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Offener Brief an Karl Bock

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Textdaten
Autor: Karl Eduard Kirmsse
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Titel: Ein offener Brief an Herrn Dr. Karl Bock, sein Votum in Angelegenheiten der Medicinalreform in Sachsen betreffend
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Erscheinungsdatum: 1846
Verlag: Julius Helbig
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Erscheinungsort: Altenburg
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Quelle: SLUB Dresden
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[1]
Ein


offener Brief


an


Herrn Dr. Karl Bock,
Professor der pathologischen Anatomie zu Leipzig,


sein Votum


in Angelegenheiten der Medicinalreform in Sachsen betreffend,


von


Dr. Karl Eduard Kirmsse,
prakt. Arzte in Altenburg.



Altenburg,
in[1] Commission bei Julius Helbig,
1846.

[2] [3]

Wohlgeborner,
Hochzuverehrender Herr Professor!

Nachdem ich Ihr Votum „in Betreff der Medicinalreform in Sachsen“ zufällig in meine Hände bekommen und mit der Aufmerksamkeit, die es verdient, durchgelesen habe, kann ich nicht umhin, Ihnen Einiges darauf zu erwidern. Ich wähle dazu ebenfalls den Weg der Oeffentlichkeit, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Sache an und für sich von hoher Wichtigkeit ist, und weil ich wünsche, dass das, was ich darin mitrede, auch von Anderen erfahren und beherzigt werde. Ich spreche nicht als ein unreifer Jüngling, der mit anmassendem Dünkel über ehrwürdige Gegenstände witzelt; ich kann im Gegentheile versichern, dass meine Bescheidenheit zuweilen von Hohen und immer von Niedern anerkannt ist; und ich spreche auch nicht zum ersten Male. Meine Stimme – man darf mir wohl diesen Selbstruhm lassen – ist selten völlig überhört worden, und mancher Arzt, der an Kenntnissen hoch über mir erhaben steht, hat sich nicht gescheut zu bekennen, dass er in mancher Hinsicht von mir belehrt worden sei. Dies kann ich für Uebelgesinnte Schwarz auf Weiss vorlegen. Ob ich mich demnach als ein Berufener oder Unberufener hören lasse, dies zu entscheiden stelle ich meinen Lesern anheim, und wage dies Wort selbst auf die Gefahr hin, des rücksichtslosen Vordrängens beschuldigt zu werden. Ich liebe einmal das Nachschlendern nicht.

Ihr Votum hat, wie ich höre, verschiedene Stimmungen hervorgerufen. Der Eine ist entrüstet darüber, der Andere missvergnügt, der Dritte hocherfreut; man möchte Sie zu Boden schmettern; man hebt Sie in den Himmel. – Hören Sie: Es ist [4] meine vollkommene Ueberzeugung, dass Sie die Wahrheit reden; und Jeder, der es mit der Wissenschaft hält und mit dem Wohle der Menschheit gut meint, wird sich darüber freuen, dass auch in Sachsen endlich eine Stimme laut wird. Aber Sie tragen hier und da, wenigstens für die Laien, mit zu grellen Farben auf und halten Ihr Gemälde, obwohl Sie eine Ansicht von der Nachtseite geben, doch wohl etwas zu düster.

Sie rügen es zunächst, dass bei der betreffenden Angelegenheit die ausserordentlichen Professoren nicht gefragt worden sind, und sagen, dass man diese, selbst wenn sie die für den praktischen Arzt wichtigsten Lehren der Medicin in den Händen haben, für überflüssig anzusehen scheine. Beruhigen Sie Sich darüber, Herr Professor, denn es kommt an andern Orten und bei andern Gelegenheiten auch vor, dass bei Besprechung oder Ausführung einer wichtigen Sache gerade die Sachverständigsten übergangen werden. Die „examinirenden“ sollen und müssen ja die gescheidtesten sein, sonst würden sie eben nicht examiniren; das ist ein sogenannter logischer Schluss oder eine ausgemachte Sache. Freilich kann man dies nicht gut mit dem zusammenreimen, was Sie da auf der vierten Seite Ihrer Schrift sagen: „Der Zustand der Heilkunde und Heilkunst in Sachsen ist durchaus unerfreulich. Die ganze neueste Entwickelungsperiode der deutschen Heilwissenschaft ist bei uns noch gar nicht zum Durchbruche gekommen. Die Mehrzahl der sächsischen Aerzte, der Lehrer selbst und der gesammten Studieneinrichtungen steht noch auf ganz veraltetem Standpuncte. Die neue Richtung der Medicin (die sogenannte physiologische), welche in den Nachbarländern längst zur vollen Anerkennung gelangt ist und Tausende von fremden Doctoren und Professoren hinzieht, ist bei uns ihrem Wesen nach noch ganz unbekannt. Ihre Anhänger werden als Neuerer und Umstürzer angesehen und wo möglich unterdrückt. Bei uns machen sich noch allenthalben, die alte Phrasenmacherei (in deutschem und lateinischem Gewande), die Unwissenschaftlichkeit, der gemeine Schlendrian breit. Und die bedeutendsten [5] Hindernisse des Besserwerdens liegen in den Einrichtungen selbst, welche der Fortentwickelung der Medicin zu einem vernunftgemässen Ganzen seit lange hemmend und gerade schädlich entgegentreten.“

Diese Worte, vom Professor der pathologischen Anatomie in Leipzig vor den Augen des sächsischen Ministeriums ausgesprochen, kommen wohl Manchem ganz unerwartet; sie verdienen aber ohne Zweifel, dass sie Vielen recht tief in die Ohren hineingeschrieen werden. Sie scherzen aber doch nicht, Herr Professor? Denn Sachsen hat auch in medicinischer Hinsicht immer hoch zu stehen geglaubt, und gerade Leipziger Promoti sehen Andere mit Verachtung an. Auch sieht man aus ihren äusserst gelehrten Dissertationen, dass sie eben die gelehrtesten sind. Doch will es mich Wunder nehmen, dass die medicinische Facultät in der Universität Leipzig Leute zu Doctoren der Medicin macht, die auf Gymnasien kaum Secunda erreichen konnten und anderswo abgewiesen wurden. Bei so bewandten Umständen kann Ihre Aussage, dass bei Ihnen die neue Richtung der Medicin ihrem Wesen nach noch ganz unbekannt sei, wohl richtig sein, und ich bescheide mich, etwas dagegen einzuwenden. Dass aber ihre Anhänger als Neuerer und Umstürzer angesehen und wo möglich unterdrückt werden, das heisst die Wissenschaft in Banden schlagen. Es ist indessen freilich auch ein sonderbares Ding, einen Brand in die dämmernde Nacht zu schleudern und die gemächlichen Schläfer gewaltsam aus ihrem Schlummer zu wecken, und nicht zum ersten Male werden Leute unterdrückt, die im Bewusstsein einer mit Anstrengung errungenen Selbstständigkeit nicht den alten Sauerteig einer ausposaunten (nicht imposanten) Grösse nachbeten wollten.

Warum der Facultät der Punct, dass sich ein in Leipzig gebildeter Arzt in Dresden weiter praktisch ausbilden könne und solle, so erschrecklich erscheint, ist nicht leicht einzusehen; und alle Welt freut sich darüber, dass die Wirksamkeit der chirurgisch-medicinischen Akademie in Dresden als Lehranstalt aufhören soll. Möge der Tag, wo die heilige [6] Ilias untergehen wird, doch recht bald erscheinen! Sachsen hat die bösen Folgen der Pfuscherbildung nicht allein empfunden, sondern auch andere Länder, die von dort aus mit medicinischen Halbmenschen übersäet wurden, werden sie noch lange fühlen müssen. Die meisten unglücklichen Zöglinge der obgenannten Anstalt sind sich auch selbst zur Last; denn da sie von Arm- und Beinbrüchen nicht leben können und zum Schaden des Gemeinwohls weiter greifen, so müssen sie stets in Furcht leben, von der Polizei aufgegriffen und abgestraft zu werden. Ich komme noch einmal darauf zurück.

Sie lassen, um dem Laien in die betreffende Angelegenheit eine richtige Einsicht zu geben, Ihrem Abrisse der vorgeschlagenen Medicinalreform eine Andeutung des jetzigen Standpunctes der Medicin vorausgehen. Das Bild, welches Sie hier entwerfen, enthält zwar keinen Fehler in der Zeichnung, muss aber, was sehr zu beklagen ist, die Würde des ärztlichen Standes in den Augen der Laien schon deswegen nur noch mehr herabsetzen, weil es eben blos eine oberflächliche Andeutung ist, nach welcher der letztere auch wieder nicht anders, als oberflächlich urtheilen kann. Die Idee, den Laien mit der Sache überhaupt bekannt zu machen, kann ich nur gut heissen; und es ist hohe Zeit für ihn selbst, dass ihm über Medicin und Aerzte endlich einmal eine hellleuchtende Fackel für sein oft genug umnebeltes Auge aufgesteckt werde. Möge dadurch nur immerhin der blaue Dunstkreis abstract-speculativer Vielwisserei in sein „dynamisches“ Nichts zerfliessen, möge die Alltagsmaske der rohen Empirie vom Angesicht dahinschlendernder Flauheit nur immerhin herabgezogen werden: die echte Wissenschaft fürchtet sich nicht vor dem hellen Tage. Freilich wird der Laie nun manchmal ungerecht werden und wohl gar verlangen, dass diejenigen Aerzte, welche sein blindes Vertrauen geniessen, auch die wissenschaftlichsten sein sollen. Er wird sie böswilliger Weise am Ende wohl gar als blose Emporkömmlinge bezeichnen, wenn sie, während ihnen die meiste Gelegenheit zur Ausbeute für die Wissenschaft geboten ist, ihr ganzes [7] Leben lang litterarisch unthätig bleiben. Als ob dies nicht oft seine guten Gründe hätte! –

Sehr wahr ist es, wenn Sie meinen, dass die Naturheilkraft viele Krankheiten ohne alle Mittel und „trotz“ aller Mittel bezwinge; und es wird nun endlich einmal Zeit, dass die Aerzte schreiben lernen: „bei dem Gebrauche dieses Mittels ist der Kranke genesen,“ statt noch fortwährend mit Keckheit zu behaupten[WS 1], dass dieses immer nur durch den Gebrauch desselben geschehen sei. Sie haben ferner ganz Recht, wenn Sie sagen, dass unsere jetzige Heilmittellehre noch von einem Wust von höchst überflüssigen Mitteln und Recommandationen derselben starre. Ich denke noch mit Schauder daran, wie schändlich wir durch das Nachschreiben der uns aufgezwungenen Dictate um unsere schöne Zeit betrogen worden sind, und will nur wünschen, dass die Pharmakologie jetzt anders und besser vorgetragen werde. Früher wurde uns glauben gemacht, dass jedes Wort, was uns verloren gehe, so gut wie ein verlorenes Goldkörnchen sei; und wir waren, da uns noch eine bessere Einsicht fehlte, gezwungen, diesen Unsinn für baare Münze zu halten. Später sah der Verständigen Einer freilich nur zu deutlich ein, dass es eben so gut war, wenn der Herr Professor lieber zu Hause geblieben wäre und seinem Famulo den Auftrag gegeben hätte, uns an seiner Statt das abgedroschene Heft bis zum Eintritt des Schreibekrampfs zu dictiren, oder dass es noch besser gewesen wäre, wenn wir uns ein Compendium gekauft und den gelehrten Herrn gar nicht zu Gesicht bekommen hätten.

In welch ein schwachschimmerndes Licht verwandelt sich doch manchmal der hauptumstrahlende Glanz eines Herrn Professors, wenn man später gelernt hat, den Masstab einer vernünftigen Kritik an die uns gegebenen Dictate zu legen! Wie oft verwandelt sich dann der Diamant von Collegienheft in einen böhmischen Quarzkiesel! O, möchten doch alle Professoren, statt zu verlangen, dass man auf ihre Wortes als auf ein Evangelium schwöre, den Schülern von Zeit zu Zeit sagen, was ihnen Magendie zuruft: „Suchen Sie Alles selbst zu untersuchen,

[8] suchen,
  1. Teilweise verdeckt durch Bibliotheksetikett, Anm.WS.
zu sehen, zu fühlen, zu betasten; gewöhnen Sie sich nun, die Thatsachen mit eignem Verstande zu prüfen, die Sie mit dem vollständigsten Vertrauen von Lehrern und Büchern als wahr angenommen haben. Auf diese Weise werden Sie mehr Vertrauen in die Wahrheiten setzen können, die Sie erst nach eigner Prüfung anerkannt haben; und oft werden Sie da Irrthümer entdecken, wo Sie Thatsachen der positivsten Art vermutheten. Freilich ein trauriges Resultat für Ihre Eigenliebe, aber ein Resultat, das gerade geeignet ist, jenen rationellen Skepticismus hervorzurufen, der das Eigenthum einer erhabenen Vernunft ist.“

Die rohe, alle wissenschaftliche Grundlage entbehrende, empirische, einfach-symptomatische Medicin, wie sie von Ihnen beschrieben wird, hat nach Ihrer Aussage, Herr Professor, noch manchen Anhänger. Dass aber hiermit wenigstens nicht die klinischen Lehrer Leipzigs gemeint sein können, will ich zu deren Ehrenrettung dreist behaupten, und bin überzeugt, dass man mir dabei von allen Seiten beistimmen wird. Zu diesen Anhängern sind vielmehr zu rechnen manche jener sogenannten praktischen Aerzte, die, ohne Lateinisch zu verstehen, alle Augenblicke mit lateinischen Wörtern und auswendig gelernten Floskeln um sich herumwerfen, und viele von den sogenannten Chirurgen 1. Classe, welche, während man fast überall von dem Nutzen ihrer Nichtexistenz überzeugt ist, doch in manchen Staaten noch für unentbehrlich gehalten werden. Man unterwirft sie zwar einer Prüfung; aber diese ist nach dem allerältesten Schlendrian. Und wer weiss nicht, dass die Prüfungen, die Einem auferlegt werden, gar verschieden sind? Solche Leute haben gewöhnlich gar keinen Begriff von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, und ihr Thun und Trachten beschränkt sich blos auf die Erhaltung ihrer Subsistenz. Sie erhalten die Befugniss, auf dem platten Lande in dringenden Fällen (was ist ein dringender Fall? was ist ein solcher in ihrer Meinung? welchen Schaden kann ein Halbwisser in dringenden Fällen anrichten?) – sie erhalten, sage ich, die Befugniss, in dringenden Fällen als Arzt [9] zu fungiren und dürfen mit einer grossen Reihe heroischer Mittel, die sie zum Leidwesen der Apotheker im Hause zu haben berechtigt sind, schalten und walten, wie es ihnen gut dünkt.

Mit solchen Waffen ausgerüstet stellen sie, wenn die Krankheit wüthet, allerdings vollkommene Ruhe wieder her. Chemie und Physik sind ihnen indessen böhmische Dörfer; das ihnen etwa vorgezeigte Plessimeter halten sie für das Werkzeug eines Huf- und Waffenschmiedes; das Stethoscop sehen sie für eine Clarinette ohne Mundstück und das Mikroscop für eine Bassgeige an. Die pathologische Anatomie ist ihnen blos eine „Lehre von den todten Körpern“; und ich will es ad oculos beweisen, dass Keiner von denen, die ich kenne, eine einfache Section machen kann. Und wo bleibt bei Solchen die Kenntniss, die aufgefundenen Veränderungen in der Leiche gehörig zu beurtheilen? – Bei alledem aber sind sie gelehrig für grosse Herren und kennen in vorkommenden Fällen die Dankbarkeit aus dem Fundamente. Höre es, Vater Asklepios, solche Leute nennen sich Deine „examinirten und approbirten“ Jünger! Hört es, ihr armen Kranken, solche Leute wagen es, mit einer selbst zusammengesudelten Arznei sich zu Herren über Leben und Tod zu machen! Wachet auf, ihr Schläfer! und sehet, wie ein böses Gewürm an der Wurzel eures Lebensbaums herumnagt, wachet auf! denn so wird euch nicht alle Tage vorgepredigt. Sie aber, Herr Professor, haben ganz Recht, wenn Sie sagen: „Das kommt daher, weil die, welche da reden könnten und sollten, stillschweigen um des eignen Vortheils und um der Furcht willen, und weil die, welche Macht haben, zusammenhalten, damit die neue Generation nicht aufkomme.“ Doch genug davon.

Was die von Ihnen gegebene Beschreibung des Wesens der Medicin anlangt, deren Anhänger nach Ihrer Meinung vorzüglich die mittlere Generation der sächsischen Aerzte sind, so haben Sie, wenigstens zum Verständniss des Laien, dabei zu erwähnen unterlassen, dass es bei diesem Standpuncte der Heilkunde schon eine Anatomie, Physiologie und pathologische Anatomie gegeben hat, auf die man [10] bei Erforschung der Krankheit hat fussen können und sollen. Es hat auch vor der Zeit der physiologischen Schule und vor der Kenntniss der von ihr dargebotenen Hülfsmittel rationelle Aerzte gegeben, und nicht erst in der Jetztzeit fragt man bei Erforschung eines krankhaften Zustandes: welches Organ leidet, und auf welche Weise ist es ergriffen? Die pathologische Anatomie ist zwar seit der Zeit, wo die Anatomen aufhörten, zugleich praktische Aerzte zu sein, der Pathologie mit Unrecht immer mehr und mehr entfremdet worden; allein es ist schon ziemlich lange her, dass man den Fehler dieser Trennung einsah und eine Vereinigung beider Doctrinen wiederherzustellen sich bemühte. Dass man, eingedenk der früheren Theorien, welche entweder blos die Materie des Lebens oder blos das geistige Verhältniss des Organismus berücksichtigten, den philosophischen Speculationen zu weite Thore geöffnet hat und, von Illusionen ergriffen, in leere Phrasenmacherei verfiel und sich dabei hauptsächlich an die Symptome hielt, kann nicht geleugnet werden. Doch auch physiologische Aerzte bekennen, dass manche Symptomengruppen mit einem gewissen Rechte bestehen; und man gibt allgemein zu, dass das Streben der besseren Aerzte aus der sogenannten alten Schule längst dahin gegangen ist, den Parallelismus der organischen Metamorphose und des Lebensprocesses auch in den Krankheiten gehörig aufzufassen; man gibt zu, dass sich schon längst ein freimüthiger Skepticismus gegen willkürliche Dogmen erhoben hat. Wer es ehrlich mit seiner Wissenschaft meint, der fühlt nicht nur das Bedürfniss eines nöthigen Umschwungs der Verhältnisse, sondern begrüsst auch freudig den Fortschritt, Herr Professor! Vielen aber, ach! und sehr Vielen ist die Bequemlichkeit zur andern Natur geworden; und Viele sind gleichgültig, flau und geringschätzig, selbst wenn es auf Gesundheit und Leben ankommt, Nicht mit Unrecht lassen Sie daher solcher denkfaulen Routine Verachtung und Züchtigung zu Theil werden, und wer sich getroffen fühlt, der sorge nur, dass er sich etwas schneller fortbewege und nachfolge, wenn ihm Andere natürlich zu seinem Ver- [11] „uncollegialisch“ vorausgehen. Der Tag ist endlich erschienen, wo man ein ernstes Gericht hält über die Lebendigen und – die Todten. – Ohne „Namen“ für die Krankheiten und ohne „Capitelüberschriften“ wird die physiologische Medicin übrigens auch nicht sein können; und wenn man jene Namen nach den vorhandenen Symptomen und nicht nach den zu Grunde liegenden Störungen gewählt hat, so konnte dies dem Standpuncte der Medicin gemäss nicht wohl anders sein. Zum Lachen reizen muss aber die Sucht nach Erfindung immer neuer Namen, womit die Wissenschaft, ohne dadurch nur im Geringsten gefördert zu werden, noch tagtäglich überschwemmt wird. Geräth man nicht in Gefahr, vom Kinnbackenkrampf befallen zu werden, wenn man nur zwei Worte, wie Aeroorganoectasie, Urethrocystaneurismatolomie aussprechen soll? Sonderbar! Und was sagen Sie, Herr Professor, zu der naturhistorischen Medicin, nach welcher die Krankheit ein nach eignen Gesetzen vegetirender niederer Organismus, ein in den Körper eingedrungener Parasit ist? War es etwa nicht der Erwähnung werth, dass ihre Anhänger mit denen der physiologischen Schule noch heut zu Tage um den Preis der Anerkennung ringen? Die sächsischen Aerzte, denen Sie so derbe Lection geben, wissen doch gewiss davon, dass es jetzt natürliche Krankheits- oder Schmarotzer-Familien gibt, die, wenn sie über einen Menschen herfallen, ihm, wie die Krankheitsfamilie Rheuma, Arm und Beine zermalmen, oder ihm, wie die Familie Typhus, das Fleisch schmarotzend vom Körper nagen und ihn zuletzt verschlingen. Ich denke mir darunter van Helmont’s zum Zorn gereizten Archäus mit seiner Frau, seinen Kindern und Schwiegersöhnen. Ist’s nicht so, Herr Professor? Und kann man nicht mit Recht sagen, dass die Medicin, statt vorwärts, rückwärts schreitet, wenn die naturhistorische Schule mit ihren weltberühmten Autoritäten eine alte sinnbildliche Darstellung der Krankheitsentstehung aus einer Zeugung jetzt wörtlich nimmt und diese Vergleichung zur Basis ihrer Theorien macht?

[12] Ihre Aussage, dass Brustentzündungen ohne Husten, Brustschmerzen, Auswurf, Fieber u. s. w. vorkommen können, wird Manchem eine neue Lehre scheinen, doch ich habe selbst erlebt, dass die in den Leichen Blödsinniger vorgekommene förmliche Lungenschwindsucht überraschte. Damals glaubte ich wohl mit Recht, dass der irre Zustand der Seele den natürlichen Ausdruck krankhafter Gefühle so verdränge und verwische, dass z. B. wichtige Leiden der Respirationsorgane sich nur unmerklich offenbaren; und ich war damals überzeugt, dass unter solchen Umständen selbst die physikalische Diagnostik keinen Aufschluss geben könne. In Bezug hierauf bin ich jedoch bald anderer Meinung geworden und klage mich an, dass ich damals nicht gelernt hatte, die zur Untersuchung dargebotenen Hülfsmittel gehörig zu benutzen.

„Untersucht man,“ sagen Sie, nachdem Sie von sogenanntem fieberhaften Zustande gesprochen haben, „mit unseren jetzigen Augen und Ohren, so ergeben sich gewöhnlich Krankheiten wichtiger Organe, vorzüglich der Lungen und des Herzens!“ Die Sectionen weisen dies allerdings oft zur Beschämung der Aerzte nach, Herr Professor, und strafen den Heilkünstler Lügen, der da meint, „es habe dem Kranken bei Lebzeiten nichts an der Brust gefehlt, und dergleichen Verwachsungen seien weiter nichts; sie kommen bei Gesunden auch vor.“ Solche Meinungen entspringen, wenn man die Wahrheit sagen soll, entweder aus der Unkenntniss, dass Entzündungen der Brustorgane auch ohne auffallende Symptome vorkommen, oder wohl noch häufiger aus dem Umstande, dass die trägen Herren Doctoren, Medicinal- oder Sanitätsräthe oder Protomedici, Leibärzte und Geheimeräthe sich keine Mühe geben, sie zu ihrer sinnlichen Wahrnehmung zu bringen. Ich habe, theils im Beisein Dr. Hayner’s in Colditz, theils in meiner Privatpraxis, zusammen 123 Leichen geöffnet und bei den meisten die Folgen früher überstandener Rippenfellentzündungen, Lungenentzündungen, Herzbeutel- und Herzentzündungen wahrgenommen und will dies nur anführen, damit es [13] nicht scheine, als wolle ich Ihrer Meinung grundlos beistimmen.

Für den Laien muss es allerdings erschrecklich klingen, wenn Sie behaupten, dass es Aerzte gebe, die zur Erforschung einer Krankheit ihre fünf Sinne zu gebrauchen nicht gelernt haben, und dass sie daher eigentlich gar nicht im Stande seien, einen Kranken gehörig zu untersuchen und wirklich zu wissen, was demselben fehle. Es klingt erschrecklich, sage ich, und doch sind alle Sinne nur immer auf das Praktische, d. h. um den Andrang der gläubigen Menge zu befriedigen, auf das Receptschmieren gerichtet, und es bleibt da keine Zeit übrig, etwa Alles genau zu untersuchen. Man sieht es diesen Herren an, dass sie gerade das Gegentheil von Jenem sind, der da sagt: „ich bin ein Kenner der Bedürfnisse der leidenden Menschheit geworden, weil ich mit meinen Kranken körperlich und geistig mitgelitten, mitgekämpft und mitgefühlt, weil ich mit ihnen den Krankheiten des Leibes, den Leidenschaften des Geistes tief in’s Auge geschaut, sie umfasst, mit ihnen gerungen; weil der Weheruf und Jammer der Leidenden mitunter aus meiner eigenen Brust gedrungen, weil ich meine Erfahrungen mit meinem Herzen bezahlt habe.“

Was sind Erfahrungen? Und was sind die Erfahrungen der Aerzte werth, die genau zu untersuchen nicht gelernt haben, und die ihre Trägheit nur immer mit den Worten beschönigen: „In’s Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist?“ Das können nur immer Täuschungen und traurige Erfahrungen sein; und wenn diese Herren im beschwerlichen Dienste des Aeskulap grau geworden oder so alt wie Methuselem wären, ich kaufte sie ihnen nicht ab um einen Schilling und wiederhole den Ausruf Wunderlich’s: „Mancher taumelt ein halbes Jahrhundert von Bett zu Bett und verschreibt Recepte und bleibt doch ein Ignorant.“ Merkt euch dies, ihr jungen Herren, die ihr euch in den Strahlen solcher wissenschaftlichen Sonnen erwärmen wollt, ihr werdet keine Daguerrischen Lichtbilder abgeben; denn während ihr euch mit gegenseitigem Neide bemühet, [14] der erste im Focus zu sein, seid ihr der Camera obscura schon zu nahe getreten.

Das Famuliren anlangend, Herr Professor, so bin ich ebenfalls völlig Ihrer Meinung; und ganz aus meiner Seele gesprochen und von der täglichen Erfahrung bestätigt ist die Behauptung, dass durch das Famuliren, durch welches der praktische Schlendrian forterbt, man nicht selten recht hoffnungsvolle Leute zu eingebildeten, unwissenschaftlichen Heilkünstlern herabsinken sieht.

Indem Sie auf die physiologische Medicin zu sprechen kommen, Herr Professor, sagen Sie, dass wir durch die pathologische Anatomie von der Mehrzahl der Krankheiten kennen gelernt haben, welche Veränderungen sie im Körper hervorrufen, so dass wir jetzt in den meisten Fällen zu beurtheilen im Stande seien, wie es bei den annoch lebenden Kranken im gegenwärtigen Augenblicke innerlich aussehe. Hier gehen Sie wohl etwas zu weit, und ich erlaube mir, Sie bei dieser Behauptung u. a. nur an die Nerven- und die sogenannten Geisteskrankheiten zu erinnern, bei denen uns auch ein „Befühlen, Besichtigen, Beklopfen und Behorchen des Patienten“ in den wenigsten Fällen etwas helfen möchte. Und dennoch halte ich es nicht für eine Chimäre, sondern glaube fest, dass wir auch in diesem Gebiete von der physiologischen Pathologie eine sichere Grundlage für eine rationelle Semiotik und wichtige Bestimmungen für die Therapie zu erwarten haben. Möge demnach die neue Richtung der Heilkunde auch in Sachsen bald sich Bahn brechen, und mögen die Einrichtungen in Leipzig und Dresden überhaupt so sich gestalten, dass junge Aerzte künftig nicht mehr nöthig haben, die Wahrheit erst im Auslande zu suchen. Dass übrigens das Reisen nicht immer den gewünschten Erfolg hat, daran erinnern Sie mit Recht, und die Erfahrung lehrt, dass Manche von einer angeblich wissenschaftlichen Reise mit leerem Kopfe und einem dicken Bauche zurückkehren. Beklagenswerth ist dann der Staat, der bei so grossartigen Unternehmungen wohl gar die Kosten trägt, und, ohne Rechenschaft über die Verwendung des [15] Geldes zu fordern, den zurückgekehrten Sohn der Muse für einen Heroen der Medicin hält.

Ich würde nun Amen! sagen; allein ich habe noch zwei Wünsche, die ich bei der Ausführung der Reform des Medicinalwesens erfüllt sehen möchte:

1) Dass man bei dem künftigen Unterricht auf die arme Ohrenheilkunde noch besser Bedacht nähme, als es bisher geschehen ist. Was soll man davon denken, wenn Professoren an Hochschulen bei dem leider! allgemein vernachlässigten Zweige der Medicin, sich in faden Witzen gefallend, ihren Zuhörern sagen: „Meine Herren, wenn Sie einen Gehörkranken in Behandlung bekommen, so putzen Sie ihm die Ohren aus; hilft das nicht, so ist’s mit unsrer Kunst zu Ende.“ Heisst diess nicht der Wissenschaft geradezu den Hals abschneiden? Die eigene Unwissenheit vor der lernbegierigen Jugend, von der die Heilkunde weiter geführt zu werden Anspruch macht, hinter so elendem Geschwätz verbergen wollen, nennt man auf gut Lateinisch stupide Ignoranz. Bei solchem Verfahren ist es dann kein Wunder, wenn die armen Gehörkranken, ohne nur ein einziges Mal untersucht zu werden, jahrelang vergebens grosse Massen von Arzneien hinabschlucken müssen und sich endlich mit dem Trost entlassen sehen, dass sie nirgends Hülfe finden würden. Zum Glück aber giebt es noch langmüthige Naturen, die sich mit solchem, aus kleinlichem Egoismus entsprungenen Bescheide nicht zufrieden stellen und oft Heilung finden, wo sie es nicht erwartet hätten. Gerade bei der Ausübung der Gehörheilkunde kommt es hauptsächlich auf eine genaue Untersuchung an, und von dieser wissen die wenigsten der Herren Aerzte etwas. Fragt Euch nur selbst, ihr armen Gehörkranken, habt Ihr nicht von verschiedenen sogenannten Heilkünstlern Recepte auf Recepte erhalten, ohne dass man Euch nur ein einziges Mal in das Ohr gesehen oder durch die Nase untersucht hätte?

[16]

2) Dass man den jungen Aerzten bessere Gelegenheit gebe, sich auch in der psychischen Heilkunde praktisch zu orientiren. Ueber das Irresein wird freilich nicht examinirt; und deswegen werden die jungen Herren wohl gar auf die Idee gebracht, dass die Psychiatrie ziemlich ausserhalb der Heilkunde stehe. Aber welche Angst befällt den Herrn Doctor dann selbst, wenn er zu einem Geisteskranken gerufen wird? Ich will diesen Text hier nicht weiter ausführen und nur auf die hohe Bedeutung der Wechselwirkung zwischen Geistigem und Körperlichem aufmerksam machen und mich endlich mit der Behauptung begnügen, dass derjenige nur ein halber Arzt ist, der nur immer die Materie in’s Auge fasst.

Ich kann auf Veranlassung noch weiter sprechen, Herr Professor, und meine Aussagen nöthigenfalls mit unumstösslichen Beweisen belegen. Ich schliesse indess für heute und bin überzeugt, dass der glänzende Stahl ihrer Waffen das etwa entgegengeschleuderte Eisen des Obscurantismus mit dumpfen Tönen zertrümmern werde.

Hochachtungsvoll
ergebenst
Dr. Kirmsse.






Ronneburg, Druck von Hochhausen & Stiebriz

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: behaupteu