Gretchen weint

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Textdaten
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Autor: Gustav Klein
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Titel: „Gretchen weint“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 736, 738
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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„Gretchen weint“.

Bilder aus der Kinderstube.0 Von Dr. Gustav Klein.

Nein, länger halte ich das Geschrei nicht mehr aus!“ ruft der Herr Buchhalter in höchster Erregung, nimmt den Hut und eilt fort, während seine junge Frau trüben Blickes mit dem schreienden Liebling allein bleibt. Wie hatte sie sich gefreut, mit ihm heute Abend zu besprechen, was sie wohl ihrem kleinen Blondköpfchen zur Weihnacht bescheren wollten! Aber bevor noch das Abendbrot aufgetragen worden war, hatte Gretchen schon durch einzelne Schreiversuche sein Mißbehagen kundgegeben und trotz der zärtlichsten beschwichtigenden Liebkosungen endlich [738] eines jener Vokalkoncerte begonnen, durch welche selbst der beste Braten und das zarteste Gemüse dem ermüdeten, ruhesuchenden Familienvater verbittert wird. War es zwischen den beiden jungen Leutchen auch noch nie zu ernstlichen Zwistigkciten gekommen, so hatte doch die unleidliche Gewohnheit des kaum ein Jahr alten Mädchens, immer zur unrechten Zeit jenes steinerweichende Lied anzustimmen, schon manchmal Anlaß zu kleinen Verdrießlichkeiten gegeben – aber heute war es das erste Mal, daß sich Hans dadurch bewegen ließ, den Abend außer Hause zu verbringen.

Gewaltsam ihren Schmerz niederkämpfend, versucht es die junge Mutter, durch Liebkosungen und allerlei Spielsachcn das Kind zum Schweigen zu bringen; Alles vergeblich!

Aber wie mit einem Zauberschlage hellen sich die Züge des kleinen Trotzkopfes auf, als ihn die Mutter auf den Arm nimmt und im Zimmer auf- und niederträgt. Hell aufjauchzend sucht das Kind nach der Lampe zu greifen und strampelt so vergnügt mit den runden, dicken Beinchen, daß die Mutter selbst unter Thränen mitlachen muß. Unter Thränen! War es doch der erste Schmerz ihres Ehelebens, den sie heute erlitt! Es ist ein niederdrückendes Gefühl für jedes junge Weib, den ersten Abend allein daheim verbringen zu müssen, und doppelt niederdrückend, wenn er, der sich sonst Abend für Abend seiner Frau gewidmet, im Unmuthe schied, um vielleicht mit seinen alten Bekannten aus der Junggesellenzeit die „entsetzlichen Kneipen“ zu besuchen. Eine Fluth von düsteren Bildern bricht über die junge Frau herein, die sich, nachdem Gretchen endlich eingeschlafen ist, ganz ihren Gedanken überlassen kann.

In solchen Augenblicken sieht man Alles viel dunkler, als es ist; am Abend arbeitet die Phantasie ohnedies am lebhaftesten, und die kleinsten Mißstände wachsen dann ins Ungeheuerliche. Da brauchte es nur kurze Zeit, bis die Frau zur Ueberzeugung gelangte: „Du bist doch recht, recht unglücklich!“

Und all dieser Jammer nur wegen jener Unart des braunäugigen Blondköpfchens!

Doch halt! Ist es denn wirklich Unart und nicht vielmehr eine schlechte Gewohnheit? Und können wir denn ein so junges Wesen für seine Gewohnheiten verantwortlich machen? Sollte manchmal nicht auch ein klein wenig Schuld der Eltern dabei sein, die ihr Kind trotz aller Liebe nicht richtig zu erziehen verstanden? Und wenn es am Ende ausschließlich an den Eltern gelegen wäre?

Mit überlegenem Lächeln antwortet Jemand: „Erziehung? Läßt sich denn ein Kind, das kaum einige Monate alt ist, überhaupt erziehen? Das ist angeborner Charakter oder sonst etwas; vielleicht ist es auch gut, wenn sich das Kind tüchtig ausschreit. Das stärkt die Lungen!“

In solchen Aussprüchen liegt eine scheinbare Berechtigung; man nimmt sich nicht die Mühe, eingehender darüber nachzudenken – das Kind schreit weiter und wird durch die Eltern selbst zum Eigensinn, zur Starrköpfigkeit geradezu erzogen!

Die Erziehung des Kindes mutz am ersten Tage beginnen!

Eine goldene Wahrheit, deren Beachtung viel Leid und Kummer ersparen könnte, die sich deßhalb jede Mutter, jede Frau tief einprägen sollte!

Das Neugeborene spricht eine gar verständliche Sprache für den Eingeweihten, eine Sprache, die jede Mutter bald verstehen lernt, wenn sie nur ernstlich will. – Das kranke Kind schreit ganz anders als das hungrige, und ein Kind, das sich eben satt getrunken hat, kann unmöglich nach einer Viertelstunde schon wieder Nahruugsbedürfniß haben.

Wenn das Neugeborene die Welt mit kräftigem Schreien begrüßt, so wird es Niemand einfallen, das als einen Fehler, als eine Unannehmlichkeit zu betrachten; im Gegentheile, es ist nicht nur wünschenswerth, sondern durchaus nothwendig, daß die Lungen, die bisher noch unthätig waren, dadurch kräftig erweitert, ausgedehnt, reichlich und wiederholt mit Luft gefüllt werden. Da muß selbst ein gelinder Schlag, welchen der Arzt dem Kinde versetzt, helfen, dasselbe zu kräftigem Schreien und auf diese Weise zu tiefem Ein- und Ausathmen zu bewegen.

Aber wenn einmal die Athmung gehörig im Gange ist, kann stundenlanges Schreien nicht mehr als nothwendige Uebung betrachtet werden. Da pflegen andere Gründe vorzuliegen. Gewöhnlich ist es der Hunger, welcher das Kind zum Schreien veranlaßt; nicht minder häufig geschieht dies dann, wenn der junge Erdenbürger sein Mißbehagen anzeigen will, also besonders, wenn die Windeln mit frischen vertauscht werden müssen oder bei Gesundheitsstörungen: Unwohlsein, Krankheit. Keinesfalls soll die Mutter versäumen, alle paar Stunden das Neugeborene daraufhin zu untersuchen, sobald dasselbe zu schreien beginnt. Oft läßt sich das Kind schnell durch Erneuerung der Windeln, durch bequemere Lagerung etc. beruhigen; hatte es schon drei bis vier Stunden lang nicht mehr getrunken, so wird wohl der Hunger die Ursache sein, und durch dargereichte Milch bringen wir es rasch zum Schweigen.

Schlimmer steht die Sache natürlich bei Krankheit des Kindes. Die sorgsame Mutter wird dann aber leicht noch andere Zeichen einer vorhandenen Störung entdecken: ungewöhnliche Hitze der Haut, unruhiger Schlaf, Unlust oder allzu häufiges Verlangen nach Nahrungsaufnahme, Unregelmäßigkeiten in der Entleerung der aus dem Körper auszuscheidenden Stoffe, Erbrechen etc. Daß in solchen Fällen der Arzt zu Rathe gezogen werden muß, scheint selbstverständlich; und doch, wie unendlich viel wird auch hier gesündigt! Irgend eine alte Tante oder Freundin weiß im ersten Augenblicke, ohne das Kind auch nur weiter angesehen zu haben, hier sei das „schwere Zahnen“ schuld, und sofort erleichtert sie ihr menschenfreundliches Herz durch eine Menge der abgeschmacktesten, lächerlichsten Rathschläge, die – wenn’s gut geht – unwirksam, aber leider in sehr vielen Fällen geradezu schädlich sind. Es giebt eine große Anzahl von Kinderkrankheiten, die sich durch Aenderung der Ernährungsweise und Aehnliches fast stets beseitigen lassen, und nichts rächt sich deßhalb bitterer, als in falscher Sparsamkeit oder allzu großem Vertrauen auf seine eigenen Erfahrungen die Beiziehung eines Arztes zu unterlassen, während man später durch die kostspieligsten Konsultationen und Kuren das Versäumte vielleicht nicht mehr oder nur schlecht nachholen kann.

Gewöhnlich ist es also Hunger, Unbehagen oder Krankheit, in der allerersten Zeit noch Luftbedürfniß, was die Kinder zum Schreien veranlaßt.

Und doch trifft sehr oft keiner von diesen Gründen zu, während die Kinderstube Tag und Nacht vom Geschrei der Kleinen widerhallt!

Das vier Monate alte Lieschen hat sich satt getrunken, ist ruhig eingeschlafen, aber nach einer Stunde durch irgend ein Geräusch wieder aufgeweckt worden. Sie blinzelt mit den Augen, fährt mit den kleinen Händchen ein paar Mal übers Gesicht, verzieht den Mund zu jenem gefürchteten Viereck und – erhebt nun ein so ohrenzerreißendes Geschrei, daß Mutter und Dienstmädchen eiligst herbeispringen, um zu sehen, ob dem „süßen Engel“ vielleicht gar ein Unfall zugestoßen sei. Aber nichts Derartiges läßt sich entdecken, und wie abgeschnitten ist der Lärm, nachdem die besorgte Mutter dem Kinde die Milchflasche – die unglückselige Milchflasche! – gereicht.

Lieschen trinkt in wenigen Zügen, Hunger hat sie ja nicht, und schläft befriedigt wieder ein.

Nach kurzer Zeit wiederholt sich das gleiche Spiel, obwohl das Kind keineswegs von Hunger geplagt ist; und die arme Mutter hat Tag und Nacht keine Ruhe, wird durch die ewige Anstrengung und Erregung selbst abgespannt, nervös – der „süße Engel“ wird zum Plagegeist der Eltern, zum Störenfried des Familienlebens!

Ein anderes Bild.

„Gottfried ist kaum 11/2 Jahre alt, aber schon groß und kräftig wie manches doppelt so alte Kind. Einige Zeit hat er Nachmittags vergnügt in der Stube gespielt, aber plötzlich scheint’s ihm da nicht mehr zu gefallen. Er krabbelt langsam gegen die Thür hin, und dort angelangt heult er ganz ohne Weiteres mit seiner gellenden Stimme so lange darauf los, bis – ihm die Thür geöffnet wird, so daß er seine Entdeckungsreisen auf dem Flur fortsetzen kann.

Wie beim kleinen Lieschen geht’s auch hier. Unbewußt oder bewußt merken die Kinder, daß sie durch das Geschrei ihren Willen stets durchsetzen, und benützen diesen einfachen Weg, um Alles zu erreichen, was ihnen gerade in den Sinn kommt.

Und weiter. Gottfried ist 5 Jahre alt geworden und ein äußerst kluges Kind von schneller Auffassungsgabe. Nur eine Untugend hat er: seinen unbezähmbaren Eigensinn. Thut man nicht nach seinem Willen, so stampft er mit dem Fuße, lärmt und weint, bis man ihm nachgiebt, „nur, damit endlich wieder Ruhe ist“, oder bis er für seine Ungezogenheit, richtiger Unerzogenheit, gestraft wird; natürlich wird er jetzt nur um so trotziger. „Woher doch das Kind diesen Trotz hat?“ klagen seufzend die mit Engelsgeduld und paradiesischer Sanftmuth begabten Eltern.

Woher? Von euch selbst – von eurer falschen Erziehungsmethode! Und man kann fest überzeugt sein, daß unser Gottfried nach einem und mehreren Jahrzehnten noch genau derselbe Trotzkopf ist; vielleicht ändert und glättet die harte Schule des Lebens später Manches, aber gewiß nicht ohne schlimme Erfahrungen und Lehren!

Beginnt also, wenn euch ein kleiner Weltbürger beschert ist, gleich am ersten Tage mit dessen Erziehung. Hegt und pflegt ihn, wie sich’s für verständige Eltern gehört; bewacht sorgsam alle Regungen seines erwachenden Geisteslebens; aber hütet euch, ihn gleich von Anfang an in seinem Eigenwillen zu bestärken.

Schreit das kleine Gretchen, ohne daß sich irgend eine Ursache dafür finden läßt, gut – so laßt es ruhig fortschreien; gesunden Kindern kann das Schreien nicht schaden; am allerwenigsten können sie dabei etwa „ganz ausbleiben“, wie man oft ängstlich aussprechen hört.

In den ersten Wochen genügt es vollständig, dem Kinde alle 3 bis 4 Stunden Nahrung zu reichen. Dies öfter zu thun, ist unnöthig und schädlich. Und wenn das Kind erst merkt, daß ihm sein Schreien selbst bei häufiger Wiederholung nicht hilft, so wird es von selbst damit aufhören. Besser, ihr vertragt den Lärm anfangs einige Tage lang, als ihn später Monate lang anhören zu müssen und euch selbst eine Quelle fortdauernden Aergers zu schaffen.

Ist das Kind schon älter, so erfüllt seine berechtigten Wünsche, gebt aber keinen Finger breit nach, wenn ihr bemerkt, daß euer Sprößling nur aus langer Weile oder anerzogenem Eigensinn nach dem und jenem verlangt. Man braucht da nicht gleich mit Drohungen und Strafe zu kommen. Die einfache Bemerkung: „Das ist unnöthig“, wird genügen, dem Kinde bald verständlich zu machen, daß nicht seine, sondern der Eltern Absichten maßgebend sind. Und in den ersten paar Monaten des Daseins ist es vollständig hinreichend, unter sorgfältiger Ueberwachung des Kindes streng immer dieselbe Tagesordnung einzuhalten. Der junge Weltbürger gewöhnt sich so vom ersten Tage an Ordnung und läuft nicht Gefahr, sich selbst und allen Anderen später durch seinen Eigensinn fortdauernden Anlaß zu Unannehmlichkeiten zu geben.

Nicht die ist die beste Mutter, welche es versteht, ihr Kind durch Liebkosungen und ewige Nachgiebigkeit zum Schweigen zu bringen, sondern die, welche es ein paar Mal ruhig schreien läßt, sobald sie sich überzeugt hat, daß kein Grund zur Besorgniß vorhanden ist, sondern ihr Sprößling nur Versuche macht, seinen Willen durchzusetzen.