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MKL1888:Fruchtbarkeit

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Fruchtbarkeit“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 6 (1887), Seite 757758
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Fruchtbarkeit. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 6, Seite 757–758. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Fruchtbarkeit (Version vom 10.08.2025)

[757] Fruchtbarkeit (Foecunditas), im physiologischen Sinn die Quantität des Zeugens in der organischen Natur. Ihr Grad wird bestimmt sowohl nach der Zahl der Individuen, welche bei einem und demselben Zeugungsvorgang entstehen, als nach der Zahl der Zeugungsvorgänge, welche während einer bestimmten Zeit oder während des Lebens des zeugenden Individuums stattfinden. Ein Maisstengel trägt ca. 2000, eine Sonnenblumenpflanze 4000, eine Platane soll 100,000 und ein Gewürznelkenbaum 700,000 Samenkörner tragen. Die Infusorien pflanzen sich in zahlloser Menge fort, ebenso viele Würmer und Mollusken. In einer Auster fand man eine Million und in der Archenmuschel (Arca Noae L.) 2 Mill. Eier. Ebenfalls sehr groß ist die F. der Insekten und der Fische; beim Stör und Kabeljau hat man mehrere Millionen Eier gefunden. Weit geringer ist die F. bei den Reptilien, unter denen die Batrachier noch am fruchtbarsten sind. Noch geringer ist die F. der Vögel und Säugetiere. Die Vögel legen oft nur 2 Eier (Geier, Adler), andre viel mehr, selbst 16 (Feldhuhn, Rothuhn, Wachtel); viele Säugetiere werfen nur ein Junges, bis 15 aber die Wanderratte und Spitzmaus. Bei den Menschen rechnet man auf eine Ehe 3–4 Kinder, auf 23–30 lebende Menschen im Jahr eine Geburt, auf 50 Ehen eine unfruchtbare. Die Zahl der einfachen Geburten verhält sich zu der der Zwillingsgeburten in Deutschland wie 60–70 zu 1, in Frankreich wie 70–80 zu 1, in England wie 72 zu 1. Ungefähr auf 6–7000 einfache Geburten kommt eine Drillingsgeburt, auf 20–50,000 eine Vierlingsgeburt und auf mehrere Millionen vielleicht eine Fünflingsgeburt. Die niedern Tiere sind fruchtbarer als die höhern, weil teils die Zeugung bei jenen ein einfacherer Hergang, teils das Erzeugte ein unvollkommneres Wesen ist und sich daher auch früher fortpflanzt. Bei äußerer Befruchtung ist die F. größer als bei innerer, ebenso bei Tieren, die ihre Nahrung leicht und in Menge finden, wie die Pflanzenfresser. Auch die Größe der Tiere, die Dauer des Fötuslebens sind von Einfluß. Wassertiere sind im allgemeinen viel fruchtbarer als Landtiere.

Die F. bei den verschiedenen Individuen einer Art unterliegt erheblichen Schwankungen. Die bestimmenden Momente sind erst höchst mangelhaft erforscht. Am besten bekannt sind die Einflüsse des Klimas auf die F. Im äußersten Norden unter 70–80° Breite ist die F. sehr gering, so unter den Lappländern, Grönländern, Eskimo, Samojeden, Ostjaken, Jakuten, Kamtschadalen. Im nördlichen Teil der gemäßigten Zone bei 50–70° Breite ist die F. größer als im südlichen oder unter 40–50°. Weiter gegen Süden und, wie es scheint, vorzüglich im nördlichen Teil der heißen Zone oder unter 10–40° Breite nimmt die F. zu. Larrey bemerkte, daß mehrere Frauen, die in Europa unfruchtbar gewesen waren, beim französischen Heer in Ägypten schwanger wurden. Besonders hat auch die Wärme an der F. eines Landes großen Anteil. Das Kaninchen wirft bei uns jährlich drei- bis viermal, in warmen Ländern sieben- bis achtmal. Auch die Feuchtigkeit der Luft scheint einigen Einfluß auf die F. auszuüben, da dieselbe an den Küsten größer ist als mitten im Land und z. B. Luzern im Vergleich gegen Unterwalden, die Normandie gegen die Champagne und die Niederlande gegen Deutschland fruchtbarer sind. Bei einer Hungersnot werden weniger, in fruchtbaren Jahren mehr Kinder erzeugt. Die Haustiere, die überhaupt fruchtbarer sind als Tiere im wilden Zustand, pflanzen sich noch häufiger fort, wenn sie besonders reichlich gefüttert werden, unter welcher Bedingung z. B. das Schwein binnen 13 Monaten dreimal wirft. Eine einfache Lebensweise begünstigt die F. des Menschen; sie ist daher im allgemeinen größer unter den niedern als unter den höhern Ständen, unter den Armen als unter den Reichen, auf dem Land als in großen Städten. Fast alle Fälle ungewöhnlicher F. kamen bei armen Leuten niedern Standes vor. Freie, industriöse Völker sind fruchtbarer als luxuriöse und unterjochte. Die F. ist erblich und in manchen Familien ungemein groß. Eine gewisse körperliche und geistige Aufregung scheint die F. zu unterstützen. So erfolgt oft nach Fiebern Befruchtung, selbst bei Frauen, die bisher unfruchtbar gewesen waren; in den ersten Jahren nach ansteckenden Seuchen, nach Kriegen sowie nach Hungersnot nimmt die Bevölkerung in ungewöhnlichem Maß wieder zu.

[758] Die Fruchtbarkeit der Pflanzen, d. h. die Zahl der von einer Mutterpflanze auf geschlechtlichem Weg erzeugten entwickelungsfähigen Embryonen, hängt, wie die F. der Tiere, in erster Linie von der Anzahl der für die Befruchtung vorbereiteten empfängnisfähigen Eizellen und in zweiter Linie von dem Eintritt der Befruchtung ab. Nur in seltenen Fällen, wie bei Santalum album und bei einigen Orchideen, produziert eine Samenknospe zwei Embryonen; auch kommt bei einigen Liliaceen (Funkia, Allium) sowie bei Citrus-Arten und Mangifera indica eine sogen. Polyembryonie vor, d. h. nach stattgefundener Befruchtung wachsen neben dem normalen, aus der Eizelle hervorgehenden Embryo noch mehrere Zellen der Kernwarze zu Adventivembryonen heran. Abgesehen von diesen Ausnahmefällen, kann sonst eine nur mit einem Fruchtknoten und einzelnen Ovulum ausgestattete Blüte auch nur einen einzelnen reifen Samen produzieren. Während die Zahl der Samenknospen innerhalb des Fruchtknotens bei den meisten Pflanzenfamilien eine durchaus bestimmte ist und nur bei einer Minderheit zwischen gewissen Grenzen schwankt, ist die Summe der befruchtungsfähigen Samenknospen an der Gesamtpflanze eine durchaus variable Größe, welche vor allem auch durch äußere Momente bestimmt wird; es kann z. B. durch klimatische oder ernährungsphysiologische Ursachen die Reichblütigkeit der Infloreszenzen, die Zahl der angelegten Blütenknospen u. dgl. geändert und damit auch auf die F. der betreffenden Pflanzen eingewirkt werden.

Unter den für die F. in zweiter Linie maßgebenden Umständen spielt zunächst die Art und Weise der Bestäubung, d. h. der Übertragung des Blütenstaubes auf die empfängnisfähige Narbe, die Hauptrolle (s. Blütenbestäubung). Bei den insektenblütigen Pflanzen hat die Häufigkeit oder Seltenheit der ihnen zu teil werdenden Insektenbesuche einen direkt nachweisbaren Einfluß auf die Reichlichkeit der Samenbildung, wie dies unter andern Darwin an Kleefeldern nachwies, die von Hummeln besucht wurden. Bei windblütigen Pflanzen, wie den Getreidearten, kommen für die F. besonders meteorologische Umstände von Wind und Wetter in Betracht; wenn nicht hinreichende Erschütterungen der zwischen den Spelzen herabhängenden Staubbeutel durch den Wind stattfanden, oder wenn die federige Narbe durch lange anhaltendes Regenwetter an der Aufnahme des Pollens gehindert war, treten im Ernteertrag starke Ausfälle ein. Für die Erzielung einer reichlichen Nachkommenschaft bei Zwitterblütigkeit ist ferner der Ursprung des Pollens von Belang, welcher die Bestäubung bewirkt. Es gilt hier das von Darwin durch zahlreiche Versuche bewiesene Gesetz, daß die Bestäubung der Blüten mit ihrem eignen Pollen, d. h. eine durch Generationen fortgesetzte Selbstbestäubung, ein ungünstigeres Resultat der Samenbildung ergibt als eine Wechselbestäubung zwischen Narben und Pollen verschiedener Pflanzenstöcke. Dem Zweck einer derartigen Kreuzung der Individuen dient im Pflanzenreich eine Reihe überaus merkwürdiger Einrichtungen, wie die Dichogamie, Heterostylie und Diklinie (s. Blütenbestäubung). In gewissen Fällen, in denen durch die Lage der Staubgefäße zu den Narben Selbstbestäubung unvermeidlich erscheint, wie bei Corydalis cava, erweist sich die Pflanze für den Pollen der gleichen Blüte sogar völlig unfruchtbar; auch der Roggen ist nach Rimpeau selbststeril. Bei vielen andern Pflanzen ist die Selbstbefruchtung dagegen erfolgreich, da die Natur nur den völligen Mißerfolg der Bestäubung zu verhindern trachtet. Findet die Befruchtung zwischen Pflanzen verschiedener Art statt, so hängt der Erfolg von der sogen. sexuellen Affinität der gekreuzten Formen ab, welche nicht immer mit ihrer systematischen Verwandtschaft parallel läuft; in der Regel erzeugen zwar nur systematisch nahe verwandte Formen Bastarde, jedoch können auch Arten verschiedener Gattung, z. B. Aegilops und Triticum, Amygdalus und Persica u. a., hybride Nachkommen erzeugen, wie umgekehrt bisweilen auch Varietäten der gleichen Spezies unter sich unfruchtbar sind. Die F. der Bastarde zeigt sich in der Regel geschwächt, indem ihre Pollenkörner mehr oder weniger verkümmern; in andern Fällen erweisen sich auch Bastarde als vollkommen fruchtbar, so daß man die Bastardkreuzung als ein wichtiges Mittel anwendet, um neue Formen von Kulturgewächsen zu züchten. Linné bestimmte die Zahl der Samen, welche ein einzelnes Pflanzenexemplar zu produzieren vermag, und fand z. B. beim Mais 2000, bei der Sonnenrose 4000, beim Mohn 32,000, beim Tabak 40,300 Samen.