Jugendleben und Wanderbilder:Band 1:Kapitel 14

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Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder
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Vierzehntes Kapitel.

[119] Praescs.
De non jamais te servire
De remediis aucunis
Quam de ceux seulment doctae facultatis?
Maladus deust il crevare,

5
Et mori de suo male?

Bachelierus.
Juro.

Molière.

Im Laufe der siebenziger Jahre des vorigen Jahrhunderts fing es in ganz Deutschland an mächtig zu tagen, wie Jedermann weiß. Göthe’s jugendlicher Genius entfaltete die gewaltigen Schwingen, Klopstock hatte seiner dem erhabensten Gegenstande geweiheten Lyra schon die ersten Töne entlockt. Ohne von Seiten der gekrönten Beherrscher der Völker sich besonderer Aufmunterung oder Begünstigung zu erfreuen, wurden im Reiche der Wissenschaft, der Kunst, der Poesie die Geister wach. Nur in meiner Vaterstadt, und wenigstens dreißig Meilen in die Runde, blieb, mit wenigen Ausnahmen, noch Alles wie es früher gewesen.

[120] War es ihre von dem damaligen Theile der kultivirteren Welt sie absondernde Lage, im fernen Norden, was jeder Erfindung neuerer Zeit sie so abhold machte, und Kunst und Poesie als nutzlose Spielereien betrachten ließ? War es der hauptsächlich nur baaren Gewinn berücksichtigende Kaufmannsgeist der Mehrzahl ihrer Bürger? Oder vielleicht der seit den letzten ihr so gewaltsam aufgedrungenen traurigen Neuerungen noch starrer gewordene reichstädtische Sinn der alten freien Hanseestadt? wahrscheinlich bewog sie ein Zusammenwirken von diesem Allen, sich fester als jemals an dem Althergebrachten zu halten, und jedem Versuche, verjährte Vorurtheile zu bekämpfen, die unerbittlichste Strenge entgegen zu setzen.

Die heilsamste Erfindung des achtzehnten Jahrhunderts, die wohlthätige Erhalterin des Lebens zahlloser Kinder, die Inokulation der Blattern, war besonders ein Gegenstand des allgemeinen Widerwillens, gegen den alle Stimmen sich erhoben. Vergebens ging das Lob derselben vermittelst der Zeitungen wie ein Lauffeuer durch halb Europa. Auf viele, viele Meilen weit rings um Danzig her dachte Niemand auch nur auf das Entfernteste daran, ein solches gottversuchendes, vorwitziges und frevelhaftes Wagestück zu unternehmen, wofür es von eifrigen Zeloten [121] überlaut, sogar mitunter öffentlich von der Kanzel herab erklärt ward.

Nur genaueste Bekanntschaft mit dem finstern Geiste jener noch immer dunkeln Zeit kann den Muth meines Vaters gehörig würdigen lassen, mit dem er, sobald er von der Wahrheit der im südlichen Europa schon seit mehreren Jahren gemachten günstigen Erfahrungen sich überzeugt hatte, in seinem Innern beschloß, allem auf ihn einstürmenden Widerspruch Trotz zu bieten und die erste Gelegenheit, die sich ihm zeigen würde, zu benutzen, um seinen zagenden Mitbürgern zum Beispiel die drei ältesten seiner geliebten Töchter der neuen Kur zu unterwerfen, und im Bewußtsein seiner redlichen Absicht den Erfolg mit ergebenem Gemüth Gott anheim zu stellen.

Gewiß hatte er dabei manchen harten Kampf mit seinem eignen Herzen zu bestehen, und es kostete ihm nicht wenig Ueberwindung, unsere ihm ganz vertrauende, aber doch sehr besorgte Mutter zu bewegen, einer so mörderischen Krankheit als die Menschenblattern es damals waren, uns hinzugeben.

Die dabei obwaltende Gefahr blieb ihm keineswegs verborgen, manches abschreckende Beispiel vom unglücklichsten Ausgange einzelner Fälle ward neben dem der Inokulation ertheilten gerechten Lobe, ebenfalls [122] durch die Zeitung bekannt, doch der gesunde Verstand meines Vaters ließ dadurch sich nicht irre führen; das Uebergewicht des Wohlthätigen eines Verfahrens, durch welches viel tausend junge Leben unverkrüppelt erhalten wurden, sprach gar zu deutlich sich aus.

Ich kann nicht unterlassen, daran zu erinnern, daß immer nur von der Inokulation der wirklichen Menschenblattern die Rede sein konnte. Die allgemeine Verbreitung von Doctor Jenners[1] wundergleicher Entdeckung der jede Idee von Gefahr beseitigenden Schutzblattern war erst mehr als dreißig Jahre später unserm erfindungsreichen neunzehnten Jahrhundert vorbehalten.

Indessen waren unsere Danziger Aerzte in jener fernen Zeit noch so seltsam geartet, daß mein Vater die Möglichkeit, seinen zu unserm und seiner Mitbürger Heil gefaßten Entschluß mit ihrer Hülfe zu bewerkstelligen, gar nicht absehen konnte. Für’s erste waren sie Alle, sammt und sonders, uralt, in vorgefaßten Meinungen ergrauet. Ob sie jemals jung gewesen, wo sie gelebt, was sie gethan, so lange sie es waren, weiß ich nicht, kann aber mit Wahrheit versichern, daß ich während der ersten zehn bis vierzehn Jahre meines Lebens keinen jungen Arzt [123] jemals gesehen, von keinem etwas vernommen, ja nicht einmal einen nennen gehört habe.

Excellenz wurden diese ehrwürdigen Herren betitelt, und dieses nicht etwa nur in ihren Häusern, von ihren eignen Bedienten, sondern überhaupt im geselligen Leben mit der Welt; nur sehr vertraute Bekannte durften zuweilen es wagen, ein respectuöses Herr Doctor sich zu erlauben.

Ihr Haupt bedeckte eine schneeweiß gepuderte lockenreiche, dreizipfliche Allongenperrücke, einer dieser Zipfel hing über den Rücken hinab, die beiden andern wiegten sich auf den Schultern, ein goldbesetzter, scharlachrother Rock, sehr breite Spitzenmanschetten und Jabot, weiße oder schwarzseidne Strümpfe, Knie und Schuhschnallen von blitzenden Steinen oder vergoldetem Silber und ein kleines plattes Dreieck von schwarzer Seide unter dem Arm, chapeau-bas genannt, vollendeten die prachtvolle Toilette einer solchen über Tod und Leben Gewalt übenden Excellenz. Dazu denke man sich noch ein ziemlich starkes spanisches Rohr mit einer goldenen oder aus Elfenbein künstlich geschnitzten Meerfrau als Krückenknopf darauf, um in schweren bedenklichen Fällen Kinn und Nase zu stützen, und gewiß giebt Jedermann mir die Unmöglichkeit zu, in Gegenwart einer solchen Figur [124] an eine Neuerung nur auf das allerentfernteste zu denken.

Unverhofft und unerwartet erschien indessen zur Hülfe in dieser Noth ein Arzt aus der Fremde, ein nicht ganz junger, aber doch weit jüngerer Mann, als jene, seine ehrwürdigen Kollegen, modern gekleidet, in einfach dunkelfarbigen Rock, sogar mit eignem frisirten Haar und einem Zopf, damals noch eine seltene Erscheinung.

Doctor Wolf, so hieß er, war ein vielgereister, sehr erfahrner und gelehrter Arzt, ein erklärter Feind jedes Schlendrians und aller konvenzionellen Umständlichkeit; wie sehr willkommen, besonders in jenem Zeitpunkt er meinem Vater sein mußte, ist leicht zu erachten. Die Verbreitung der Blatterinokulation war der Hauptzweck seiner Reise. Er kam aus England mit Empfehlungen an Doctor Jameson, der ihn sogleich in unserm Hause einführte, und gehörte übrigens zu den damals eben Mode werdenden Aerzten, von denen ich noch viele Jahre später das letzte Exemplar in der Person des zu seiner Zeit sehr berühmten Wundarztes von Theden[2] in Berlin kennen gelernt habe, die mit der ausgesprochensten Verachtung aller gesellschaftlichen Anstandsregeln, einer an rücksichtslose Grobheit gränzenden Einfachheit des [125] Betragens sich befleißigten, und gerade dadurch, vermuthlich wegen des Kontrastes mit dem Altgewohnten, das allgemeine Zutrauen sich erwarben, besonders aber bei den vornehmsten Damen, und selbst bei regierenden Fürsten in Ehre und Ansehen standen.

»Nun, ihr Rangen? Könnt ihr brav fressen?« war das erste Wort, das wir von dem neuen Doctor vernahmen, als wir, ich und meine Schwestern, ihm vorgestellt wurden. »Das sollt ihr aber schön bleiben lassen, hungern müßt ihr, hungern, daß euch die Seele pfeift,« setzte er auf meine bejahende Antwort lachend hinzu und hielt leider Wort.

Wassersuppe, Thee ohne Milch, Weißbrot, Zwieback und Johannisbeergelée, war die damals für unumgänglich nothwendig gehaltene vorbereitende Diät, der wir uns viele Tage lang unterwerfen mußten, bis endlich der zur Ausführung des großen Wagestücks vorher bestimmte herankam. Die halbe Stadt war auf den Ausgang desselben gespannt, und viele fromme Seelen nahmen ein großer Aergerniß daran.

Mit welcher ermüdenden Umständlichkeit ging damals noch alles vor sich, was in unsern jetzigen Tagen mit spielender Leichtigkeit, fast unmerklich, und doch nicht minder sicher und vollkommen, vollbracht [126] wird! wie schwer machte man sich damals noch das Leben, in allen und jeden seiner Obliegenheiten! die zärtlichste Mutter wird jetzt gegen ihre vertrautesten Freunde höchstens beiläufig erwähnen, daß sie am Morgen ihren Kindern die Schutzblattern einimpfen ließ; bei uns wurde an jenem großen Tage das ganze Haus in Allarm gesetzt.

Unsere Eltern, wir drei unglückseligen Hauptpersonen, Doctor Wolf, Herr Nixius, unser Wundarzt, Kasche und unser Jungfermädchen Florentine, das Alles wurde an einem recht unfreundlichen Apriltage in Kutschen gepackt und im abgelegensten Winkel der Stadt, mitten in einem sehr schmutzigen Hühnerhofe vor einem alten, ärmlich aussehenden Hause abgeladen, dessen Schwelle wir uns nicht nähern durften, aus Furcht, von den im vierten Stock liegenden Blatterkindern innerlich angesteckt zu werden, was Doctor Wolf für lebensgefährlich erklärte.

Da saßen wir nun unter freiem Himmel, wir armen kleinen Mädchen, zitternd vor Angst und Kälte, umschnattert von Gänsen und Enten, umschnüffelt von neugierigen Ferkeln. Jeder von uns brachte Doctor Wolf mit einer in Blattereiter getauchten goldnen Nadel acht kleine Wunden bei, zwei an jeder Hand, zwischen Zeigefinger und Daumen, und zwei [127] auf jedem Knie; daß wir dabei eine ziemliche Weile vor allen Leuten mit bloßen Knieen dasitzen mußten, um das Gift eintrocknen zu lassen, war in dieser herben Stunde nicht das geringste meiner Leiden, indem ich diesen Theil der Operation höchst unanständig fand.

Ueberhaupt wurde sie mit einer umständlichen Weitschweifigkeit ausgeführt, von der man heut zu Tage sich kaum einen Begriff zu machen fähig ist. Zu jeder der acht kleinen Wunden, die wir erhielten, mußte neuer Eiter von den Blatterkranken geholt werden, folglich mußte Herr Nixius vier und zwanzig mal, bis zum vierten Stocke unter dem Dache des baufälligen Hauses hinauf und wieder herabsteigen. In der Hausthüre nahm Florentine ihm die Nadel ab, um jeder durch ihn möglichen Gefahr der so gefürchteten innern Ansteckung vorzubeugen. Florentine überreichte sie unserer einige Schritte weiter hin stehenden Kasche, von dieser erhielt sie, abermals in einiger Entfernung, unsere Mutter, die sie dann endlich dem Doctor Wolf übergab.

Halb tod waren wir, oder glaubten doch es zu sein, als wir von dieser peinlich quälenden Expedition zu Hause ankamen; gern wären wir allesammt gleich zu Bette gegangen, doch daran war nicht zu [128] denken; wir mußten spielen und lustig sein auf hohen Befehl. Und so ging es von nun an alle Tage, spielen und spazieren laufen vom Morgen bis zum Abend, obgleich wir bei der mit großer Konsequenz fortgesetzten magern Diät endlich ganz von Kräften kamen. Doctor Wolf sah sich zuletzt genöthigt, uns etwas Bouillon reichen zu lassen, um nur die Blattern zum Ausbruch zu bringen, und von dem Augenblick an ging es meinen Schwestern vortrefflich: das gefürchtete Uebel schlich leicht und schonend an ihnen vorüber, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.

Anders, gar anders war es mit mir; über und über mit Blattern bedeckt fühlte ich mich sehr leidend, und die unablässige, sogar etwas ängstliche Sorgfalt, welche Doctor Wolf mir widmete, verrieth, daß er meinen Zustand für nichts weniger als ganz gefahrlos ansah.

Abgerechnet davon, daß er wirklich ein gutmüthiger, menschenfreundlicher Mann war, mußte unter diesen Umständen an meiner Erhaltung ihm ohnehin alles gelegen sein; auch wich er einige Tage lang fast nicht aus unserm Hause, und keine junge Prinzessin kann von dem Hochfürstlichen oder gar Königlichen Leibarzte ihrer Eltern mit größerer Aufmerksamkeit behandelt werden, als ich von ihm es wurde.

[129] Eine Blatter, die auf einem meiner Augen sich bilden wollte und mich vielleicht blind gemacht hätte, verursachte ihm besonders große Sorge, doch gelang es seinem unablässigen Bemühen, sie im Entstehen zu zerstören. Zum Umsinken kraftlos, vermochte ich kaum mich auf den Füßen zu erhalten, und doch mußte ich den Tag über außer dem Bette bleiben; glühend im heftigsten Fieber sank ich ermattet auf den Fußboden zusammen, meiner Mutter und Kasche wollte darüber das Herz brechen, doch Doctor Wolf riß mich empor, nahm mich auf den Arm und lief, bei Hitze und Kälte, bei Regen und Sonnenschein, die lange Brücke mit mir auf und ab. Fast bewußtlos hing ich still wie ein Lamm ihm über der Schulter, während unter lautem Bedauern die uns begegnenden Leute uns nachsahen.

Doch auch diese bösen Tage gingen vorüber; die Kur war glücklich vollbracht. Doctor Wolf ließ eine kurze Beschreibung des Verlaufs derselben drucken; das Büchelchen ging von Hand zu Hand, alle unsere Bekannten besuchten meine Eltern; die, welche nicht zu denselben gehörten, gingen wenigstens an unserm Hause vorüber, um mich und meine Schwestern frisch und gesund im Beischlage herumspringen zu sehen. Das Vorurtheil gegen die Inokulation hatte einen [130] Stoß erlitten, der endlich als tödtlich sich bewies, und Doctor Wolfs Glück war auf ewige Zeiten begründet.

Er ließ in Danzig sich förmlich nieder, wurde der Modearzt aller reichen und vornehmen Leute, behielt, theils aus Gewohnheit, theils aus Gescheutheit, seine wunderliche, rauhe Sitte bei, und lebte viele Jahre lang in meiner Vaterstadt in Ehre und Ansehen. In Folge einer in seinem Testamente von ihm getroffenen Anordnung wurde er, unter von ihm vorgeschriebenen Vorbereitungen, auf dem Bischofs-Berge, der höchsten Anhöhe in der Nähe der Stadt, in ein Grab gelegt, das er selbst unter seinen Augen hatte graben lassen; dicht neben der Sternwarte, wo er gewöhnlich die sternhellen Nächte in Beobachtungen zuzubringen pflegte, und deren Entstehung, nebst mancher andern wissenschaftlichen Einrichtung, die Stadt großentheils seiner Anregung verdankte.

Nach Verlauf von hundert Jahren sollte das Grab an seinem Begräbnißtage wieder geöffnet und untersucht werden, so hatte er in seinem Testamente es bestimmt; doch kaum die Hälfte dieser Zeit ist verflossen und die Stätte desselben ist nimmer zu finden. Die zweimalige Belagerung meiner unglücklichen Vaterstadt hat dort alles vernichtet; von der [131] Sternwarte und den übrigen damaligen Gebäuden auf dem Bischofsberge ruht kein Stein mehr auf dem andern, wie Spreu vor dem Winde ist alles verweht.

So steht es um menschliche Pläne, um menschliche Anordnungen der Zukunft und um menschliche Voraussicht.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Edward Jenner (* 17. Mai 1749, † 26. Januar 1823)
  2. Johann Christian Anton Theden (* 1714, † 1797)