Meine Kindheit (Die Gartenlaube 1872)

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Autor: Gottfried Kinkel
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Titel: Meine Kindheit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, 29, 31, 32
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[455]
Meine Kindheit.[1]
Von Gottfried Kinkel.
(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)
I.


Mein Geburtsort, das Dorf Oberkassel, welches hart am Rheinufer im Siegkreise der preußischen Rheinprovinz liegt, ist gewiß, und nicht blos in meiner Erinnerung, einer der lieblichsten Erdflecke, die es giebt. Malerisch zwischen Obstbäumen seine Häusergiebel erhebend, ruht es an einer von schroffen Basaltfelsen überstiegenen Berglehne, die einen nördlichen Ausläufer des unvergleichlichen Siebengebirges bildet. In einer Stunde erreicht man von hier Königswinter, in zweien ersteigt man den Gipfel des sagenberühmten Drachenfelsens. Noch näher winkt vom jenseitigen Rheinufer der runde Thurm des Godesbergs, und ein leichter Marsch eines Sommernachmittags führt von dort nach Nonnenwerth und dem Rolandseck, dessen eingestürzten Bogen jüngst ein deutscher Dichter neu gewölbt hat. Mehr stromabwärts, wiederum in einer Stunde erreichbar, liegt auf dem jenseitigen Ufer das freundliche Bonn, und nach dieser Seite weitet sich nun das bis dahin von Felsen verengte Rheinthal in die große norddeutsche Ebene aus. Die sanften Höhenzüge, in welche hier die beiden stolzen Gebirgsketten der Eiffel und des Westerwaldes auslaufen, geben diesem herrlichen Landstrich den doppelten Reiz des Berglandes und der Ebene, und tragen auf ihren der Mittagssonne zugewendeten Flanken die letzten Weinberge, welche der Rhein besitzt. Ueber meiner Heimath, zwischen Wald, Weinberg und Getreidefeldern, zieht sich durch das nahe Dörfchen Berghausen ein Fahrweg hin, der im weiteren Fortlauf zum höhern Bergland emporsteigt. Dort möcht’ ich zumal den nordischen Wanderer unerwartet hinstellen, um ihn mit Einem Blicke die Herrlichkeit und ganz unerschöpfliche Segensfülle meines Rheinlandes überschauen zu lassen!

Ein tüchtiges Menschengeschlecht bewohnt diesen Theil des rechten Rheinufers. Eine Meile unterhalb Oberkassel strömt die Sieg ihre blauen, oft wilden Bergwasser in weitem Kiesbette dem Rheine zu. Die Anwohner der Sieg sind wie ihr herrlicher Bergfluß, kühl und klar in ruhiger Zeit, aber auch wie er schäumend und tiefwühlend, wenn ein Gewitter die Strudel schwellt. Sie haben den stolzesten Stammbaum unter allen Deutschen: es sind ja die Nachkommen der trotzigen Sigambern, die der römischen Eroberung am Rheine beständig eine Grenze gesetzt haben. In der That findet sich auch im Siegkreise keinerlei Ueberbleibsel römischen Ursprungs, während das gegenüber liegende linke Rheinufer massenweis Münzen und andere Denkmale zu Tage fördert. Später sind aus diesen Gegenden die welterobernden Franken vorgebrochen und haben von hier aus den Niederrhein, Belgien und Nordfrankreich gewonnen. Noch heute ist dieser Landstrich, der sich über den Westerwald bis in die Gegend von Siegen und zu Jung-Stilling’s Heimath ausdehnt, von der verflachenden Civilisation der Ebenen verschont geblieben. Große Städte hat er nicht; aber reich an Wald und Wild, an Kohlen und Metallen, nährt er einen kraftvollen, selbstbewußten Menschenstamm. Ein guter Theil davon sind Bergleute, ein wackerer Zusatz der Bevölkerung, weil ihre ernste, düstere und einsame Beschäftigung den Charakter härtet, während doch wieder die Cameradschaftlichkeit des ganzen Lebens allen Ideen eine rasche Verbreitung giebt. Die eigentliche Rheinebene, über welcher jenes Bergland aufsteigt, nährt sich von Acker- und Weinbau; mein Heimathdorf wird außerdem von Steinbrechern bewohnt, denen der treffliche Basalt der umliegenden Höhen ein auskömmliches Verdienst sichert.

Im Mittelalter, als das ganze Rheinthal in kleine Herrschaften zerschnitten war, deren Grenzen oft höchst wunderlich durcheinanderliefen, gehörte Oberkassel mit einigen Schlössern des Siebengebirges zu der später zum Herzogthum erhobenen Grafschaft Berg, und lag somit wie eingeschlossen zwischen dem kurkölnischen Gebiet, zu welchem abwärts die Siegmündung, südlich schon wieder der Drachenfels gehörte. So geschah es, daß ringsum unter dem Krummstab alles Land katholisch blieb, nachdem der vorschnell vorgenommene Reformationsversuch des Gebhard Truchseß gescheitert war, während in Oberkassel, wahrscheinlich von dem ziemlich nahen Wupperthal aus, eine reformirte Gemeinde sich gründen konnte. An dieser Gemeinde, die auf viele Meilen weit die einzige protestantische auf dem rechten Rheinufer war, stand mein Vater seit Beginn unsers Jahrhunderts als Pfarrer. Er selbst war indessen ein Nassauer und stammte aus der kleinen Stadt Herborn, die zwischen dem Westerwald und dem Lahnthal liegt. Dort hatte, als das heilige römische Reich noch bestand, eine reformirte Universität in Taschenformat für die nassauischen Landeskinder geblüht, obwohl Marburg und Gießen nur wenige Meilen weit entfernt lagen; denn jeder Staat mußte damals als Ehrensache seine Landesakademie haben. Dieser Umstand machte es meinem Großvater, der selbst nichts als ein armer, aber gottesfürchtiger Schuhflicker war, möglich, seine beiden Söhne dem Studium und zwar dem geistlichen Stande zu widmen. Der Eine derselben ist als Hagestolz und überstudirter Gelehrter vor etwa zwanzig Jahren in Herborn verstorben, wo er eine Stelle als lateinischer Lehrer bekleidete; dem Andern, meinem Vater (er hieß wie ich, Johann Gottfried), hat doch ein reicheres und beglückteres Leben geblüht. Der Proletariersohn erhielt, ich weiß nicht durch welche Verbindungen, einen Ruf, um als Hauslehrer in die hocharistokratische Familie v. Cloet einzutreten, die auf dem Schlosse Lauersfort bei Meurs wohnte. So in’s Amt des Erziehers einmal eingeweiht, ist er hernach zum Regens der lateinischen Schule in Solingen und von dort in gleicher Eigenschaft nach Elberfeld berufen worden, wo der gegenwärtige Hofprediger Ehrenberg in Berlin sein Schüler war. Allein die theologische Ader in ihm ließ ihm auf der Schulkanzel keine Rast: er blieb neben seiner doch immerhin angesehenen Stellung beständig Candidat des Predigtamtes, hielt auf allen vacant werdenden Stellen seine Probepredigt, und folgte zuletzt, als die arme, kleine Gemeinde Oberkassel ihn erwählte, mit Freuden diesem Rufe und seinem inneren Trieb, obwohl er an Einkommen und äußerer Stellung dadurch bedeutend sich erniedrigte. Vielleicht verräth schon dieser Zug, daß Etwas von meines Vaters Natur auf mich übergegangen ist.

Man konnte deutlich bemerken, daß der Pfarrer seine erste Weltbildung in aristokratischem Kreise empfangen hatte. Aus der engen Werkstätte des Vaterhauses war er mit jähem Wechsel in den Schooß einer feinen Adelsfamilie versetzt worden, und die zierliche Manier des Informators, der auf seine Person und Erscheinung [456] stets Acht haben soll, verleugnete sich in ihm sein Lebenlang nicht. Nie ist er, wie die meisten Landpastoren, verbauert. Auf seinen Anzug wendete er die größte Sauberkeit, und als Sonntagstracht behielt er beständig die Kleidermode seiner Jünglingszeit: einen schwarzen Frack, eine seidene kurze Hose, die mit silbernen Schnallen am Knie befestigt wurde, feine schwarzseidene Strümpfe und Schuhe, die wieder mit großen Silberschnallen und einer breiten Schleife am Fuße festsaßen. In der Kirche brauchte er nie ein Buch, das nicht in schwarzes Leder mit Goldschnitt eingebunden war. Und wenn er so in den Bäffchen und mit dem fußbreiten Streifen Taffet, der vor der Einführung des Chorrocks den Mantel der calvinistischen Pfarrer bildete, zur Kirche schritt, so war er eine strenge, stattliche Erscheinung und wurde von Jung und Alt mit Ehrfurcht begrüßt. Der Zug einer ernsten, würdevollen Strenge ging durch sein ganzes Wesen. Auch wenn er am Werkeltage die Straßen oder Baumgärten durchschritt, hörten alle Kinder zu spielen auf und stellten sich ehrerbietig aufrecht, bis er grüßend an ihnen vorübergegangen war, und das thaten nicht blos die evangelischen, sondern auch die katholischen Kinder des Ortes. Obwohl nicht hoch gewachsen, konnte er doch für einen schönen Mann gelten. Eine hohe, klare Stirn lief in eine höchst stattliche Adlernase aus, der Mund war fest, aber sehr freundlich, der Gliederbau fein und gefällig, und das mäßige, friedvolle Leben seines Berufes gab ihm noch im Alter eine frische Farbe und rüstige Kraft.

Als er mit meiner Mutter verlobt war, ist er einmal Morgens früh von Oberkassel fortgegangen und Abends, als man die Lichter anzündete, in Elberfeld bei ihr eingetroffen. Das sind sechszehn gute Stunden, immer durch Berg und Thal, und ich selbst, obwohl auch ich mehr als einmal nach derselben Richtung in Liebesangelegenheiten gewandert bin, habe ihm das niemals nachgethan. Sonst ist die Kraft des Fußwanderns bei meiner Familie einheimisch; ich selber habe mein Vaterland fast in allen seinen Theilen zu Fuße durchlaufen, und mein ältester Junge, der doch noch ein kleiner und sonst schwächlicher Kerl ist, läuft nun mit der Mutter schon auf Orte, die mehrere Stunden entfernt sind, und hat keine stärkere Leidenschaft als das Fußreisen.

Mein Vater war zweimal verheirathet, zuerst mit einer vermögenden Kaufmannstochter aus Mülheim am Rhein, mit der er nur einen Sohn hatte. Ich habe Grund zu glauben, daß diese Ehe nicht sehr glücklich gewesen ist, da die junge Frau lieber im elterlichen Hause als auf der stillen Pfarre verweilte. Mein Halbbruder Karl sollte nach dem Willen meines Vaters studiren, hatte aber am Praktischen mehr Freude und erlernte die Handlung. Er war schon erwachsen, als ich geboren wurde, und besuchte nur zuweilen noch das elterliche Haus. Damals arbeitete er beim Kataster; später, nachdem die Vermessung der Rheinprovinz beendigt war, kehrte er zur kaufmännischen Thätigkeit zurück und lebte zuletzt als Factor auf einem Blaufarbenwerk an der Ruhr. Er hat sich niemals entschlossen, ein eigenes Geschäft anzufangen oder eine Frau zu nehmen, und ich fürchte, daß er als Hagestolz sein Leben beendigen wird, das wohl durch allzustrenge Erziehung in der frühesten Jugend verletzt worden ist. Uebrigens hat er mich noch in meinem eigenen Hauswesen besucht, und mein Verhältniß zu ihm ist stets ein freundliches gewesen, wenn wir uns auch bei der verschiedenen Richtung unserer Neigungen und Berufsthätigkeiten innerlich nicht viel haben sein können. Eine kränkliche Eigenschaft meines Vaters, pedantische Ordnungsliebe und langsame Sorgfalt bei allen Geschäften, ist bei diesem Erstgebornen zum stehenden Charakterzug geworden; ich habe es selbst einmal, als ich ihn besuchte, erlebt, daß er zu einem einfachen Geschäftsbrief, der in einer Viertelstunde abzumachen war, mit Linienziehen, Schreiben, Eintragen in’s Copirbuch, Couvertschneiden und Siegeln einen Vor- und Nachmittag gebraucht hat, wobei denn allerdings nicht sonderlich viele Nummern wöchentlich sich wegarbeiten lassen.

Die zweite Frau meines Vaters war denn meine Mutter, Maria Beekmann aus dem Wupperthal. Mit ihr hatte er drei Kinder, eine Tochter Johanna, die, sechs Jahre älter als ich, mit einem Pfarrer verheirathet, als Frau und Mutter glücklich lebt, einen Sohn Gottfried, der noch klein starb, und mich, den er zum Ersatz für das gestorbene Brüderchen ebenfalls Gottfried getauft hat. So hatte ich denn das Glück, das Jüngste in der Familie zu sein und folglich gelinder als alle übrigen Geschwister erzogen zu werden. Mein Vater war nahe an sechszig Jahre, als ich ihm geboren wurde, und so habe ich in ihm nie den Freund, sondern nur den ernsten und bejahrten Lehrer und Erzieher erblicken können. Obwohl ich ihn liebte, war mein Gefühl für ihn doch mehr Furcht, und so erklärt es sich leicht, daß wir Kinder uns inniger an die viel jüngere und lebhaftere Mutter anschlossen, welche denn auch namentlich mich mit wahrhaft brennender Liebe umfaßte.

Von dieser Frau haben auch ganz fremde Personen oftmals zugestanden, daß ihr Wesen etwas Ungewöhnliches und höchst Bedeutendes an sich hatte. Die Züge ihres Charakters sind im Wesentlichen auf mich übergegangen, und es hat sich da die fast nie trügende Erscheinung bewährt, daß die Söhne der Mutter nacharten. Die revolutionäre Entschlossenheit des Sohnes war bei ihr ein himmelstürmender Wille; wie nach jenem dunkeln Mythos Jakob, rang auch sie in rastlosem Gebet mit der Gottheit, um deren Ohr ihren Wünschen gewaltthätig zuzuneigen. Mit unwiderstehlicher Kraft beherrschte sie das Hauswesen, und durch ihren Mann die ganze Gemeinde; wenn sie dabei einen Fehler gemacht hat, so war es der, daß sie ihre Herrschaft nicht zu verbergen wußte, sondern gleich einer Semiramis auch die Zeichen der Herrscherwürde für sich begehrte. Da sie meinen Vater an Willensstärke und Weltblick unendlich übertraf, so war sie die Gebieterin des Hauses, und von ihr ging namentlich die Richtung aus, die unserer Erziehung gegeben wurde. Der Charakter hatte herbe Seiten, aber mit ihnen versöhnte ihre heiße Liebe, ihre mütterliche Fürsorge für jeden Bedürftigen und eine unbestechliche Wahrhaftigkeit. Von der letzteren hat meine Frau Johanna noch einen bezeichnenden Ausdruck in ihrer Erinnerung bewahrt. Als sie einmal zum Besuche in unserem Hause verweilte, wurde ein lästiger Gast angemeldet, der die Unterhaltung störte. Jemand schlug vor, man solle hinaussagen lassen, die Familie sei nicht zu Hause. Aber das schnitt sofort meine Mutter mit den drei Worten: „Ich lüge nie“ ab, und man unterwarf sich dann geduldig der Unannehmlichkeit des Besuches. Auch diesen Zug hat meine Mutter mir als Erbtheil mitgegeben.

Die Familie dieser Frau war in dem durch seine Starkgläubigkeit berühmten Wupperthal unfern Elberfeld ansässig, wo noch heute begüterte Verwandte von uns wohnen. Der Vater war Kaufmann gewesen, hatte aber Unglück gehabt, und dabei, da er ein ehrlicher Mann war, sein ganzes Vermögen eingebüßt, so daß seine Wittwe, meine Großmutter, jetzt im Hause der Tochter mit ernährt werden mußte. Diese Großmutter hat mir die erste Ahnung von Politik beigebracht, wenn sie beim Abendessen mit dem Schwiegersohn, meinem Vater, über die Zeitung disputirte, worüber die beiden Alten stets abweichende Ansichten hatten; welcher von ihnen freilich Royalist und welcher Liberaler war, das habe ich rein vergessen. Das weiß ich aber noch, daß meine Mutter immer sagte, ich ähnle körperlich und auch in der Sinnesweise ihrem Vater sehr, als welcher ein langer, stattlicher Mann gewesen sei und einen offenen, biederen, streng rechtlichen Charakter gehabt habe. Unsere Großmutter, mit der wir Kinder wegen ihrer niederdeutschen Aussprache stets unsere Neckerei hatten, ist gestorben, als ich etwa acht Jahre alt war; sie war übrigens eine feine Stickerin, und ihre Augen sind bis in’s höchste Alter nicht matt geworden, in dieser Gattung die zierlichste Arbeit zu machen.

Und so bin ich denn von Vater und Mutter her ehrenhafter und arbeitsamer Leute Kind. Kein Tropfen vom Blute der Aristokratie oder der genießenden Stände fließt in meinen Adern, und mein günstiger Stern hat die fleißige Armuth als Wärterin an meine Wiege gestellt. Nicht durch Wahl und künstlichen Entschluß, sondern durch Stamm und Blut gehöre ich dem Stande an, dem die Weltherrschaft gebührt und zufallen wird: dem vierten Stande, und als diesem Stande unbestechlich angehörend empfinde ich mich mit Stolz.

In diesen Verhältnissen bin ich am 11. August 1815 geboren worden, so daß die Befreiungskriege ihre letzten Donner an meine Wiege sinken ließen; ich habe es stets, und so noch heute, mit frohem Selbstgefühl anerkannt, daß ich nicht mehr unter französischer Herrschaft, sondern gleich als freier Deutscher das Licht der Welt erblickte. Ich war ein derber, tüchtiger Junge, an dessen Wiege die Großmutter meiner Schwester prophezeite, daß ich diese, trotz [457] ihrem Vorsprung an Alter, noch mit dem Reis durch den Garten jagen würde – eine Weissagung, die ich auch seiner Zeit erfüllt habe. Uebrigens wäre ich in den ersten Lebensjahren bei einem Haar verloren gewesen; ein unvorsichtiges Kindermädchen gab mir eine Backpflaume, ohne zuvor den Stein herauszuthun; dieser setzte sich quer in die Kehle und brachte eine Geschwulst hervor, die mich mehrere Stunden dem Ersticktode aussetzte. Der Arzt gab mich bereits auf, aber die Natur hatte noch keine Lust, mich in ihren Mutterschooß zurückzunehmen, und half mir durch ein heftiges Husten durch: der Stein flog heraus und verrieth die Lüge des Kindermädchens, das in seiner Todesangst steif und fest behauptet hatte, es habe mir die Pflaume ohne den Stein in’s Händchen gegeben. Die übrigen herkömmlichen Kinderkrankheiten habe ich gut überstanden; mein Vater erzählte mir später, daß ich beim Scharlach ein sehr geduldiges Kind gewesen sei und stets auf seine Anmahnung bereitwillig die heißen, fiebernden Händchen wieder unter die lästige Decke gesteckt habe. Alsdann nahm mich mit etwa sieben Jahren ein Schleimfieber hart mit; ich habe davon eine Erinnerung bewahrt und fühle noch das schaudernde Entzücken, mit dem ich in der Genesung das erste Glas starken weißen Weines heruntertrank, den der Arzt zur Stärkung verordnet hatte. Seitdem bin ich mein Leben durch eine gesunde Natur geblieben, nachdem ich im Uebergang vom Jüngling zum Mann die Gefahr glücklich überwunden hatte, in die Schwindsucht zu verfallen.

Zu dieser künftigen Gesundheit hat unstreitig die ganz vortreffliche physische Erziehung beigetragen, die wir Kinder erhielten. Unseren Eltern wurde freilich solche Erziehung sehr durch die äußeren Lebensbedingungen erleichtert, die uns umgaben. Das Pfarrhaus lag inmitten eines Vierecks von Grundstücken, das einen starken Morgen Landes umspannte und nach allen vier Seiten durch Wirthschaftsgebäude, Mauern und Hecken von der Welt draußen abgeschlossen. war. Ein Drittel des Grundstücks bildete einen schattigen Baumgarten, der das mannigfachste Obst trug und sonst zum Graswuchs diente. Daran schlossen sich zwei Gemüse- und Blumengärten, in denen es wieder an Strauch- und Spalierobst nicht fehlte. Endlich blieb ein immer noch geräumiger Hof mit Nußbäumen übrig, an dessen eine Seite sich die Stallungen, die Scheune und das Kelterhaus anschlossen. Hier trieb sich Geflügel aller Art herum, unter dem uns Kindern immer der stattliche Haushahn am merkwürdigsten war; denn der Vater sorgte stets dafür, daß er davon ein stolzes Prachtmuster auf seinem Hofe hatte. Besonders groß war die Freude und die Erwartung, wenn eine Henne brütete und man nun jeden Morgen eilfertig zum Neste lief, um nachzusehen, ob noch kein Küchlein sich durchgepickt hätte.

In allen diesen mannigfaltig bebauten und bepflanzten Räumen durften wir nun frei herumlaufen, und waren also bei Tage nur im Freien heimisch, wenn nicht die Lernstunde uns an die Stube fesselte. Morgens sprang ich mit der Schwester sofort den kürzesten Weg aus der Schlafstube in den Baumgarten, nämlich frischweg durch’s Fenster, und dann gab’s im Herbste einen Wettlauf nach dem Birnbaume, von dem uns in der Regel der Morgenwind die schönsten, reifsten Früchte zum Frühstück in’s Gras geschüttet hatte. Von dieser Zeit her bis heute ist unter Allem, was Menschen essen können (und dessen ist viel), Obst meine höchste Leidenschaft geblieben. Alle übrige Kost in unserm Hause war derb und gesund, obwohl der Tisch stets mit Feinheit bereitet wurde; wir Kinder mochten gar keine Wecken essen, sondern zogen das kräftige, wohlschmeckende Schwarzbrod vor; statt der Butter diente im Winter Pflaumenmuß, dessen Kochen im Herbst eine Hauptfreude für uns war. Ein besonderes Fest gab es, wenn an vorzüglich heißen und sonnigen Sommertagen es von uns durchgesetzt wurde, daß wir in der Laube aßen, die ihren dichten Maibuchenschatten in einem Winkel des Baumgartens wölbte.

Jede solche Mittagstafel war eine Idylle; mein Vater führte wie ein Patriarch den Vorsitz; sein ehrwürdiges Silberhaupt entblößend, sprach er feierlich das Tischgebet, dem wir Kinder jedes einen kleinen Spruch nachfolgen ließen. Wir waren nicht allein, das Federvieh aus Hof und Baumgarten machte sich alles herbei, der Hahn ging zum Vater und pickte Brodkrusten aus seiner milden Hand; auch die kecken Spatzen kamen herangehüpft und fanden gleichfalls ihr Brosämlein, das einem Huhn zu klein dünkte. Draußen aber sangen in den Bäumen und im Gesträuch der Hecke die Vögel, und ein Schwälbchen zwitscherte vom dürren Aste eines nahen Apfelbaumes. Dann kam die kalte Schale von frischer Milch mit Brod, Zucker und Zimmet, der ein selbstgezogenes Gemüse und etwa ein Paar junger Tauben aus unserem Schlage folgten; den Nachtisch holten wir uns selbst, nachdem das Danksagungsgebet gesprochen war, an den Johannis- und Stachelbeersträuchern des Gartens; denn Obst kam bei uns nie auf den Tisch, weil man ja nur die Hand auszustrecken brauchte, um Pflaume oder Apfel sich frisch vom Baume zu langen. Das Schönste dabei war die weise Sorglosigkeit der Eltern in Hinsicht auf die Diät. Man gab uns zu essen, so oft wir verlangten, und weil wir somit immer haben konnten, forderten wir nur, wenn wir wirklich Hunger hatten. Da Obstessen uns nie verboten wurde, so warteten wir von selbst, bis es reif war, und aßen uns niemals krank. So fragten auch Vater und Mutter dem nicht nach, ob ich einmal Winters in Hemdsärmeln auf den Hof lief, mit Schneebällen warf oder Schneemänner machte; denn sie schlossen sehr richtig, daß, wenn ich fröre, ich schon von selber meine Jacke anziehen würde. Einzig und allein war uns verboten, auf die Straße zu gehen, und in dem Bezirk, der das Pfarrhaus umschloß, gab es keine Gefahren für uns.

Dieser glücklichen Sorglosigkeit danke ich es vor Allem, daß ich trotz der anstrengendsten Geistesarbeiten eine frische und noch immer rüstige Kraft in’s Mannesalter hineingerettet und durch sie manchen bösen Windstoß gebrochen habe, mit dem das Schicksal auf mich eingestürmt ist.

Neben diesem Spielen und Genießen in freier Luft wurde ich dann auch schon von meinen frühesten Jahren an zu leichten körperlichen Arbeiten angehalten. Den Garten sowohl als ein Gemüsegrundstück, das draußen in der Flur des Dorfes lag, bestellte mein Vater selbst, und da ein Theil der Pfarreinkünfte vom Ertrage dieser Grundstücke, mehrerer Weinberge und einiger Buschflecke abhing, so gab es in Hof, Feld und Wald beständig allerlei Landwirthliches zu arbeiten. Im ersten Frühling wurde in unseren Büschen das Brennholz geschlagen und durch Tagelöhner im Hofe zerhauen. Dabei gab es für uns mit Auf- und Abladen, mit zierlichem Schichten der Reiswellen und mit Hinauftragen des zerspällten Holzes in Schuppen und Speicher genug zu thun. Nachher mußten die Spähne zusammengelesen und selbst das Sägemehl zum Dünger geworfen werden; denn der Hof sollte stets reinlich sein, und es war Grundsatz meines Vaters, nichts umkommen zu lassen. Etwas später, wenn die frühen braunen Schmetterlinge und die Citronenfalter ihre Schwingen an der jungen Sonne ausbreiteten, half ich der Mutter, die den Blumengarten zu bestellen hatte, beim Einsetzen der Tulpenzwiebeln und jätete Unkraut aus Beeten und Wegen. Im Mai liefen wir Morgens mit der Großmutter in den Garten, um Spargel zu stechen, und wetteiferten, wer vor dem Andern noch eins der röthlichen Köpfchen entdeckte, die, über Nacht emporgeschossen, so neugierig unter einer halb aufgehobenen Erdscholle herausguckten. Dann wurden mit dem Vater Pflanzen gesäet, versetzt und am schwülen Sommerabend begossen. Der Spätsommer brachte das Bohnenschneiden, der Herbst das fröhliche Einthun des Obstes. Erst wurde wochenlang das abfallende geringere Obst aufgelesen und auf die Kelter geschüttet, um Apfelwein aus ihm zu bereiten; dann aber bekam ich neben einer tüchtigen Warnung, mich nie auf dürre Aeste zu verlassen, den Auftrag, das feinere Obst aus den höchsten Baumspitzen herunterzubrechen. Da habe ich denn ganze herrliche Herbsttage droben in der scharfen, klaren Luft verbracht, auf schwankem Baumwipfel mich schaukelnd und von seiner Höhe die prangende Flur ringsum und den Strom mit der nahen Stadt und die prachtvollen Häupter der blauen Siebenberge überblickend. Und war nun der Baumgarten von seinem Segen ganz entleert, dann wurde das Laub reinlich zur Streu zusammengerecht; Aeste aber, Dornen, Kohlstrünke, und was sonst den Ueberschuß des ländlichen Arbeitsjahres bildet, schleppten der Vater und ich auf einen hohen Haufen zusammen, und von diesem wurde dann im November einen ganzen Tag hindurch ein Herbstfeuer gezündet, um die Asche zu feinem Dünger zu gewinnen und am Abend in den Kohlen Kartoffeln zu braten. Dieser Schluß der Arbeit war wieder ein Hauptfest, und wir sammelten den ganzen Sommer über alles Mögliche von unnützem Brennstoff, um die Freude der [458] hochlodernden Flamme recht lange zu genießen. Die leidenschaftliche Lust an der Flamme habe ich bei allen tüchtigen Knaben bemerkt, und leicht dürfte sie unser Urtheil über das gerade der Jugend so eigene Verbrechen der Brandstiftung mildern.

Unter allen diesen Natur- und Arbeitsfreuden war und blieb aber unbezweifelt die höchste die Weinlese. Oberkassel trägt in seinen besten Lagen wenigstens in guten Jahren noch einen leidlichen Rothwein, und zwei unserer Weinberge galten für die Kronen der Feldmark. Bevor der Zollverein die viel feurigeren Nassauer Weine in’s Preußische einließ, hatten von unseren einheimischen Sorten auch die geringeren immer noch Preis, und mein Vater konnte dann wohl ein Drittel seines Pfarrgehalts aus seinem Gewächs lösen; jetzt freilich wird wohl der dort erzeugte Wein zum Haustrank für den Pfarrer hinabgesunken sein, wie denn überhaupt in meiner Gegend die Weinberge keinen Ertrag mehr bringen und dem Ackerbau Platz machen. Damals also war der Herbst für den Winzer noch ein Freudenfest, dessen Genuß dadurch erhöht wurde, daß am Rheine in jeder Ortschaft sämmtliche Bürger an Einem und demselben Tage Trauben schneiden. Um nämlich Weindiebstahl zu verhüten, besteht im Herbste eine eigene, aus Einwohnern des Ortes gebildete Traubenwacht, und die Vorschriften sind in diesem Punkte so streng, daß Niemand in seinem eigenen Weinberge Trauben schneiden, ja ein Jeder denselben nur zu bestimmten Wochenstunden betreten darf. Wenn nun die Reife völlig ist, so versammelt ein Glockenziehen die Ortsbürger auf dem Gemeindehause, um zu berathen, wann die Lese gehalten werden soll. In Oberkassel diente zu dieser Besprechung ein freier Platz im Dorfe, der von einem einst dort gestandenen, nun aber längst verschwundenen Baume noch heute „an der Linde“ heißt. O, wie lauerten wir Kinder dann immer dem Vater auf, wenn er von der Linde zurückkam und uns nun meldete: „Morgen, Kinder, oder übermorgen, wenn helles Wetter ist, haben wir unseren Herbst!“ Wie paßten wir dann am erwarteten Morgen ungeduldig auf das Glockenziehen, das die Erlaubniß zum Betreten der Weinberge giebt! Und nun sank der Morgennebel, nun verzogen sich die regendrohenden Wolken, der Himmel wurde blau, und die Glocke klang. „Vater, Mutter, es stürmt!“ so riefen wir jauchzend, und fort ging’s zum Weinberge hinauf, das hölzerne Lesegefäß in der Hand, in welchem das Winzermesser lustig klapperte. Das war der einzige Tag im Jahre, an welchem das Mittagsessen nicht schmecken wollte, weil man unablässig in den saftigen schwarzen Trauben schwelgte und keine besonders schöne in’s Gefäß warf, ohne zuvor einen herzhaften Biß hineinzuthun.

[470]
II.


War nun eingeherbstet, so folgten die Tage des Gährens, doch wurde zuvor der frische, noch ganz süße Most verkostet und nach allen seinen Zeichen kennermäßig geprüft, ob er durch Klebrigkeit, Farbe und Masse ein gutes Gewächs vorausmelde. Während der Gährung hebt sich die Masse der zerquetschten Trauben in den Bütten stark empor und muß des Tages mehrmals eingestoßen werden, weil die oberste Schicht, wenn sie nicht stets feucht bleibt, dem Weine einen brandigen Geschmack giebt. Der Winzer freut sich besonders, wenn er deshalb auch Nachts aufstehen muß, denn je stärker der Wein hebt, desto mehr Feuer bekommt er. Mein Vater stand in diesen Tagen regelmäßig um drei Uhr auf und weckte mich, dann ging’s hinunter in’s Kelterhaus, und ich mußte ihm zur Arbeit die Laterne halten, nachher legten wir uns noch ein paar Stunden auf’s Ohr. Dann kam bald die Kelterung, bei der ich mit schwachen Kindeskräften, aber stets mit gewaltigem Eifer die mächtige Kelterschraube und die großen sie beschwerenden Basaltblöcke drehen half. Es ist einer der schönsten Anblicke, die es giebt, wenn die glührothe Blume des Weines unter dem ersten, noch leisen Druck des mächtige Kelterbaums rauschend und schäumend vom Kelterbecken in die Bütte strömt. Noch herb und jugendlich scharf mit all seiner Hefe, die er später niederschlägt, bildet dieser neue Wein eine Hauptlust rheinischer Zecher und hat dann eine fabelhaft berückende und eben auch berauschende Kraft, die gar Mancher erst gewahr wird, wenn es für diesen Abend mit ihm schon zu spät ist. Auch ich that trotz meinem Kindesalter an der Kelter stets meinen herzhaften Trunk, und Niemand hinderte das. Gleichfalls habe ich, soweit meine Erinnerung zurückgeht, an den Sonntagen und wohl auch sonst, wenn ich darum bat, ein Glas von unserem Wein bekommen. Auch hier zeigte sich wieder, wie frei alles Erlaubte den Charakter macht; eben weil ich stets Wein haben konnte, bin ich vor meinem siebenzehnten Jahre, also gerade im Vollbesitz des väterlichen Kellers, auch nicht ein einziges Mal trunken oder nur bespitzt gewesen. Ich halte dafür, daß in der scharfen, zehrenden Stromluft des Rheinthals ein Glas Wein auch Kindern keinen Schade thut; man wird überhaupt finden, daß alles Genießbare, was die Natur unverkünstelt spendet, an dem Orte ohne Gefahr und sittliches Verderben genossen werden kann, wo es wächst, weil hier die allweise Mutter immer zugleich Lebensbedingungen angelegt hat, die jede verderbliche Wirkung abschwächen.

Ehe nun aber der Wein in’s Faß und somit endlich zu seiner klärenden Winterruhe kommt, müssen doch billigerweise die Winzer erst durch gegenseitiges Probiren ihres Wachsthums ihm ihren Segen und ihr Urtheil über seinen künftigen Werth mitgeben. Man nennt dieses das „Nobern“ oder Nachbarn, weil die Nachbarn sich dabei untereinander besuchen und bewirthen. Zum Nobern werden regelmäßig die nächsten Sonntage nach der Lese verwendet. Es giebt Dörfer, die durch die Großartigkeit berühmt sind, mit welcher sie diese Sitte durchführen. Der erste Bewohner einer Gasse füllt von seinem Wein ein ehrbar umfangreiches Gefäß und trägt es zum Nachbar. Nachdem sie demselben seine Ehre erwiesen, wird es aus derselben Bütte neu gefüllt, der Nachbar holt eine zweite Kanne voll von seinem Erzeugniß, und so gehen sie nun mit zwei gefüllten Gefäßen zum Dritten, der sich, nachdem er im Trinken und Spenden seine Schuldigkeit gethan, wiederum mit einer vollen Kanne anschließt. Daß am Schlusse dieses Processionsganges kein Mensch im ganzen Dorfe mehr fest auf den Beinen steht, wird Jeder glauben, der einmal eine etwas nähere Bekanntschaft mit neuem Wein geschlossen hat. Besonders im Ahrthal, wo ein prachtvoller Rothwein gezogen wird, war das Dorf Dernau durch seine festlichen Nachbarbesuche bekannt; ohne diesen Ruf verbürgen zu wollen, will ich einfach berichten, daß ich selbst einmal in dem bewundernswürdigen Weinjahr 1846 an einem Sonntagabend nach der Traubenlese von Ahrweiler nach Dernau gewandert bin und auf diesem anderthalbstündigen Wege von all den zahlreichen Menschen, die mir entgegenkamen, auch nicht ein einziger nüchtern gewesen ist. Soweit kam es nun in dem sittenstrengen Oberkassel niemals, allein einigermaßen mußte Bacchus auch hier von der Kirche respectirt werden. Am ersten Sonntage nach der Weinlese versäumte nämlich mein Vater nie, der Gemeinde anzuzeigen, daß heute kein Nachmittagsgottesdienst stattfinden werde, wobei er regelmäßig die Formel gebrauchte, daß dieses „aus bekannten Gründen“ geschehe.

Wenn nun schon diese Arbeiten unserer kleinen Landwirthschaft manche Stunde des Tages ausfüllten, so fehlte es trotzdem meiner frühesten Jugend an ausreichendem Spielraum zur Thätigkeit. Meine Eltern hatten den falschen Erziehungsgrundsatz, uns einsam aufwachsen zu lassen, weil sie befürchteten, daß Umgang mit anderen Kindern unsere guten Sitten verderben könne. Schon mit dem Dienstmädchen sollten wir nicht zu viel verkehren, und von allen Räumen des Hauses war uns deshalb einzig die Küchenstube verboten. Auf die Straße kamen wir nur an der Hand der Eltern, und fremde Kinder durften sehr selten zu uns herein. So bin ich, als der Jüngste, in meinen Kinderjahren denn niemals mit kleineren Kindern als ich selbst zusammengekommen, und dies hat meinem Wesen als Jüngling eine unleidliche Frühreife und Altklugheit gegeben, die ich nur sehr schwer mir habe aberziehen können. Gar leicht hätte noch etwas viel Giftigeres daraus werden mögen, nämlich ein aristokratischer Stolz auf den Stand und die Gelehrsamkeit meines Vaters, allein davon war kein Tropfen in meinem Blut, und so hat nach dieser Seite hin meine geistige Gesundheit keinen Bruch erlitten.

Meine Schwester hatte sechs Jahre vor mir voraus; das ist im Kindesalter eine sehr lange Zeit und begründet einen unermeßlichen Unterschied der Neigungen und Fähigkeiten. Sie spielte zwar bisweilen mit mir; da sie aber an Stärke, Schnelligkeit und vor Allem an Schlauheit mir weit überlegen war, so geschah das bei ihr mit Herablassung und bei mir, der allwege den Kürzern zog, ohne rechte Freude, denn die Lust an jedem Spiel beruht darauf, daß die Parteien sich wenigstens annäherungsweise gleich sind. Außerdem liebte meine Schwester, wie das die Art heranwachsender Mädchen gegen jüngere Kinder ist, weit mehr, mich zu commandiren als zu unterhalten, mischte sich auch da und dort wohl in meine Erziehung ein. Dies Gefühl nun, immer in ihrer Gewalt zu sein und niemals ihr obsiegen zu können, reizte mich oft zu heftigem Zorn, wie ich denn überhaupt als Kind überaus jähzornig gewesen bin. Gab es Streit zwischen uns, so erhielt ich von der Mutter gewöhnlich Recht, weil diese [471] mich als den Kleinsten schützte und vorzog; in anderen Fällen hat meine Schwester mich durch Berufung auf meine bessere Natur leicht entwaffnet.

So steht mir noch eine Scene etwa aus meinem fünften Jahr in Erinnerung, als wäre sie gestern geschehen. Ich war heftig gereizt und ging mit einem Lineal auf meine Schwester los, um sie aus allen Kräften zu schlagen. Da rief sie schnell: „Gottfried, Du weißt, daß Du jähzornig bist, jetzt bezwing’ Dich einmal und gieb mir das Lineal heraus!“ Das wirkte augenblicklich: ich trat friedlich zu ihr und gab ihr meine Waffe ab. Allein wenn auch die Schwester sich häufiger mit mir hätte beschäftigen wollen, so war sie dazumal längst in ihren Lehrjahren und hatte höchstens eine Freistunde für mich übrig. So war ich denn sehr oft allein; dann lag ich in einem Sommerhäuschen des Gartens unter dem Schatten [471] des Weinlaubs, träumte von der Welt draußen und baute mir aus nassem Sand das Siebengebirge mit Schlössern und Felsen auf, oder blickte recht wehmüthig und sehnsuchtsvoll über die nahen Berge weg, hinter denen ich mir erst ein ausbündig herrliches, zauberschönes Land erwartete. Oft auch schlich ich mich traurig an die Hecke des Baumhofs und sah durch ihre Reiser den Spielen der anderen Dorfkinder zu, welche mit hellem Jauchzen und Lachen im Grase sich herumtummelten. Der Spieltrieb ist somit bei mir im Kindesalter nicht vollständig herausgekommen und hat mich dafür später noch oft geneckt. Als ich bereits Primaner war und frei herumlaufen durfte, habe ich in demselben Baumgarten mit ganz kleinen Jungen die früher so oft ersehnten Spiele nachgeholt, und noch heute ist Spielen mit Kindern mir eine große Lust. Als ich später lesen konnte, rüstete ich mir einen bequemen Sitz zwischen den Aesten eines Apfelbaumes und hatte da lange Nachmittage hindurch bei einem Buch mein Wesen.

Aus diesem großen Erziehungsfehler meiner Eltern, der meine sonst so begünstigte Kindheit doch für mich zu einem düstern Träumerleben umwandelte, hat sich in meinen Jünglingsjahren eine bittere Melancholie und Menschenscheu entwickelt, und noch jetzt ist mir von da her eine für einen thatkräftigen Mann allzugroße Neigung zur Einsamkeit übrig geblieben, die mich sehr oft im Handeln lähmt. Selbst nächtliche Märsche und längere Fußreisen mache ich am liebsten allein; dann tritt das Geheimniß der Natur näher und gewaltiger an uns heran; wir empfinden schaudernd und selig, wie nahe Leben und Tod sich berühren und alles Kleinliche, was die unreine Welle des täglichen Menschentreibens in der Seele abgelagert hat, rinnt mit dem Riesenstrome der Ewigkeit hinweg, den wir rauschend durch unser Inneres dahinziehen hören.

In dieser Einsamkeit des Pfarrgartens nun, die durch eine gebildete Umgebung und die allerherrlichste und mildeste Naturfülle allerdings anregend und geistbefruchtend wirkte, erwachte in mir zuerst diejenige Seelenkraft, welche den Grundtrieb meines Wesens auf Poesie und Kunst hin stimmen sollte, nämlich die Phantasie. Nicht an Dichtung, Märchen oder Anschauung fertiger Kunstwerke genährt, mußte sie ihr eigenes Bett sich graben und hat zu meiner unleidlichen Qual lange, lange Jahre stürmen und wühlen müssen, bis sie endlich zum stillen Seespiegel sich ausbreitete, der Welt und Himmel in mildem Glanze zurückwirft. Von wem meiner Ahnen diese Kraft und das aus ihr fließende Dichtertalent auf mich übergegangen ist, das weiß ich nicht zu sagen. Eine gewisse volksthümlich-bilderreiche Art sich auszudrücken, in Gleichnissen, Sprüchwörtern und kurzen Reimversen Wahrheiten hinzustellen, habe ich bei meiner Großmutter bemerkt; aber im praktischen Leben war doch diese Frau die hausbackenste Prosa.

Mein Vater hat nie geahnt, was Poesie ist, und ich zweifle, ob er überhaupt je einen deutschen Dichter gelesen hat. Allein nach seinem Tode habe ich dennoch unter seinen Papieren einige von ihm herrührende Dichtungen gefunden. Es waren Betrachtungen moralischer Natur, die ungefähr an Gellert’s Manier erinnerten, und von denen eine die sonderbare Vergleichung des menschlichen Lebens mit einer Pfeife Tabak nicht ohne Witz und Beobachtung durchführte. Von dichterischer Phantasie war in all diesen Sachen auch kein Funke; dagegen hatten sie das Merkwürdige, daß sie in Maß und Reim überaus correct waren, und das ist allerdings um so auffallender, da mein Vater gewiß niemals Metrik getrieben, also nur durch Eingebung eines angeborenen rhythmischen Gefühls jene Reinlichkeit der äußern Form erreicht hat. Und hier könnte wohl ein Einfluß von ihm auf mich übergegangen sein; denn schon meine frühesten, ganz unbewußt niedergeschriebenen Verse sind ohne allen Fehler in der Fußzahl gewesen; in einem noch so langen Gedicht, das Jemand vorliest, höre ich jeden metrischen Fehler sofort heraus, und habe oft zur Verwunderung meiner Freunde ihnen in ihren Sachen einen Fuß zu viel oder zu wenig nachgewiesen. Auch würde ich nie, wenn ich in so schönen Armen wie Goethe geruht, nöthig gehabt haben, des Hexameters Maß auf Faustinens Rücken zu zählen, indem mir niemals siebenfüßige Hexameter oder, wie in der „Braut von Korinth“ unserm Altvater geschehen, Reimverse mit einem Ueberbein entschlüpft sind.

Am meisten hatte gewiß meine Mutter von poetischem Feuer, allein es war bei ihr in einer Art vorhanden, welche ein Naturforscher latente Wärme nennen würde. Der dunkle Schiefer, das blanke Eisen haben in sich die Kraft zu großer Hitze; allein sie schläft, bis der scharfe Sonnenstrahl sie hervorlockt. So schläft in manchem Gemüth der Funke der Kunst, aber keine Bildung hat ihn entzündet. Dieser Sonnenstrahl der Bildung nun ist niemals über die Seelentiefen meiner Mutter hingestreift. In dem engherzigen Wupperthale aufgewachsen, hatte sie später mehrere Jahre bei Verwandten in dem orthodoxen Holland gelebt, und weder hierher noch dorthin war das Geisteslicht einer großen Literatur gedrungen, das unsere hohen deutschen Meister am Schlusse des vorigen Jahrhunderts entzündeten. Ebenso wenig ist ihr jemals in dem Westen Deutschlands eine anregende bildende Kunst entgegengetreten, denn diese fehlte dazumal im Rheinlande ganz. So konnte denn bei ihr die Brutwärme des Gemüthes [472] sich nur auf dem religiösen Gebiete entwickeln und nahm hier oft genug eine schwärmerisch poetische Gestalt an.

Die erste Lebensäußerung, in der bei mir die Einbildungskraft hervortrat, war die Furcht. Bevor der Mensch den Grund alles Seins und das Allleben der Natur entdeckt hat, treten ihm aus Wald und Nacht Gebilde seiner eigenen Seele schreckend entgegen. Es ist ein tiefes Wort eines spätlateinischen philosophischen Dichters, daß die ersten Götter in der Welt die Furcht geschaffen habe, denn aus jenem Grundzuge der kindlichen Menschennatur ist alles Heidenthum entstanden, und jeder Einzelne macht in der Kindheit denselben Entwickelungsgang durch. Eben in Folge meiner häufigen Einsamkeit wurde meine Einbildungskraft über alle Begriffe reizbar und mein ganzes Nervenleben fast allzu zart. Meine fromme Unschuld konnte die Verschwendung des Weltgeistes nicht fassen, welche alles Lebendige durch den Tod eines andern Lebendigen ernährt; alles Gestorbene, vorzüglich aber jede gewaltsame Tödtung eines Thieres, war mir entsetzlich. Um ein Lämmchen, mit dem ich als ganz kleiner Junge gespielt hatte und das nun geschlachtet werden sollte, habe ich die jammervollsten Thränen geweint. Der Tag, an welchem wir alljährlich ein Schwein schlachteten, war mir der härteste im ganzen Jahre, und wenn ich in Hof und Baumgarten an einem Häufchen ausgerupfter Federchen den Ort erkannte, wo ein Weih oder Sperber einen Singvogel zerfleischt hatte, litt ich die ganze Todesqual des Thierchens in meiner weichen Seele nach. In den Zeitungsgesprächen zwischen Vater und Großmutter kam sehr oft die Rede auf den griechischen Freiheitskrieg, der damals den ganzen Westen zum Mitgefühl fortriß, und ich duldete dabei unsäglich, wenn die Grausamkeiten der Türken an gefangenen Christen in’s Einzelne besprochen wurden. Am allergrauenvollsten aber war mir eine Unterhaltung, die bei uns einmal viele Winterabende nach dem Nachtessen füllte. Es waren Geschichten von Missionaren, die unter Cannibalen geriethen und von diesen auf unmenschliche Weise getödtet wurden. Vergebens, daß ich, vor Fieberfrost zitternd, die Großmutter bat, mit mir zu Bett zu gehen; die alte Frau und die Anderen alle empfanden bei jenen Erzählungen nur die Spannung des gewöhnlichen Romanlesens und begriffen nichts von der furchtbarem Seelenqual des zarten Kindes; ich aber schämte mich meiner Angst und sagte daher den wahren Grund meiner Bitten nicht. So konnte ich auch den Campe’schen Robinson, der sich in der Bibliothek meines Vaters befand, in der Jugend nicht durchlesen, weil in ihm gleichfalls die karaibische Menschenfresserei eine Grauenscene bildet, und noch heute sind mir die Schauergemälde französischer Romantik herzlich zuwider, welche einen armen Menschen durch alle Aengsten gräuelvoller Martern und gräßlicher Todesarten hindurchhetzen.

Aber auch ohne Anreizung durch fremde Phantasie erschuf die meinige sich Spukgestalten. Das Pfarrhaus war ein altes, zusammengeflicktes Gebäude mit einer Masse von Ausbauten, Ecken und Winkeln. Der Nachfolger meines Vaters hat es abgerissen, obwohl es noch recht wohnlich war, und von collectirtem Gelde ein neues aufgebaut, das er dennoch bald nach der Vollendung mit dem engen Kämmerchen des Grabes vertauschen mußte. Solch ein altes, mit Urväterhausrath vollgestopftes Haus ist nun am hellen Tage für Kinder eine Glückseligkeit, denn überall bietet sich ein Gegenstand der Neugier und ein Eckchen zum Versteckspielen. Allein wenn der Winterabend all’ die dämmerigen Plätzchen mit rabenschwarzer Nacht erfüllte, dann belebte sich mir jeder Winkel mit schreckhaften Bestien und Spukgestalten, und nur mit Herzklopfen schlich ich tappend die gewundene Treppe hinauf. Jede absonderliche Form verwandelte sich mir auch am lichten Tage in ein belebtes Schreckgespenst. So hatte mein Vater auf seiner Studirstube einen Wandschrank mit Papieren, der oben in einen Blumenschnörkel mit zwei Vertiefungen auslief; darüber sah ein Stiefelknecht hervor, welcher jahraus jahrein dort nicht heruntergenommen wurde. Jene Vertiefungen malte sich nun meine Einbildung zu zwei hohlen Augen und die geschwungenen Spitzen des Stiefelknechts zu zwei Hörnern aus, so daß aus dem Ganzen ein erschrecklicher Kopf wurde, der ja leicht einmal auf mich hinunterschießen konnte, wenn ich im Dunkeln die Stube betrat. Nahrung gab dieser Angst der Umstand, daß der Glaube an persönliche Unsterblichkeit, welcher natürlich in einer Pfarrerfamilie unerschütterlich feststand, auch einigen Aberglauben in Bezug auf Geistererscheinungen nach sich zog. Wenn meine Schwester in allem Ernste versicherte, nach dem Tode meiner Großmutter deren Geist im Blumengärtchen erblickt und in einem andern Falle einen sterbenden Bekannten im Augenblick des Verscheidens klopfen gehört zu haben, so war mir einige Gespensterfurcht in der Nacht schon zu verzeihen.

Wollte man nun diesen Seelenzustand Feigheit nennen, so würde mir darin Unrecht geschehen. Wo es galt, einem Wirklichen, Greifbaren zu Leibe zu gehen, da war ich nie ein feiger Junge. Wenn etwa ein Hund sich durch ein Heckenloch in unser Pfarrgebiet gedrängt hatte und die Sicherheit meiner lieben Enten oder Hühner bedrohte, so ergriff ich den ersten besten Prügel, und dann half es ihm nichts, wenn er auch die Zähne wies: er mußte eilfertig durch’s Loch wieder hinaus. Am Niclasabend besuchte uns regelmäßig der heilige Nicolaus und warf Aepfel, Nüsse und Backpflaumen in die Stube, nachdem er zuvor sich erkundigt, ob die Kinder auch brav gewesen seien. Der mit ihm kommende Hans Muff (so nennt man bei uns den Knecht Ruprecht) ließ sich nun eines Abends beifallen, mich mit Prügeln zu bedrohen. Hätte ich einen losen Streich auf meinem Gewissen gehabt, so würde ich sicher meinen Buckel ruhig hingehalten haben; nun aber hatte ich ein reines Gewissen, und Prügel, die ich nicht verdiente, brauchte ich auch nicht zu erdulden. Ich erwischte also einen Stock oder gar ein Stecheisen und ging damit so nachdrücklich auf den Hans Muff ein, daß dieser (es war, glaube ich, unser Dienstmädchen) gerathen fand, sich mit einer allgemeinen Redensart in das dunkle Vorhaus zurückzuziehen und mich ungebläut zu lassen. Dieses habe ich auch im folgenden Leben stets praktisch befunden; Prügel, die ich nicht verdiene, lasse ich mir von Niemandem gutwillig zumessen und bin mit dieser Maxime eine ziemliche Strecke weit ungeprügelt durch die Welt gekommen. Ja selbst die Gespensterfurcht konnte ich schon als kleiner Knabe bezwingen, wenn man mich beim Ehrgefühl anfaßte. So sprachen an einem sehr finstern Abend die Meinigen darüber, ob ich wohl Muth genug besäße, jetzt sofort an einen entfernten Platz des Gartens zu gehen. Ich sagte „Ja“, und man trug mir auf, als Pfand, daß ich dort gewesen, von einem der letzten Beete eine Ranunkel zu holen. Mich schauderte, aber ich ging; in der Küche bat ich das Mädchen noch, sie möchte, bis ich wiederkäme, in der Hinterthür stehen bleiben. Dann schritt ich mit festem Fuße in die Nacht hinaus, brach die Blume und überbrachte sie den wartenden Eltern.

Diese Zagheit vor den Geschöpfen meiner eigenen Einbildung habe ich mir erst abgewöhnt, als meine Phantasie dichterisch zu schaffen anfing und das unbestimmte Grauen zu festen Gestalten verarbeitete. Da wurde es mir im Uebergange vom Jünglings- zum Mannesalter sogar zur hohen Lust, meiner Phantasie in der Einsamkeit alle Zügel abzunehmen und sie wie ein wildes Roß auf weiter Haide sich tummeln zu lassen; auch heute noch beglückt mich solch regelloser innerer Wellenschlag, wenn ich viele Tage, ohne Verkehr mit bekannten Menschen, durch Wald und Flur geschweift bin und der Kuß der Natur sich wieder warm auf die gedankenfreie Stirn drückt. Ich habe etwa im achtzehnten Lebensjahre jene brausende Jagd der losgelassenen Einbildung in ein paar wilden Versen ausgesprochen, die mir noch in der Erinnerung stehen:

Wenn mich ein Traum vom Schlafe weckt,
Glaub’ nicht, daß Angst der stillen
Gewalt’gen schwarzen Nacht mich schreckt –
Schlaflos lieg’ ich mit Willen.

Bis höllenschwarz und himmlisch rein
Die Phantasien schwanken –
Da bin ich mit mir so ganz allein
Und mit den wilden Gedanken!

Die Meinigen merkten wohl, mit welch unbändiger Kraft mein junger Geist die Welt zu umspannen suchte, und meine Mutter erschrak. Als sie einst mit mir in Köln zum Besuche bei meinem dort wohnenden Pathen war, hat sie mir, dem noch ganz kleinen Jungen, die Baugefangenen oder sogenannten Kettenmänner gezeigt und mir gesagt: „Sieh, Kind, das sind große Verbrecher, und dahin könnte auch Dich die Sünde führen.“ Arme Mutter! Du hast nicht geahnt, unter welchen Verhältnissen Dein Liebling zu jenem gefürchteten Loose auf Lebenslänge verurtheilt werden sollte! Auch hat die ahnungsvolle Frau oft ihre Sorgen um meine Zukunft in die Brust meiner Schwester ausgeschüttet und [473] vorausgesagt, daß aus mir entweder eine Stütze des Gottesreiches, wie sie dies Reich verstand, oder ein Verstörer der bestehenden Ordnung dieser Welt erwachsen werde. Und doch zeigten meine schweifenden Gedanken schon früh, daß sie selbst eine Schranke freiwillig sich stecken würden. Als meine Mutter an einem wunderklaren Sommerabend mich, den kaum ein paar Jahre Alten, auf dem Schooße hielt, zeigte sie mir die Funkelpracht des Sternenhimmels und fragte mich: „Möchtest Du die nun nicht alle kennen?“ Da sagte ich entschlossen: „Nein, Mutter, ich habe hier unten auf der Erde noch so viel zu lernen, an die Sterne denk’ ich nicht.“ Meine Freunde werden in diesem kindischen Worte mich vollständig wiederfinden: mich hat immerdar nur das Gegenwärtige, Diesseitige und Praktische gereizt, und in diesem Einen Worte lag schon meine künftige Lossagung vom Christenthum geweissagt.

Die richtige Nahrung und Ableitung meiner brütenden Phantasie wäre die Dichtung gewesen, wenn man sie als Märchen oder Erzählung meinem dürstenden Geiste geboten hätte. Allein vor aller weltlichen Poesie hatte man in unserm Hause den tiefsten Abscheu, und kein Literaturwerk verlief sich unter die pergamentenen Holländer des Vaters oder die Andachtsbücher der Mutter. Romane lesen galt für den Ausbund sittlicher Verdorbenheit, das Theater und somit auch jedes dramatische Werk für eine teuflische Erfindung, womit sich der Christ nicht beflecken dürfe. Lange nach dem Tode meiner Eltern, als ich schon ein erwachsener Mensch war, sah eine meiner Mutter nahe Verwandte, die allerdings noch um einen Grad mehr beschränkt in ihren kirchlichen Vorurtheilen war, Grabbe’s Hannibal in meinen Händen und fragte überrascht: „Liesest Du denn auch solche Satansbücher?“ So blieb jeder Hauch der Poesie, jede lebensvolle Anschauung weltlicher Geschichten ängstlich von mir abgewehrt, und mein Geist glich einem verkrüppelten Schmetterling, der, seiner Puppe entkrochen und voller Sehnsucht nach der blauen Frühlingsluft, dennoch die verwachsenen Flügel nicht auszubreiten vermag. Die alte Großmutter speculirte auf meine große Freude an der Thierwelt und begann mir eine endlos sich fortspinnende Fabelgeschichte von Katzen zu erzählen, welche durch die Welt reisten und allerhand Abenteuer bestanden. Hernach bekam jede Katze wieder junge Katzen, an welche neue heldenhafte Lebensläufe angeknüpft wurden. Allein dieses läppische, farblose Gewebe genügte meinen in’s Große gehenden Wünschen nicht, und als nun gar der Fall vorkam, der in der deutschen Heldensage und in der kirchlichen Legende sich freilich auch wiederholt, daß mir von dem grauen Kätzchen Historien erzählt wurden, die ich schon von dem gelben gehört hatte, so fing mein kleiner Verstand bereits an, den Thatsachen das prüfende Messer anzusetzen. Die ganze Katzengeschichte wurde mir zum Ekel, und ich lief fort, wenn die Großmutter Miene machte, etwa noch ein Enkelgeschlecht von fleckigen Katern und Katzen auf die Bühne der Weltgeschichte zu führen. Da man mich nun ganz und gar nicht mehr zu beschäftigen wußte, so entschloß sich meine Mutter, einen ernsten Unterricht mit mir anzufangen, und so begann ich noch vor dem fünften Jahre das Lesen, dem sehr bald die Unterweisung im Schreiben nachfolgte.

Von jeder Zerstreuung durch Spielen mit andern Kindern entfernt, wandte sich die ganze Kraft meines Geistes auf diese Lernstunden, und ich hatte namentlich das Lesen unglaublich schnell begriffen. Bücher wurden nun mein Glück, allein es fehlte ja im Hause an aller für ein Kind passender Lectüre. Meine Mutter brauchte neuen Lehrstoff und brachte mir das Holländische bei, das sie im Lande selbst erlernt hatte; ich lese von jener Zeit her die Sprache fast ebenso fertig wie das Hochdeutsche. Allein auch hier mangelten sofort die Bücher, und so blieb kein Rath, als gleich wieder eine neue Sprache mit mir anzufangen. Mein Gedächtniß war damals ganz unbegrenzt, und selbst das trockenste Zeug von grammatischen Regeln, mit dem man mich quälte, lernte ich buchstäblich auswendig. So begann denn mein Vater, der mich im Stillen längst zum Theologen bestimmt hatte, das Lateinische mit mir, als ich erst sechs Jahre alt war.

[500]
III.


Mein Vater galt als ehemaliger Regens zweier höheren Schulen für ein Licht von Gelehrsamkeit, und zum Gelehrten dachte er auch mich zu bilden. Natürlich schwebte mir als Knabe ein beständiger Heiligenschein um sein Haupt, und erst viel später habe ich eingesehen, wie unzureichend seine classische Bildung gewesen ist. Gleich so vielen Philologen sah er die alten Sprachen nicht als ein Mittel, sondern als Selbstzweck an. Nicht um an ihrer Hand in die frühlingstrunkene Welt Ioniens und Athens oder in den Braus römischen Thatensturms einzutreten, nicht um in ihnen den Schlüssel zur Erkenntniß eines durch Freiheit und Bildung erhabenen Menschengeschlechts zu gewinnen, hatte er die Sprachen der hohen Vorwelt erlernt: sondern das Lateinische diente ihm, weil es eine Grammatik hatte und viele theologische Bücher darin geschrieben waren; das Griechische aber hielt er, außer der rein sprachlichen Bedeutung, nur zum Verständniß des neuen Testamentes für wichtig. Auch hat er diese letztgenannte Sprache selbst nie wahrhaft gründlich betrieben, sie überhaupt in ihrer formenschönen Jugend gar nicht kennen gelernt, wie sie aus Platon’s goldenem Munde tönt: er verstand sie blos in ihrer letzten, durch Juden und andere Morgenländer schon entstellten Form, welche sie in den alttestamentlichen Apokryphen und in den Apostelschriften angenommen hat. Einen Blick in hellenisches Leben hat er nie gethan, die großen Ionier und Athenienser gar nicht gekannt; ja so unklar lag ihm der Entwicklungsgang jener erhabenen Literatur da, daß er den Homer für viel jünger als den Apostel Paulus hielt. Dagegen war er wieder im Hebräischen recht fest, und sein altes Testament, das ich noch besitze, trägt Spuren, daß er es von einem Ende bis zum andern in der Ursprache durchstudirt hat, was gar manchem Professor der Exegese gleichfalls zu wünschen wäre. Seine Unterrichtsmethode war trocken und pedantisch, aber die lange Schulübung hatte ihn tactfest gemacht.

Mit sehr sicherem Schritte führte er mich von Stufe zu Stufe hinauf, und in drei Jahren war ich mit einer täglichen Unterrichtsstunde im Lateinischen so weit, daß ich mit ihm über alles Vorkommende ganz fertig in dieser Sprache conversirte, was besonders bei Spaziergängen im Munde eines neunjährigen Kindes die Bauern höchlich wunderte. Uebrigens habe ich seitdem auf dem Gymnasium bis zur Prima nicht mehr nöthig gehabt, mich auf meine lateinischen Stunden vorzubereiten, und so oft ich später auch zu den schwierigeren Schriftstellern Roms zurückkehrte, haben sie sofort vertraulich wie alte Bekannte zu mir geredet. Das Griechische begann ich mit acht Jahren, und im Hebräischen habe ich gleichfalls den Grund noch beim Vater gelegt, welcher dazu die Herbstferien vor meinem Aufsteigen in Secunda benutzte.

Das war aber auch der beste Unterricht, den ich erhielt, denn in allem Uebrigen, soviel auch davon betrieben wurde, fehlte die rechte Methode und die Gründlichkeit. Wie leicht ist es, zumal auf dem Lande, die lebensvolle Anschauung der Naturgesetze einem aufgeweckten Kinde beizubringen! Allein davon erfuhren wir ganz und gar nichts, denn alle Naturkunde meiner Eltern lag im Sechstagewerk der mosaischen Schöpfungssage beschlossen. Man braucht einen Knaben nur auf einen Berg mitzunehmen, um ihm alle Grundbegriffe der Erdbeschreibung einzupflanzen, indem man ihm an sinnlichen Beispielen zeigt, was ein Thal, ein Stromgebiet, eine Wasserscheide und eine Bergkette ist. Daran schließt sich alsdann in der Einbildung des Kindes ganz leicht die Vorstellung von Meer, Vorgebirge, Hafen, Insel und Landenge an. Geht man nun dazu fort, ihm die Erzeugnisse der eigenen Heimath zu zeigen und die Producte fremder Länder damit zu vergleichen, welche der Handel massenweis bei uns einführt, so entsteht ganz von selbst im Denkvermögen des Kindes die Vorstellung vom Unterschied der Himmelsstriche, welche sofort die Belehrung über die Gestalt der Erde, ihren Umlauf und ihr Verhältniß zur Sonne nach sich zieht. So gilt es nun zuerst, dem Kinde die blos natürliche Geographie, die Gestalt und Beschaffenheit der einzelnen Welttheile vor dem Auftreten des Menschengeschlechtes zu schildern und so vor seinem Verstand das Theater aufzubauen, auf dem nun die Geschichte ihr noch unvollendetes Schauspiel anhebt. Freilich gehört dazu ein kenntnißreicher und mit Anschaulichkeit des Vortrags begabter Lehrer. Statt dessen führte uns der Vater sofort vor den uns unverständlichen Atlas, trug uns aus einem Buche die Grenzen, Flüsse und Städte der einzelnen Königreiche vor, deren Entstehung wir doch noch gar nicht begriffen hatten, und ließ uns dann alle im Unterricht vorkommenden Namen auf der Karte aufsuchen und unterstreichen. Die Geographie blieb mir also ein bloßes Gedächtnißwerk und weckte in meiner Seele nicht die allermindeste Anschauung auf.

Noch schlimmer stand es mit dem Geschichtsunterricht. Da in diesem Fache Niemand im Hause Etwas verstand, so mußte das Buch aushelfen. Wie glücklich hätte mich damals ein Werk wie Becker’s Weltgeschichte gemacht! Allein die Wahl der Mutter, welche diesen Gegenstand übernahm, fiel auf das allerunglücklichste Buch, nämlich auf Kohlrausch’s Tabellen. In diesen ist der geschichtliche Stoff wie gerippartig zusammengestellt, so daß davon keine Seele das Mindeste verstehen kann, die nicht schon Geschichtskenntnisse mitbringt. Während also beim Kinde die Geschichte gerade in rechter Fülle und Breite als Lebenserzählung großer Männer beginnen soll, fing man sie mit mir am Schlußende an, nämlich da, wo es gilt, die Gleichzeitigkeit oder Reihenfolge der Begebenheiten kennen zu lernen. Denn dies zu begreifen, wie in der Weltentfaltung Alles streng aneinander hängt und mit Nothwendigkeit Eins aus dem Andern hervorgeht, das ist des reifen Mannes, aber nicht eines armen Kindes Sache. Da saß ich nun mit Thränen bitterer Verzweiflung vor dem unseligen Buche der Qual, dessen für mich so vollkommen seelenlose Namen und Jahreszahlen ich seitenweis auswendig lernen, ja zuletzt gar abschreiben mußte, und das begeisterndste aller Lernfächer, dem ich später die Forschung meines ganzen Lebens zugewendet habe, wurde mir durch diese schreckliche Methode vor allen übrigen zum Gräuel.

Auch in der Mathematik wurde der Grund bei mir schlecht gelegt. Da hierin Keiner im Hause sich zum Unterricht fähig fühlte, ging meine Mutter wöchentlich mit mir nach Bonn und ließ mir dort von einem Studenten Unterricht ertheilen. Dieser verstand zwar selbst das Fach gehörig, aber ich war sein erster Schüler, und die werden stets das Opfer für die Bildung der Lehrer. Ohne die ersten Elemente, worauf bei der Mathematik Alles und Alles ankommt, mir recht klar zu machen, schritt er rasch zu schweren Aufgaben fort, die ich nun nicht mehr lösen konnte. Zahlen vermag ich ohnehin nicht zu behalten, und von allem Erlernbaren hat einzig das Einmaleins nie in meinen Kopf gewollt. So habe ich denn dieses Fach immer nur stümperhaft durch die Gymnasialclassen mit fortgeschleppt, bis ich es nach dem Abgangsexamen kurzweg über Bord werfen durfte.

Von Künsten war in unserm Hause nur die Musik erlaubt, weil man mit Rücksicht auf meine Schwester annahm, daß jedes Mädchen von Bildung ein paar Clavierstücke müsse abspielen können. Ob musikalische Anlage da sei, danach fragte man damals so wenig wie heutzutage: die Musik war und ist eben die Modekunst. Zu diesem Zwecke war ein geringes Instrument angeschafft und ein Clavierlehrer aus der Stadt angenommen worden. Dieser brachte auch meiner Schwester eine ansehnliche Fingerfertigkeit bei und hat ihr später sogar bis zum Generalbaß hinauf Unterricht ertheilt. Allein sein Beginn in der Musik war stets nur auf die technische Ausübung, niemals auf die Grundbegriffe und obersten Gesetze dieser wunderwürdigen Kunst gerichtet. Von dem, was Musik eigentlich sei, erfuhr man bei ihm Nichts. Meine Natur ist nun die, daß Nichts mich anzieht oder fesselt, dessen Grund ich nicht erkenne, und als ich somit unter demselben Lehrer später auch zum Clavier herangezogen wurde, habe ich neun volle Jahre Spielunterricht gehabt und stets daneben mich geübt, habe es aber in den neun Jahren nicht dazu gebracht, auch nur einen einzigen Walzer richtig und schön zu spielen, bis ich endlich ergrimmt diese ganze Fingerquälerei und Geistabtödtung [501] in eine Ecke warf. In früher Jugend war mir sogar die Musik zuwider, und wenn in unserm Hause gespielt wurde, schlich ich mich in den Garten hinaus, denn mein überreiztes Nervenleben ertrug sie nicht: sie machte mich melancholisch und thränenreich. Eins meiner Kinder, und zwar eins der kräftigeren, hatte in den ersten Jahren dieselbe Eigenheit: es schauderte und jammerte, wenn es rauschende Musik, z. B. Militärmärsche, vernahm; ein ernster Wink für Mütter und Erzieher, bei zarten Kindern im frühen Alter mit Clavierspiel und leidenschaftlichem Gesang vorsichtig zu sein. Uebrigens habe ich niemals musikalisches Gehör besessen und so auch beim Singen die Töne nicht treffen, noch weniger aber Melodien behalten können; mein Verständniß geht mehr auf die feste Form als auf das gefühlsweiche Element des Tones, so sehr auch jetzt Genuß edler und kunstreicher Musik mich erbaut und geistig steigert.

Und so war ich denn nach allen Seiten zum geistigen Darben verurtheilt. Einzig das religiöse Gebiet wurde mir weit aufgethan, und dort hinein nahm sogleich mein Geist einen kräftigen Anlauf.

Alle meine Erziehung ging auf Religion aus, da meine Eltern beide außer ihr keine Geisteserweckung kannten. Wenn mein Vater mit mir den Cornelius Nepos las, so machte er bei den Tugenden des Epaminondas die Bemerkung, daß in dem Charakter dieses Heiden auch wohl ein Christ sich spiegeln könne. Das ganze frische Leben der Natur wurde im Geiste der hebräischen Psalmendichter stets auf den persönlichen Gott zurückgeführt und jede sittliche Vorschrift aus der Bibel begründet. Alle weltliche Lebensfreude wurde mit irgend einer Bibelstelle todtgeschlagen. Lachte ein Kind einmal von ganzem Herzen, so setzte ein Spruch Salomonis sofort einen Dämpfer darauf. Tanzen war überaus sündlich, denn durch Tanzen hatte die Tochter der Herodias das Haupt des Täufers gewonnen.

Das Militärleben ist seiner Natur nach eine frische Weltlichkeit; vor ihm wurde also ein Abscheu in meine Seele gepflanzt, indem man es mir als die schrecklichste Strafe für Jugendfehler hinstellte, daß ich vielleicht Soldat werden müsse. Und das geschah wenige Jahre nach den Freiheitskriegen, in denen die allgemeine Wehrpflicht sich als den edelsten Beruf des Jünglings so glänzend bewiesen hatte! Man preßte durch solche heillose Verkehrtheit so viel Angst in mich hinein, daß ich um der Soldaten willen ungern nach Bonn ging und jeden derselben, der uns begegnete, überaus scheu und höflich begrüßte, damit er mich ja nicht mit in die Caserne schleppen möchte. So gewann denn das Gute wie das Verrückte bei uns eine biblische Grundlage. Die Bibel war uns überhaupt zum Lesen unbeschränkt überlassen: den sittlichsten Roman hielt man für gefährlich, aber das alte Testament schien für Kinder unbedenklich. Da meine Lesewuth also überall eingedämmt war, strömte sie unaufhaltsam auf die Geschichtsbücher der Bibel hin, und ich erwarb mir darin eine Belesenheit und Stellenkenntniß, die mich später in meinen theologischen Studien sehr gefördert hat. Hier half es nichts, daß man den Soldatenstand mir gehässig gemacht hatte, sondern mit wahrer Begeisterung las ich die Kriegsthaten des auserwählten Volkes. Die Gründung der ersten Bundesrepublik unter den Richtern entzückte mich; aber Flammen warf in meine Seele der heldenmüthige, nach schmerzlichen Opfern zuletzt siegreiche Guerillaskrieg der Makkabäerbrüder, um den väterlichen Freistaat aus der vom Auslande her aufgedrungenen Monarchie wieder herzustellen. Aus dem alten Testamente erwachten mir überhaupt die ersten geschichtlichen Begriffe von dem, was ein Volk, ein Staat und eine Staatsveränderung sei, und die großen Umwälzungen der vorderasiatischen Reiche dämmerten mit einiger Klarheit in meiner Seele auf.

So lebte ich mich tüchtig in die geschichtliche Vorbereitung des christlichen Glaubens hinein, aber der Glaube selbst, wie ich ihn aus dem Heidelberger Katechismus und aus meines Vaters Predigten schöpfte, ergriff mich nicht sonderlich. Der Vater hatte stets in solchen Landschaften gelebt, die vom Rationalismus des vorigen Jahrhunderts unberührt geblieben waren. Ueberhaupt hat die calvinische Kirche, der er angehörte, in Holland, dem Wupperthale und der französischen Schweiz die alte Rechtgläubigkeit gegen alle Einwirkungen moderner Philosophie weit eiserner festgehalten, als ihre hierin beweglichere lutherische Schwester; daher denn auch jetzt z. B. im Wupperthale schon für die nächsten Jahre ein um so jäherer Umschwung in den Pantheismus hinein sich leicht voraussagen läßt. Mein Vater namentlich war so vollständig orthodox, als ob Lessing und Semler nie in der Welt gewesen wären, und so behielten auch seine Predigten in der Manier, wie sie geordnet waren und die Bibel erläuterten, einen ganz altväterischen Anstrich. Wozu aber damals bei calvinischen Theologen das angebliche Wort Gottes sich herleihen mußte, mag ein einziges Beispiel aus Starke’s Erklärung des alten Testaments darthun.

Im Buche der Richter kommt irgend eine Stadt des gelobten Landes vor, welche Kiriath-Sefer, das heißt „Stadt des Buches“, heißt. Gott weiß oder weiß auch vielleicht nicht, warum die alten Philister besagtem Orte solch gelehrten Namen beigelegt haben; der fromme Bibelerklärer Starke zieht aber aus diesem Namen die Nutzanwendung, daß gottselige Fürsten darauf halten sollten, daß in ihrem Lande – eine Universität bestehe! Wundere man sich indessen über solchen Aberwitz nicht, denn dies ist doch nur ein vereinzelter Unsinn, und der Unsinn ist noch viel prunkender in Reih’ und Glied dahergezogen.

Der alte Krummacher in Elberfeld, der Oheim des vielbesprochenen gleichnamigen Kanzelredners, hat eine wohl mehr als jahrelange Reihe von Predigten blos über die hebräischen Namen von Lagerstätten gehalten, welche die Israeliten auf ihrem Zuge durch die Wüste besetzt hatten. Diese Predigten sind gedruckt, und ich selbst habe eine davon mit eigenen Ohren gehört. Der hebräische[WS 1] Name wurde hier auf alle mögliche Weise herumgekehrt, alle Bedeutungen, die er allenfalls haben konnte, herausgepreßt, und an jede Bedeutung knüpfte sich sodann ein Theil der Predigt, indem hieraus künstlich eine Belehrung über die innere Führung der Erlösten sich hervorspann. Und war dies nicht folgerichtig? Wenn doch nach der alten echten Eingebungslehre der heilige Geist jeden Buchstaben der Schrift dictirt hatte, warum sollte er nicht auch in den bloßen grammatischen Wortlaut tiefe Geheimnisse hineinlegen können, welche herauszuklauben er dann dem Kanzelwitz calvinischer Pastoren überließ? Sicher empfahl solche Lehre sich den Kanzelregenten um so dringlicher, als sie sowohl der Renommage mit hebräischer Gelehrsamkeit, als der Eitelkeit menschlichen Scharfsinns eine mastige Weide bot. So toll wie Jene hat nun wohl der Vater es niemals getrieben, allein sein Hebräisch wußte er doch auf der Kanzel recht oft des Breitern geltend zu machen, und nie zog er eine Bibelstelle an, ohne zweimal nach Capitel und Vers bekannt zu machen, wo sie stände. Auch wunderliche Nutzanwendungen gab er zuweilen zu vernehmen, wie denn jener vorerwähnte Starke sein geistliches Hauptrüsthaus gewesen ist, aus dem er seine sonntäglichen Schutz- und Trutzwaffen hervorholte. Von wirklicher Beredsamkeit oder auch nur von formloser, aber tiefer Gluth war bei ihm keine Spur; er gab eine ausführliche dogmatische Abhandlung über seinen Text, und mit der fast ohne Ausnahme stehenden Formel: „Was nehmen wir nun aus dieser Betrachtung mit nach Hause?“ ging er sodann auf das Feld der moralischen Nutzanwendungen über, durch welches er seine Zuhörer schleunig in’s Himmelreich zu führen und mit dem Amen den Riegel hinter ihnen zuzumachen pflegte, weshalb wir Kinder bei jener Formel uns immer freuten, denn nun war in höchstens zehn Minuten die Kirche aus, und wir durften wieder in den Blumengarten. Sonntags Nachmittags mußten wir dann den Katechismus aufsagen und erklären, manchmal aber auch die Predigt vom Morgen ihrer Eintheilung und ihrem Inhalte nach wiederholen. Da hier kein Entwickeln der Begriffe aus der Kinderseele heraus stattfand, sondern Alles nur von außen hineingelernt wurde, vermochte auch diese Uebung keine Glaubensflamme in mir zu entzünden, und als ich mehrere Jahre später confirmirt wurde, konnte ich zwar nach Lampe’s „Geheimniß des Gnadenbundes“ das coccejanische System so gut wie der gelehrteste Theolog aufsagen, allein ich habe umsonst versucht, bei dieser Gelegenheit die herkömmliche Gefühlsrührung des Einsegnungstages in mir zu erwecken.

Mit dieser ihrer christlichen Weltanschauung hing nun endlich ein anderer Erziehungsfehler meiner Eltern zusammen. Sie hielten es für ihre Pflicht, uns nicht ohne Schläge heranwachsen zu lassen. Diesen unsittlichen Grundsatz lehrt das alte Testament an mehr als einer Stelle; das Buch Jesus des Siraciden, das neben feiner Weltbeobachtung auch so viel einer edeln Natur Unwürdiges enthält, schreibt geradezu vor, daß man seinem Kinde den Rücken [502] recht bläuen und sich an seine Striemen und Thränen nicht kehren solle; und das neue Testament nimmt, obwohl in weniger empörender Weise, ebenfalls für die Ruthe Partei. Das gebildete Heidenthum hatte den Stock bereits aus der Hand des Erziehers verbannt, als die Apostelschriften ihn wieder einführten. Der erfahrene Jugendlehrer Quintilian, der selbst seine eigenen Knaben musterhaft erzogen und lange Jahren mit anderen Kindern Schule gehalten hat, erklärt sich in seiner Anweisung zur Beredsamkeit grundsätzlich gegen jede körperliche Züchtigung. Allein die Kirche hat in ihre Moral das Gegentheil aufgenommen, und sie hatte dazu einen Grund in einem ihrer falschen Lehrsätze.

In der Seele des Kindes treten eine Menge von Unarten hervor, die zur geistigen Entwicklung gerade so unvermeidlich sind, wie für den Körper die Zahnzufälle, Masern und Rötheln. Solche Unarten sind wie ein Hautschorf, der von selbst abfällt, wenn man ihn nur nicht reizt. Diese Ansicht kann aber der Christ nicht fassen, denn ihm ist jede kindliche Verkehrtheit ein Ausfluß der Erbsünde und folglich der Verdammung und Strafe würdig. Es giebt allerdings auch in den Kindern Eigenschaften, die auf spätere Eigensucht oder Leidenschaftlichkeit hinweisen; diese aber werden durch Schläge befestigt, wenn auch natürlich die Angst das Kind dazu treibt, sich eine Zeit lang zu verstellen. Das einzige niemals unwirksame Mittel, Kinderfehler wegzuerziehen, ist, daß man in der Seele des Kindes eine unwandelbare achtungsvolle Liebe zu der Person des Erziehers erhält, und durch sie jeden Verweis zu einem nachdrücklichen Seelenschmerz für das Kind macht. Diese Liebe aber leidet unbedingt durch’s Prügeln Schaden, und jeder Hieb schwächt somit die sittliche Einwirkung der Eltern ab. Denn schlägt der Vater seinen Knaben mit eigenem, offenbarem Zornmuth, so wird er dem Kinde ein schreckliches und abscheuwürdiges Grauenbild; züchtigt er aber mit Seelenruhe und aus kaltem Pflichtgefühl, so bläst er den Liebesfunken ganz und gar in der Kindesseele aus.

Nun waren allerdings Schläge in unserm Hause nicht häufig, und da wir von fremden Kindern keine groben Unarten lernten, wurde meist nur mit Worten gestraft. Ja, es kamen Fälle vor, wo sogar mit Weisheit die Erziehung auf rein sittliche Beweggründe sich stützte. So war es in unserm Hause eine harte Strafe, wenn ein Kind acht Tage lang den verehrten Mund des Vaters beim Schlafengehen nicht küssen durfte. Auch leuchtet mir noch wie ein helles Licht ein verständiges Wort meines Vaters, das in seiner Einfachheit mehr als aller Religionsunterricht und alle Hiebe auf die Sittlichkeit meines Charakters gewirkt hat. Es war irgend etwas Verkehrtes geschehen; der Vater, der es später entdeckte, kam mit ernster Miene auf mich zu und fragte: „Hast Du Das gethan?“ Zitternd sagte ich: „Nein.“ Da sprach er freundlich: „Ich glaube Dir, denn Du lügst nie.“ Das Wort ging wie eine Läuterungsflamme durch meine Seele; denn ich wußte wohl, daß ich doch früher bisweilen mit Lügen mich herausgewickelt hatte. Eine schon angefaulte Gesinnung würde aus jenem Ausspruch neue Frechheit zur Lüge eingesogen haben; ich in meiner Unschuld schämte mich vor mir selbst, daß der Vater einen besseren Glauben, als ich verdiente, von mir hatte. Aber aus der Scham wuchs nun von diesem Tage an der Stolz herauf, jene gute Meinung verdienen zu wollen; ich hätte es nicht mehr über’s Herz gebracht, eine Verschuldung abzuleugnen, und von da an hat denn mein Charakter nach dieser Seite hin sich rein entwickelt.

[520]
IV.


Wo aber dieser Grundzug einer braven Natur vorhanden ist, da braucht man Prügel am allerwenigsten. Und doch bekam ich Prügel, ja, das Allerübelste dabei war, daß man uns wegen Vergehen züchtigte, die blos Vergeßlichkeit ober Uebereilung, ja, die manchmal gar keine Vergehen waren; denn leider züchtigen Eltern in der Regel nur das an den Kindern, was sie selber verschuldet haben. Gerade die Fälle, in denen ich ungerechter Weise geschlagen worden bin, haben sich mit ätzender Schärfe in meine Seele gegraben, und ich vermag trotz all dem harten Unrecht, das seitdem dem Jüngling und Manne widerfahren ist, jene kindischen Erinnerungen nicht los zu werden. So sagte ich einmal beim Schreibunterricht: „Mutter, thun Sie dies oder das, oder ich geb’ Ihnen eine Ohrfeig’.“ Das war ein unschickliches Wort und verdiente einen Verweis, aber ich hatte es im höchsten Spaß gesprochen, und wie oft sind meine Kinder, wenn ich ihnen bange machte, oder sie sonst neckte, lachend an mich herangesprungen, um mir einen Liebesschlag zu geben! Meine Mutter aber war so schwach, dieses dem Vater anzutragen, der mich denn sehr heftig und zornmüthig mit einem Knotenseilchen durchhieb.

Ein anderes Mal hatte der Vater selbst mich mit einer Pfeife zum Drechsler geschickt, der ziemlich entfernt im Dorfe wohnte. Ich betrat dessen Werkstätte zum ersten Mal, und da ich an allem Handwerkerwesen große Freude habe, erstaunte ich mich auf’s Höchste über die Schnelligkeit, mit der die raschlaufende Maschine die kleine Reparatur an der Pfeife vollendete. Da Niemand mir geboten hatte, ohne Verzug heimzukehren, so blieb ich da und sah dem Manne auch bei seiner ferneren Arbeit zu. Ich konnte gar nicht satt werden, mich über die blitzschnell sich rundenden Holzstücke und die lustig fortspringenden Spähne zu freuen, und so mochten wohl ein paar Stunden verflossen sein, als endlich der Drechsler selbst mich heimschickte; denn meine Eltern, meinte er, möchten Sorgen um mich haben. Er schnitt mir sodann noch von seinem Weinspalier eine große weiße Traube ab, und seelenvergnügt ging ich schmausend und über die große Drehbank nachsinnend die Zippergasse hinauf, dem Pfarrhause zu. Da kam mir ein Nachbarskind entgegen und sagte: „Wart’ Du, Dir wird’s schön gehen; Dein Vater und Deine Mutter meinen, Du wärst todt, und suchen Dich im ganzen Dorf.“ Und so war’s. Der Vater hatte den Auftrag ganz vergessen, den er selbst mir gegeben, und da ich nie aus den vier Mauern des Pfarrgebiets hinaus durfte, hatten sie schon im Brunnen nach mir gefischt, in allen Regensenken nachgesehen und zuletzt auf der Straße Nachforschungen angestellt. Das halbe Dorf lief an der Linde zusammen, weil Pastors Gottfried verloren gegangen war, und als ich nun mit meiner Traube wie ein Hühnerdieb die Gasse heraufschlich, schlug bei meiner Mutter die ausgestandene Todesangst in jähen Zorn um, und sie züchtigte den unschuldigen Knaben öffentlich vor den Augen des ganzen Dorfes. Dürfte man sich wundern, wenn durch diesen Einen herben Mißgriff mein Ehrgefühl eine unheilbare Wunde erhalten hätte? Uebrigens hat die Mutter gewiß bald ihre Hitze bereut, denn später schützte sie mich gegen den Vater.

Eines Tages war Besuch von einer befreundeten Familie da, und ich hatte mit einem der Kinder, einem wilden Mädchen, fröhlich gespielt. Als sie abfuhren, jagte ich durch den Garten und schwang mich auf die Mauer, um Alwinen noch einen Gruß zuzurufen. Ich hörte, daß der Wagen schnell fuhr, lief also, um nicht zu spät zu kommen, in der Hast über ein neu angelegtes Spargelbeet, und das war durch die peinliche Ordnungsliebe meines Vaters streng verpönt. Er sah vom Söller aus meinen Gartenfrevel, schoß eilig die Treppen herab, ergriff mich und schleppte mich zu einer ungebührlich strengen Execution in’s Haus. Da trat meine Mutter dazwischen; man entfernte mich rasch in ein anderes Zimmer, und es muß eine überaus heftige Scene zwischen den Eltern gegeben haben, während ich armer Schelm glaubte, daß die Mutter wegen der Größe meines Verbrechens in Nervenzufälle gerathen sei. Dieser Tag einsamen Arrestes ist mir durch Angst um die Mutter und durch Gewissensqual so schauerlich gewesen, daß ich sogar den Jahrestag behalten habe: es war der fünfte März. Von da an habe ich denn, wenn ich nicht sehr irre, nie wieder einen Schlag bekommen. Auch meine späteren Lehrer, was ich hier sogleich beifügen will, sind stets durch Worte mit mir fertig geworden, und meine Natur ist so gesetzlich angelegt, daß man mich während sechs Gymnasialjahren kein einziges Mal durch Züchtigung oder Einsperrung auf den besseren Weg hat bringen müssen, so wie ich auch in fünfjährigem Universitätsleben niemals vor den Senat oder Universitätsrichter citirt oder mit irgend einer Carcerstrafe belegt worden bin.

Man wird aus dem Vorstehenden wohl ersehen, daß die moralische Seite meiner Erziehung nicht zu gelind gewesen ist. Besonders trüb wurde mir die Kindheit dadurch, daß die Bestrafung gar oft eine ungleiche war. Kleine Fehler zogen mir vom Vater schon sehr heftige Vorwürfe zu, und die Mutter drückte mein Gewissen fast noch härter durch ihre tiefen Seufzer und Thränen bei jeder Lebensäußerung, die ihr nicht gottselig erschien. Man hatte in unserm Hause als Kind stets das Gefühl, als schwebe ein Donnerwetter in der Luft, das ohne alles eigene Zuthun Einem plötzlich über dem Kopfe losbrechen könne, und das ist keine gute Atmosphäre, um ein kindlich Gemüth friedlich und glücklich zu machen. Doch leider sind für die meisten Eltern ihre Kinder nur dafür da, um nach Laune bald ihre Zärtlichkeit und bald ihren Verdruß an ihnen auszulassen, und ich halte es deshalb bei den meisten Menschen für eine grobe Selbsttäuschung, wenn sie die Kinderjahre für die glücklichste Zeit ihres Lebens ausgeben. Bei mir wenigstens liegen sie in trübem Nebel, und erst mit der steigenden inneren Freiheit, Klarheit und Reife ist auch meine Empfindung von Glück Tag um Tag gewachsen bis in’s Mannesalter.

Nun aber sorgte der Zufall, der so oft bei menschlichem Irrthum als rettender Engel eintritt, auch zur guten Stunde dafür, daß mein nach Weltverständniß und Schönheit schmachtender Geist nicht ohne alle Labung bliebe. Um im Lateinschreiben vorwärts zu schreiten, bedurfte ich eines neuen Uebungsbuches, und so wurde eine Bearbeitung der römischen Geschichte, ich glaube von Döring, angeschafft, welche großentheils aus den classischen Schriftstellern selbst gezogen war. Sobald dies Werk in meine Hände fiel, galt es mir nicht als lateinisches Schulbuch, sondern sein Inhalt war es, der mich ergriff. Zum ersten Mal grüßte mich aus dieser Compilation Klios göttliches Antlitz, zum ersten Mal las ich bei dem Küchenfeuer des Mägdestübchens Geschichte, menschliche, wirkliche, nicht von Pfaffen und Rabbinern zurechtgeschnittene Geschichte.

Mein Geist, dem das kleine Palästina längst zu enge geworden, that einen tiefen, wonnigen Athemzug im freien Luftstrom der unermeßlichen römischen Weltherrschaft, und ohne abzusetzen, ließ ich die Bilder jenes großen Volkslebens vom Königthum bis zum zweiten Untergang der Monarchie an mir vorbeirollen. Dem folgte bald ein noch höherer Reiz. Ich entdeckte in der kleinen Bibliothek unserer Dorfschule Kohlrausch’s deutsche Geschichte und wußte sie mir zu verschaffen. Der dritte Band enthält die Befreiungskriege und ist ungefähr in dem Tone geschrieben, wie etwa in diesem Augenblick (1850) ein österreichischer Schulmeister den ungarischen Revolutionskrieg schildern würde: auf französischer Seite der Teufel, auf deutscher Sanct Michael mit allen erwählten Engeln und Erzengeln. In ähnlichem Geiste war denn auch die Vorzeit unseres Volkes behandelt; die deutschen Kaiser hatten immer Recht, die Päpste unbedingt Unrecht. Allein diese entschiedene Parteinahme sprach den Geist des Knaben mächtig an. In unserm Hause galt ohnehin die französische Revolution für das scheußlichste Blatt der ganzen Weltgeschichte; Napoleon wurde nur insofern anerkannt, als er der Republik ein Ende gemacht hatte, sonst aber als Tyrann und Feind Gottes verabscheut. Franzosenhaß ging am rechten Rheinufer überhaupt bei den Bewohnern durch, weil hier nicht, wie jenseits, die Krieger der Republik und des Kaiserreichs als Freunde, sondern als in Feindesland gekommen waren, und ich habe an dieser Restaurationskrankheit [521] bis über meine Studentenjahre hinaus nachcuriren müssen. Allein trotz jenem Fehler des Buches rundete sich mir doch nun der Kreis der Weltgeschichte von den alttestamentlichen Reichen bis zu meiner Gegenwart einigermaßen ab, und mein zuverlässiges Gedächtniß sicherte mir dauernd eine ziemlich klare Verknüpfung der Begebenheiten.

Und nun trat denn auch die Poesie an mich heran und erlöste mich von der geistigen Dumpfheit. So oft die Mutter verreiste und mich fragte, was sie mir mitbringen solle, verlangte ich nur Bücher und immer wieder Bücher. Einige Erzählungen des gemüthvollen Verfassers der Ostereier wurden mir zu Theil, die mich höchlich entzückten, aber durch ihre religiöse Moral meinen Gesichtskreis nicht erweiterten.

Ein andermal kamen Holberg’s Fabeln mit in’s Haus, gewiß keine Kinderlectüre, aber ich verschlang sie und lernte sie fast auswendig. Nur die rechten Bücher, die eigentlichen Dichter blieben aus, denn eben die wollte man mir ja nicht in die Hände geben. Da erbarmte sich meiner und der Schwester jener Musiklehrer aus der Stadt, der ein gar wunderlicher Mensch war. Anlage zur Schwindsucht, der er auch unterlag, machte ihn griesgrämig und selbst polterig, aber im Herzen war er der wohlwollendste Mann. Bis zum Lächerlichen gesteigert, nährte er in sich einen Haß gegen alle katholischen Priester, den er gegen uns als Protestantenkinder ungefährdet aussprechen durfte. Obwohl er Musik mir nicht eintrichtern konnte, rührte ihn dennoch mein aufgewecktes Wesen, das er in pietistischem Dunstkreise verkommen sah, und er wußte einige Bücher in unser Haus zu bringen, deren Wirkung er dem Zufall und unserm guten Instinct überließ. So bekam ich von ihm Gellert’s Fabeln, meine Schwester aber Schiller’s Gedichte. Letztere waren mir anfangs zu hoch, und ich verstand namentlich die vielen Anspielungen auf griechische und römische Götterlehre nicht, die so Manches in Schiller’s lyrischen Gedichten dem Volke ungenießbar machen. Allein eben dies gab dem Musiklehrer Gelegenheit, auf die Nützlichkeit eines Buches über die antike Fabelwelt aufmerksam zu machen, und so kam mit des alten Ramler Mythologie auf einmal ein gewaltiger Gährstoff meiner Einbildungskraft in’s Haus. Mit diesem Führer trat ich nun rasch und freudig in Schiller’s hohe Gedankenwelt hinein und erhielt von diesem Dichter die ersten Eindrücke einer edeln und erhabenen Poesie. Seine Balladen wußte ich bald auswendig, aber auch seine philosophischen Gedichte übten mein Denken schon frühe. Das Einige, was mir noch zur vollen Ahnung der Dichtkunst abging, war die Leidenschaft, und diese gab mir Körner durch seine Rosamunde, die sich, ich weiß nicht mehr auf welchem Wege, ebenfalls zu uns verirrte. In ihr lernte ich an einem nicht mustergültigen, aber doch tief das Gemüth ergreifenden Werke zum ersten Mal die höchste aller Kunstgattungen, die Tragödie, kennen. Wenn Immermann Schillern einen Jugendschriftsteller nennt, so mag dessen Nachahmer Körner mit Wahrheit ein Schriftsteller für das Knabenalter heißen. Die Wirkung auf meine Seele war unermeßlich; obwohl erst acht Jahre alt, verstand ich ohne alle Unterweisung sofort die fremdartige dramatische Form. Es war wie ein Kernschuß mitten in mein Herz hinein: bei Rosamundens Tod sprang mein ganzes Leben aus Rand und Band, und wie ein Rasender lief ich im dunkeln Vorhaus auf und ab. Mutter und Schwester sahen meinen trunkenen Zustand und begriffen ihn nicht; doch nahm Jene sich fester als je vor, poetische Werke von mir abzuwehren. Das war möglich, so lange ich in Oberkassel unter ihren Augen blieb; aber für mich selber war nun die Brücke geschlagen, über welche ich, der elterlichen Aufsicht bald darauf entnommen, in die Bühnenwelt Schiller’s und dann zu den begeisternden Jugendstücken Goethe’s fortstürmte.

War es dieses Ausbreiten meiner Schwingen in’s Morgenroth der Dichtung oder mein körperliches Heranreifen, genug, meine Mutter fühlte, daß das Vaterhaus mir zu enge werde. Was ich dort lernen konnte, das verstand ich jetzt, und sie selber sah ein, daß sich manche geistigen Gebiete mir ohne Gefahr für mein Fortkommen in der Welt nicht mehr versperren ließen. Man beschloß also, mich Ostern 1825 in’s Gymnasium nach Bonn zu thun, obwohl ich erst neun Jahre alt war und somit nach der Strenge des Schulgesetzes noch nicht aufgenommen werden konnte. Aus einem Worte, das die Mutter später einmal fallen ließ, sah ich, daß sie noch einen anderen Grund hatte. Mein Vater war im Festhalten an begründeten sowohl, als an vorgefaßten Meinungen sehr beharrlich. So hat er sich lange Jahre der Einführung der Union und Agende in Oberkassel widersetzt, welche von dem vorigen Könige so eifrig betrieben wurde. Gleiche Unabhängigkeit stellte er stets den Hohen und Reichen der Welt entgegen und den Staatsbeamten wich er in Sachen, wo er Recht zu haben glaubte, auch nicht einen Fuß breit. Namentlich auf solchen Punkten, wo er inmitten unserer ganz katholischen Umgebung die Gerechtsame seiner reformirten Kirche auch nur im Mindesten beeinträchtigt sah, hatte er keine Ahnung von Menschenfurcht. So war es gleichfalls seine Weise, sich über Alles, was im Staate vorkam und seinem kirchlichen Sinne nicht gefiel, ohne alle Rücksicht auch vor den Kindern auszusprechen. Kam in der Geographie eine deutsche Residenz vor, und es wurden z. B. drei in ihrer Nähe gelegene fürstliche Lustschlösser erwähnt, so sagte er sehr ruhig: „Also zwei zu viel.“ Nun konnte meine Mutter den Vater zu Allem, was sie wollte, bringen, aber das Eine gelang ihr nicht, daß er diesen Freimuth ablegte oder auch nur in unserer Gegenwart zäumte. Bei meinem vor keiner Folge zurückbebenden Charakter fürchtete sie einen Einfluß, der, wie sie ahnend vorschaute, mein Lebensschicksal verwirren könne, und dies gab ihr einen Beweggrund mehr ab, mich aus dem Vaterhause in noch so zarten Jahren zu entfernen. Allein seinem Loose entgeht Niemand, und vergebens suchen wir auch unsere Kinder dem ihrigen zu entziehen.

Ich selbst verließ gern meine Heimath, ich wußte ja, daß ich einer größeren Freiheit entgegenging, und hoffte in breiterer Welterkenntniß von der geistigen Dumpfheit erlöst zu werden, die mich wie eine ägyptische Nacht drückte. Denn allerdings war ich damals ein gar wunderliches Zwitterwesen. Frühauf und über meine Jahre gelehrt, hatte ich doch in ganze große Gebiete des Lebens, die jeder Straßenjunge überschaut, noch niemals einen Blick gethan. Ich war bis zum Aeußersten empfindungsfähig und mein ganzes Wesen eigentlich nur ein fühlender Nerv, und doch stand ich in Geschmack und Kunst dem rohen Barbaren gleich. Streng rechtgläubig, ermangelte ich doch aller religiösen Innigkeit; einen Wurm hätte ich nicht tödten können, daß aber Gott einst das ganze Menschengeschlecht in der Sündfluth ersäuft habe und die nicht Auserwählten ewig zum Höllenfeuer verdamme, das glaubte ich. Meine Einsamkeit hatte mich menschenscheu und verschlossen in meinen innersten Gedanken gemacht; allein ich empfand ein grenzenloses Bedürfniß nach Mittheilung und Liebe, und meine Zärtlichkeit gegen die Meinigen war ohne Maß und Schranke. Ein Vorwurf meines Vaters brachte mich zum Zittern, und doch hätte ich für jeden Punkt des Katechismus, ohne zu erbleichen, den Scheiterhaufen bestiegen, ehe ich meinen protestantischen Glauben verleugnete. Ich war nicht ohne Stolz auf mein Wissen, aber jeder Handgriff eines Arbeiters, den ich zum ersten Mal lernte, demüthigte mich. Und so stand ich denn ganz als das sonderbare, mir und Anderen räthselhafte Wesen da, wie ich nothwendig aus einer Erziehung hervorgehen mußte, die auf der einen Seite mir die wirkliche Welt verschloß, von der andern aber wieder so heftig den Sporn des Fortschritts in meine nachgiebige Seele drückte.

Hier aber, auf dem ersten Wendepunkte meines Lebens, sorgte mein Schicksal dafür, mir auf Einen Augenblick die lichte Gestalt zu zeigen, die dereinst aus diesen und allen späteren Nebeln meinen Geist erlösen sollte.

In meinem Heimathdorfe besitzt die reichsgräfliche Familie zur Lippe-Biesterfeld, welche dort einen stattlichen Herrnsitz bewohnt, viele Grundstücke. Darunter befindet sich eine mit Weinstöcken bepflanzte Terrasse am steilen Rheinufer, die auf ihrer obern, reinlich besandeten und von einer Brüstungsmauer umschlossenen Fläche einen kleinen Pavillon trägt. Die Aussicht von diesem Plätzchen ist herrlich: man sieht mit Einem Blicke Siebengebirge und Godesberg, während abwärts Bonn mit der prachtvollen Schloßfront und dem fünfthürmigen Münster im Rheine sich spiegelt und am Abend seine dunkeln Glockentöne über die purpurglühende Stromfläche herübersendet. An diesen Platz führten wir regelmäßig Fremde, die uns besuchten, und ich selbst saß oft als Knabe dort, um im Anblick der weiten Ebene zu träumen und auf die Eidechsen zu lauern, die aus den brüchigen Steintreppen und Geländern der Terrasse im warmen Sonnenstrahl hervorschlüpften.

[522] Nun begab es sich an einem der schönsten Sommernachmittage, daß ein Gymnasiallehrer aus Bonn unser Haus besuchte und seine Tochter, als gleichaltrig mit meiner Schwester, mitbrachte. Sie stand auf der Grenze zwischen Kind und Jungfrau und war fünf Jahre älter als ich. Waren Fremde bei uns, so kam ich nicht gern in die Stube, sondern trieb mich im Hofe und im Garten umher. Nun aber gingen die beiden Mädchen aus dem Gartenthore und wandten sich dem Rheine zu. Ich wußte also, daß ihr Weg sie zu dem gräflichen Sommerhäuschen führte; aus Langeweile, aus Neugier oder warum sonst machte ich mich auf einem andern Wege auch dahin auf. Am prachtvollsten Abend ging eben die Sonne unter und warf ihren aus Gold und Scharlach gewobenen Glanzteppich über den Strom, auf welchem weiße Segel zogen. Als ich um die Ecke des Weinbergs ging, sah ich die Fremde, an die Brüstung gelehnt und ihren Arm, wie Mädchen thun, in den meiner Schwester geschlagen, wie sie unter dem leichten Strohhut fröhlich die abendliche Landschaft überblickte. Ihre Züge waren viel zu entschieden, um in dem gemeinen Sinne des Wortes schön zu sein, aber eine Fülle von ungebrochenem Lebensmuthe und schwärmender Jugendfreude lag in ihnen. An heißen Sommertagen sieht man wohl Tagfalter, die, auf einer Blume schaukelnd, ihre Flügel aufschlagen und auf dem dunkeln Grunde derselben die schönsten lichtblauen Spiegel ausbreiten. So auch standen in diesem dunklen Antlitz die zwei glänzendsten großen Sapphiraugen, aus deren vom Weinen noch nicht getrübter Klarheit sie so freudig über Flur und Strom blickte, als gehöre alle diese Herrlichkeit ihr und keinem Andern. Sie sah auch mich, und ich trat zu den beiden Mädchen. Ob ich mit ihr ein Wort geredet habe, weiß ich nicht; aber wie das Lichtbild sich in kurzer Minute der empfindlichen Silberplatte einprägt, so gruben sich diese blauen Spiegel in meine weiche Knabenseele, in deren unterstem Grunde das Bild dieses Mädchens ruhend blieb.

Ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen, bis ihr Lebensschiff, von den ersten harten Stürmen geschüttelt, dahin zurückgekehrt war, von wo es ausgelaufen. Wer aber erklärt die Räthsel des Herzens? Nach fünfzehn Jahren, als sie mit der gramverdüsterten Stirn, die Züge von gewaltiger Leidenschaft vertieft, im glänzenden Salon mir entgegentrat, leuchteten jene Augen wieder wie Blitze in mein Herz – die Augen, von vielen Thränen dunkler geworden, aber in der Reife ihres Lebens und ihrer Leidenschaft so glühend und verzehrend, als wäre ihre Farbe das dunkelste Braun. In diesem Zeichen erkannte ich augenblicklich sie wieder, trotz der fremden Umgebung und der feinen Modewelt, die uns Naturkinder dort umschwirrte. Und wer löst das andere Räthsel, daß auch sie den blöden menschenscheuen Knaben nicht vergessen hatte und gleich mir des schönen Abends, der Terrasse und der Landschaft gedachte, auf welche sofort, als hätte nichts seitdem sich dazwischengeschoben, unser erstes Gespräch sich richtete? Nord und Süd hatten uns getrennt; sie war verheirathet gewesen, ich hatte andere Mädchen geküßt und zu lieben geglaubt, und doch war es auch zum zweiten Male wieder der erste übergewaltige Eindruck, der unsere Herzen rettungslos zu gemeinsamem Schicksal zusammenschmolz, denn jenes frohe, schwärmerische Mädchen sollte achtzehn Jahre nach jenem ersten Begegnen auf der Terrasse mein Weib werden.




  1. Der Herr Verfasser schreibt uns über obigen Beitrag: „Der Director der Strafanstalt zu Naugardt forderte mich auf, eine Beschreibung meines Lebens zu geben. An so ein Buch hätte ich in der Freiheit niemals gedacht: dort war die Erlaubniß, mich geistig beschäftigen zu dürfen, mir sehr erwünscht. Herr Schnachel war ein Ehrenmann. Als ich später zur Verschärfung meiner Strafe nach Spandau versetzt wurde, bewahrte er die Handschrift und gab sie mir viele Jahre nachher zurück. Der Mann ist todt: er war noch in London mein Gast – ein vortrefflicher Mensch, der in seinem schweren Amte sich ein menschlich Herz gerettet hatte. Ihm kann jetzt die Veröffentlichung nicht mehr schaden. In den sechs Monaten, daß ich zu Naugardt war, habe ich die Biographie bis zu meinem Eintreten in die Revolution, März 1848, fortgeführt. Die Leute, denen Etwas darin wehe thun könnte, sind im Grabe, und Manches in meiner Kindheit war so schön und lehrreich, daß Vieles davon sittlich eine Wirkung machen könnte, z. B. in der Erziehung. Ich meine, das ist so recht ein Beitrag für die Gartenlaube.“Die Redaction.     

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hebäische