Malerische Wanderungen durch Kurland/Das Privatgut Schleck und die Stadt Pilten mit ihren Umgebungen

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Edwahlen Malerische Wanderungen durch Kurland
von Ulrich von Schlippenbach
Das Kirchspiel und Schloß Dondangen
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[154]
Das Privatgut Schleck und die Stadt Pilten mit ihren Umgebungen.

Es giebt von Edwahlen nach Pilten zwey Wege; ich wählte indessen den entfernteren über Schleck, um auch dieses Gut, welches, so wie Edwahlen, Popen und Ugahlen, eine Stammbesitzlichkeit der Familie von Behr ist, dem Leser in einem flüchtigen Gemälde zu besehreiben. Der Weg von Edwahlen nach Schleck ist an sich selbst im [155] Ganzen nicht so gut, als er durch abwechselnde Aussichten und schöne Gegenden angenehm wird. Über eine Menge kleiner Hügel, von deren Spitzen aus immer eine neue schöne Aussicht hervortritt, und in der Ferne, an mehreren Stellen, die Krümmungen des malerischen Windaustroms, von Bauergesinden und fruchtbaren Wiesen und Feldern umgeben, erblickt werden, fährt man bis auf eine halbe Meile vor Schleck. Hier verliert sich alsdann der Weg in einen tiefen Fichtenwald, der beynahe bis zur Fähre fortreicht, die unweit dem Hofe Schleck über die Windau führt. In schwarzen Gewändern[1], fast nach griechischem Schnitt, standen hier einige Bauermädchen, die über den Strom wollten, und, bis die Fährleute [156] aus dem jenseitigen Kruge anlangten, ihre Nationallieder sangen. Die Melodie hat das Verdienst, noch viel einfacher zu seyn, als der schweizerische Kuhreigen, mit dem sie in dem letzten, lange ausgehaltenen Takte, einige Ähnlichkeit hat. Während eine Diskantstimme die einfache Melodie dieser selbst- und oft sogar aus dem Stegereif gedichteten Lieder führt, mehrere Stimmen aber in der tieferen Terz sie begleiten, übernimmt eine andere oder auch ein Paar den Baß, in der Manier einer Sackpfeife, und brummt unisono fort, bis das Lied in einem langgehaltenen Akkorde der höhern und tiefern Stimmmen endigt. Zwar läßt sich die Ähnlichkeit mit einem fernen Wolfsgeheul, die man in diesen Nationalgesängen der kurländischen Bauermädchen findet, nicht ganz ableugnen, indessen gestehe ich doch, daß ich sie in der Ferne sehr gern höre; denn diese rohen Laute ländlicher Freuden erinnern mich immer an irgend eine liebliche Landschaft, die ich hier und da gefunden habe, oder an die Tage meiner Kindheit, wo mir, beym Aufenthalte auf dem Lande, jene Lieder so oft [157] entgegenschallten. In der Kindheit spricht die Freude von jeder Blume, aus jedem Tone uns an; der Jüngling begegnet ihr zufällig, der Mann muß sie schon suchen, und findet sie oft nur sinnend im Heiligthume der Erinnerung. Der Frühling des menschlichen Lebens hat auch das mit dem der Natur gemein, daß nur ein wenig Sonnenschein mehrere Keime weckt, als es der ganzen heißen Glut des Sommers möglich ist.

Der Inhalt der Lieder, deren Versmaß freye ungereimte Jamben sind, ist eben, so einfach als ihre Melodie. Gewöhnlich sind die Bilder nur von den Gegenständen hergenommen, die den Bauer täglich umgeben. So hörte ich ein junges Hütermädchen, das auf der Flur, wo sie ihre Heerde hütete, Wolle von der Spindel spann, folgendes singen:

Fließt ihr Fädchen von der Spindel,
Fließt wie Wasser in dem Bach;
So viel Tropfen, so viel Fädchen,
Dann vermehrt der Reichthum sich,
Und wenn der Geliebte kehret,
Findet er sein Mädchen so
Schön geschmückt von eignen Händen,
Was die Spindel fleißig spann.

[158] Was damals gerade hier an der Fähre die ländlichen Schönen sangen, dessen besinne ich mich nicht mehr. In ihrer Gesellschaft gelangte ich über den Strom, betrat das jenseitige Ufer, während sie unabgebrochen fortsangen, und war schon mehrere hundert Schritte weit gefahren, als ich ihre Lieder aus der Ferne noch immer hörte.

Der Hof Schleck ist im neuern Geschmack gebaut, groß, geräumig und von mehreren Wohngebäuden für die Ökonomiebeamten dieser schönen Güter umgeben. Die Aussicht aus dem Hofe ist nicht besonders; sie wird von einem tiefen Walde rundum geschlossen. Desto angenehmer erscheint sie von dem schönen Kirchenthurme, der weit über den vorliegenden Wald hervorragt. Man übersieht da einen Horizont von 8 bis 9 Meilen im Durchmesser.

Daß ich, indem ich von Naturschönheiten meines Vaterlandes spreche, zwey Herzen hier nicht unbemerkt lasse, die gewiß in jedem Lande eine hohe seltene Naturschönheit wären, wird dem Leser hoffentlich nicht mißfallen. Ich meine den edlen [159] Erbbesitzer dieser Güter und seine Gemahlin, wie jeder Kurländer (wer kennt sie nicht?) schon errathen wird. Aber auch dem Fremden möge, statt alles so sehr verdienten Lobes, mit dem ich die Bescheidenheit, die sich ebenfalls in den Kranz der Tugenden dieser Redlichen windet, zu verletzen fürchten müßte, die Versicherung gnügen, die jeder meiner Landsleute bestätigen wird, daß, ohne Ausnahme, dieß edle Paar von allen, die es kennen, geliebt wird, und gewiß nicht einen Feind zählt. Der Leser wird mit mir übereinstimmen, daß die Bewirkung eines solchen Wunders nur der wahren und bescheidenen Tugend möglich werden kann.

Von Schleck gelangt man, auf gutem Wege, durch eine waldreiche, für die Birkhühnerjagd berühmte Gegend, nach Pilten, einer der ältesten Städte Kurlands, die jedoch, wie es Greisen zu gehen pflegt, ziemlich kraftlos geworden ist, und jezt nur aus einer Kirche, 50 bewohnbaren Häusern und der Ruine eines großen Schlosses besteht. Der Baron Blomberg in seiner, in englischer [160] Sprache geschriebenen Beschreibung, von Liv- und Kurland, welche im Jahr 1698 in einer französischen Übersetzung zu Utrecht erschienen ist, erzählt, daß der dänische König Woldemar diese Gegenden im Jahr 1219 erobert, und damals beschlossen habe, an dem Ort eine Stadt und ein Bisthum zu gründen, wo er den ersten Knaben finden würde. Im Altdänischen aber heiße ein Knabe Pilten, und so habe, weil er hier einen, Knaben erblickt, die Stadt ihren Namen erhalten. Im Grunde ein übles Prognostikon für eine Stadt, wie auch hier die Erfahrung lehrt. Der Pilten ist noch immer nicht zum Manne erwachsen, sondern hat sich klein erhalten, ob er gleich zum Wachsthum bald 600 Jahre Zeit hatte.

Die Stadt liegt in einer weiten Ebene, in der man nirgends einen merklichen Hügel erblickt, an einem verlassenen Bette der Windau, die ehemals hier vorbeigeströmt, jezt aber einen andern Lauf, ungefähr eine Viertelmeile von der Stadt, genommen hat. Nur im Frühjahr und Herbst, bey starken Überschwemmungen, legt sie sich in ihr ehemaliges [161] Bette, das die alte Windau genannt wird, zurück, um es mit Wasser und Fischen zu füllen. Diese alte Windau, an deren Ufer das Schloß lag, trocknet im Sommer bis auf einige tiefe Stellen ganz aus, und bildet einen Morast, der gewiß für die Stadt nicht anders als sehr ungesund seyn kann. Wo selbst ein Strom veraltet, darf man wohl auch keine neue schöne Häuser suchen. Die mehresten, mit Ausnahme von drey oder vier, sind verfallen, von Holz gebaut und mit Lubben gedeckt[2]. Die Aussicht auf eine weite Fläche voller Moräste, nur in beträchtlicher Ferne von Wäldern geschlossen, kann um so weniger befriedigend seyn, weil in den Umgebungen der Stadt äußerst sparsam Höfe; Bauerwohnungen und Felder erscheinen. Die letztern haben größtentheils Sandboden. Doch tragen sie bey guter Kultur reichlich, besonders wenn man zu ihrer Verbesserung den blaugrauen Thonmergel nutzt, den die [162] ganze Grundlage von Pilten hergiebt. Herr Probst Reimer, ein Mann, dessen Kenntnisse und Charakter gleich hochgeachtet zu werden verdienen, hat auf seinem Pastorat zu Pilten glückliche Versuche mit diesem Mergel gemacht. Er fand ihn schneller als Zucker im Wasser schmelzend. Ein Feld, das er vor 18 Jahren durch keine Düngungsart tragbar machen konnte, erhielt, nachdem er es mit diesem Mergel beschüttet hatte, eine ungewöhnliche Fruchtbarkeit. Nur Schade, daß es nicht leicht ist, diesen Dünger in gehöriger Menge zu erhalten, da er unter einer Sandlage von 3 bis 4 Fuß Tiefe versenkt ist. Der Mergel ist bekanntlich an sich selbst kein Dünger; aber durch seine leichte Auflösbarkeit vermischt er sich bald mit dem Sande, und bildet, als Thonart, in dieser Vereinigung eine gute und feste Erde, die auch den Dünger gut annimmt; dagegen er im bloßen Sande in unzertrennten Klumpen zwey bis drey Jahre an der Oberfläche liegen bleibt, vertrocknet und verbrennt.

Die Stadt Pilten hat von allen Städten Kurlands das ausgedehnteste Weichbild. Es [163] hält mehr als zwey deutsche Meilen im Umfange, bringt aber, außer Holz und Morastheu, den Einwohnern wenig Nutzen. Die Zahl der Einwohner beläuft sich nur auf 535, männlichen und weiblichen Geschlechts; darunter befinden sich 51 männliche und 48 weibliche der Stadt gehörige Erbunterthanen. Aber weder diese geringe Volkszahl, noch die auffallende Wohlfeilheit des Orts vermag es zu hindern, daß nicht die mehresten Bürger arm und verschuldet sind: was zum Theil wohl auch dadurch verursacht wird, weil nur wenige Güter in der Nähe liegen, die sich der Handwerker aus der Stadt bedienen, und in der Stadt selbst nur ein höchst unbedeutender Handel mit Landesprodukten getrieben wird, indem man diese in dem 4 Meilen von hier entfernten Hafen Windau zu bessern Preisen absetzen kann. Ein andrer, eben so wichtiger Grund der Armuth der Einwohner war die ehemals unter ihnen, gleich einer Seuche, eingerissene Prozeßsucht — ein bekanntes und ansteckendes Übel. Unter dem kleinen Häufchen waren jährlich 30 und mehrere Rechtsstreite anhängig; [164] das Handwerk blieb liegen und mancher schnitt mit der Scheere oder dem Krummmesser, anstatt eines Kleides, Schuhes oder des Maßes zu beyden, Papierbogen zu, um darauf seinen eigenen Rechtsstreit mit vielen juristischen Floskeln abzuhandeln. Dem jetzigen Magistrat und dessen Sekretair gehört das für die Stadt gewiß große Verdienst, Einigkeit und Ruhe und Liebe für beyde wieder hergestellt zu haben. In drey Jahren sind in Pilten nicht so viele Händel gewesen, als ehemals in eben so viel Monaten, und wenn von der andern Seite der Handel der christlichen Bürger nicht durch ihre neuen ebräischen Brüder beschränkt worden wäre, die sie wie Wucherpflanzen umranken, so könnte der Knabe Pilten, wo nicht rasch zum Manne, doch wenigstens zum Jünglinge reifen. Ehemals, als die Windau, die jezt nur ihre leere Schaale zurückgelassen hat, hier vorbeyströmte, und wodurch also zu Wasser ein mehr ausgebreiteter Handel möglich war, soll die Stadt blühender gewesen seyn, auch die freye Stapelgerechtigkeit in dem Windauschen Hafen [165] gehabt haben, ein Vortheil, der jezt freylich wenig mehr helfen dürfte, da der Strom selbst vom Stapel gelaufen ist.

Das Schloß, dessen Ruine man hier an dem verlassenen Bette der Windau erblickt, ist wahrscheinlich vom ehemaligen Domkapitel erbaut worden. Ich schließe auf das Jahr der Erbauung aus einem großen Sandsteine, der mit der eingehauenen Jahrzahl 1242 da, wo das Thor gestanden hat, gefunden ward und wahrscheinlich über dem Thore selbst eingemauert gewesen ist. Vor etwa 60 Jahren ist der eine Flügel des Schlosses noch bewohnt worden; jezt wird dieß nur noch den Schwalben und Dohlen möglich. Nur ein Thurm, vier Stock hoch, steht noch in seiner ganzen Höhe, da, wo die Einfahrt ins Schloß gewesen ist. Am andern Ende der Ruine befand sich ein hoher runder Thurm, an dem aber bis zu einer beträchtlichen Höhe, wo sich endlich eine kleine Thüre fand, durchaus keine Öffnung erblickt werden konnte. Seine Bestimmung blieb daher stets räthselhaft. Lange war schon der Grund dieses Thurms von dem im [166] Frühjahr aufsteigenden Wasser der alten Windau untergraben worden, endlich borst er vor ein Paar Jahren mit fürchterlichem Getöse, indem zugleich die eine Hälfte der Steinmasse in das Bette des Stromes hinabstürzte. Jezt entdeckte sich auch die ehemalige schreckliche Bestimmung dieses Thurmes zu einem schauderhaften Gefängnisse. Auf einer 9 Fuß dicken Mauer ruhte ein schweres Gewölbe, das, außer einem runden Loche, sonst weder Eingang noch Fenster hatte. Die unglücklichen Gefangnen müssen also durch diese Öffnung nicht allein herabgelassen worden seyn, sondern durch denselben Weg auch Luft und Nahrung — wenn man letztere ihnen zu reichen nicht etwa für überflüssig fand — erhalten haben.

Im Anblick dieser fürchterlichen Mauern dachte ich mir den Strom, der sie untergrub, theilte, und den finstern Schleyer, welcher viele Jahrhunderte hindurch hier einen Tempel des menschlichen Elends umhüllt hatte, zerriß, als den Genius der Zeit, wie er die Verbrechen der Vorwelt aufdeckt, bey denen [167] aber, die er selbst in der Gegenwart entstehen sah, schweigend vorüberzieht.

Daß die Stadt und das Bisthum Pilten vom Könige der Dänen Woldemar im Jahr 1219 gegründet worden, berichtet der dänische Geschichtschreiber Pontanus, und nach ihm Kelch in seiner liefländischen Geschichte, wo er die Entstehung des Namens der Stadt von einem Knaben gleichfalls erzählt. Nach eben diesen Schriftstellern hieß der erste Bischof Ermund, und soll sein Bildniß mit der Beyschrift

„Introduxit me rex in cellam suam ordinavit erga me charitatem suam, dicens: Omnis populus obediat tibi“

haben aufrichten lassen.

Die letzten Worte waren dem neuen Bischof besonders wichtig, denn er lehrte das Volk die Obedientiam mit Feuer und Schwert. Demungeachtet müssen unter diesem geistlichen Regiment frohe Zeiten in Pilten gewesen seyn, denn unter den fünf in Lief-, Ehst- und Kurland errichteten Bisthümern hieß im Sprichworte das kurländische [168] zu Pilten das lustigste[3]. Die Stadt hatte sich allmälig im Laufe von zwey Jahrhunderten vergrößert, ward aber 1560 von den Russen eingeäschert. Der dänische Prinz Magnus, der sich nachmals König in Liefland nannte, hatte das Bisthum Pilten, nachdem es der Bischof Münchhausen seiner Mutter für eine Geldsumme abgetreten, erhalten, und nahm ungefähr im Jahr 1571 auch vom Schlosse und der Stadt Besitz. Das Leben dieses Prinzen ist in unserer vaterländischen Geschichte merkwürdig, gehört aber nur, in so fern es direkte auf diesen Ort Einfluß hatte, hieher. Als nämlich Magnus seine stolzen Hoffnungen auf eine Königskrone beynahe mit dem Verlust seines Lebens bezahlt hatte und sie endlich aufgab, wohnte er in seinen letzten Lebensjahren in Pilten, wo er sich die Liebe seiner Unterthanen im hohen Grade erwarb. Er starb hier im Jahr 1583. Nach seinem Tode erwählten seine Unterthanen Johann Behren zu ihrem Feldherrn, und sprachen Dänemark um Schutz [169] gegen den Kardinal Radzivil, der Pilten, als Bisthum, mit Gewalt erobern wollte, an. Die aus Dänemark erlangte Hülfe war indeß nicht beträchtlich, desto eifriger aber vereinigte sich in Pilten selbst alles: der Adel, die Bürger und Bauern, und zogen dem Feldherrn des Kardinals, Namens Oborski, entgegen. Es kam zu einem Gefecht, in welchem letzterer blieb. Der Kardinal suchte nun den Herzog Gotthard von Kurland unter dem Vorwande mit in seine Händel zu ziehen, daß König Sigismund von Polen in die Besitznahme des Stiftes eingewilligt habe; allein er konnte, trotz aller List, die er anwandte, den Herzog, der auf Mittheilung des königlichen Schreibens drang, nicht bewegen, an dem Kriege Theil zu nehmen. Inzwischen hatten die Piltener bey einem Ausfalle einen Befehlshaber des Kardinals gefangen genommen, und bey ihm ein Schreiben des Königs von Polen an den Kardinal, worin die gewaltsamen Maßregeln des letztern höchlich gemißbilligt wurden, gefunden. Diese Entdeckung gab den Piltenern neuen Muth. Sie sandten dem Herzoge eine Abschrift [170] des königlichen Schreibens, und überfielen das zahlreiche Heer des Kardinals unter dem General Pekoslavsky. „Und,“ sagt hierbey der Doktor Laurentius Müller in seinen septentrionalischen Historien S. 73. „Und haben die Piltener dermaßen dem Feinde zugesetzt, daß der Pekoslavsky, der auch durch den polnischen Telian geschossen worden, selbst bekennen mußte, daß sie gute Leute wären, und so sie damals so viel Raths bey sich, als Herzens gehabt, so war der Polen keiner davon kommen, derhalben kurz hernach der Oberste mit seinem Volke wieder aufgebrochen und abgezogen.“

Durch diesen Krieg hatte die Stadt Pilten, die sich kaum vom Brande zu erholen angefangen, abermals viel gelitten, so wie auch das Schloß selbst, das nun allmälig zu verfallen anfing, bis endlich, wie schon erzählt worden, vor ungefähr 60 Jahren der letzte bewohnbare Flügel einstürzte.

Die Kirche in Pilten ist geräumig und heil. Sie wurde erst vor 70 Jahren neu erbaut. In den ältesten Zeiten stand Kirche und Pastorat, anderthalb Meilen von hier, [171] bey dem piltenschen Dorfe Pankuschen, das ehemals Pankhorsten hieß.

Unweit Pilten bey einem der Fürstin von Sacken gehörigen Bauerhofe, der den lettischen Namen Elke führt (was im Deutschen Götze bedeutet), stand zur Zeit der heidnischen Bewohner Kurlands ein heiliger Hain. Man findet hier einen breiten starken Eichenstamm, an dessen Ästen noch vor wenigen Jahren der Aberglaube der hiesigen Landleute Handschuhe und Strumpfbänder aufzuhängen pflegte. Die spätere Zeit hat, im Nachgefühl der Heiligkeit des Orts, ihn noch bis jezt zum Begräbnißplatze gewählt. Wenn die kurzstämmige Dryas dieses alten Eichbaumes alle hier aufgehangenen Strumpfbänder gebraucht hat, um ihre Knie damit zu umwinden, so glich sie dann den hiesigen Bauermädchen, die, bey einem kurzen schwarzen Rocke, ihre Füße, bis ans Knie, mit allerley farbigen Ringen von gestrickter Wolle zu schmücken pflegen, und so, den Trommeltauben gleich, mit rauhen Füßen einherschreiten. Um die Schulter tragen sie hier, wie in der Gegend von Windau, sehr [172] häufig ein großes blaues Tuch, das wie ein Mantel herabhängt, und über der Brust durch eine, mehrentheils mit bunten Glassteinen geschmückte Schnalle, zusammen gehalten wird. Ihr Kopfputz besteht in einem starkgesteiften weißen Tuche, das in regelmäßigen Falten Kopf und Hals einschließt, und mit dem Kopfputz der Türkinnen, wenn sie ausgehen, (wie Dollawar sie abbildet) Ähnlichkeit hat. Auch die Kleidung der Männer ist in diesen Gegenden von der gewöhnlichen der übrigen kurischen Bauern verschieden, und besteht aus einem wollenen, um den Leib stark gefalteten weißen Rock, um den sich ein breiter, mehrentheils mit Messingstreifen, gezierter Gürtel schließt. Um Knie und Knöchel tragen sie bunt gefärbte Kniebänder oder von Wolle gestrickte breite Ringe. Im Ganzen sind die Bauern in diesen Gegenden ziemlich wohlhabend und besonders reich an Vieh, da sie in den Morästen nur Heu gewinnen können. Hier und da, wo in den Wäldern viel Haidekraut wächst, wird auch beträchtliche Bienenzucht getrieben.

[173] Zum Schluß möge sich der Leser noch eine Anekdote von der Treue und Liebe eines Bauern aus der piltenschen Gegend für seinen Herrn erzählen lassen, die letzterer in einem Tagebuche aufbewahrt hat. Obschon, seitdem die Geschichte sich zutrug, beynahe 100 Jahre verflossen sind, so glaube ich doch, daß jeder edle Zug des menschlichen Herzens in seinem Interesse für das Gefühl eben so wenig, als die Freyheit bey den Römern, verjähren könne. Unweit Pilten liegt ein großer tiefer Morast, der zum Privatgute Sirgen gehört. In diesem Morast hatten sich damals, als im Kriege zwischen Schweden und Rußland zu Anfange des 18ten Jahrhunderts auch Kurland verwüstet wurde, mehrere Bauern einen verborgenen Weg gebahnt, wohin sie ihre Familien und Vorräthe flüchteten. Die meisten Güter Kurlands wurden zu der Zeit so zu Grunde gerichtet, daß ihre Besitzer nur mit Mühe ihr Eigenthum erhalten konnten. Ein Herr von H— war damals Erbbesitzer auf Sirgen; der Krieg hatte seine Wohlfahrt zerrüttet, und er war um ein für jene Zeit sehr großes Kapital, das [174] er zu zahlen hatte, verlegen. Als Vater einer zahlreichen Familie sieht er kein Mittel, sich für den Augenblick zu helfen, und sichtbar drückt ihn der Kummer nieder. Da tritt einer seiner Bauern zu ihm, und bittet ihn gutmüthig, seinen Kummer zu entdecken. Auf die Antwort des Herrn: „ich brauche Geld, viel Geld, du kannst mir doch nicht helfen‚“ versetzt der Bauer: „warum nicht, wie viel Geld braucht Ihr?“ „6000 Thaler.“ „Ihr könnt sie in Gold oder Silber haben.“ Den andern Tag erhielt der Herr wirklich das Geld, das er seinem Bauer nach einiger Zeit dankbar zurückgab. Unterdessen wurde, nach einem allgemeinen Mißwachs im Jahr 1709, das schon durch den Krieg verwüstete Kurland mit Hungersnoth und das Jahr darauf von einer fürchterlichen Pest, die auch einen Theil von Deutschland traf, heimgesucht. Keine Rettung, keine Hülfe war möglich, und jeder mußte nur auf Mittel denken, sich selbst gegen Ansteckung zu sichern. Herr von H— hatte daher seinen Hof rundum mit hohen Staketenzäunen und Pfählen umzogen, und gestattete niemanden [175] den Eingang. Eines Tages aber lärmt und tobt sein treuer Freund, unser Bauer, an der Verzäunung, und erzählt seinem Herrn, der sich an das verschlossene Thor begiebt, wie seine Angehörigen alle gestorben wären und auch ihn wohl die Reihe bald treffen werde, der Herr möge daher einen seiner Söhne, den er namentlich nannte, zu ihm herausschicken, damit er diesem sein vieles Geld, das er jezt vergraben hätte, anzeigen und übergeben könne. Mit Thränen der Rührung erkannte der Herr die Anhänglichkeit des Letten, doch er hielt das Leben seines Kindes höher als Gold, und verstattete ihm den Ausgang nicht. Traurig ging der edle Bauer davon, und man fand ihn, als die Pest aufhörte, nicht mehr lebend. Der Schatz liegt also hier noch irgendwo tief in der Erde. Ach! auch jener bessere — das edle Herz des Bauern — dessen Liebe und Treue für einen guten Herrn selbst die nahe Angst des Todes nicht lähmen konnte.


  1. In der Gegend von Schleck tragen die Bauermädchen eine Kleidung von schwarzer Wolle, Rock und Mieder in einem Stück, mit einem gewöhnlich messingenen Gürtel hochgegürtet. Das Mieder ist ohne Ärmel und tief bis unter der Brust ausgeschnitten. Bey der Kälte ziehen sie eine Jacke über, die den Spencern unserer Damen gleicht, und um den Kopf tragen sie einen messingenen Reif, mit vielen Bändern. Die Kleidung ist im Ganzen sehr wohlstehend.
  2. Lubben nennt man hier eine Art Schindeln, die 3 bis 4 Fuß lang, ohne bestimmte Form, wie breite Holzspäne von Fichtenstämmen gerissen werden und ein schweres, selten festes Dach bilden.
  3. Kelch S. 89.