Liegnitz (Meyer’s Universum)
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Man kann recht pretentiös werden, wenn man fortwährend Gutes genießt und Schönes sieht. Man wird eigensinnig und undankbar zugleich. Auf den langen Genuß des Guten verlangt der lüsterne Sinn nach dem Besten, und wenn man immer Schönes vor Augen hat, will endlich nur das Allerschönste noch behagen. So fühlen sich Viele mitten im Ueberflusse arm und dürftig und ich habe einen alten Schiffskapitän gekannt, der fünf Mal die Welt umfahren hatte, und der, bei Betrachtung einer Landschaft, welche andere Menschenkinder in Entzücken setzte, zu gähnen gewohnt war. Der arme Mann darbte bei voller Tafel.
Mir selbst, als Universumschreiber, geht’s zu Zeiten nicht viel besser. – Wenn ich, von einem Welttheil zum andern mich versetze, bald von Bergen herabschaue, bald über Meere schwebe, bald goldne Paläste, bald schaurige Katakomben durchwandere, bald die Gletscher des Himalaya betrachte, bald den Sturz des Niagara schauen muß und endlich mit müden Flügeln und verwöhnten Sinnen zu einem Alltagsbild gelange, an dem nichts zu sehen und nichts zu beschreiben ist, was die ermattete Phantasie erfrischen und reizen kann, – so wende ich mich ab, und langweile mich und Andere.
So ein Alltagsbildchen – die Liegnitzer mögen’s mir verzeihen – ist das Conterfei der hübschen, blühenden Hauptstadt eines schlesischen Regierungsbezirks mit ihrer wohl kultivirten, obschon einförmigen Umgebung. Andere mögen über Liegnitz ein Buch schreiben, ich beschränke mich auf die Notiz, daß in kaum 800 Häusern 15,000 Menschen Raum finden, und die Stadt eine Menge Anstalten besitzt, welche von ihrer Bewohner lebendigem Sinn für christliche Wohlthätigkeit und für ihre Liebe zur Wissenschaft, Kunst und Literatur ehrendes Zeugniß geben.
[196] „Finde ich die Prosa in den Mauern, so suche ich die Poesie außerhalb der Thore“, – sagte der alte Gellert von seinem Leipzig. Auch Liegnitz hat in seiner Nähe einen Ort, wo Helden-Geister um Mitternacht Schlachten schlagen, wie die Sage geht. Auf der Wahlstatt an der Katzbach sank das deutsche Banner, getragen vom Herzog Heinrich von Liegnitz, am 9. April 1241 mit 40,000 deutschen Männern in der Vertheidigung der Reichsgrenze gegen das zahllose Heer weltverwüstender Mongolen, und 572 Jahre später errang Blücher mit seinen Preußen auf demselben Felde den unsterblichen Sieg zur Rettung Deutschlands aus fremden Ketten.
„Aus fremden Ketten!“ – so ruft verspottend die lachende Echo,
Ruft’s und die Söhne des Teut senken erröthend das Haupt. –