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Ivrea (Meyer’s Universum)

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Am San Croix-River in Minnesota Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band (1852) von Joseph Meyer
DCLXXIII. Ivrea
DCLXXIV. Der Kufstein und sein Thal
  Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
[Ξ]

IVREA
(Italien)

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DCLXXIII. Ivrea.




Im Vorhofe Italiens! Daß ich doch sagen könnte: „auch ich habe ihn betreten!“ Es war mir nicht beschieden. Sehnsüchtig blickte ich schon als Knabe nach dem hesperidischen Lande und das Verlangen nach demselben hat den Jüngling und den Mann auf allen Pfaden und durch alle Wetter und Stürme des Lebens beständig begleitet. Vergebens. Ich habe nie den südlichen Himmel gesehen. Meine Brust wird in Staub zerfallen, wie Jean Pauls, ohne daß sie die Wonne eines Athemzugs voll Blüthenduft des gelobten Landes empfunden hat. Mein Fuß wird nie unter Ulmen wandeln, die Reben umwinden, mein Auge wird nie die ewige Roma schauen mit ihren Tempeln, Palästen, Rennbahnen, Obelisken und Aquädukten, oder die Aloe blühen sehen auf den cyclpischen Gemäuer der griechischen Vorwelt, und ehe mir die Fackel des Vesuv’s in den Straßen von Herkulaneum und Pompeji leuchten kann, wird die Fackel meines Lebens erloschen seyn. Der Vatikan, das Museum Borbonicum die Paläste in Venedig, Florenz und Genua bleiben mir verschlossen mit ihren ewigen Schätzen, die erhabenen Gestalten der Religion, die aus den Kuppeln der Dome herniederschauen, lassen mein Herz ungerührt. Ischia, Syracus, Catania, Palermo, Namen eines Paradieses, das die Sterblichen entzückt, wecken nur Wünsche, die unbefriedigt bleiben. Nicht in meinem irdischen Auge, im Spiegel meines Geistes allein reflektiren sich die Bilder aus dem Lande meiner Sehnsucht und meine Phantasie ist verurtheilt, in den Schildereien die Farben aufzutragen, zu denen Andere die Umrisse fertigen.


      „Italien!
Dorn und Blüthe für mich in einem Worte;
Wonne und Qual in einem Gedanken,
     Italien!
O du bist schön! – Wie die Jungfrau
Im ländlichen Quell ihren Brautschmuck,
So in zwei Meeren spiegelst du lächelnd
Unvergänglicher Anmuth blühenden Reiz.
O du bist schön! Von des Sankt Bernhards
Zackigtem Felsstieg bis zum Reben-umrankten
Ivrea; von dem heitern Como;
Von Isola bella’s duftenden Hainen,

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Von Genua’s hochgethürmten Gestaden,
Von Venedigs Marmorpalästen in blauer Fluth,
Von Florenz bis zum ewigen Rom.
Schön bist du, schön in Neapels
Blühendem Golf, in Tasso’s grünem Sorrent,
Schön in der Lava deines Vesuv,
In deines Aetna schneeigem Gipfel,
In deiner Scylla Geheul, deines Tivoli Fall,
Schön bist du, Italien!
Und sie strömen herbei, die Pilger Europa’s;
Der schweigsame Brite, Rußlands goldner Sklav’,
Zierliche Frankenknaben, gelassene Deutsche,
Ungarn’s freiheitsglühend Geschlecht,
Nordlands blondhaarige Söhne;
Und sie küssen deine heilige Erde,
Und staunen dich an.
Begeisterung saugt der Dichter von deinen Brüsten,
Farben der Maler von deinen Fluren,
Formen der Bildner aus deinen Gestalten;
Und Ein Schrei steigt von allen Lippen:
Ein Himmel, Ein Italien!“ –
Ich aber in schweigender Zelle
Bei mitternächtlicher Ampel, einsam,
Ich wende seufzend die Blätter,
Die mir sagen, wie du schön bist;
Ich wende schaudernd die Blätter
Deiner Vergangenheit; von Roms Grundstein,
Der Remus’ Blut getrunken; von Sulla’s
Aechtungen, Oktavianus Aechtungen,
Nero’s Greueln, Domitians Wüthen,
Caligula’s Wahnsinn: – von den rauchenden Wellen
Eines Meeres von Verbrechen und Blut!

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Hörst du den Donner des Herrn? hörst du
Sein Urtheil?Thränen für Blut!
Sündfluth der Völker wälzet sich brausend
Ueber dein blühend’ Gefild
Fort und fort. Du, die Herrscherin
Einer eroberten Welt, beugest dich,
Dienstbar den Fremden, als Magd
Unwillig, flüchtige Freiheit kostend; doch immer
Gezwängt von Neuem ins Joch, weil niemals
Du einig, immer zersplittert,
Nie Ein Athem, Ein Pulsschlag, Ein Leben,
Nie Ein Volk, Ein Italien!

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Und dennoch – Heil dir, Italien!
Steht an den Blättern des Weh’s
Der Seegen am Rande geschrieben:
Deine Griechen, dein Brutus,
Deine ewigen Künstler, dein kluger Horaz,
Dein mächtiger Dante, dein heit’rer Ariost,
Patrark und Tasso, die Sänger,
Dein Rafael, dein Buonarotti
Leonardo und der Grazien Maler,
Titiano; Cellini; Canova;
Galilei; Ganganelli, der Hohe;
Und dein Riese, der Prometheus,
Angeschmiedet an Helena’s Fels. –
Mag die Fluth dich verschlingen,
Dich verzehren die Lava deiner Vulkane,
Nimmer verdorret dein Lorbeer
Großes Italien!

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Du bist schön, Italien,
Schön in deiner Wehmuth und Trauer,
Schön in den Trümmern deiner Roma,
In deiner Pompeji rührenden Resten,
Deiner Größe Erinnerung;

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Schön im üppigen Grün deiner Haine,
Schön im azurnen Blau deines Himmels,
In deinen Fluren nie sterbendem Frühling;
Schön im Madonnenreiz deiner Frauen,
In deiner Jünglinge Antinousschönheit. – Ja,
Du bist schön, Italien!
Du aber lächelst und sprichst:
Germanischer Träumer, was preisest du mich,
Deß Aug’ mich nie schaute? Was tadelst du mich,
Deß Fuß mich nie betreten? Schweige,
Bis mein Hauch dich umwehte,
Bis dein Aug’ mich gesehen!“


Auf halbem Weg von Turin nach Arona, vor dem mächtigen Felsthor der penninischen Alpen, anf einem Terrain, das, von Schluchten und von den Rinnsalen reißender Wildbäche durchfurcht, zur Vertheidigung geschickt ist, stand zur Zeit der Cäsaren das starke Eporea. Zwei Legionen hüteten dort die reiche, mit Städten übersäete Ebene des Po vor den Einfällen der rhätischen Bergvölker, welche das allgewaltige Rom so wenig zu zähmen wußte, als Rußland des Kaukasus heldenmüthige Söhne. Eporea, zugleich Municipalstadt und Waffenplatz, bedeckte mit seinen 2 Castren und ihren Außenwerken einen Flächenraum von mehren Miglien. Nachdem der große Geist Roms unter dem entnervenden Despotismus der Kaiser zu Grunde gegangen war, als die Muth der Barbaren die Grenzen des Reichs verwüstend und verheerend überströmte, theilte Eporea das Schicksal des ganzen Landes. Seine Vesten wurden erstürmt, die Legionen erschlagen, die Mauern gebrochen, und in den nachfolgenden Zeiten der Verwirrung erlag die Stadt mehrmals der Verwüstung durch Feuer und Schwerdt. Schon die Horden des Atila fanden Eporea als Trümmerhaufen.

Erst in der Zeit der Carolinger erstand auf den römischen Ruinen ein neuer Ort, der, anfänglich klein, wegen seiner günstigen Lage, auf dem Kreuz zweier Handelsstraßen, sich schon im neunten Jahrhundert zur Stadt erhob. Ivrea hat gegenwärtig 9000 Einwohner. Der lebendige Transit und der Handel mit Produkten der umliegenden fruchtbaren Gegend geben ihm ausreichende Erwerbsquellen.

Die Stadt, obschon häßlich, hat ein pittoreskes Ansehn. Die meisten Gebäude ruhen auf römischem Gemäuer, das die Wände der Schluchten krönt und so unverwüstlich ist, als der Fels, auf dem es steht. Brücken über die Schluchten verbinden hie und da die Häuserreihen, und steile, in den Fels gehauene Treppen führen hinab zu dem brausend und schäumend der Ebene zueilenden Bergstrom. Obschon der Sitz eines Bischofs, und mit Kirchen und Klöstern reichlich gesegnet, hat doch Ivrea kein einziges Gebäude, das wegen seiner Größe und Bauart oder um seines Kunstschmuckes willen, die Mühe des Sehens oder Beschreibens lohnte; aber auf jedem Schritt gewahrt man die Fußtapfen der alten Weltbezwingerin. Das Blut der Römer und Barbaren hat jede Hand voll Erde [42] getränkt, und der Staub, den der Wanderer von den Füßen schüttelt, ist Staub von Helden und er erzählt ihm von Kämpfen und Thaten. Wenn du Geister zu beschwören verstehst, so steigen die Rhätier, die Cimbern und Teutonen, die Vandalen und Gothen, die nach einander diese Straße zogen und am Thore Italiens unzählige Schlachten schlugen, aus ihren Gräbern, du hörst das Rauschen ihrer Waffen, das Brüllen ihres Kriegsgesangs, das Rasseln ihrer Streitwagen. Wie viel Verwünschungen ruhen auf diesen Feldern, der Wahlstatt so vieler Völker; wie viel Thränen sind da geflossen, wie viel Greuel hat der von roher Herrsch- und Habsucht besessene Mensch da verübt! Du siehst den Marius, den Sulla, den Cäsar, die Fürsten und Feldherren Roms an der Spitze ihrer Legionen ziehen, du siehst in’s Sklavenjoch geschmiedete Völker vorüberführen, damit sie den Einzug ihrer Ueberwinder durch die Siegesthore der ewigen Stadt verherrlichen, oder in der Arena die wollüstige Grausamkeit der entarteten Quiriten befriedigen.

Hinweg, hinweg, blutige Schatten! Besser, daß wir dem harmlosen Antiquare folgen. Hart am Wege von Aosta zeigt er uns zuerst die Trümmer eines Grabmals. Uebersponnen mit Epheu und wildem Wein, guckt das graue Gemäuer kaum kenntlich aus der Blätter- und Blüthenfülle des wilden Rosenbusches und auch der Name wäre verschollen, wenn nicht der Alterthümler aus der verwitterten Zuschrift einen Publius, der eine Legion geführt, herausbuchstabirt hätte. Dann führt er uns auf die Bergzinne zu der alten vierthürmigen Veste Castellazzo. An ihrem Fuße, wo ein Paar Säulenstücke, von Brombeerranken umschlungen, unter der grünen Rasendecke hervorschauen, stand ein Tempel der Juno. So sagt unser Begleiter; aber statt der jauchzenden Menge, die dem Priester mit dem bekränzten Stier und den Schalen und Opfergefäßen nachfolgt – bläst ein verkrüppelter Hirtenknabe auf der Schalmei einer Heerde weidender Ziegen, und vor der mißgeschaffenen Zwerggestalt, die uns anbettelt, fliehen die Geister der großen Vergangenheit.