Joseph Staudigl

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Titel: Joseph Staudigl
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 480
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[480] Joseph Staudigl, der berühmte und zuletzt im Irrsinn gestorbene Künstler, sang im Frühling 1853 in Pierson’s Oratorium „Jerusalem“, welches unter Benedict’s Leitung in Exeterhall zu London aufgeführt wurde, und zwar mit so großer Innigkeit und Hingebung an die Tondichtung, daß bei dem schönen und ergreifenden Quintett: „Selig sind die Todten“, im Saale viele Augen voller Thränen standen. Dies mochte nicht eben Wunder nehmen; daß aber über Staudigl’s Wangen ebenfalls die Thränen perlten, mußte auffallen, denn wer so viel singt, ist selbst bei den rührendsten Stellen, wenn er sie ohnedies schon mehrfach gesungen, wohl nur selten eine Beute seiner Empfindungen; im Allgemeinen denkt ja der Sänger immer weniger an die Empfindung, welche die Musik ausdrückt, als an die Mittel, wie er sie am schönsten und correctesten dem Publicum gegenüber zur Geltung bringe.

Als nach der Vorstellung ein deutscher Musiker den ihm befreundeten Künstler nach der Ursache dieser seltsamen Erregung während seines Vortrages fragte, antwortete dieser:

„Es ist etwas Eigenthümliches in dieser Musik. Mich verfolgte dabei gestern außerdem ein eigenthümlicher Gedanke. Vor einigen Tagen speiste ich nämlich bei einer in London lebenden deutschen Familie; später wurde musicirt, und da mehrere Mitglieder derselben gut musikalisch sind und außer mir auch noch eine englische Sängerin da war, sangen wir auch dieses Quintett aus „Jerusalem“. Eine junge, blasse Dame, welche erst nach dem Diner erschienen war und still in einer Ecke dem Vortrage zugehört hatte, brach in Thränen während desselben aus. Auf dem Heimwege sagte mir ein Freund der Familie, daß die Miß ihren Bräutigam durch den Tod verloren habe und sich seitdem in einer Geisteslähmung, einer traurigen Apathie befinde; seit seinem Tode, der vor zehn Monaten erfolgt war, hatte sie noch keine einzige Thräne gefunden, die ihren Schmerz erleichtert, ihre Apathie gebrochen hätte. Die Thränen nun, welche ihr der Gesang entlockt, gaben die sichere Hoffnung der Genesung von ihrer bedenklichen Melancholie. Und seitdem verfolgt mich der Gedanke, daß ich auch einmal in meinem Geiste zerstört sein werde; wieder und immer wieder drängt er sich mir auf, und als ich gestern das Quintett sang, sagte ich aus innerstem Herzen zu mir: ‚Sänge man doch über meinem Sarge dieses rührende Quintett!‘“

Und sein Wunsch ward erfüllt, wie sich seine unheilvolle Ahnung erfüllt hatte. Bald darauf deckte die Nacht des Irrsinns den großen Sänger.