? Er sagte als Römer „neque – neque“, und er sagte als Grieche „οὔτε[1]οὔτε[1]“, das heißt: er wiederholte dasselbe Wort! Es ergab sich daher für den Klassiker Goethe einfach die immanente Notwendigkeit, auch seinerseits das gleiche Wort zu wiederholen! Allerdings muß man dabei annehmen, daß er längere Zeit überlegte, ob er „noch – noch“ oder „weder – weder“ schreiben sollte: und jeder Feinfühlige wird noch heute die Qualen nachfühlen können, die seine Dichterseele bei diesem schwierigen Dilemma durchlitt. Zuletzt aber half wieder der kategorische Imperativ seines strengklassischen Formbewußtseins. Denn das Wort „noch“ war nur einsilbig, das Wort „weder“ aber zweisilbig, genau wie das Wort „neque“ oder „οὔτε[1]“, ferner kam für Goethe mehr das römische „neque“ in Betracht als das griechische „οὔτε“, weil er zwar in Rom war, aber nicht in Athen; und da zeigte sich ihm dann zu seiner frohen Überraschung, daß das Wort „weder“ zugleich in vokalischem Betracht völlig der klassisch-römischen Vorlage entsprach, indem wir in „weder“ ganz wie in „neque“ den zweifachen E-Laut beobachten. Somit ist sonnenklar nachgewiesen, daß schon der Drang des Goetheschen Genius, sich möglichst klassisch der Antike [150] anzuschließen, geradezu gebieterisch die Form „weder – weder“ forderte.

Aber auch noch andere Gründe trieben den Meister zu dieser reizvoll-aparten Formgebung. Vor allem zweitens: die Notwendigkeit des korrekten und gefälligen rhythmischen Versflusses. Man höre nur, wie der fragliche Vers grammatikalisch korrekt sich anhören würde:

„Bin weder Fräulein noch schön“ – –

Hätte das nicht entsetzlich abgehackt geklungen? Und anderseits war es für den Genius völlig ausgeschlossen, Gretchen auf die Frage Faustens mit einem Satze antworten zu lassen, der auf ihrer Seite irgendeine geistige Selbständigkeit verraten hätte, indem er sie zur Versfüllung noch irgendwelche anderen Ausdrücke hätte gebrauchen lassen als jene, die ihr Faust ohnehin in den Mund legt. Das hätte einen schreienden Widerspruch bedeutet gegen die süße Unberührtheit und Einfalt des holden Bürgerkindes! Es gab also auch in rhythmischer und psychologischer Hinsicht nur die eine Möglichkeit „weder – weder“.

Drittens aber, meine sehr verehrten Damen und Herrn, war diese Form auch eine schlichte Notwendigkeit im charakteristischen Sinne der momentanen dramatischen Situation. Der E-Laut hat in unserer geliebten deutschen Sprache etwas Ablehnendes und Feindseliges an sich, wie schon die Worte „Ekel“, „Weh“ und „Pest“ deutlichst bezeugen. Die dramatische Stimmung der so liebenswerten vorläufigen Sprödigkeit Gretchens konnte daher gar nicht entsprechender herbeigeführt werden als wieder durch die Form „weder – weder“, die den fast gehässig ablehnenden E-Laut viermal nachdrücklichst wiederholt. Ich kann mir hier [151] nicht die Nebenbemerkung versagen, daß auch schon der Name von Faustens erotischem Objekt für jeden Einsichtsvollen in überraschender Weise demselben Zwecke dient; denn auch der Eigenname „Gretchen“ enthält diesen vorläufig zurückweisenden E-Laut zweimal, und zudem erfreut er durch die weitere Tiefgründigkeit, daß er klanglich dem Diminutivum von Gräte – ich meine die Fischgräte – ähnelt: also jenem Knochensurrogat der Wasserbewohner, das den Genußfreudigen zunächst durch stachlige Feindseligkeit abwehrt; man vergesse dabei nicht das Backfischalter Gretchens, und man vergleiche in diesem reizvollen Zusammenhang auch Goethes unsterbliches Gedicht „Heideröslein“, in dem es bekanntlich heißt:

„Röslein sprach: ich steche dich“,

und die mystisch geniale Notwendigkeit auch der Namengebung „Gretchen“ wird Ihnen allen unmittelbar einleuchten.

Viertens aber entsprach die Form „weder – weder“ dem dramatischen Augenblick auch im mimisch-plastischen Sinne für die Schauspielerin, der die Darstellung des Gretchen anvertraut ist. Es liegt in der Natur der schauspielerischen Wiedergabe jenes Moments der Ablehnung, daß Gretchen ihre Entgegnung, sie halte sich für kein Fräulein und auch nicht für schön, mit einem reizend schnippischen Kopfwerfen erst nach links und dann nach rechts begleitet. Für beide Kopfbewegungen aber muß nach dem künstlerischen Gesetz der Symmetrie selbstverständlich genau derselbe Zeitraum zur Verfügung stehen: und dies wiederum ist nur denkbar, wenn das zweite, den schnippischen Kopfwurf nach rechts einleitende Wort genau ebenso lang ist wie [152] das erste, das den schnippischen Kopfwurf nach links einleitet. Auch in der Wahrnehmung der rein schauspielerischen Interessen hat also hier der Genius instinktiv dem Gesetze der höchsten Schönheit gehorcht.

Aus der Fülle weiterer künstlerischer Forderungen, die den erhabenen Meister ganz ebenso zu der Wahl des „weder – weder“ nötigten, will ich nur noch eines hervorheben: nämlich, daß diese Form auch im Sinne einer packenden Symbolik des Ewigweiblichen die einzig entsprechende war. Wir haben Gretchen bekanntlich als ein Wesen aufzufassen, das a) von bezaubernder Jugendfrische, b) ausnehmend schön, c) kindlich fromm, aber d) auch sehr sinnlich veranlagt ist, das ferner e) sich erst sehr spröde verhält, endlich aber f) sich in ihrer selbstlosen Hingabe sogar verführen läßt – kurz, meine verehrten Damen und Herrn: wir sehen in Gretchen den idealen Inbegriff der deutschen Jungfrau, welcher seinerseits wieder der ideale Inbegriff des deutschen Weibes ist. Was aber lag nun näher, als diese bedeutsame Repräsentation der echtesten und schönsten Weiblichkeit durch Gretchen auch lautlich-symbolisch zum Ausdruck zu bringen? Auch dies wollte der Genius des unsterblichen Meisters nicht verabsäumen, auch dieser Forderung genügte er durch die nachdrückliche Wiederholung des wunderbarweich-wollüstig-weiblichen Konsonanten „W“ in jenem herrlichen „weder – weder“! Ich sage daher nicht zuviel, wenn ich zusammenfassend behaupte, daß die europäische Dichtkunst, ja wohl die gesamte menschliche Kultur nichts von gleicher Bedeutsamkeit diesem faustischen „weder – weder“ an die Seite zu stellen hat: weder bisher, weder in allen kommenden Aeonen!

[153]
II.
Schiller-Gedächtnisrede,
gehalten am 9. Mai.


Hochgeehrte Versammlung!

Als ich im März die Auszeichnung hatte, Ihnen Goethes „weder – weder“ in seiner ganzen Bedeutsamkeit und in der Fülle seiner ästhetischen Begründungen darzulegen, ahnte ich nicht, daß mir mit fast beschämender Einstimmigkeit auch die Rede für den heutigen Gedächtnistag unseres herrlichen Friedrich Schiller anvertraut werden sollte. Noch weniger aber ahnte ich, daß sich mir für diesen meinen zweiten Versuch, einem Großen gerecht zu werden, völlig unverhofft, ja wie durch höhere Fügung ein Gegenstand bot, der die Aufeinanderfolge dieser beiden Vorträge noch in weit höherem Maße rechtfertigen kann, als es die mich so tief bewegende Wertschätzung meiner bescheidenen Kräfte an sich vermöchte. Denn dieser Gegenstand schließt sich nicht nur aufs innigste an das Thema meiner Ausführungen am verflossenen Goethe-Gedächtnistage an, er bedeutet auch geradezu eine notwendige Ergänzung zu dem damals Gesagten, und zwar im Sinne jener geheimnisvollen inneren Gewißheit, die uns die geliebten Dichter-Dioskuren gar nicht anders vorstellen läßt als wie unser heimisches Denkmal sie zeigt: verschiedenen, ja gegensätzlichen Wesens, aber Schulter an Schulter in Ebenbürtigkeit vereint!

Es war vor fünf Wochen, am ersten April nachmittags nach 4 Uhr – ich stelle den Zeitpunkt mit möglichster Genauigkeit fest, weil ich die Entdeckung, [154] von der sogleich die Rede sein soll, historisch für mich in Anspruch nehmen muß –, es war also am 1. April, 4 Uhr 15 Minuten nachmittags, da durchblätterte ich in Überlegung eines geeigneten Themas für die heutige Gedächtnisrede auch den zweiten Akt von Schillers glutvollem Jugenddrama „Don Carlos“. Und da wurde mein Auge plötzlich auf eine Dialogstelle jenes zehnten Auftritts zwischen Domingo und Alba gelenkt, die ominöser Weise beginnt:

     Domingo
„Was wollen Sie mir sagen?
     Alba
 Eine wicht’ge
Entdeckung, die ich heut’ gemacht ..“

als ob der große Dichter hier schon prophetisch auf die Entdeckung hätte hinweisen wollen, die mich selbst in jener gesegneten Stunde beglücken sollte! Auf die Frage Albas, wer es auf sich zu nehmen habe, den König über die erotische Relation zwischen seiner Gemahlin und dem Infanten aufzuklären, läßt Schiller nämlich den Domingo erwidern:

Noch Sie, noch ich“ – –!

Ich sehe, meine Damen und Herrn: die Wucht dieser Enthüllung übt auf Sie zunächst ganz dieselbe fast schreckhaft lähmende Wirkung aus wie auf mich in jenem geschichtlichen Augenblick. Aber wie es mir geschah, sobald ich imstande war, mir über die außerordentliche Erscheinung klarer zu werden, so werden auch Sie, meine verehrten Damen und Herrn, an der Hand meiner Erläuterungen alles erschreckend Befremdliche von diesem Phänomen abfallen sehen, Sie werden überzeugt werden, daß es sich nicht etwa um einen [155] Widerspruch gegen die Feststellungen meiner letzten Goethe-Gedächtnisrede handelt, sondern daß uns vielmehr in dieser Schillerschen Textstelle und ihrer geheimnisreichen Beziehung zu dem „weder – weder“ Goethes eine unerhörte Offenbarung über unser teures Dichterheroenpaar geschenkt ist: und auch Sie werden sich in freudiger Ergriffenheit sagen, daß etwas, was ich philologische Vorsehung nennen muß, dieses Gnadengeschenk nur einem Weimarer Forscher anvertrauen konnte, damit es, wie allein recht und billig, von unserer geliebten Klassikerstadt aus seine segensreichen Wirkungen verbreite!

Meine verehrten Damen und Herrn! Schon zu jener Zeit, da die beiden Dichterfürsten noch auf diesem durch sie geweihten Boden wandelten, Goethe mit dem breiten Tritt ruhvollen Behagens, Schiller aber in einer Gehweise, die ihn bei aller Energie des Auftretens immer auch elastisch, gleichsam auf Schwingen des Ideals halb zu den Sternen emporhob – schon zu jener begnadeten Zeit, sage ich, litt die Welt unter der bangen Unentschiedenheit des Streites, welcher von den beiden Dichtern der größere sei. Welch hohe Bedeutung auch Goethe dieser Frage beimaß, erhellt aus der bekannten Tatsache, daß er Eckermann gegenüber ausführlich darauf zu sprechen kam; aus seiner ausweichenden Bemerkung aber, die Nation möge den Streit nicht weiter verfolgen und sich nur freuen, „zwei solche Kerle zu besitzen“, spricht vernehmbar der quälende Schmerz, daß das Problem nicht zu lösen sei: und die Folgezeit schien dieser Resignation auch durchaus recht zu geben. Heute aber, meine Damen und Herrn, wissen wir auf Grund jener parallelen Textstellen, die bei [156] Goethe wie auch bei Schiller die größte dichterische Kraft in einem kleinsten und feinsten Punkte gesammelt zeigen, daß keiner dem andern etwas nachgab!! Schon in meiner Goethe-Gedächtnisrede habe ich mit gebührendem Nachdruck darauf hingewiesen, wie Gretchens „weder – weder“ den Dichter in jener totalen Unabhängigkeit von der profanen Grammatik zeigt, die das sicherste Symptom des überragenden und beherrschenden Genius ist; nun denn: Domingos „noch – noch“ zeigt auch Schiller im Besitze dieser überragenden und beherrschenden Genialität, und zwar, als hätte die Vorsehung uns diese Einsicht ganz besonders erleichtern wollen, an genau demselben sprachlichen Beispiel! Hinter Goethe wie hinter Schiller lag hier das Gemeine in wesenlosem Scheine, und zwar hinter jedem gleich weit! Auch der Verdacht, daß Goethe durch die Schillersche Textstelle, oder Schiller durch die Goethesche erst zu einem bezüglichen Wetteifer entflammt worden wäre, auch dieser schon an sich unwürdige Verdacht läßt sich literarhistorisch sofort entkräften, findet sich doch das „weder – weder“ Goethes bereits im Urfaust, den Schiller noch nicht kannte, als er im Jahre 1783 mit fester Hand sein „noch – noch“ in den „Don Carlos“ setzte. Nein: völlig unabhängig von einander bewährten die beiden Großen an demselben Gegenstand dieselbe freie Meisterschaft! Aber – und dies führt in die tiefsten Mysterien des individuellen Schaffens – aber jeder von den beiden Heroen bewährte sie in seiner besonderen Weise, in der Form, die allein seiner künstlerischen Persönlichkeit und der ihr vorliegenden dichterischen Aufgabe entsprach. Wir haben seinerzeit gesehen, aus welchen zwingenden Gründen [157] Goethe das „weder – weder“ auch dem „noch – noch“, das sicher auch durch seine Seele ging, vorziehen mußte: und heute, meine verehrten Damen und Herrn, werden wir sehen, aus welchen nicht minder zwingenden Gründen Schiller seinerseits gar nicht anders schreiben konnte als „noch – noch“!

Da ist denn vor allem hinzuweisen auf Wesen und Richtung der Schillerschen Produktion im allgemeinen. Während Goethes beschaulich umfassende Universalität das Dramatische nur mit einschloß als eine dichterische Ausdrucksform neben vielen anderen, deren er sich bediente, war Schiller, wie wir ja alle wissen, in erster Instanz Dramatiker. Zu den entscheidendsten Erfordernissen der dramatischen Kunst zählt aber die möglichste Knappheit des sprachlichen Ausdrucks. Als sich auch für Schiller in jenem Augenblicke der Produktion intuitiv die allgemeine Notwendigkeit ergab, die Fesseln der Vulgärgrammatik zu sprengen, mußte er daher sofort auch die zweite Notwendigkeit fühlen, den Sprachgebrauch nach Seite der konzisen Zusammendrängung zu verbessern. Schon aus diesem Grunde kam für ihn nur mehr das „noch“ in Betracht, nicht aber das breiter ausladende „weder“. Dabei konnte sich ihm nicht wie Goethe das ernste Bedenken entgegenstellen, mit dem zweisilbigen „weder“ auch den Wetteifer mit den altklassischen Vorbildern „neque“ und „οὄτε“ zu verabsäumen; wissen wir doch heute, daß die Klassizität Schillers im Grunde weit mehr auf dem starken Einflusse der Klassiker des französischen Dramas, namentlich auf dem Einflusse Racine’s beruhte. Die französische Sprache aber gibt in dem fraglichen grammatikalischen Falle nur ein [158] ebenso einsilbiges „ni – ni“ von sich, das obendrein mit dem „noch – noch“ den Konsonanten „n“ gemeinsam hat: so daß also Schiller durch sein klassisches Vorbild in der Entscheidung für das „noch – noch“ nur bestärkt werden konnte.

Sieht man aber genauer zu, so geboten Schiller auch noch andere, künstlerisch-speziellere Gründe mit aller Entschiedenheit die Wahl des „noch – noch“. Vergegenwärtigen Sie sich zu diesem Behufe den betreffenden Auftritt des Carlos-Dramas. Der finstere Alba und der schwarze Domingo stehen beisammen, nächtiges Unheil brütend. Dieser tiefdüsteren Färbung des Auftritts mußten auch die Laute der ersten, knappen Worte von Domingos Antwort auf Albas Frage möglichst entsprechen, und zwar vor allem in ihren Vokalen. Diese Vokale mußten also möglichst dunkel sein, um so mehr, als der helle I-Laut in „Sie“ und „ich“ nicht zu vermeiden war; die gleichfalls sehr hellen Vokale des „weder – weder“ hätten die ganze Stimmung der Szene vernichtet, und auch das profan-korrekte „weder Sie, – noch ich“ hätte da so gut wie nichts gebessert, weil es gerade am Beginne der Antwort gleich drei der hellsten Vokale gebracht hätte, gegen deren Lichtfülle das vereinzelt nachhinkende dunkle „noch“ gar nicht mehr erfolgreich hätte ankämpfen können. Als einzig künstlerische Möglichkeit blieb daher unserem Schiller nur mehr das „noch – noch“ übrig, das obendrein den unschätzbaren Vorteil bot, Domingos Antwort gleich mit dem tiefdunklen O-Vokal zu beginnen und hiermit die charakteristisch düstere Wirkung des Auftritts suggestiv zu erzwingen. Dabei ist auch sehr zu beachten, daß die Vokalfolge [159] „o – o“ in „noch – noch“ zugleich der nämlichen Wiederholung des O-Vokals in dem dumpf dröhnenden Namen „Domingo“ völlig entsprach, so daß „noch – noch“ auch zugleich die Nachtgestalt von Philipps furchtbarem Beichtvater sozusagen in einem intensiv tonmalerischen Symbol wiedergibt; ferner, daß sich in diese Vokalfolge „o–o“, die ja rein klanglich auch als „oh, oh“ gedeutet werden kann, zugleich auch die ganze ethische Mißbilligung des Dichters selbst flüchten und suggestiv dem Publikum sich mitteilen konnte! Aber auch die Konsonanten des „noch – noch“ waren hier geeignet, der höchsten künstlerischen Vergegenwärtigung zu dienen. Der lichtscheue schleichende Mönch, der in feuchtkalt-finsteren Kloster-, Kapellen- und Grufträumen aufgewachsen ist, konnte sich sicher keiner intakten Atmungsorgane und Stimmbänder erfreuen, ein chronischer Rachen- und Kehlkopfkatarrh war bei ihm mit aller Bestimmtheit anzunehmen, und dieser Rachen- und Kehlkopfkatarrh bedingte eine heiser keuchende Sprechweise. Wie aber hätte dieses heisere Keuchen Domingos dem Schauspieler näher gelegt werden können, wie auf zuverlässigere Art von ihm erzwungen werden als durch Schillers wundervolles „noch – noch“, das den rauh keuchenden und fauchenden Rachenlaut „ch“ zweimal kurz hintereinander bringt und durch das dritte „ch“ des unmittelbar darauf folgenden Wortes „ich“ sogar noch gewaltig verstärkt wird? Aber die eminente persönlichkeitmalende Kraft des „noch – noch“ ist damit noch nicht erschöpft; auch in seiner vokalisch-konsonantischen Gesamtheit diente es diesem Zweck, und zwar in bezug auf die allgemeinere Körperbeschaffenheit [160] Domingos. Daß der intrigante, von Fanatismus und Streberei verzehrte Mönch sich einer behäbigen Wohlbeleibtheit erfreut haben könnte, muß ausgeschlossen erscheinen; man kann sich seine Gestalt nur in dürrknochiger Hagerkeit vorstellen. Und nun, meine verehrten Damen und Herren, lassen Sie an Ihre akustische Einbildungskraft noch einmal die Schallwellen des „noch – noch“ schlagen! Deutlich werden Sie jetzt auch heraushören: „Knochen – Knochen!“ Ja, meine Damen und Herrn, – auch die dürren Knochen Domingos hört man klappern in diesem unerhört plastischen, malerischen, musikalischen, die Situation wie die Persönlichkeit erschöpfend schildernden „noch – noch“!

Was vor allem, hochverehrte Versammlung, macht den großen Dramatiker? Äußerste Knappheit und Schlagkraft des Ausdrucks, restlos eindringliche Zeichnung der vorgeführten Gestalten! Beides bewährte, wie wir sahen, unser Schiller mit seinem „noch – noch“; immanente Notwendigkeit nötigte ihn zu der Neubildung, genau dieselbe immanente Notwendigkeit des Genius, die Goethe aus ganz anderen Gründen zur Erschaffung des „weder – weder“ zwang! Die Verschiedenheit des künstlerischen Zwecks forderte die Verschiedenheit der Form: aber Vollkommenheit, Erfüllung sämtlicher Gebote der Kunst bewundern wir hier wie dort. Meine verehrten Damen und Herrn! Beseligt durch diese Erkenntnisse lassen Sie uns jetzt im Geiste noch einmal andachtsvoll vor das gemeinsame Bild der Dioskuren, vor unser geliebtes heimisches Denkmal treten! Da sehen wir den einen und einzigen Lorbeerkranz von beiden erfaßt: und wir erkennen in diesem Lorbeer [161] die ruhmreiche Verwandlung des vulgären „weder – noch“ in eine Form von reinster und freiester künstlerischer Bedeutung. Aber wir sehen auch, wie Goethes Hand in ihrer ganzen Breite auf dem Kranze ruht, während Schiller ihn nur mit halber Hand berührt: und es ist uns, als sähen wir in dieser Differenzierung schon Goethes breites, vierfüßiges „weder – weder“ und Schillers dramatisch knappes, zweifüßiges „noch – noch“ zum Ausdruck gebracht, wie durch vorahnende Eingebung des großen Bildhauers. Staunende Ehrfurcht läßt uns verstummen; in unseren Herzen aber klingt der Jubelruf: Weder noch Goethe, noch weder Schiller – nein, sowohl als auch Schiller, als auch sowohl Goethe ist unser Größter!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. a b c Vorlage: οὄτε