Jagdmühen im bairischen Hochlande

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Autor: Heinrich Noë
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Titel: Jagdmühen im bairischen Hochlande
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 660–664
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Jagdmühen im bairischen Hochlande.
Von Heinrich Noë.

An einem sonnigen Herbsttage war es, als sich mir die wunderbare Landschaft aufthat, welche dem durch ungeheuerliche Felsthore Eintretenden die Nähe Berchtesgadens, des vielbesuchten und vielgefeierten Städtchens im östlichsten Winkel des bairischen Hochlands, verkündet. Schon waren die vom Mühlsturzhorn herabgewetterten Kalktrümmer überschritten; die Eiszinken des Hochkaltern schauten über das üppige Grün des Ramsauer Engthales, und das Rauschen des Klausbaches übertäubte

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Abstieg mit dem Hirsch vom Hochkaltern.
Nach einer Originalzeichnung von L. Fux.

den Hall der Schritte, die sich auf den spitzigen Kalkkieseln der erst vor wenigen Tagen vom Hochwasser überrieselten Straße fortbewegten. Ich kam vom Hirschbühel herab. Bald sah ich den zerklüfteten Göhl aufragen und nach wenigen Schritten lag sein unergründlicher Spiegel vor uns, der oft besungene Hintersee. Aus diesem Gewässer blickt wie aus einem gewaltigen Thautropfen in Umrissen, welche von den leicht gekräuselten Wellen abgestumpft und verzärtelt werden, dieses ganze Land, das sich [662] mehr gegen die Höhe des Himmels als gegen seinen Rand hin erstreckt. Auf die mächtigen Ahorne, welche in dieser Mulde stehen, fielen schwache Lichter; schon vergilbten ihre Blätter, einige hingen purpurroth an den wuchtigen Aesten. Die ganze Gegend lag in jener seltsamen, dämonischen Beleuchtung, wie sie oft einem stürmischen Tage vorangeht. Die Zacken hatten die grellsten Umrisse; wo nicht schroff das Licht auffiel, war schwarze Nacht, der Schnee schien flüssiges Gold. Der höchste Glanz und unbegreifliche Dunkelheit grenzten haarscharf aneinander.

Bald hatte ich das Wirthshaus erreicht und saß im Gespräch mit Jägern. Man sprach von den Bergen und der größeren oder geringeren Mühe ihrer Ersteigung. Ein Watzmann, dessen Gipfel neuntausend Fuß hoch in’s Flachland hinausschaut, wird da gar nicht genannt, weil sein Rücken gemach ansteigt und man weder Steigeisen, noch Stricke und Leitern bedarf, um die hohe Zinke zu erklimmen. Ein Bergrücken aber, der dem Wanderer diese Dinge nicht zur Nothwendigkeit macht, kommt bei Erwähnung anstrengender Touren nie in Betracht, er möge so hoch sein, wie er wolle. Dagegen waren Alle darin einig, daß den Hochkaltern zu besteigen nicht Jedermanns Sache sei. Forstgehülfe Graßl, der diesen an Abgründen und Schrecken reichen Berg wie kein Anderer kennt, meinte sogar, es dürften es wohl die Allermeisten bleiben lassen, bis zum Signalgrat hinaufzuklettern. Wenn es auch kaum solche Wände giebt, wie die an der bekannten Zugspitz, an denen sich der Grainauer Forstwart herabließ, so ist doch die Möglichkeit auf’s Blaueis oder in tiefe Klüfte hinabzustürzen keine geringe. Der Forstgehülfe sprach noch aus frischer Erinnerung, denn er hatte erst diesen Nachmittag weit oben, in der Richtung gegen die Hocheisspitz zu, einen Hirsch geschossen. Ausgeweidet hatte er ihn gleich und auch das „Unschlitt“ mit herabgebracht, aber droben lag er noch, der schwere Zehnender.

„Der Jack muß ihn morgen herunterholen,“ sagte der Forstgehilfe.

Jack saß am Ofen. Er trug eine graue Joppe, Hosen von grobem Segeltuch mit einem Zwickel unter dem Knie und lange Strümpfe, welche weiß sein sollten. Er nahm die Botschaft mit der größten Freude auf.

„Der Andrädl muß auch mit,“ setzte er lakonisch hinzu.

Darauf verzehrten sie eine Suppe. Diese wurde in einer ungeheuern Schüssel aufgetragen und enthielt Verschiedenes, was gewiß nicht in Kochbüchern steht. Jack und Andrädl, der eben so gekleidet war, wie ersterer, legten sich sodann auf die Bank und tranken, wahrscheinlich schon auf den morgigen außerordentlichen Verdienst hin, ein paar große Gläser Enzianbranntwein.

Ich war mit dem Forstwart allein. Das Licht brannte trüber und trüber, in mir stieg aber immer gewaltsamer der Wunsch auf, mich bei der Abholung des Hirsches auf der schroffen Schneide zu betheiligen. „Es sind zwar gute sechs Stunden hinauf,“ meinte Graßl, „aber es bleibt Ihnen unbenommen, mit zu gehen, wenn Sie’s aushalten.“ Ich dankte ihm und zog mich zeitig zurück, um Kraft für einen Gang zu bekommen, der für Jack und Andrädl vielleicht ein Spaß, für jedes andere Fußwerk aber, als das eines Holzknechtes oder Jägers, jedenfalls eine Anstrengung sein mußte.

Der frühe Morgen zog wirklich so von den Wänden des Göhl herüber, wie ich mir es vorausgedacht hatte. Im Thale lag graue Trübe und in einer Höhe von wenigen Tausend Fuß versteckten dichte Wolkenbänke die Gipfel der Berge. Es war eine unerquickliche, feuchte Frühkühle. Auf dem Hintersee trieben sich Nebel herum, zwischen denen hier und da eine schwarze Welle hervorlugte.

„Es wird grob Wetter,“ sagten die Knechte, die schon lange in Bereitschaft standen. Die zwei Bursche sahen aus wie die ausgezeichnetsten Wildschützen, welche mir je in den Bergen vorgekommen sind. Voll Feuer, Kraft und Muth in den Augen, mit Muskeln wie Stahlfedern und einer Kenntniß der hohen Wildnisse, wie eine Alpendohle oder ein Jochgeier, konnte es ihnen nicht fehlen, wenn sie dem gefährlichen Gewerbe obliegen wollten. Ich machte Graßl meine Bemerkungen darüber, der aber sagte:

„Das sind Holzknechte bei uns und haben ihren ständigen Verdienst. So wie sie in Verdacht der Wilddieberei kommen, gleichviel ob begründet oder unbegründet, werden sie augenblicklich von der Arbeit entlassen. Das fürchten sie, denn sie können sich dann lange Zeit vergebens nach einer andern umsehen. An ihrer Lust zum Wildern aber zweifle ich keineswegs. So wird nicht leicht einer von unsern Leuten Wildschütz, allein aus dem Pinzgau kommen sie herüber. Denn drüben steht keine Gemse und kein Hirsch mehr, während bei uns Alles davon wimmelt.“

Unterdessen hatten die Knechte einen Schlitten beigebracht.

„Wir müssen doch nicht über Schnee? fragte ich, etwas angefröstelt.

„Nein,“ antwortete Graßl. „Die Zwei ziehen oder tragen den Schlitten so weit wie möglich, bis es einmal so steil hergeht, daß sie ihn stehen lassen müssen. Es zieht sich der Hirsch doch immer noch leichter auf dem Schlitten, wenn es gleich über Steine und Geröll geht, als er sich auf den Schultern trägt.“

Der Gebrauch des Schlittens Jahr aus Jahr ein ist im Berchtesgadener Lande überhaupt nichts Ungewöhnliches. Wie sollten die Bauern, welche in hochgelegenen Höfen, fast an der Grenze des Felsens, im sogenannten „Mittelgebirg“ wohnen, ihre Lasten auf und ab bewegen? Der einzige Weg zu ihnen hinauf ist ein Gangsteig oder Viehtrieb, bei dessen bloßem Anblick jeder Gedanke an die Möglichkeit eines Wagens oder an die Möglichkeit, eine schwere Bürde auf den Schultern hinaufzutragen, schwindet. Ich begegnete einmal im Juli, als ich in einem feuchten steinigen Hohlgrund eine jähe Höhe hinanschritt, einem solchen Erdschlitten; er trug eine Leiche. Hinterher gingen eine Menge Leute von den umliegenden Alpenhöfen, laut für die Ruhe des Dahingeschiedenen betend. Dieses Bild frischte in mir der Anblick des Schlittens, auf welchem man den getödteten Hirsch herabholen wollte, lebendig wieder auf, und ich kann nicht sagen, daß es zur Vermehrung der heiteren Eindrücke dieses Morgens beitrug.

So setzten wir uns denn – der Forstgehülfe, Jack, Andrädl und ich – in Bewegung. Es dauerte nicht lange und das Steigen begann. Ueber Steine und vielfach verästelte Wurzeln der Nadelbäume ging es mühsam aufwärts. Nachdem wir eine gewisse Höhe erreicht hatten und das Ramsauer Thal, die Rabenau, tief unter uns sahen, der Klausbach nur noch am Rauschen kenntlich war und der Hintersee blaß zwischen hohen Wipfeln heraufdämmerte, trennten wir uns. Die Knechte zogen den Schlitten über den Reitsteig weiter, der mit vieler Mühe bis in’s Ofenthal, ein felsiges Plateau, angelegt wurde. Es kann nur einem König einfallen, hier reiten zu wollen. Der verstorbene König von Baiern, ein leidenschaftlicher Gemsenjäger, ließ sich zu seiner Bequemlichkeit an und auf vielen Bergen des Hochlandes solche Steige ebenen, wobei mancher der Arbeiter beim Sprengen oder durch anderes Unglück sein Leben verlor. Freilich sind sie auch für den Alpenpilger eine gewünschte Hülfe, und manche Berge, wie z. B. der Kramer bei Garmisch unweit Partenkirchen, sind dadurch eigentlich erst zugänglich geworden.

Wir aber hielten uns auf dem „Jagersteigl“, das sich links am steilen Gewänd hinzieht. Die Wände links und die Abgründe rechts begannen schon in gewaltigen Verhältnissen aufzutreten, und oft blieb den Füßen nur ein schmaler Raum, um sich zwischen beiden hindurch zu winden. Hier und da half uns eine Eibe mit ihren Nadelklumpen; an diesen Wänden ist einer der wenigen Standorte, an welchen dieser merkwürdige Baum in Südbaiern noch angetroffen wird. Wir mußten aus Vorsicht uns Schritt für Schritt an den Felsen hinantasten und hatten deshalb Muße genug, die Stämmchen näher anzusehen. Denn es sind meist nur dünne Stämmchen. Ein solches Stämmchen von neun Zoll Durchmesser kann aber an dreihundert Jahre alt sein; es giebt wohl keinen Baum, der langsamer wächst.

An einem Quell, der aus dem Kalkgeklüft hervorrieselt, ruhten wir, bereits durstig geworden, ein wenig aus und betrachteten, was bei dem Nebel zu sehen war. Hinter uns war eine wüste aufgeriebene Furche in den Berg eingerissen; der aufgewühlte Felsgrund sah aus wie das trockene Bett eines wilden Alpenstromes. Hier hatten vor Zeiten herabstürzende Lawinen einen Schutzwall zerschmettert und mit den tiefen Wurzeln ausgerissen. Daß er später wieder angesäet worden war, sah man an jungen Pflanzen, die an einigen Stellen aus der Verheerung hervorschauten, aber auch von diesen waren die meisten wieder von spätern Rutschungen und Schneestürzen theils ausgewühlt, theils mit Schotter überdeckt worden. Eine solche Rinne bringt dem Fremdling zuerst einen klaren Begriff von der Macht der zerstörenden Gewalten in den Alpen bei. Aber das Merkwürdige dabei bleibt, daß die hohen Gipfel dadurch an ihrer eigenen Zerstörung arbeiten. Der Schotter, die vom Wasser gewaschenen Kalktrümmer, werden herabgeschwemmt, von den Bergwassern in die Flüsse getragen, von diesen zerschlämmt [663] und kommen endlich bei den großen Deltabildungen der Ströme als Niederschlag wieder zum Vorschein.

Nachdem wir noch eine Stunde hinangestiegen waren, erreichten wir das „Jägerhäusl“, eine Hütte, welche den Eindringlingen in diese Orte der Stürme und des Verderbens einen nothdürftigen Schutz gewährt. Von hier konnte man deutlich in die zerklüfteten Wände hineinschauen, auf deren Spitzen und deren Scharten unvergängliche Schneelager sich festgesetzt haben. Zur eigentlichen Gletscherbildung kommt es in den bairischen Kalkalpen nicht; die blauen Eismassen, welche hie und da den Abfall der Wände trennen, sind eigentlich nur fest durchgefrorener Schnee. Denn das Gestein ist zu porös und auch wegen seiner Weichheit von der Atmosphäre so abgewittert, daß es nirgends die sanften Neigungen, die Kuppelform darbietet, wie die Centralalpen, auf deren krystallinischem Gestein sich das Eis leicht aufhäuft.

Eine Portion Branntwein, die den Culturmenschen in der Ebene vollständig betrunken machen würde, läßt ihn hier vollständig nüchtern. Die große Anstrengung, die feine Luft „zehren’s“ wieder weg. Eine solche Libation nahmen wir im „Jägerhäusl“ vor, und nun galt es, unsere Genossen einzuholen, die jetzt wohl auch schon an einer Stelle angekommen sein mochten, wo sie den Schlitten stehen lassen mußten.

Nach einem beschwerlichen Marsche auf den von den Wänden niedergerollten spitzigen Steinen, auf denen eben ein während der Nacht frischgefallener Schnee zerfloß, kamen wir in’s Ofenthal. Hier ist bei königlichen Gemsjagden der „Anstand“. Hunderte von Treibern haben vorher Tage lang auf den schroffsten Gebirgen eine Kette gebildet, welche das geängstigte Wild bestimmten Punkten zujagt. Mit ungeheurem Geschrei – das Hetzen macht diesen Leuten Vergnügen – scheuchen sie die Thiere nach den angegebenen Zielen. Sie haben es übrigens mit keinem zu unterschätzenden Gegner zu thun; die „Leitgeißen“ sind schlau und erspähen jede Gelegenheit, die Kette zu durchbrechen und nach sicheren Revieren zu entkommen. Auch dürfen sich die Treiber vor den Steinen in Acht nehmen, welche durch die Flucht großer Rudel von den Graten herabgewälzt werden. Oft weiß auch die Herde kein anderes Mittel der Flucht, als sich einem der Treiber gerade entgegenzustürzen; da bleibt diesem nichts übrig, als sich platt auf den Bauch zu legen und die hohlhörnigen Wiederkäuer über sich stampfen zu lassen. Er darf dann von Glück sagen, wenn er mit ein paar Löchern im Kopfe davonkommt. An solchen Punkten, wie z. B. hier in der engen Schlucht des Ofenthales, stehen dann die Cavaliere und schießen auf die vorübereilenden Thiere aus Büchsen, welche ihnen ihre hinten postirten Leibjäger fortwährend geladen überreichen. Von den Mühen der Treiber haben die vornehmen Jäger meist keinen Begriff.

Unsere Knechte, die auch dies Treiberhandwerk wohl verstanden, erwarteten uns. Der Schlitten wurde zurückgelassen und nun ging es bergan. Der eigentliche Ernst der Partie begann. Der Hirsch versteigt sich zwar selten so hoch wie dahin, wo wir eben einen todten holen wollten; in der Regel überschreitet er die Grenze des Baumwuchses nicht, da er auf dem nackten Gestein überaus unbeholfen ist. Aber bei schönem Wetter kommt es doch von Zeit zu Zeit vor, daß er in höhere Regionen geräth – und gestern war ein prachtvoller Tag gewesen. Die Baumstämme wurden spärlicher; oft hatte eine solche „Rinne“ ihren Bestand durchrissen. Häufig, wenn der Fels zu steil hinanstieg, hielten wir uns an den zuverlässigen Legföhren. Die Welt versank immer tiefer und schon kamen am Horizont, der sich in der Höhe mehr aufhellte, Eiskuppen zum Vorschein, die an dreißig deutsche Meilen entfernt sind. Es wurde bitter kalt; ein eisiger Wind trieb die Wolken unter uns umher, wie Staubsäulen auf einer Chaussee.

Endlich handelte es sich darum, auf zwei Fuß breitem Raume eine Kante zu umgehen, die in eine unabsehbare Tiefe abstürzt und an der man sich nur durch Festhalten an einigen verdorrten Latschen herumhelfen kann. Eben entstand eine Lücke im Gewölk und der Spiegel des Hintersees schaute herauf. Dann schloß sie sich wieder, eine andere tauchte daneben auf und so fort. Mir begann wirr im Kopfe zu werden; ich sah, daß ich im Begriffe stand, den horror vacui zu bekommen, das heißt, schwindelig zu werden. Aus Erfahrung wußte ich, daß hier alles Ermannen und Ermuthigen, alles Zwingenwollen nichts hilft; wohl aber, daß ich durch Herumgehen um jene Ecke mich in eine Lage versetzen könnte, in der ich weder zum Vor- noch zum Rückwärtsschreiten mehr die Besonnenheit hätte, mich so in arge Gefahr, meine Begleiter aber in bittere Verlegenheit brächte. Denn an solchen Stellen hat Jeder mit sich selbst zu thun und kann nicht einen Menschen führen, der im Stande ist, sich und ihn hinabzustürzen.

Ich sagte also meinen Begleitern, ich wolle sie hier erwarten. Sie waren’s zufrieden, und in wenigen Secunden standen sie jenseits des Abgrundes.

Die Zwischenzeit benützte ich, um die umgebende Vegetation zu betrachten. Das Kleinwerden der Baumformen, die Legföhre, die zwergigen Stämme lehren, daß wir der Grenze des Pflanzenwuchses näher gerückt sind. Es ist ein trauriger Anblick, dessen ich bald überdrüssig wurde. Ich nahm mein Perspectiv heraus und sah mich um. Da erblickte ich zu meiner freudigen Ueberraschung in der Entfernung fünf Murmelthiere. Eines lag auf den Pfoten und schaute gerade in meiner Richtung her, gewiß aber, ohne mich zu sehen; ein anderes stand auf den Hinterfüßen und nagte an einer Pflanze, vielleicht einem Bärenklau oder Alpenwegerich; ein drittes hockte auf einem Block und machte Männchen, wie ein Hase. Zwei andere scherzten miteinander, indem sie sich wie junge Hunde wechselseitig über den Haufen warfen. So bot selbst die hohe Wüste frohes Leben. Ich ergötzte mich sehr an den Possen dieser „Mankein“, wie sie unser Volk nennt. Es waren vielleicht vorläufig ihre letzten, denn schon der nächste tiefe Schnee kann sie in ihre Winterwohnungen treiben, welche sie vor dem nächsten Juni nicht mehr verlassen.

Mit einem Male erscholl ein gellendes Jauchzen von der Kante her; die Murmelthiere gaben ein tiefes Pfeifen von sich und verschwanden. Andrädl tauchte zuerst um die Ecke herum auf, er schwang ein Beil. Gleich darauf kam Jack mit einem ungeheuren Hirsch beladen und dicht hinter ihm Graßl, der, wie mir schien, sorgsam die Geweihe vom Boden abhielt. Es war so, ich sah nachher, daß er es thun mußte, denn jedes Verfangen der Enden an den Latschenästen und Festhaken derselben auf dem Boden konnte den armen Jack in den Abgrund schleudern. Endlich kamen sie mir nah. Andrädl mußte fortwährend die Latschen auf dem Boden aushauen, damit Jack sichern Fuß zu fassen vermochte; denn sie waren noch immer nur wenige Schritte von der Wand entfernt, wo ein Fehltritt die Wanderer unfehlbar schleunigst in die nächste Nähe des viertausend Fuß tiefer liegenden Hintersees befördert hätte. Auch ein paar große, verwitterte Stämme, die, von Blitzen getroffen, wohl schon seit einem Jahrzehnt da auf dem Felsen lagen, hatte der unermüdliche Andrädl zu beseitigen, damit sein Freund Jack nicht zu nah an die verderbliche Senkung gerieth.

Der Hirsch wog seine zwei Centner. Die Sehnen der vier Füße waren durchstochen und der eine Fuß nach Waidmannsart durch den Schlitz im andern durchgesteckt. Alle vier kreuzten sich auf Jack’s Brust. Es war wirklich ein Zehnender, den er trug.

Ich sah, daß Jack trotz der Kälte von Schweiß triefte, und fragte Graßl, ob sie sich hier nicht noch ein wenig ausruhen wollten.

„Da nicht,“ sagte dieser, „der Wind hat sich gedreht, das Gewölk wird wieder heraufgejagt und wir bekommen einen tüchtigen Schneesturm.“

Dagegen war freilich nichts einzuwenden. So stieg ich denn mit den Dreien durch das Krummholz hinab. Sie hielten immer die Ordnung ein, in der sie um das verhängnißvolle Eck gekommen waren, und ich weiß wirklich nicht, wer den mühsameren Posten hatte. Jack trug freilich die Last, aber Graßl konnte sich seiner Arme nicht frei bedienen, was beim Bergabsteigen als große Beschwerde erscheint, und Andrädl hatte es fast immer mit Latschen und Baumstämmen zu thun. Nach schweren Mühen erreichten sie im Ofenthale den Schlitten und das Gröbste war überstanden.

„Wie sieht’s denn da weiter oben aus?“ fragte ich Graßl.

„Es kommen nicht gar viel schwierige Stellen, aber manchmal kann’s eben doch schief gehen. So gingen wir z. B. im vorigen Jahre ganz hinauf auf den Hochkaltern. Sie wissen, daß er nur um wenige Fuß niedriger ist, als der Watzmann. Wie’s aber im Vergleich mit diesem zu steigen ist, das haben Sie selbst gesehen. Da war auch ein junger Maler aus Wien dabei, ein tüchtiger Bergsteiger. Als wir in’s Ofenloch kamen, war er der Letzte. Sie wissen, das Ofenloch ist eine enge Schlucht, die man nur über eine fußbreite Schneid’ erreicht, von der’s links und [664] rechts in’s Blaue hinuntergeht. Wir waren schon Alle glücklich darin im Ofenloch, als zufällig unter den Tritten von Einem der Vorderen sich ein großer Stein losmachte. Der rollte gleich wie rasend durch die Schlucht hinab; der Maler, der zuletzt ging, sah ihn auf sich zukommen. Was wollte er thun? Der Stein konnte an ihm vorbeispringen, er konnte ihn aber auch zerschmettern, und das war das Wahrscheinlichste. Er besann sich deshalb nicht lang, sondern kehrte um und sprang mit einem Satze in die freie Luft hinaus, in der Hoffnung, mit den Füßen auf die Schneid’ zu stehen zu kommen, aus der wir herausgekrochen waren. Da hatte er nun ein wunderbares Glück; er kam wirklich darauf zu stehen, obschon er sie von der Mündung des Ofenloches nicht zu sehen vermochte, überhaupt dort nichts Anderes erblicken konnte, als den blauen Himmel. Ich hätte aber Hundert gegen Eins gewettet, daß es ihm wie dem Stein gegangen wäre, der einen Augenblick nachher auf den Gletscher Blaueis hinabstürzte, daß es durch das ganze Gebirg’ nur so krachte.“

Als wir in’s Wirthshaus kamen, erhielt Jack seinen Lohn für das Hirschherabholen. Derselbe besteht aus achtundvierzig Kreuzern. Sein Tagelohn als Holzarbeiter läuft dabei fort, was er für eine große Gnade hält.

Frage sich der Leser, um welchen Preis er wohl zwei Centner vom Hochkaltern herabholen würde!

Wir ließen es uns schmecken, als ob man uns fürstliche Speisen auftrüge. Das Gefühl der Behaglichkeit erhöhte bald, wie Graßl vorausgesetzt hatte, ein mächtiger Sturm, der Flocken und Graupeln an die Scheiben warf. Der See heulte wie ein gewaltiges Gewässer, und als wir am nächsten Morgen erwachten, war die glänzende Decke der hohen Firste bis in die grüne Ramsau ausgebreitet.