Zum Inhalt springen

Jena (Meyer’s Universum)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
DCCIV. Die Herrnhuter-Kolonie Lichtenfels in Grönland Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band (1852) von Joseph Meyer
DCCV. Jena
DCCVI. Liegnitz
  Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
[Ξ]

JENA

[189]
DCCV. Jena.




Noch ein Blatt aus dem Buche meiner Jugenderinnerungen. Wie ich, mit dem Ränzchen auf dem Rücken, von Weimar herüberkommend, das heitere Jena zum ersten Male sah vor fast fünfzig Jahren, so liegt es heute noch da, gebettet in dem warmen Saalthale, mit seinen schöngeformten Berghöhen, Wäldern und Gründen. Die Gespielen aber, die dort Hand in Hand mit mir gingen, die mit mir gejubelt haben an jeder Stelle, welche eine weite Aussicht gab, und auf der Mauerzinne der Lobdenburg neben mir gestanden, sie sind von den Wogen des Lebens in die Ferne getragen, oder mir fremd geworden, oder sie ruhen unter ihren Rasenhügeln aus von einer längern Wanderung. Leid und Freud hat Keiner mit mir getheilt; die Hände, die noch so warm in den meinen liegen, die Augen, in welchen ich jeden Kummer und jede Freude wieder sehe, wie in einem Spiegel, die Herzen, die mit so treuer Liebe für mich schlagen, diese mir noch erhaltenen Blüthen des Lebens, welche die Trümmer meines Glücks und meines Wirkens und Schaffens umwinden, wie der Epheu zerbrochenes Gemäuer, sind spätere Geschenke Gottes.

Was die Schülerschaaren in jenen Jahren nach Weimar und Jena führte, ist längst kein Ziel mehr für unsere reisesüchtige Jugend. Die großen Männer sind im Sarge, kein Stern ersten Ranges glänzt mehr in jenen Städten. In welcher Glorie strahlten sie damals und welche hehren und heiligen Vorstellungen knüpften sich an die Orte, wo Schiller, Göthe, Wieland und Herder noch leibhaftig wandelten und als Apostel des Menschenthums lehrten! Noch erinnere ich mich der Schauer der Ehrfurcht, die meine junge Seele überrieselten, als ich den Einen oder den Andern zum ersten Male sah, und wie flog mein Blick mit begeisterter Hast hinan an das Erkerfenster „der Tanne“, als einst ein Vorübergehender uns umhergaffenden Knaben zurief: „Seht doch dort hinauf, dort steht ja der Göthe!“ – Sie sind alle fort die großen Menschen, und wenn ich jetzt nach Weimar oder Jena käme, so würde es mir seyn, als wandelte ich auf den Trümmern umgestürzter Hochaltäre und müßte ich auf bemoosten Grabsteinen verloschene Schriftzüge suchen.

[190] Jena und Weimar. – Wenn ich ein Kaiser wäre, so müßtet ihr strahlen von den goldnen Kuppeln der Säulenhäuser, und prangen mit Malen des Ruhms, gegen welche alle Denkwerke Indiens und Griechenlands, am Nil und an der Tiber zusammensänken, wie unsere Thüringer Berge vor den Alpen. Ich würde nicht wägen und markten: denn die Größten sind des Größten werth. In dieser selbstsüchtigen Zeit ist freilich für solche Werke nichts zu hoffen. Aber ein Tag wird kommen, wo die Nation thut, was ihre Väter zu thun unterlassen haben.


Der Saalstrom hat seine Rinne in das Sandsteinplateau eingeschnitten, welches vom Thüringer Waldrücken aus nordwärts in das tiefere Land hineinragt. Hüben wie drüben haben Flüßchen und Bäche ihr Bette gewühlt und bilden bald schmale, bald breiter auslaufende Gründe, welche in das Hauptthal münden. Die in solcher Weise von drei Seiten ausgekerbten Ränder der Hochebene stellen sich als die Berge des Saalthals dar. In der Umgebung von Jena fallen sie steil gegen den Strom ab und haben sehr malerische Formen. Ihre landschaftliche Schönheit wird erhöht durch den Schmuck der Kultur, durch Rebgelände und Obsthaine, durch freundliche Gartenhäuser und altergraue Trümmer von Burgen.

Von einem jener Berge, dem Hain- oder Galgenberge, ist der Anblick Jena’s, seines Thals und seiner Höhenzüge am schönsten. Dorthin richtete Schiller an schönen Abenden häufig seinen Spaziergang; und allein oder mit Göthe sah man ihn zuweilen auf einem Stein sitzen, – auf dem, wie die Sage geht, vor Alters die armen Sünder ausruheten, ehe sie die Leiter betraten, die Keiner wieder hinabstieg.

Die Stadt nimmt sich, von fern betrachtet, recht ansehnlich aus mit ihren Thürmen und die Jenenser Chronisten erzählen, daß, als Karl V. in die Gegend kam, ihm der Ausdruck entschlüpfte: „Jena liegt ja da wie ein kleines Florenz“. Näher besehen rechtfertigt es diese Vorstellung freilich nicht. Jedem Besucher wird es beim ersten Blick bemerklich, daß der Ort seit mehren Jahrzehnten im Sinken ist. Jena ist in der That mit seinen winklichen, von hohen, öfters baufälligen Häusern eingeschlossenen Gassen einer alten, herabgekommenen Landstadt so gleich, wie ein Ei dem andern. Spuren von Neubau sind nirgends zu sehen und mancher verschlossene Laden zeugt von dem Verkümmern des Erwerbs und Verkehrs. Die meisten Häuser sind für Studentenwohnungen eingerichtet, und wenn man bedenkt, daß vor sechzig Jahren die Universität 1700 Besucher zählte, und unter diesen fast 1100 meist reiche Ausländer waren, während ihre Frequenz seit den letzten Jahrzehnten niemals 500 erreicht hat, so kann man sich die Abnahme des bürgerlichen Wohlstandes bei der Menge der leerstehenden Wohnungen, dem Sinken der Miethen und dem Versiegen sonstiger Nahrungsquellen wohl erklären. Auf den Charakter der [191] Bewohner haben aber diese Verhältnisse nicht nachteilig gewirkt. Die Jenenser sind noch der lebensfrohe, anmuthige Menschenschlag, und ein gebildeter, guter Ton ist selbst den mittlern und bürgerlichen Schichten eigen. Reinlichkeit im Hause und in den Straßen ist ein alter Ruhm Jena’s. Die Zeiten sind vorüber, wo der zügellose Studentenadel Kurlands, Ungarns und Mecklenburgs den Ton angab; das damalige, wegen seiner Rohheit verrufene Jenenser Studentenleben hat der Sitte und Anständigkeit im Benehmen der Musensöhne Platz gemacht, ohne doch die Erscheinungen einer harmlosen, lebensfrischen Romantik ganz zu verdrängen, die den Jünglingen, wenn sie nicht mit anmaßlicher Renommisterei und widerlichem Cynismus in Worten und Werken verbunden ist, jedenfalls besser zu Gesicht steht, als das kopfhängerische Frommthun, das jetzt auf so vielen deutschen Hochschulen auffällt und den Beobachter mit Ekel und Bedauern erfüllt. Möge Jena sein heiteres Studentenleben sich bewahren, zugleich mit jener Achtung auch vor den äußeren Formen der Bildung, die jungen Männern ziemt, aus deren Kreise die Richter, Lehrer, Prediger und Staatsmänner des Volks hervorgehen sollen. – Die Universität, – Jena’s Leben und Jena’s Stolz, – ist zu allen Zeiten ein Hort der deutschen Gelehrsamkeit und am Firmament der Humanität und Wissenschaft ein strahlendes Sternbild gewesen. Eine längere Reihe von glänzenden Namen hat keine deutsche Universität aufzuweisen, als das kleine Jena, und zu den Geisterschlachten hat es seit Jahrhunderten allezeit ein tapferes Kontingent gestellt. Bis in die Gegenwart herab ist es der Universität möglich geworden, eine rühmliche Stellung zu behaupten, und wer daran zweifeln könnte, dem dürfte man bloß die Namen: Schiller, A. v. Humboldt, Fichte, Schelling, Hegel, Voß, Reinhold, Griesbach, Schlegel und viele andere in’s Gedächtniß zurückrufen, welche Zierden der Jenenser Lehrstühle in den letzten 60 Jahren waren. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß die Dürftigkeit der äußeren Mittel, gegenüber den Ansprüchen, welche unsere Tage an eine Hochschule der Wissenschaften machen, die Möglichkeit mehr und mehr in Frage stellt, ihr Ansehen ungeschmälert fort zu erhalten und gegen die reicher dotirten Schwestern nicht zurückzustehen. Jena’s Flor ist, trotz der berühmten Männer, die heute noch sein Stolz sind, in Abnahme begriffen. Nur eine sorgfältige Pflege von Seiten der Regierungen, deren Patronat die Universität unterworfen ist, und die Bewilligung bedeutend größerer Geldunterstützung kann sie vor weiterem Verfall bewahren. Es wäre eine schöne Aufgabe der jetztlebenden, meistens jungen sächsischen Herzöge, den Ruhm ihres Jena zu erneuern, der Hochschule das Feld großartiger geistiger Wirksamkeit nach allen Seiten hin zu öffnen, die Schranken niederzuwerfen, die sie beengen, und die verwachsenen Pfade zu reinigen oder wieder gangbar zu machen. Die Tempel der Gelehrsamkeit bedürfen der beständigen Pflege und ihre Opfer-Priester des erwärmenden und belebenden Feuers. Auch die Feldzüge, Eroberungen, Entdeckungen im Reiche der Wissenschaften verlangen Zustände, Verhältnisse, Vorbereitungen und Anstalten, die Geld, und öfters viel Geld kosten. Die Misère der kleinen Universitäten in Deutschland ist, daß sie arm sind und ihre [192] Dotation in der Regel so spärlich und knapp bemessen ist, daß sie nicht selten darauf verzichten müssen, an den wissenschaftlichen Wettläufen Theil zu nehmen, die den Siegern Preis und Ehre bringen. Die Beschränktheit der Mittel läßt die Anschaffung mancher Apparate und Hülfsmittel gar nicht zu, welche manche Disciplinen zu ihrem Fortschreiten nicht entbehren können. Dieser Umstand, verbunden mit der Kärglichkeit der Besoldungen, hat zur Folge, daß die Professur von dem hervorragenden Talente gar oft nur als Staffel zum Erklimmen einer andern Stellung, oder als ein Warteposten betrachtet wird, von dem es scheidet, sobald der Ruf an eine besser dotirte Anstalt aus der Ferne ertönt. Die Mittelmäßigkeiten bleiben, die Berühmtheiten gehen; – ein Umstand, der dem Charakter des Lehrerstandes an kleinen Universitäten auch nicht günstig seyn kann, da sich mit der Mittelmäßigkeit leicht das Gefühl der Abhängigkeit verknüpft und dieses nur zu häufig der Festigkeit des Charakters und männlicher Gesinnung Eintrag thut. Man denke sich Jena ausgerüstet mit größern Geldmitteln und in diesem Jena einen festgeschlossenen Kreis von Männern wie Oken, Schleiden etc. unter dem Schirm freier Gesetze und unter dem zuverlässigen Schutze von Fürsten, wie Karl August einer war, und frage sich, wie lange es dauern würde, die glanzvollen Zeiten zurückzuführen, da 1800 Jünglinge, deutsche und fremde, sich um seine Lehrstühle drängten und die Universität auf den Namen „Saal-Athen“ stolz seyn konnte. Gerade jetzt wäre es die Zeit. – Bevormundung und Knechtung der Lehr- und Hörfreiheit verleidet manchem berühmten Lehrer eben so sehr wie der studirenden Jugend das Leben auf vielen größern Hochschulen und das Gift einer geheimen Regierung in jesuitischem Geiste richtet auf manchen Geister und Wissenschaft zu Grunde. Gegen solches Gift wäre kein Mittel wirksamer, als die liberale Ausstattung einer kleinen Universität wie Jena mit allen Mitteln zur Berufung berühmter Lehrer und zur Anschaffung der umfassendsten wissenschaftlichen Apparate, unter der offiziellen Erklärung, daß sie der Freiheit der Wissenschaft und der Lehre ein unantastbares Asyl sey. Oder ist der Geist ohne Erbe, der einen Oken auf das Katheder berief, und Schillern einen Lehrstuhl gab, – Schillern, der auf die Frage: Was glaubst du? antwortete.

„Welche Religion ich bekenne? Keine von Allen,
Die du mir nennst. Und warum keine? – Aus Religion“. –

Schillern, der bekannt hat, daß er den Abfall der Niederlande nur deshalb schrieb, weil ihn „der Anblick einer Begebenheit, wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt, wo die Hülfsmittel entschlossener Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei im ungleichen Kampfe siegen“, begeistert habe; – der als Professor die kühnen Worte drucken ließ: „Die Kraft, mit der das niederländische Volk handelte, ist unter uns nicht verschwunden; der glückliche Erfolg, der sein Wagstück krönte, ist auch uns nicht versagt, wenn ähnliche Anlässe uns [193] zu ähnlichen Thaten rufen“; – Schillern, sage ich, – der in seinem Schwanenliede, im Tell, vor seinem Volk das ewige Wort gesprochen:

„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht!
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden;
Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Muthes in den Himmel,
Und holt herunter seine ew’gen Rechte,
Die droben hängen unveräußerlich –
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, – wenn kein andres mehr
Verfangen will – ist ihm das Schwert gegeben!“

Es gehört jetzt freilich etwas mehr Muth dazu, ein Karl August zu seyn, als damals, und wo ist Muth jetzt zu finden? –


Aus einer stillen Stadtecke, zwischen Hecken und verfallenem Gemäuer, an baufälligen Hintergebäuden, Scheunen und Ställen vorüber, führt ein schmaler, grasbewachsener, wenig begangener Pfad, das Mönchsgäßchen genannt, hinaus zu einigen Gärten, die eine mäßige Anhöhe bedecken. Aus einem derselben schaut ein zweistöckiges Haus zwischen Obstbäumen hervor. Es ist unschön, unregelmäßig, mit einem Anbau, der einen kurzen, thurmartigen Aufsatz trägt. Dies ist Schillers Gartenhaus, jetzt die Wohnung des Direktors der Universitäts-Sternwarte, welche in dem Anbau eingerichtet ist. An derselben Stätte, wo Schiller über den aberwitzigen Träumereien der Astrologie brütete, mit denen er seinen Wallenstein und Seni ausgestattet hat, beobachtet und berechnet jetzt die erhabenste Wissenschaft der modernen Bildung den Lauf und Wandel der Gestirne nach ewigen Gesetzen. –

Einsam und abgeschieden, wie diese Gartenwohnung ist, so lebte auch Schiller in Jena, zurückgezogen von der Welt, seinen Umgang auf wenige Vertraute beschränkend, unbekannt den meisten seiner Mitbürger. Viele Jenenser jener Zeit haben Schillern nie gesehen, obschon er so viele Jahre unter ihnen gelebt hat.

Hinter dem Hause ist eine hochgelegene Baumpflanzung mit Pfaden durchwunden. In der südlichen Ecke derselben, auf einem Vorsprunge, von dem man einen freien, reizenden Blick über Stadt und Thal genießt, liegt, an der Stelle eines jetzt abgebrochenen Borkenhäuschens ein bemooster Felsblock, auf dem die Worte stehen:

„Hier schrieb Schiller den Wallenstein“.

[194] Eine Linde, ein Paar Tannen und Akazien beschatten das Plätzchen. Schiller kaufte diese Besitzung im Jahre 1796. Auch als er schon nach Weimar gezogen war, kehrte er oft des Sommers dahin zurück. Die herrlichsten Werke dieser Periode sind in dem Erkerstübchen entstanden, in demselben, wo er oft mit Göthe bis spät nach Mitternacht zusammensaß,

     Den Sphären lauschend,
     Gedanken tauschend;
Einer dem Andern, zu Beider Ruhme,
Sonne zugleich und Sonnenblume.

In sternenheller Nacht, oder wenn der Vollmond sein bleiches Zwielicht in die schattigen Gänge warf, sah man sie oft wallen, Arm in Arm, horchend den Chorälen in den Baumwipfeln, oder sprechend von den Kräften, welche Welten um Welten führen, und von der Macht, welche die Gestirne im unermeßlichen Raume aufgehangen und ihre Bahnen geordnet. „Da flogen“, berichtet ein Freund Göthe’s von solchen Stunden, „die Lichtheere an ihrem Blick vorüber, ihre Seele badete im Strome der Milchstraße und wälzte sich jubelnd im Blüthenstaube junger Welten“. –