MKL1888:Leonardo

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Leonardo“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 695697
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Leonardo. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 695–697. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Leonardo (Version vom 11.04.2021)

[695] Leonardo, ital. Maler, genannt da Vinci von seinem Geburtsort, dem Bergdorf Vinci bei Empoli, wo er 1452 als der natürliche Sohn Ser Pieros, Notars der Signoria von Florenz, geboren wurde. Er zeigte früh Begabung für die Kunst, so daß er zu dem Maler und Bildhauer Andrea del Verrocchio in Florenz in die Lehre gegeben wurde, in dessen einzig erhaltenes Bild, die Taufe Christi (Akademie zu Florenz), L. einen Engel hineinmalte. Von 1472 bis 1478 wird L. mehrfach in Urkunden erwähnt. Doch haben sich von seinen Jugendwerken nur folgende erhalten, welche ihm mit Sicherheit zuzuschreiben sind: die Untermalung einer Anbetung der Könige (Florenz, Uffizien) und ein heil. Hieronymus, ebenfalls nur in brauner Untermalung (Rom, vatikanische Galerie). Dagegen wird die Verkündigung in den Uffizien zu Florenz gegenwärtig dem Ridolfo Ghirlandajo zugeschrieben. Groß ist dagegen die Zahl der Zeichnungen aus dieser ersten Periode, die, meist in Kreide, Rötel und mit der Feder ausgeführt, sich in der Windsorbibliothek, im Louvre, in der Akademie zu Venedig, in der Ambrosianischen Bibliothek in Mailand, in den Uffizien zu Florenz, im British Museum zu London und in der Albertina zu Wien befinden. Eine besondere Gruppe darunter bilden die Karikaturen, Ergebnisse seiner physiognomischen Studien, in denen sich aber auch seine Neigung zum Bizarren kundgibt. Sie sind mehrfach gestochen worden (unter andern von W. Hollar). Auch seine plastischen Übungen setzte er später in Florenz fort und widmete sich daneben mathematischen und physikalischen, namentlich mechanischen, Studien sowie der Architektur. Auch war er nicht nur gewandter Sänger und Lautenspieler, sondern konstruierte ein eignes Instrument, erfand ein neues Griffbrett für die Viola und entwarf eine Zeichnung zu einer neuen Lyra. Endlich finden wir ihn auch als Dichter, namentlich als Improvisator, aufgeführt; [696] doch hat sich nichts von seinen Dichtungen erhalten. Dabei zeichnete er sich durch Schönheit, Kraft und Gewandtheit des Körpers aus und glänzte durch Geist und Witz. Bald nach 1480 scheint L. Florenz verlassen und ausgedehnte Reisen unternommen zu haben. Aus seinen Schriften geht hervor, daß er sich nach dem Orient begab und eine Zeitlang im Dienste des Sultans von Kairo thätig war. Um 1484 berief ihn Herzog Lodovico il Moro nach Mailand, und hier entfaltete L. bis zum Jahr 1499 eine umfangreiche und vielseitige Thätigkeit. Das Hauptwerk, das er hier ausführen sollte, war das kolossale Modell einer Reiterstatue des Herzogs Francesco Sforza, das von den Zeitgenossen als Wunderwerk gepriesen, aber von französischen Armbrustschützen 1499 zerstört wurde, ehe es überhaupt zur Ausführung gelangt war. Entwürfe und Zeichnungen dafür befinden sich in der Windsorsammlung. Daneben wurde seine Thätigkeit als Architekt beim Mailänder Dom und als Ingenieur beim Bau des Martesanakanals hauptsächlich in Anspruch genommen. Von Staffeleibildern haben sich aus der Mailänder Zeit folgende erhalten: ein lebensgroßes männliches Brustbild und ein kleines weibliches Bildnis in Profil (in der Ambrosianischen Bibliothek), das herrliche, unter dem Namen: La belle Ferronnière bekannte Frauenbildnis im Louvre, die Madonna mit dem Basrelief (in mehreren Exemplaren vorhanden, von denen das bei Lord Warwick in Gatton Park als eigenhändig gilt), die Vierge aux rochers (in zwei Exemplaren: im Louvre und bei Lord Suffolk in Charlton Park, gestochen von Desnoyers) und der auferstandene Christus zwischen den Heiligen Leonardo und Lucia (Berliner Galerie, vielleicht nur Schulbild). Leonardos Hauptwerk in Mailand ist aber das noch vor 1499 vollendete Abendmahl des Herrn im Refektorium der Dominikaner von Santa Maria delle Grazie, das leider durch Vernachlässigung und schlechte Restauration sehr beschädigt worden ist. Das Bild ist 28 Fuß lang, enthält Figuren von anderthalber Lebensgröße und ist in Öl an die Hauptwand des Refektoriums gemalt. Es ist oft, am besten von R. Morghen und R. Stang, gestochen worden. Es zeigt die reichste und reinste Durchführung aller in der menschlichen Seele vorhandenen Motive und den schönsten Bau der Linien in allen Gruppen und Formen. Das Typische wie das Porträtmäßige ist überwunden und eine ideale Wirklichkeit geschaffen, die ebenso wahr und lebendig wie edel und geistvoll ist. Bei der Zerstörung des Gemäldes sind die dem Marco d’Oggionno, einem Schüler Leonardos, zugeschriebenen Kopien (eine in der Londoner Akademie) und die Pastellköpfe der Apostel, im Besitz der Großherzogin von Sachsen-Weimar, wichtig. Außerdem verfertigte L. in Mailand noch eine große Anzahl von Zeichnungen der verschiedensten Art und Kartons, nach welchen seine Schüler Gemälde ausführten, die gewöhnlich als Werke von seiner Hand aufgeführt werden. Von durchgreifendem Einfluß auf die Malerei war die Gründung einer Kunstakademie zu Mailand, welcher er seinen Namen gab, und deren Seele er war. Für seine Schüler schrieb er einen „Trattato della pittura“, worin er sie in erster Linie an die Natur, nicht an die Antike wies; für besonders wichtig aber erklärte er das Studium der Perspektive und der Anatomie und zeichnete selbst um 1494 die Teile des menschlichen Körpers, welche er bei seinem Unterricht als Vorlagen gebrauchte. Ein Band mit 235 großen anatomischen Zeichnungen befindet sich in der königlichen Handzeichnungssammlung zu London. Dann arbeitete er an einem Werk des Mathematikers Luca Pacioli über die menschliche Proportion und über Perspektive, in welchem zugleich die geometrischen Gesetze abgehandelt sind; auch fertigte er 60 Zeichnungen dazu. Die Originalhandschrift mit den Zeichnungen kam an die Ambrosiana zu Mailand, und 1509 erschien das Werk gedruckt und mit Holzschnitten versehen unter dem Titel: „De divina proportione“. Unter der großen Zahl von Schülern, die L. auf diesem Weg heranbildete, werden Cesare da Sesto, Gian Antonio Boltraffio, Francesco Melzi, Marco d’Oggionno, Andrea Salaino, Gian Pedrini, Bernardino Fassolo, Gaudenzio Ferrari, Bernardino Luini genannt. Nach dem 1499 erfolgten Sturz des Hauses Sforza verließ L. Mailand, 1500 war er kurze Zeit in Venedig, und im J. 1502 war er im Dienst Cesare Borgias als Kriegsingenieur in der Romagna thätig. 1503 finden wir ihn in Florenz, wo er von dem Gonfaloniere Pietro Soderini wohl aufgenommen und mit einem Jahrgeld bedacht wurde. Das erste Werk, welches er hier schuf, war ein Karton zu einem Altarbild der Servitenkirche daselbst, die Madonna mit dem Kinde, dem kleinen Johannes und der heil. Anna darstellend, den er aber nicht ausführte, und der sich gegenwärtig in der Akademie zu London befindet. In diese Zeit gehört auch das Bildnis der Mona Lisa, der schönen Frau des Francesco del Giocondo (jetzt im Louvre zu Paris, ein Werk von bestrickendem Zauber), und jenes der Ginevra, der Gemahlin des Amerigo Benci (verloren gegangen). Von dem Rate der Stadt hatte er den Auftrag erhalten, in dem neuen Ratssaal ein großes Bild an die Mauer zu malen, wozu L., mit Michelangelo wetteifernd, die Schlacht zwischen den Florentinern und Mailändern bei Anghiari (1440) wählte. Die Ausführung ward 1505 begonnen, aber oft unterbrochen und schließlich aufgegeben. Dagegen erhielt sich der 1505 vollendete Karton noch geraume Zeit und bildete für die heranwachsenden Maler eine Quelle des Studiums. Er ging später zu Grunde, und nur von der Mittelgruppe, einem Reiterkampf um eine Standarte, hat sich eine Nachbildung in einer Zeichnung des Louvre (angeblich von Rubens) erhalten, welche von Edelinck gestochen ist. Nachdem L. 1505 einige Zeit in Barbiga zugebracht, wo seine Familie ein Gut hatte, war er 1506 wieder in Mailand, bis ihn die Signoria nach Florenz zurückberief, 1508 in Vaprino als Gastfreund des Grafen Melzi und zuzeiten auch in Canonica, wo ihn die Schiffbarmachung des Naviglio della Martesana beschäftigte sowie im folgenden Jahr die Vollendung des Kanals von San Christoforo bei Mailand. Hier leitete er 1509 die Dekoration des Triumpheinzugs König Ludwigs XII. und erhielt dafür von demselben eine Strecke Wassers aus dem Naviglio bei San Christoforo als Eigentum, wo er eine bewunderungswürdige Schleuse und einen Stapelplatz anlegte. Zugleich ernannte ihn der König zum Hofmaler mit Gehalt. Ende 1509 begab sich L. nach Florenz, 1512 kehrte er nach Mailand zurück und hielt sich 1514 eine Zeitlang am Hof Leos X. in Rom auf, wo er jedoch nur wenige, nicht erhaltene Werke ausführte. Der letzten Mailänder Zeit gehören die heil. Anna selbdritt und die Halbfigur eines heil. Johannes im Louvre an. Nachdem er 1515 wieder kurze Zeit in Florenz gelebt, war er noch in demselben Jahr beim Einzug Franz’ I. von Frankreich in Mailand und befand sich seitdem im Gefolge des Königs, welchen er 1516 nach Frankreich begleitete. Hier scheint er indes wenig gearbeitet zu haben. Er starb 2. Mai 1519 auf dem Schloß Cloux bei Amboise.

[697] Als Maler hat er das Hauptverdienst, daß er der Zeichnung die sichere anatomische Grundlage gegeben und das Körperliche in der Beleuchtung zuerst dargestellt hat. Auch strebte er zuerst ein Helldunkel und eine möglichst vollkommene Modellierung an, die er durch zarte Übergänge der Umrisse und Töne ineinander (sfumato) zu erreichen suchte. Seine Karnation hat etwas Glatt-Marmornes; eigen ist sein Gesichtsausdruck bei den Frauen, der in das Lächelnde übergeht; er war hierin ein Vorbild Correggios. Er wußte die merkwürdigsten Verbindungen der menschlichen und der Tiergestalt zur Anschauung zu bringen und wandte letztere schon zu politischen Satiren an. Namentlich aber ist das Porträt durch ihn zur vollsten Selbständigkeit und Vergeistigung gebracht worden, indem es ihm zuerst gelang, das feine Spiel der Empfindungen in seinen Köpfen auszudrücken. Der Ernst männlichen, thätigen wie forschenden Geistes spricht sich besonders in dem heiligen Abendmahl und in dem Reiterkampf um die Standarte, die L. eigne Anmut und Lieblichkeit aber in seinen heiligen Familien aus. Da L. sich in der Ausführung nie genugthun konnte, erklärt es sich, daß er so wenige Gemälde hinterließ, und selbst diese sind zum Teil noch unvollendet. Fast nicht minder schätzbar als seine Gemälde sind Leonardos physikalische und mathematische Schriften. Seine von rechts nach links (in Spiegelschrift) geschriebenen Manuskripte sind mit Zeichnungen versehen, so daß der Gedanke mit der Illustration Hand in Hand geht. In der Mechanik kannte L. unter anderm die Gesetze der auf einen Hebelarm schief wirkenden Kräfte, den gegenseitigen Widerstand der Hebelarme, die Gesetze der Reibung, den Einfluß des Schwerpunktes auf ruhende und bewegte Körper, die Anwendung des Prinzips des Stoßes auf verschiedene Fälle etc. In der Optik beschrieb er vor Porta die sogen. Camera optica, erklärte das Wesen der farbigen Schatten, die Bewegungen der Iris, die Wirkungen, welche die Dauer des Eindrucks im Auge hervorbringt, u. a. Ein großer handschriftlicher und artistischer Schatz von L. war bis 1796 in der Ambrosiana zu Mailand. Man bewahrte daselbst 16 Bände Handschriften und Zeichnungen, wahrscheinlich zum Teil Studienbücher. Sie wurden in dem genannten Jahr als Kriegsbeute nach Paris gebracht, von wo nach dem Sturz Napoleons I. die Ambrosiana nur den berühmten „Codex atlanticus“ zurückerhielt, während 12 Bände in Paris (Bibliothek des Instituts) zurückblieben. Ein Band befindet sich im Britischen Museum zu London, andre Manuskripte in Windsor. Leonardos Schriften wurden herausgegeben von J. P. Richter („The literary works of L. da Vinci“, Lond. 1883, 2 Bde.), das „Buch von der Malerei“ von Ludwig (mit Übersetzung und Kommentar, Wien 1882, 3 Bde.). Die Herausgabe der Pariser Manuskripte begann Ravaisson-Mollien (Par. 1880 ff.). Vgl. L. Amoretti, Memorie storiche sulla vita, gli studj e le opere di L. da Vinci (Mail. 1804); Brown, The life of L. da Vinci (Lond. 1828); Fumagalli, Scuola di L. da Vinci in Lombardia (Mail. 1811); Gallenberg, L. da Vinci (Leipz. 1834); Rio, Léonard de Vinci et son école (Par. 1855); Clément, Michelangelo, L., Raffael (a. d. Franz. von Clauß, Leipz. 1870); Heaton und Black, L. da Vinci and his works (Lond. 1873); M. Jordan, Untersuchungen über das Malerbuch des L. da Vinci (Leipz. 1873); Grothe, L. da Vinci als Ingenieur und Philosoph (Berl. 1874); A. Houssaye, Histoire de Léonard de Vinci (2. Aufl., Par. 1876); Brun in Dohmes „Kunst und Künstler“ 3. Teil; Woltmann-Woermann, Geschichte der Malerei, Bd. 2 (Leipz. 1882).