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Im Bosporus

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
DCCX. Der Friedhof auf Mount Auburn bei Boston Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band (1852) von Joseph Meyer
DCCXI. Im Bosporus
DCCXII. Das weiße Haus
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Im BOSPORUS beim FORT MADJAR FABIASSI
FORT RUMELI KAWAK FORT FANARAKI

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DCCXI. Im Bosporus.




Die Meerenge, welche zwei Welttheile scheidet – der Bosporus – ist zur Kluft geworden, welche Europa täglich mehr entzweit, und um eine Brücke darüber zu schlagen, ist – das Schwert gezogen! Wieder einmal haben die Könige die Faust als obersten Richter unter sich anerkannt, haben sie sich selbst dem Stärkerrecht unterwürfig gemacht; – wer aber das Schwert noch fassen werde in diesem Streite, wer weiß dies vorherzusagen? Noch hat Deutschland sich den Standpunkt bewahrt, von dem es die weite, tiefbewegte Gegenwart mit all’ ihren Gewittern, die aus der Ferne langsam und drohend herangezogen kommen, überschauen kann; aber auf wie lange wird dies noch möglich seyn? Viele Mahnungen sind an uns geschehen; wie die Seherin an dem Römerkönig, so ist das Schicksal mit seinen Erinnerungen mehrmals an uns vorübergegangen, und die Zeit naht, wo es, wie jene das letzte Kleinod, auch uns die letzte Warnung bietet. Soll auch sie nicht gehört werden?

Wohl kann man der dem deutschen Volke ursprünglich und allzeitig innewohnenden Freiheit des Geistes das Recht versagen; aber dann soll man sich auch nicht wundern, wenn die Federkräfte, im Kampfe mit ihrer Unterbindung, endlich zu einer Expansion gelangen, die allen Widerstand aufhebt. Wenn die Autorität jede [215] freie Regung des Gedankens auszutilgen strebt, dann soll sie nicht klagen, wenn sie schweigende Einsamkeit überall empfängt, und ihr keine andere Stimme, als ihre eigene, in der weiten Wüste auf ihre Fragen Antwort gibt. Dieses Schweigen ist der stumme Bote der Dinge, die vielleicht nahen; es ist schlimmer als das frechste Geschwätz des Jakobinismus; es lügt die Autorität mit der Ruhe der Gräber an, es läßt sich als ein Symptom der größten geistigen Erschlaffung deuten, die doch an der Grenze höchster Erregung steht. Möchten in einer Zeit, welche, wie die jetzige, so große, unbekannte Veränderungen in ihrem Schooße verborgen trägt, doch Alle, die mehr der Idee als dem Staube angehören, die Schwingen regen; möchte doch Jeder, der den Ernst der Gegenwart erkennt, der Betrachtung des Höheren ihr Recht geben und ihr Rede gestatten; möchte doch Jeder, der zu sprechen und zu lehren weiß, nicht bloß Hörer und Schüler seyn wollen; möchte doch ihnen im lebendigen Glauben am endlichen Siege des Rechts, und in der festen Ueberzeugung von dem endlichen Triumph des Guten der Muth nicht mangeln, sich auszusprechen zum Troste Aller, die da verzweifeln an der Gegenwart, wie an der Zukunft! Warum sollten wir verzweifeln? Sind nicht an diesem Geschlecht schon der Zeichen und Wunder genug geschehen, und haben wir nicht Alle Dinge erlebt, daran zu erkennen, daß den Herrschern, wie den Beherrschten, ein Maß in die Hand gegeben ist, daran zu messen all’ ihr Thun und Lassen? Was haben wir nicht Alles erfahren seit Menschengedenken? Laßt sie einmal vorüberziehen die lange Reihe der ermordeten oder hingerichteten Kaiser und Könige, der entthronten Monarchen, der dienstbar gewordenen oder vertriebenen alten Herrschergeschlechter; laßt sie vorüberziehen die von der Höhe herabgeworfenen Emporkömmlinge, die gestürzten Usurpatoren der Königsmacht, die Tyrannen der Freiheit, welche das eigene Blutgesetz gerichtet hat; laßt sie vorüberziehen die Völker, welche Gott um ihrer Verdorbenheit, Feigheit oder um des Mißbrauchs der Freiheit willen gezüchtigt! Und die Tage des Gerichts sind noch nicht vorüber. Von Neuem zittert die bewegte Erde von dem Donner des Kriegs.


Es nahen große Verhängnisse. Wer den Glauben an eine allwissende Vorsehung verloren hat, den müssen ihre Zeichen mit Grauen erfüllen. Die den Sturm erregt haben, überfällt ein Beben und Zagen, und obschon mitten im Krieg, sehen wir die geängstigte Politik doch noch beständig beschäftigt, den losgelassenen Orkan durch Zuspruch zu beschwören und den kaum geöffneten Janustempel wieder zu verschließen. Aber es haben die Flammen schon so weit um sich gefressen, daß nicht zu glauben ist, es stehe in der Macht Derjenigen, die sie entfesselt haben, sie wieder zu bemeistern. Der Uebermuth eines Menschen hat es für ein ausführbares Beginnen gehalten, über den reichen Besitz eines Lebenden, wie über das Erbe eines Todten zu verfügen; man hat es als ein unschwieriges Unternehmen dargestellt, die Türken aus Europa zu vertreiben: [216] die Ereignisse dürften jedoch dieses Kalkül selbst dann noch zu Schanden machen, wenn die Osmanen den Kampf mit Rußland allein auszufechten hätten. Schwerlich kann für die Vertheidigung eines entschlossenen und für seinen gefährdeten Glauben begeisterten Volks eine günstigere Oertlichkeit gefunden werden, als jene ist, die das Land den Türken bietet. Umgürtet in erster Linie von dem einem feindlichen Heere kaum zugänglichen Balkangebirge, schließen in zweiter Linie Meerengen und Meere straßenlose Provinzen von großer Ausdehnung mit dünner Bevölkerung ein, die den feindlichen Heeren keine Subsistenzmittel bieten, und welche theils durch niedrige Lage den Angreifenden tödtlich, oder, durch Gebirge, Schlösser, Festungen und kriegerische Völkerschaften geschützt, dem Feinde jeden Zugang auf’s Aeußerste erschweren; in dritter Linie aber erscheinen unwirthliche Wüsten und Einöden, welche einer Armee den Durchzug oder eine Okkupation zur Unmöglichkeit machen. So dreifach gepanzert kann das türkische Reich der Macht Rußlands viel länger Widerstand leisten, als Rußlands Kräfte – an Menschen wie an Geld, – ausreichen. Wenn in neuer Zeit das türkische gleich unzweifelhaft an Macht sehr herabgekommen ist, so ist doch noch nicht an einen Zerfall desselben, an Untergang, Tod und Auflösung zu denken. Das Sinken der türkischen Macht ist zunächst in der Schlaffheit begründet, mit der seit einer Reihe von Jahren die auf den straffen Despotismus angewiesenen Beherrscher der Gläubigen die Zügel führten und nicht minder sind auch die das innerste Wesen des Osmanenthums zerfressenden Reformbestrebungen eine Ursache seiner Schwäche. Bei der Unzufriedenheit, welche diese Reformen hervorriefen, war es den Knechten ein Leichtes, sich gegen den Herrn zu erheben, und in den sich beständig wiederholenden Aufständen der Provinzen glaubte Europa die Vorzeichen innerer Auflösung, die den Tod bringen müsse, zu gewahren. Es ist jedoch nun klar geworden, wie sehr man sich getäuscht hatte. Wir haben mit Staunen gesehen, wie der russische Einbruch schnell alle getrennten Interessen in dem weiten Reiche wieder vereinigte; wie sich die rebellischen, unbotmäßigen, mächtigen Vasallen wetteifernd beeilten, dem Padischah ihre Schätze, Heere und Flotten zur Verfügung zu stellen; wie die freien Söhne der Wüsten und der Gebirge, die Jahrhunderte lang im tödtlichen Kampfe gegen die Souveränitäts-Ansprüche des Sultans gestanden hatten, in bewaffneten Schaaren nach den Kriegsschauplätzen an der Donau und am Kaukasus zogen; wie es an energischen, tapfern und geschickten Führern, so wenig wie am Heldenmuth der Truppen gefehlt hat. Statt der verweichlichten Türken sehen wir in allen Gefechten Männer, die den Tod verachten; und die sie ausgeartet und verdorben gescholten, bekennen ihren Irrthum mit Verwunderung. Aber eben jene heldenmüthige Tapferkeit, welche die Türken im gegenwärtigen Kriege gegen die Russen beständig gezeigt haben, mag uns den Blick in einen Abgrund öffnen, aus dem eine, durch irgend ein großes Ereigniß angeregte, religiöse, nationale und politische Begeisterung leicht das Ungeheuere heraufbeschwören kann, dem ein weiter Länderkreis, durch denselben Glauben eng verbunden, und bis in’s Innerste Asiens und in die numidischen Wüsten [217] reichend, unerschöpfliche Nahrung beut. Rußland, verblendet von Selbstüberschätzung, will den Beschwörer machen. Es hat das Kreuz an seine Fahne geheftet; es hat das aus tiefer Ruhe aufgeschreckte Europa zum Feldlager gemacht und seine Fürsten zu Kriegsobersten. Selbst Deutschlands Gewappnete harren nur des Steins, von der Schicksalshand geworfen, um auf die eine oder die andere Seite zu treten und Theil zu nehmen an dem dann allgemeinen Kampfe.

So trifft denn, wo der Blick auch hinfalle in die weite Runde, das Auge auf nichts als wechselseitige Befehdung unverträglicher Elemente, auf Räthsel von unbekannter Lösung, auf Zeichen unheilvoller Deutung. Politische Kuppelei ist überall thätig, um unglückliche Ehen zwischen Staaten und Dynastien zu schließen, die nur Hader und öffentliches Aergerniß erwarten lasten. Nirgends sehe ich ein inniges Zusammengehen der Interessen unter den verbündeten Autoritäten, nirgends eine aufrichtige Zuneigung; überall lugen verhaltene Entzweiung oder geheime Abneigung, Hintergedanken und tödtlicher Argwohn, und daneben laufen die Spuren oberflächlich beschwichtigter Volksleidenschaften und Bestrebungen hin, welche in großen Umwälzungen Befriedigung suchen.

Das ist in wenigen Zügen die Fassung von Europa, in der es den größten Katastrophen entgegentritt, mit welchen das Jahrhundert schwanger geht. Ungern von der süßen Gewohnheit des Friedens lassend, ist, gegen den Willen der Kabinete, durch die herausfordernde That des Czars urplötzlich ein Kriegsgetümmel entstanden, welches den ganzen Welttheil in seinen Strudel zieht. In diesem Streite, dem größten, weitaussehendsten, den das Jahrtausend geboren, bewegt sich Alles in kolossalen Massen und vor den Augen der Lebenden schreibt das Schicksal eine Weltgeschichte mit so mächtigen Lettern, daß sie auch dem Kurzsichtigsten lesbar erscheinen. Vierzig Jahre haben die Fürsten unter sich Frieden gehalten; ihre Kriege wurden nur gegen Völker geführt. Vierzig Jahre Frieden haben die Menschheit mit unzähligen Erfindungen und Mitteln für den Fortschritt bereichert; sie haben unermeßliche Güter und Werthe geschaffen – und doch haben sie die Menschen, der Masse und Mehrzahl nach, nicht glücklicher, nicht zufriedener, nicht wohlhabender, nicht selbstständiger, nicht freier gemacht. Eine Minorität war das Erbe ihrer Segnungen, – und diese Minorität beklagt am Meisten des Friedens Ende. –

Der schöne Stahlstich, welcher diesen Aufsatz begleitet, stellt einige neuere Befestigungen des Bosporus, unweit von der Einfahrt in das schwarze Meer, dar. Die wichtigsten Punkte sind die Forts Rumeli [218] Kawak, und Fanaraki. Ihr Kreuzfeuer aus 120 schweren Geschützen würde jedem feindlichen Geschwader, das die Passage forciren wollte, verderblich werden. Die Zahl der Geschütze der sämmtlichen Batterien und festen Punkte der Meerenge, an deren Besitz sich schon öfters die Herrschaft in zwei Welttheilen knüpfte, beläuft sich gegenwärtig auf 2100. –