In der Halle der Repräsentanten zu Washington
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In der alten Welt wogt der Meinungskampf um Principien. Die Vertheidiger der Volksrechte stehen beständig den Vertheidigern des sogenannten göttlichen Rechts, die Grundsätze der Selbstregierung jenen der fürstlichen Alleinherrschaft, die Wortführer einer aus freier Wahl hervorgegangenen Exekutive jenen der erblichen Familiengewalt gegenüber. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hingegen ist der Principienstreit längst beendigt. Durch die Revolution hat die Demokratie vollständig gesiegt. Jedermann steht auf dem Boden der unbedingten Volkssouveränität: seit 1789 anerkennen alle Parteien ohne Ausnahme den Volkswillen als die einzige berechtigte Quelle aller und jeder Staatsgewalt.
Gerade diese unbestrittene und vollkommene Volksfreiheit macht die große Republik zur Arena für das Parteiwesen. Da ebbet’s und fluthet’s, da braust’s und stürmt’s ohne Unterlaß; aber die Stürme sind nicht zerstörend, sie verwüsten und plündern nicht das Land, sie tränken die Straßen der Städte nicht mit Bürgerblut, sie bevölkern nicht die Kasematten und Galgen. Statt der Guillotine stellt man in Amerika die Stimmurne auf; statt der Standgerichte die Wahlausschüsse, und wird einer Partei von der andern der Hals abgeschlagen, so hören die Exekutirten darum nicht auf, sich des physischen und politischen Lebens zu erfreuen. In der heißesten Wahlschlacht fließt kein Tropfen Bürgerblut und der Besiegte räumt das Feld mit fliegenden Fahnen; er wartet zu, bis die Reihe zum Siegen wieder an ihn komme, denn er weiß, jede neue Wahl gibt dem Ueberwundenen neue Chancen. Keine Partei kann aber im bürgerfreien Staate durch ein anderes Mittel auf einen Triumph rechnen, als dadurch, daß sie die Gegner überstimmt, und darum wird ihre Thätigkeit beständig darauf gerichtet seyn, so viele Stimmen als möglich zu sammeln und zu werben. Die Gesetze gestatten dies durch die unbeschränkte Uebung des Vereinsrechts, daß Jeder nach seinem Belieben benutzt; denn in der Union weiß man nichts von politischer Abhängigkeit. Jeder folgt unbefangen seiner Ueberzeugung, macht dafür Propaganda und stützt sich dabei auf die Partei, welche sie ausdrückt. Ein Amerikaner ohne politische Partei ist gar nicht zu denken. Jeder hat eine und folgt ihrer Fahne.
[46] Daher jenes Schauspiel politischer Rührigkeit und Theilnahme, welches man in Ländern, wo man die Unterthanen zur politischen Apathie erzogen hat, kaum fassen kann. Mit Erstaunen sieht man die Zeichen dieser Rührigkeit über das ganze Reich verbreitet. Ob wir nach den Staaten Neu-Englands schauen, oder nach den jungen Territorien am Felsengebirge, ob nach New-York oder nach St. Francisco, ob nach Philadelphia oder nach Oregoncity, überall treten die Erscheinungen des Parteilebens gleich stark hervor. Wo die Holzaxt im Urwald an der Indianergrenze eben erst einige Stellen zur Niederlassung gerodet hat – da hören wir auch schon von Wahlversammlungen, da vernehmen wir die Stimmen der Agitatoren und Parteiführer, da sehen wir jede Meinung beschäftigt und thätig, sich zu organisiren, Anhänger zu werben und sich zu verbreiten.
Man sollte glauben, daß bei dieser freien, ungehinderten, allseitigen Meinungsthätigkeit das Parteiwesen in der Union in Atome zersplittern und in Trümmern auseinander geben müßte. – Aber gerade das Gegentheil ist Thatsache und das ist das Erstaunenswürdigste. Wie in einer ungeheuren Maschine, deren tausend umgehende Räder, Kurbeln und Getriebe in wenige einfache Manipulationen und Arbeitszwecke zusammenfallen, so einigen sich die in allen Farben schillernden Meinungen durch den streng und kunstreich gegliederten Organismus in zwei große Heerlager, welche das gesammte Volk der Freistaaten aufnehmen, wie der Vater der Ströme seine tausend und aber tausend Quellen, Bäche und Flüsse in seinem Bette aufnimmt. Die Fahne der Demokraten weht über dem einen; die der Whigs über dem andern. Einig über die leitenden Principien bildet jede dieser Parteien im entscheidenden Kampfe gegen einander einen fest und enggeschlossenen Phalanx, in dem Einer für Alle und Alle für Einen stehen. Sobald jedoch die gemeinschaftliche Gefahr überwunden und die Schlacht geschlagen ist, dann tritt jede der zahlreichen Meinungs-Fraktionen, aus denen beide Heere zusammengesetzt sind, wieder in ihr Recht der selbstständigen Verfechtung partikularer Ansichten ein, und in dem Augenblick beginnt in allen Winkeln des Landes wieder das alte Spiel des kleinen Kriegs: jenes Reiben und Ringen, das die Kraft des öffentlichen Geistes übt und stählt. Da treten die Kollektivitel – Whigs und Demokraten – vor den Namen der Parteischattirungen wieder in den Schatten, man hört wieder von Barnburners, Freesoilers, Locofocos, Natives, Abolitionisten, Secessors, Old-Hunkers etc. etc., die in ihren Organen und Versammlungen so heftig mit einander fehden, als wollten sie sich die Ohren vom Kopfe reißen. – Wer mit der Parteigliederung unbekannt ist, dem erscheint dieses Treiben ein Chaos – und erst dann wird er Ordnung und Organismus gewahr, sobald es sich um einen den Staat, oder die ganze Union, angehenden Gegenstand handelt, etwa um eine Gouverneurs- oder Abgeordnetenwahl, oder um die eines Kongreßmitglieds, oder um eine Parteimanifestation zu Maßregeln, welche für das ganze Land Bedeutung haben. Dann vergißt jede Fraktion sofort den eigenen [47] Streit, oder sie vertagt ihn, schaart sich, wie ein wohldressirtes Heer, unter das gemeinschaftliche Banner und sucht in der Uebung der strengsten Mannszucht ihre Ehre. –
Die Kraft der Parteien ruht in Amerika nicht, wie in der alten Welt, in bevorzugten Ständen, die gegen die rohe Masse des Volks eine kleine Minorität bilden. Der Einfluß der wenigen Beamten, der Kapitalisten, der größern Arbeitsgeber und Fabrikanten zählt nichts gegen die Masse unabhängiger, wenig bemittelter Bürger, deren Stimmgebung in der durch’s ganze Volk verbreiteten politischen Intelligenz die rechte Gewähr ihrer Selbstständigkeit und ihres Werthes empfängt. Das Volk der Unien ist in seiner ungeheuren Mehrzahl ein ackerbauendes Volk und wird es, so lange jeder Tagelöhner für den an seinem Wochenlohn ersparten 1¼ Dollar einen Acre des besten Bodens als Eigenthum erwerben kann, auch bleiben. Jeder Tag- und Fabrikarbeiter wird gemeinlich in ein Paar Jahren zum unabhängigen Landwirth, und von hundert Einwanderern werden es ohnedies 80 oder 90 sogleich. Die Zahl der Landwirthe muß also in viel größerer Proportion beständig fortwachsen als die Zahl der andern Stände, folglich in gleichem Verhältniß der politische Einfluß jener. Der amerikan. Landwirth ist sich dieses Verhältnisses vollkommen inne. Er fühlt seine Vollmächtigkeit – er ist sich bewußt, daß in seiner Gesammtheit der Schwerpunkt des Volkslebens ruht – und mit gerechtem Stolze empfindet er den Ruhm und daß Gedeihen der großen Republik als Etwas, das ihm eigen angehört und zu dessen Förderung und Erhaltung er beständig beizutragen verpflichtet ist. Daher nimmt er an allen öffentlichen Angelegenheiten lebendiges Interesse. Ganz der Gegensatz von unserm Bauer, der in der Regel von nichts angeregt wird, was außerhalb seines Stalls und seiner Flur vorgeht, sofern es nur seinen Beutel unberührt läßt, ist der amerikanische Landwirth (der Farmer) mit Leib und Seele Politiker. Er findet den Begriff seiner bürgerlichen Ehre darin, sich um die öffentlichen Angelegenheiten seines nähern und weitern Vaterlandes zu bekümmern, alle darauf Bezug habenden bürgerlichen Pflichten auf das Eifrigste und Gewissenhafteste zu erfüllen und zu dem Zwecke und zur Schärfung seines politischen Verstandes und Urtheils, sich in jeder zugänglichen Weise zu unterrichten. Sobald der Amerikaner sich auf seiner Farm eingerichtet und für die ersten Bedürfnisse des physischen Lebens gesorgt hat, abonnirt er auf eine, seine politische Meinung vertretende, Zeitung, bestellt wohl auch eine zweite von entgegengesetzter Richtung, um sich über die Bestrebungen feindlicher Parteien zu orientiren, und er würde sich für einen schlechten Bürger halten, wenn er sich um alle Verhältnisse seiner Township (seiner Gemeinde) nicht eben so eifrig bekümmerte, als um seine eigenen Angelegenheiten. Er fehlt bei keiner Gemeindeversammlung, wählt die Ausschußmitglieder für das Schulwesen, für Straßen- und Brückenbau; er wählt die Friedensrichter und andere Beamte; und mit den Funktionen und Pflichten eines jeden macht er sich um so gewisser und eifriger vertraut, da er beständig zu gewärtigen hat, selbst einen oder mehre Posten des mitbürgerlichen Vertrauens bekleiden zu müssen: denn alle werden durch freie Wahl, ohne Mitwissen, [48] geschweige Bevormundung von Regierungsbehörden, besetzt, und ihre Annahme und befriedigende Verwaltung ist Ehrensache für jeden Gewählten. Indem er seinen Pflichten als Wähler und Votanten, der Gemeinde gegenüber, sich nicht entziehen mag und darf, wird er ganz von selbst ein Gemeindepolitiker. Auf diesem beschränkten Standpunkte kann er indeß nicht lange verharren; denn die Gemeinde ist ein Theil eines Bezirks (der County) und er kann nicht umhin, als ein Mann, dem das Gemeindewohl am Herzen liegt, auch von seinen die Gemeinde angebenden Bezirksangelegenheiten Notiz zu machen. Er nimmt also an den Bezirkswahlen Theil und, wollte er lässig werden, so würde der Eifer seiner Freunde und Nachbarn ihn schon vor Erkältung schützen. In den meisten Staaten haben die Bezirksbeamten gewisse legislative Befugnisse; so hat z. B. im Staate New-York jeder Bezirk seine Volkstribunen als Ueberwachungsausschuß (Board of supervisors), und diese Körperschaft bildet ein Parlament im Kleinen, das zu gewissen Zeiten in dem Hauptort der County zusammentritt und die auf Finanzen, Kirche, Schulwesen, öffentliche Anlagen, Gefängnißwesen, Sanitätsverhältnisse bezüglichen Vorkommnisse ordnet. Dergleichen Aemter werden der großen Mehrzahl nach stets mit verständigen Landwirthen besetzt. Der Bezirk (die County) steht aber auch mit dem Staate in inniger Wechselbeziehung; folglich wird der Landwirth, sobald er ein Bezirksamt bekleidet, auch zum Staatspolitiker und er kömmt in häufige Berührung mit Männern, welche in seinem Staate eine hervorragende Stellung haben. Dem Strudel der höhern Politik kann er sich nun nicht entziehen, wenn er auch wollte – und hat er Geist und Charakter, so wird er emporsteigen, er mag darnach streben oder nicht. Im Staate spielt der Bankier, der Kaufmann, der Fabrikherr, der Mann des großen Vermögens in einem Ehrenamte, oder als Repräsentant häufig eine Rolle; demungeachtet überwiegt die Zahl der Landwirthe auch da, und nur die Advokaten (der geachtetste Stand in den Vereinigten Staaten), üben zuweilen großen Einfluß. Hat sich nun, in naturgemäßer Entwickelung, der ländliche Politiker allmählig in allen Verhältnissen seines Staats gründlich zurecht gefunden, so wird er sich gewöhnlich mit dieser Sphäre begnügen. Der Mann von Talent, Wissen und Ehrgeiz aber, der nach dem höchsten Wirkungskreise verlangt, welchen die Republik der Mitbewerbung aller Bürger offen hält, ein solcher bleibt nicht auf der Repräsentantenbank seines Staats, oder in einem Regierungssessel desselben sitzen: er versucht es vielmehr, den kapitolinischen Hügel der Union selbst zu ersteigen. – Es war ein langer Weg dahin; denn durchmachen mußte er vom einfachen Gemeindewähler an alle Phasen des Bürgerdienstes, er mußte alle Staffeln ersteigen im Vertrauen seiner Mitbürger und der persönlichen Geltung, er mußte durch eine lange Reihe von ausgezeichneten Diensten, dem Gemeinwesen geleistet, sich der höchsten Auszeichnung würdig machen – gleichsam wie der gemeine Soldat von der Pike an durch eine Reihe von Thaten des Muths und der Tapferkeit sich die Epauletten erwirbt. Erst als Aspirant zum Volksvertreter in der Kongreßhalle zu Washington wird er [49] der Nation bekannt. Man mag ihn in Ohio, New-York, oder in Massachussets für einen großen Mann halten; in der Union nimmt man erst Notiz von ihm dann, wenn sein Name bei der Wahl der Kongreßdeputirten auf der Kandidatenliste steht; es wäre denn, er stehe seinem Staate als Gouverneur vor, oder er habe sich in irgend einer großen nationalen Angelegenheit in einer Weise hervorgethan, welche der allgemeinsten Beachtung nicht entgehen konnte.
So erklärt es sich, warum fast nur Männer reiferen Alters die Schwelle der Repräsentantenhalle des Kapitols überschreiten; denn der Weg dahin ist kein Weg des Wahlprivilegiums; es ist ein langer, saurer Weg der Arbeit und persönlichen Opfer, auf dem das Haar wohl ergrauen mag. Es ist auch kein Weg für Leute, die, wie in manchen Ständekammern, Opposition machen gegen die Regierung, nur um recht bald in die Regierung, oder an die vollgestopfte Raufe zu kommen; auch nicht für Leute, die heute Ja und morgen Nein sagen in derselben Frage, je nach dem der Wind geht, und welche die Fahne ihrer Partei wechseln wie ein Kleid. Solche können in der Kongreßhalle des Kapitols so wenig zu finden seyn, als die Clays und Adams, die Jeffersons und Franklins im Repräsentantensaale Soulouque’s oder Napoleons III. –
Eiserne Charakterfestigkeit und unerschütterliche, hart- und langgeprüfte Ueberzeugungstreue sind zur Kandidatur für das Repräsentantenhaus der Union unerläßliche Eigenschaften, ohne welche es gar nicht möglich ist für einen Mann, und wäre er reicher als Crösus und glorioser als Cäsar, nur vorgeschlagen zu werden. Streng mit der freigewählten Partei zu gehen, und unter keinem Verhältniß von ihr zu weichen, gilt als das Unerläßliche eines ehrenhaften republikanischen Charakters. Darum ist der Amerikaner als Parteimann zuverlässig; und daß er es ganz sey, wird bei jeder Kandidatur zum Kongreß unbedingt vorausgesetzt. Ein Mann, der seine Parteifahne verläßt, ist allemal und für alle Zeiten ein verlorner Mann. Er würde, und hätte er übrigens die glänzendsten Eigenschaften des Staatsmanns und die größten Verdienste des Bürgers, nie wieder auf einer Kandidaten-Liste erscheinen, – er wäre unfähig der Ehre, auch nur Dorffriedensrichter zu werden.
Hat nun der Ehrgeizige und Patriot, wie man zu sagen pflegt, „den Sprung auf die Platform gewagt“ – d. h. ist er von seiner Partei zum Repräsentanten seines Staats im Kongreß vorgeschlagen und öffentlich auf die Kandidaten-Liste gestellt, dann hat er „das läuternde Höllenfeuer“ zu bestehen – d. h. er wird die öffentliche Zielscheibe der Geschosse der Gegenpartei, die um jeden Preis seine Erniedrigung in der Meinung und in der Wähler Achtung erstrebt, um ihn aus dem Wege zu räumen und dagegen ihrem eigenen Kandidaten den Sieg in der Wahlschlacht zu bereiten. Da ist keine Tugend zu rein und keine Charaktergröße zu erhaben für die Pfeile, mit denen die Verleumdung die Edelsten und Besten zu verwunden trachtet. Man deckt schonungslos die innersten Falten des Privatlebens auf, die Lüge legt ihre Basiliskeneier hinein, es bleibt an dem Ehrenmann kein gutes Haar – und von den [50] Rednerbühnen strömt eine Fluth von Injurien und den infamsten Insinuationen über den Mann herab, den das öffentliche Vertrauen der Nation als den künftigen Gesetzgeber bezeichnet. Wenn man in der Zeit der Kongreßwahlen die Parteiblätter liest, und nicht weiß, daß all das Feuer nur gemacht wird, um den Demokraten oder Whig von der Schwelle des Hauses „zu brennen“ – der sollte meinen, daß die Wähler beider Parteien sich das Wort gegeben hätten, die größten Dummköpfe, Spitzbuben und Schufte der Union in den Kongreß zu schicken, und daß es geflissentlich darauf abgesehen sey, durch solche Leute die Konstitution über den Haufen zu werfen, das Land zu verderben und eine Katastrophe herbeizuführen. – Und beobachtet man am Wahltage selbst das Branden und Strudeln der Volkswogen, hört den gewaltigen Lärm, sieht die aufgeregten Menschenmassen, Musik und Banner voran, durch die Straßen, jubelnd und Hurrah rufend, zu den Wahlurnen ziehen, so meint man, es werde nun los und drunter und drüber gehen. Aber nach einigen Stunden haben die Straßen wieder das gewöhnliche Ansehen; die Flaggen sind eingezogen, das Leben trägt sein Alltagskleid – die Abstimmung ist vorüber und damit die Sache abgethan. Die Verleumdung schweigt. Die Perfidie hat keine Stimme mehr. Weder am Sieger, noch am Ueberwundenen, sey er Demokrat oder Whig, haftet von all dem Schmutz, mit dem er im Getümmel der Wahlschlacht bedeckt worden war, ein Fleckchen. – Ebenso, nur in 30fach größerem Maßstabe, stellt sich die Scenerie einer Präsidentenwahl dar. Wählten dort, für das Kongreßmitglied, hunderttausende eines Staats, so ziehen hier die Millionen der Union an einem Tage zu den Stimmurnen, nicht gehütet von Gensdarmen und Sicherheitsbeamten, sondern als Bürger, die de jure den Akt ihrer Souveränität mit turbulenter Freiheit üben. Jede County schaart dann ihre Wähler unter dem Demokraten- oder dem Whigbanner, und so zieht jede Schaar zur Wahlbude und gibt ihre Stimme ab. Bei dieser Organisation wird der unermeßliche Strom der Wählerschaft in eine Menge kleine Kanäle abgeleitet, und die wählerische Agitation hat nirgends mit zu großen, leicht zur Unordnung aufzuregenden Massen zu thun. Hustings unter freiem Himmel, wie in England, wo die Volksredner Tage lang vor zahllosen Menschenmassen haranguiren, gibt’s in den Vereinigten Staaten nicht. Die vorbereitenden Wahlversammlungen werden in verschlossenen Räumen abgehalten. Große Säle, deren es zu solchen Zwecken in allen Distrikten gibt, dienen den Kandidatur-Verhandlungen zur Stätte. So wird schon lange vor der eigentlichen Wahl Alles vorbereitet, die Parteien haben ihre Kräfte gemessen, haben sich über ihren Kandidaten verständigt, und am Wahltage selbst hat der Wähler nichts weiter zu thun, als dem festlichen Aufzuge seiner Partei sich anzuschließen und in die Urne seine Stimme niederzulegen.
Bei den Kongreß- und Präsidentenwahlen sind allemal nur zwei Banner und Parteien sichtbar: Whigs und Demokraten. Es verschwinden bei dieser Gelegenheit alle politischen Schattirungen, sammt den Namen, die sie bezeichnen. Es ordnet sich dann das scheinbare Chaos des amerikanischen Parteiwesens; [51] es wird Organisation, System, Methode kenntlich. Die Parteien formiren sich zu den beiden Phalangen – Whigs und Demokraten – lokale Abneigungen und alle partikularen Bestrebungen schweigen; es wird klar, wie alle Parteien in den großen nationalen Fragen ihre Pfahlwurzeln haben, wie jeder Zweig seinen Saft vom Stamm erhält, dem er angehört. Was man in Europa zuweilen von südlichen und nördlichen, von östlichen und westlichen Parteien fabelt, ist Wahn. Es gibt keine geographischen Trennungslinien, keine nördliche oder südliche Politik. Es gibt Freihändler, Freesoilers, Schutzzöllner, Noninterventionspolitiker etc. in allen Theilen der Union; es gibt im Norden sogar viele Männer, die keine Gegner der Negersklaverei sind. Die feste Burg der Sklaverei ist aber allerdings im Süden, wie die Abolutionisten ihre Stärke im sklavenfreien Norden haben; Freunde und Gegner der Einen wie der Andern sind jedoch überall, und mit den großen Parteinamen Whig oder Demokrat stehen sie nicht in nothwendiger Beziehung.
Diese beiden Hauptparteien, welche in allen Fragen von nationaler Bedeutung allein den Ausschlag geben, haben vielmehr nur in der Unionsverfassung Ursprung und Halt, und eben deshalb ist Jeder in den Vereinigten Staaten entweder Whig oder Demokrat. Das Maß der Souveränität, welche jedem Einzelstaate, der Gesammtheit des Bundes gegenüber, zuzurechnen sey, das war der ursprüngliche Streitpunkt, der die beiden Parteien schuf, und das nährt sie bis auf den heutigen Tag. – Die Whigs sind so gute Republikaner, wie die Demokraten – beide stehen fest auf dem Boden der demokratischen Verfassung und der bürgerlichen Freiheit und beide wollen niemals etwas Anderes. Aber die Whigs betrachten sich als Träger des konservativen Princips in dem Verfassungswerke – sie wollen keine Schwäche der Föderalgewalt zu Gunsten der Souveränität der Einzelstaaten, sie streben beständig einer weitern Decentralisation entgegen, weil sie sie für die Dauer der Union und ihre Machtstellung nach Innen und Außen Gefahr bringend halten. Die Demokraten ihrerseits suchen beständig den Einzelstaaten ein größeres Maß von Selbstständigkeit und Willensfreiheit zu vindiciren. Sie fühlen sich beengter in den Banden der Föderalverfassung, als sie glauben, daß es gut sey. Sie vereinigen das feurigste Yankeeblut unter ihrem Banner, das die ganze Welt der Republik erobern möchte und die Freiheit in Handel und Gewerben, in Schifffahrt und andern nationalen Beziehungen unverkümmert obenan gestellt wissen will. In der Demokratie sind alle Männer des „Go a head“ vereinigt: des „Immer zu! Immer drauf!“ Die Whigs hingegen vertreten vorzugsweise das Kapital, die Interessen des großen Erwerbs, der heimischen Fabrikation, der Eisenbahnen, der Kanäle, der Banken und eine vorsichtige, kluge, auf Erhaltung des Friedens gerichtete Politik nach Außen. Sie treten, möchte man sagen, vornehmer, diplomatischer auf, als jene, und fügen sich den im internationalen Verkehr hergebrachten Formen williger. Die demokratische Partei hingegen hat in dieser Beziehung ein viel rauheres Gepräge. Sie macht sich wenig Skrupel in der Politik, verfolgt ihr Ziel [52] auf kürzestem Wege, stellt, ohne Heuchelei und ohne Verlarvung, das amerikanische als das eigene Interesse stets keck in den Vorgrund und kümmert sich wenig oder nichts um das Urtheil und die Ansichten der übrigen Welt. Sie ist sich der Machtstellung ihrer Nation vollbewußt und vom Vorgefühl durchdrungen, sie sey zur Erlösung der übrigen Welt von Alleinherrschaft und Absolutie, wenn nicht zur Weltherrschaft berufen. Dies macht sie stolz, ruhmredig, herausfordernd; sie setzt sich hinweg über die konventionellen Schranken der Sitte und der Höflichkeit, ja, sie findet viele Formen der europäischen Gesellschaft ungenießbar oder lächerlich. Freier, offener, großmüthiger, weitherziger als der Whig, gilt dem Demokraten die Demokratie selbst als das Höchste, als das dem Staate, wie dem Bürger, Ersprießlichste; er macht mit Eifer und Hingebung Propaganda für seine Partei und ihre Grundsätze nicht weniger um ihrer selbst, als um seines Vortheils willen. Ja, er würde den Demokraten selbst dem Amerikaner vorausstellen, wenn er sich beide nicht als Eins dächte: jedenfalls stellt er den Gentleman beiden nach. Unter der Fahne der Demokratie schaaren sich viele der größten Talente, die feurigsten, fähigsten Köpfe, die reichten, edelsten Geister; aber auch die rohesten der Volkselemente und der ganze Janhagel der Union. Ihr gehören all die Abenteurer und Tollköpfe, welche durch Dünn und Dick gehen, ohne viel nach Recht und Gesetz zu fragen; in ihrem Schooße werden die Pläne geboren für Krieg und Eroberung auf eigene Faust; dort brüten die Geister die Wiedergeburt des Flibustierwesens aus, um fremde Länder mit tollkühnen Freischaaren zu ergattern; dort rathet die permanente Verschwörung bei hellem Tage, welche das Feuer des Aufstandes schürt überall, wo sie Brennstoff aufgehäuft, Unterdrückung und Knechtschaft findet. – Aber beide Parteien – Demokraten und Whigs, – sind patriotisch durch und durch; und so verschieden auch ihr äußeres Wesen sich kund gebe in vielen Dingen, – so stehen doch beide unabänderlich und unerschütterlich auf demselben Boden: der Unionsverfassung. Ueber wirklich fundamentale Dinge ist zwischen ihnen kein Streit, keine abweichende Meinung berührt das Leben des Gesammtstaats, – die Verfassung gilt der einen, wie der andern Partei als ein heiliges, unantastbares Gut, und wo immer in der Hitze des Streits die eine aus dem rechten Geleise weichen will, wird sie von der allmächtigen öffentlichen Meinung alsbald in dasselbe zurückgeführt. Es ist gleichsam ein Dogma in dem politischen Glauben aller Amerikaner ohne Unterschied, daß die Unionsverfassung die Mutter und Quelle ihrer beispiellosen Wohlfahrt, ihres Wachsthums, ihrer Größe und Macht sey, durch welche sie die Völker und Fürsten der alten Welt mit Erstaunen, Hoffnung und Furcht erfüllen. Wenn alle Parteien in tödtlichem Hader unter einander befangen scheinen, vereinigt sie der Ruf: „The Constitution for ever!“ unfehlbar wieder. – Das eben unterscheidet das amerikanische politische Leben so vertheilhaft von jenem in den europäischen konstitutionellen Monarchien, in welchen, sey es von den Fürsten, sey es von den Landständen, auf eine [53] Weise an den Verfassungen herumexperimentirt wird, welche zeigt, daß noch gar kein fester Boden vorhanden ist, auf welchem irgend wer sich wohl oder sicher fühlen könnte. –
Und nun schüttele den Staub von Deinen Füßen und lasse es Dir gefallen, daß ich Dich in das Kapitol und in die Halle der Repräsentanten führe, wo zwar kein Thronsessel, aber ein Altar der Freiheit steht, an dem die Weisen und Helden, ein Washington, Franklin, Jefferson und Madison als Oberpriester dienten.
Die allgemeine Beschreibung des Kapitols, von der äußern Ansicht desselben begleitet, ist im 1. Bande meines Buchs (S. 57) zu lesen. Die Repräsentantenhalle befindet sich im südlichen Flügel. Es ist ein halbkreisförmiger Saal mit gewölbter Decke, der sein Licht durch eine Reihe hoher Bogenfenster empfängt. Im Fond des Halbzirkels befinden sich die Bänke der Volksboten. Sie sind gegen die Tribüne des Sprechers (des Präsidenten) gerichtet, vor der eine Tafel steht, an welcher die Sekretäre sitzen. Hinter der Tribüne, und zur Seite derselben, getragen von Säulen korinthischer Ordnung, ist die Gallerie der Zuhörer.
Wir steigen die Freitreppe am östlichen Portico hinan. Noch hat die Sitzungsstunde nicht geschlagen. Wir haben Zeit, die Aussicht von der Platform zu genießen. Zu unsern Füßen ist der Kapitolplatz (Capitol-Square) mit seinen großen Gebäuden, und aus dessen Mitte läuft in schnurgerader Richtung die prächtige Kapitolstraße 2 Meilen lang fort, während nach rechts und links, fächerförmig, andere Straßen ausgehen. Die prächtigsten derselben sind die Avenuen von Pennsylvanien und Maryland, welche, bei einer Breite von 150 Fuß und einer Länge von mehren Meilen, mit den schönsten Anlagen in Paris, Berlin und Petersburg wetteifern können. Der Potomac, welcher seine Wogen seeartig ausbreitet, bespült die Stadt in Ost und Süd, und jenseits der spiegelnden Fluth findet das Auge einige mit Landhäusern und Gartenanlagen bedeckte Hügel als Ruhepunkte, nordwärts aber umrahmen die blauen Gebirge von Blue-Ridge die Vista. Breite Kanäle durchziehen die Stadt und tragen Boote und Schiffe. Die Eisenbahn von Baltimore mündet auf der Pennsylvania-Avenue unweit des Kapitols und fünfzehn Telegraphendrähte, die nach allen Richtungen fortgehen, sind beständig in Bereitschaft oder in Thätigkeit, um an das Ohr des Volks jedes bedeutende Wort zu tragen, welches aus dem Munde seiner Boten geht. Das ungeheure Gebiet der Freistaaten hat im Kapitol den föderalistischen Mittelpunkt. Hier ist der Hauptsitz des Gesammtlebens, hier fühlt man seinen Herzschlag und hier wird die Einfachheit eines Staatsorganismus klar, der seine Festigkeit, Dauer, Zweckmäßigkeit und Lebenskraft über jegliche Erwartung bewiesen hat.
Die Zeit der Sitzung kommt heran und die Scene wird belebter. Es sind meistens ältere Herren, in gewöhnlicher anspruchsloser Kleidung, welche die Freitreppe des östlichen Portals hinaufsteigen und durch die Pforte, welche zur großen Rotunde führt, ins Innere treten. Die meisten kommen zu Fuß, andere in Fiakern, manche auch in einspännigen Cabs, die sie selbst führen. Man sieht keine Karossen mit buntfarbigen Wappenschildern und goldgestickten [54] Jägern und Lakaien; keine Orden und Sterne; keine Neugierige; keine Sicherheitsbeamten, die auf jede Bewegung der Gaffer und Begafften achten; keine Wachen an den Pforten; keine Gendarmen auf dem Platze; keine Uniform in der ganzen Umgebung. So anspruchslos und einfach, so alltäglich, ruhig und still ist’s vor dem Kapitol, wie auf den Straßen des stillen Washingtons. Das Bürgerthum der großen Republik ist keine Phrase; es trägt das Bürgerkleid überall und kennt kein anderes.
Wir folgen einem Abgeordneten durch die Rotunde, in welcher die Statuen der großen Männer der Union von ihren Piedestalen herab ernst und mahnend auf die Vorübergebenden schauen, und treten durch eine Flügelthür in den Korridor, an dessen Ende eine Treppe ist, die zur Gallerie führt. Die Gallerie ist die Glanzpartie des Hauses. Die geschmackvolle Anordnung, die geräumigen und bequemen Sitze lassen den Eintretenden sogleich erkennen, daß das Publikum hier für Etwas mehr gelte, als die Zuhörerschaft einer deutschen Ständekammer. Die Gallerie ist gewissermaßen die Loge des Souverains – des Volks.
Die Anordnung im unteren Räume des Saals, wo die Repräsentanten versammelt sind, ist so zweckmäßig, wie einfach. Die Sitze sind von braunem Holz, gepolstert, alles Schmucks bar. Der Fußboden ist mit Teppichen belegt. Gleichwohl wird uns diese Rotunde so ehrwürdig erscheinen, als die Thronsäle der mächtigsten Herrscher und Könige; denn hier hat die feste Bürger-Hand die Geschicke eines großen Reichs, mit Weisheit und beispiellosem Erfolg geleitet. –
Die Bänke haben sich allmählig gefüllt. – Der Sprecher des Hauses besteigt die Estrade und läßt sich auf seinem Sessel nieder. Es ist ein frischer Greis; milder Ernst sieht aus seinen blauen Augen und um die vom Nachdenken gefurchte Stirn spielen dünne weiße Locken. Seine grobknochigte Rechte hält ein Papier. Er erhebt sich. Schweigen herrscht in der Versammlung. Die Sitzung ist eröffnet.
Eine Frage der äußern Politik steht auf der Tagesordnung des Kongresses. Der Präsident nennt einen Namen. Am Ende einer der vorderen Bänke richtet sich ein Mann auf – er scheint ein rüstiger Sechziger zu seyn, – eine breitgeschulterte, stämmige, kräftige Figur mit gutmüthigem Ausdruck, einen Zug feiner Satyre um die Winkel des vollen Mundes. Es ist General Caß, als Partiot wie als Redner gleich geehrt. Er spricht gegen die Uebergriffe der Engländer auf der Musquitoküste und schließt seine Philippica mit dem energischen Rath, ein Paar Fregatten abzusenden und sie hinaus zu werfen. „Was hat die Regierung dieser Republik gethan, zur Wahrung ihres Grundsatzes, keine neue Niederlassung der Europäer auf unserm Kontinent zu dulden? Sie antworte!“ Sie läßt sich’s nicht zweimal sagen. Von der Bank gegenüber erhebt sich ein schlichter ältlicher Mann, dem Ansehen nach ein Farmer. Arbeit, Sorge und Jahre haben sein Gesicht in Falten gelegt; aber unter seinen buschigten, dicken Brauen blitzen ein Paar Augen, welche Schärfe des Verstandes und Leidenschaft zugleich verrathen. Humor und Spott liegen um seinen [55] breiten Mund und die hochgewölbte Stirn kennzeichnet den fertigen Denker und den umfassenden Geist. Webster ist’s, der Minister des Auswärtigen. Er rechtfertigt die Handelsweise der Regierung in einer glänzenden Rede aus dem Stegreife; er äußert sich über die internationalen Verhältnisse mit einer Freimüthigkeit und Offenheit, vor welcher die Diplomaten der alten Schule erblassen würden. – Ihm folgt ein Greis, eine hagere, ernste Gestalt, um deren Haupt ein Paar spärliche, weiße, glatt herabgekämmte Haarlocken wehen. Das ist Henry Clay, der Mann des Südens, der Nestor der großen Staatsmänner der Republik, der Freund Washingtons und Jeffersons. Der große Kentuckyer ist unstreitig das erste Rednertalent: aber mehr als das hat ihn in der Achtung seines Volks und der Zeitgenossen seine politische Weisheit, sein Patriotismus und seine seltene Uneigennützigkeit gehoben. Die Kandidatur der Präsidentenwürde lehnte Clay allemal ab. Es ist etwas Ehrfurchterweckendes in seiner Erscheinung. So müssen die strengen, großartigen Gestalten des republikanischen Roms gewesen seyn, die ruhig den Feind und den Tod auf ihren Sitzen erwarteten[1]. – Wer ist aber der lebhafte Rundkopf dort mit dem struppigten Haar und dem Knebelbart à la Haynau, der jetzt aufsteht? Scott, der Held von Buena-Vista ist’s, das erste militärische Talent der Union. Scott war bei der letzten Präsidentenwahl der Kandidat der Whig-Partei, welche, nach langem Schwanken zwischen ihm und Webster, fast alle Stimmen auf Scott vereinigte. –
Es sind der Männer noch viele im Kapitol des westlichen Roms, welche der Amerikaner mit Stolz seine Repräsentanten nennt; aber was nützte es, wenn ich sie Euch alle zu zeigen wüßte! Nicht die einzelnen Menschen sind’s, die unser tiefes Interesse erregen; das Große ist’s, die Gesammtheit, wie es die aufgehende Sonne, nicht der einzelne Lichtstrahl ist, was und entzückt: – die Sonne, welche den jungen Tag weckt, das Treiben des Lenzes schafft und unser Gefühl zur Bewunderung des Schöpfers und zur Anbetung leitet. –
Wer ist’s, der sich der Theilnahme wird enthalten können, wenn er unbefangen vor diesem Staatsbau steht, wo die Ebenbürtigkeit unter allen seinen Bürgern waltet, wo aller Unterschied der Stände aufgehört hat, wo alles Vorrecht dem Verdienste gewichen ist, wo die Selbstregierung der Gemeinde Wahrheit ist und ein Fundament der Selbstregierung für den ganzen Staat? – Wer kann sich des Beifalls enthalten bei Betrachtung eines Staatsgebäudes, das der Instinkt der Freiheit und Vernunft aufgeführt hat mit einer Einfachheit und Folgerichtigkeit, die nicht vollkommener gedacht werden kann? eines Staatsgebäudes, sage ich, we keine Spur zu finden ist von einem besondern Recht und Privilegium, wo kein einheitlicher Bundesstaat durch Centralisation die Freiheit würgt, sondern ein Staatenbund besteht, in welchem das Streben jedes Einzelstaats, seine Souveränität neben der Obergewalt [56] der Föderation zu wahren, die Waffen der Freiheit beständig übt, und wo jeder einzelne Mensch im Staate die möglichste eigene Unabhängigkeit fest behauptet? – wer kann, sage ich, ohne die lebhafteste Theilnahme diese große Republik betrachten, die ächtbürgerlicher Natur, nicht aufgebaut scheint nur für ein Land und ein Volk, sondern für die ganze neue Welt?
Ich kann diesen Aufsatz nicht schicklicher endigen, als mit dem Schluß der Abschiedsbotschaft, welche der Präsident Fillmore an den Kongreß am 6. December v. J. richtete. – „Wir erfreuen uns“ – sagt er, – „der Segnungen einer freien Regierung, und kein Mann, der ein amerikanisches Herz im Busen trägt, würde seine Freude verhehlen, wenn diese Segnungen auf alle andere Völker ausgedehnt würden. Wo irgend der Unterdrückte mit seinem Bedränger kämpft, da ist allemal unsere innigste Theilnahme dem erstern gewiß und wir wünschen ihm auf’s Lebhafteste den Sieg. Wenn wir demungeachtet, vom Anbeginn unserer Republik bis auf den heutigen Tag, uns grundsätzlich von aller Einmischung in die innern Angelegenheiten anderer Völker fern gehalten haben, so ist die Folge davon gewesen, daß unser Land seine friedliche Bahn zu Gedeihen und Wohlfahrt ohne Beispiel fortwandelte, während Europa in verheerende Kriege und in alle Leiden, bald des Despotismus, bald der Anarchie, verwickelt war. Jetzt, wo uns Europa, vermöge der Dampfschifffahrt, bis auf wenige Tagereisen näher gerückt ist, müssen wir nothwendig seinen Bewegungen größere Aufmerksamkeit schenken; aber so wenig wie der Rath weise seyn würde, daß wir Brüderschaft mit Potentaten machen sollen, um das „Gleichgewicht der Macht“ aufrecht zu halten, so wenig wäre es verträglich mit dem Grundsatz der internationalen Gerechtigkeit und staatsmännischer Weisheit, unsern Arm zu erheben in der Absicht, die Monarchien in Europa umzustürzen und an ihrer Statt republikanische Staatseinrichtungen einzuführen. Möge uns Frankreichs Beispiel als eine Warnung dienen! Nicht Revolutionen allein, am wenigsten aber solche, welche fremde Waffen unterstützen, führen die Völker zur Freiheit. Erinnern wir uns, daß unsere eigenen freien Staatseinrichtungen, welche uns so glücklich machen, auch nicht bloß Kinder unserer Revolution sind. Sie hatten – mögen wir dies nie vergessen! – ihre Wurzel in den Freibriefen, bei denen die englischen Kolonien in der Selbstregierung erwuchsen, und unsere Revolution befreiete uns nur von dem ausländischen Königthum, ale dessen Regierung unsern freien Einrichtungen nicht mehr entsprach. Bis die europäischen Völker für die Selbstregierung geschult sind, muß, glaube ich, wie bisher, so auch jede künftige Anstrengung, dieselbe durch blutige Revolutionen zu erringen, mißlingen. Wenn die Freiheit nicht nach ihren Rechten und Pflichten von den Völkern klar und deutlich erkannt ist, und der gesetzlichen Regelung, übereinstimmend mit den Volksbegriffen, entbehrt, schlägt sie in Anarchie um, der allemal die scheußlichste Despotie nachfolgt. Unsere eigene politische Aufgabe bleibt es daher, uns selber weise zu leiten, [57] und beständig solch ein Beispiel nationaler Gerechtigkeit, allgemeiner Wohlfahrt und wahren Ruhms zu geben, daß andere Nationen daran die Segnungen der Selbstregierung, die Macht und Kraftentwickelung, welche eine solche ermöglicht und das unvergleichliche Gedeihen eines wahrhaft freien Volkslebens erkennen und den langen Weg voll Mühe und Selbsterziehung nicht scheuen, der uns dahin geführt hat“.
„Die Union durchlebt jetzt eine Periode des Fortschritts, wie er in der Weltgeschichte ohne Beispiel ist. In dem abgelaufenen halben Jahrhundert hat sich die Anzahl unserer Staaten nahezu verdoppelt, die Volksmenge sich vervierfacht, das Nationalvermögen ist um weit über das Zehnfache vergrößert und unsere Grenze vom Missippi bis zum Stillen Ocean gerückt. Unser Gebiet, an natürlichen Schätzen so unermeßlich reich, und mit allen Mitteln für den Erwerb und für den Comfort des Lebens gesegnet, ist mit einem Netz von 17,000 Meilen Eisenbahnen durchzogen und wird von 4000 Meilen Kanälen durchfurcht, 2500 Dampfschiffe bedecken unsere Ströme, unsere Seen, alle Meere; unsere Segelflotte ist an Zahl und Trächtigkeit die erste der Welt geworden. Die erfinderische Begabung in unserm Lande ist auf’s Höchste gespannt, und die zahlreichen Gesuche um Patente für wichtige Entdeckungen und Verbesserungen in allen Gebieten der angewandten Wissenschaft zeichnen das große Volk vor allen andern aus. Der Genius eines Amerikaners hat es den Menschen ermöglicht, gegen Wind und Wellen zu steuern, der Geist eines andern hat für die Mittheilung der Gedanken den Raum vernichtet. Das ganze Land ist voll der kühnsten Unternehmungen, gegen welche die Wunder der alten Welt ganz verschwinden. Unsere Schulen gewähren die Fülle des Unterrichts dem ganzen Volke, welches in der Intelligenz Aller den stärksten Hort der Freiheit sieht, unsere Betriebsamkeit häuft den Luxus und die Bequemlichkeiten des Lebens zusammen, und unser Reichthum, das Produkt unsers rastlosen Fleißes, gibt die Mittel her, es zu verschönern und zu veredeln“.
„All dies überschwängliche Wohlergehen verdanken wir allerdings zum Theil unserer eigenthümlichen Lage, unserm fruchtbaren Boden, unserer verhältnißmäßig noch dünnen Bevölkerung. Aber das Meiste kommit – das wissen wir Alle, – doch auf Rechnung der volksthümlichen Staatseinrichtungen, unter denen wir leben, auf Rechnung der wohlfeilen, scharf kontrollirten Selbstregierung, die nichts vergeuden kann von dem Vermögen des Volks zu läppischen, unnützen, oder volksfeindlichen Zwecken; es kommt auf Rechnung des Umstandes, daß Jeder seine Fähigkeiten zu ehrlichem Erwerb und Fortkommen ganz ungehindert gebrauchen kann, daß Jedermann seine Freiheit, sein Eigenthum, seine Person, der Staatsgewalt gegenüber, gesetzlich und vollkommen sicher gestellt weiß, und Jedermann der Ueberzeugung voll ist, daß seine Regierung, die er selbst gemacht hat, überall gleichen Schritt mit den Wünschen, Interessen und Fortschritten des Volks hält und halten – muß. Und so mögen Sie mir, nahe dem Tage, wo ich die Macht und Gewalt, die das Volk mir als den ersten Magistrat dieser großen Republik zuerkannt hat, in die Hände zurückgebe, aus denen ich sie empfangen, und ich wiederkehre in den Kreis des Bürgers und meines stillen [58] Hauses, – es erlauben, daß ich Ihnen zu der beneidenswerthen Lage unseres geliebten Vaterlandes Glück wünsche. Mit der ganzen Welt leben wir in Frieden. Die Welt achtet unsere Rechte. Unsere hohe Stellung im Kreise der Völker wird uns willig zugestanden. Ja – wir dürfen es wohl ohne Ueberhebung sagen – die Summe der Wohlfahrt, die wir genießen, ist schwerlich jemals einer andern Nation zu Theil geworden. Und es ist nicht das Geringste, daß wir hinzusetzen dürfen: – nicht bloß die Bürger dieses Staats erfreuen sich dessen, sondern auch die Menschheit: – denn geöffnet sind die Pforten unseres Reichs allen Bedrängten und Verfolgten dieser Erde als eine unantastbare Zuflucht, und dem Wanderer aus der alten Welt, deren Menschenströme sich von Jahr zu Jahr mit immer höher schwellenden Fluthen in die neue ergießen, zeigen sie sich als die Schwelle einer neuen und glücklicheren Heimath“.
Welcher unter meinen Lesern fühlt nicht den schneidenden Gegensatz dieser „präsidentvollen Thronrede“ – mit den Zuständen und der Lage mancher andern Reiche – wie wird ihm dabei zu Muthe? – Dem Jahre 1852, „dem Jahre des rothen Gespenstes“, das keine einzige seiner Vorhersagungen erfüllt hat, ist ein anderes gefolgt, und neue Schreckbilder der Zukunft ängstigen das kaum beruhigte Geschlecht. Bleich und aufgeregt, als wäre ihm der Geist Banquo’s erschienen, raunt es sich seine Besorgnisse einander zu, während die officiellen und officiösen Zuversichtsprediger aller Orten beflissen sind, die Furcht zu verscheuchen, welche sich der Gemüther bemächtiget. Was kann es nützen? Trotz Aller Zusprache, begreift die instinktartige Furcht der Menschen das Drohende der Situation, welches anzuerkennen der politische Verstand sich vergeblich sträubt. In der Stellung der Mächte zu einander, in der Unruhe der Massen, in den Zahlen der Budgets, in den beständigen Rüstungen, in der unheimlichen, geheimnißvollen Thätigkeit der Kabinette, in der wachsenden Spannung aller Verhältnisse, in der Gereiztheit der entscheidenden Persönlichkeiten und in so vielen Ereignissen und Erscheinungen, deren Bedeutung der Beobachtung nicht entgeht, gibt sich der tiefe Ernst der Lage vollkommen zu erkennen, und die erzwungene Miene von Zuversichtlichkeit, die sie in gewissen Kreisen verschleiern soll, ist keineswegs geeignet, alle Besorgnisse zu zerstreuen. – –
- ↑ Webster und Clay sind seitdem beide geschieden, und noch trauert das Volk um die großen Bürger.