Pariser Bilder und Geschichten/Eine Stunde auf dem Père La Chaise

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Wartenburg
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine Stunde auf dem Père La Chaise
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 453–454
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[453]

Pariser Bilder und Geschichten.

Eine Stunde auf dem Père La Chaise.

Wenn man von dem Boulevard Beaumarchais herabkommend, am Platz der Bastille, wo die Julisäule steht, links einbiegt, so gelangt man in eine Straße, in welcher wir nichts als Sinnbilder des Todes: Grabsteine, Urnen, Kreuze und Todtenkränze erblicken. Es ist dies die Rue Roquette, die Straße, welche uns geraden Wegs nach dem berühmtesten Gottesacker von Paris führt. Es war an einem Herbsttag des vergangenen Jahres, als ich mit einem pariser Freunde durch diese Straße nach dem Père la Chaise ging. Vor dem Thorweg, welcher den Eingang zu dem halbmondförmigen Vorhof des Gottesackers bildet, stand eine elegante Equipage, deren Kutscher und Bedienter hier auf Jemand zu warten schienen. Es war in den Nachmittagsstunden, als wir den eigentlichen Friedhof betraten und ein rauhes, herbstliches Wetter. Aber die Pariser lieben ihre Todten und bei aller Lebenslust, bei allen den Herrlichkeiten und Genüssen, welche ihnen die große Stadt an jedem Tage bietet, vergessen sie doch ihre grünen, stillen Gräber nicht, draußen auf dem Friedhof des Montmartre, des Mont-Parnasse und des Père La Chaise. Man braucht nicht am Tage aller Seelen, dem hohen Festtag der Todten, hinaus auf die Gottesäcker zu gehen, um geschmückte Gräber und Besucher der Todten zu sehen, man wird stets Blumen und Kränze auf den Gräbern und trauernde Frauen an den grünen Rasenhügeln knien finden, die sich aus dem rauschenden Treiben der großen Stadt herauf in diese stille Stätte des Friedens flüchteten, um ihre lieben Todten zu besuchen. Es ist diese Anhänglichkeit an ihre Heimgegangenen ein Zug rührender Pietät in dem Charakter der Pariserinnen und dürfte so manche andere Schwäche derselben vergessen lassen. –

Der erste Eindruck, welchen der Anblick des Père La Chaise macht, ist ein eigenthümlicher. Wenn man einen Augenblick vergessen könnte, daß alle diese zahllosen Hügel Gräber wären und die Monumente mit ihren Sinnbildern des Todes nicht an die Sterblichkeit erinnerten, so könnte man den Père La Chaise mit seinen Gruppen von Cypressen, seinen kleinen Alleen, seinen grünen Büschen, seinen Fruchtbäumen, seinen Blumen und saftig-grünen Rasen für einen großen, weiten Park halten, welchen die sonderbare Laune seines Besitzers mit Tausenden von Statuen und Monumenten geschmückt. Doch nein – der nächste Schritt um diese Biegung würde die Täuschung sogleich vernichten. An einem frisch aufgeworfenen kleinen Grabhügel, der mit Rosenstöcken, Immortellenkränzen und breiten, kostbaren Atlasschleifen bedeckt war, kniete eine schöne, junge Frau in schwarzen, seidenen Gewändern. Große Thränen rollten über ihre blassen Wangen und das schmerzliche Zucken der Mundwinkel ließ ihre Lippen kaum ein leises Gebet flüstern. An dem Grabe lehnte ein noch nicht aufgerichtetes, elegantes Kreuz von Gußeisen, auf dem mit goldenen Lettern geschrieben stand: „Hier liegt der Liebling meiner Seele, mein einziges Kind, Alfred, gestorben im dritten Jahre. Schlummere sanft, mein theures Kind! Deine trauernde Mutter.“ Dann folgte der Name.

„Es in die Frau von D., die Dame, deren Wagen mit den Bedienten Sie vor dem Thore gesehen haben,“ sagte der Aufseher, welcher uns begleitete, „ihr Söhnchen wurde vor einer Woche begraben und seitdem ist sie alle Tage gekommen. Ich kenne sie zufällig, da ich, ehe ich die Anstellung hier bekam, unter ihrem Manne in Algier gedient habe; es ist ein braver Offizier, der Herr Oberst,“ fügte er hinzu, „und jetzt bei unserer tapferen Armee in der Krim.“

Während die arme junge Frau an dem Grabe ihres einzigen Kindes weinte und betete, raubte ihr eine russische Kugel vielleicht den Gatten. Geräuschlos gingen wir weiter, die junge Mutter in ihrem Schmerz nicht zu stören, bis meine Aufmerksamkeit durch ein mit Blumen und Kränzen umwundenes Denkmal, welches unweit von Abälards und Heloisens Grabmal steht, gefesselt wurde. Es war das Grab jenes tapferen, unglücklichen Obersten Labedoyere[WS 1], der, so jung und liebenswürdig, als ein Opfer seiner Treue gegen den Kaiser fiel. Er theilte das Schicksal seines berühmten Waffengenossen, des Marschalls Ney[WS 2], welchen der Schlachtentod nur verschont zu haben schien, um ihn hinten an der Gartenmauer des Palais Luxemburg durch französische Kugeln fallen zu lassen. Unter den Bourbons durfte Labedoyere’s und Ney’s Grab weder mit Blumen noch mit Kränzen geschmückt werden; ein einfacher Denkstein mit den Worten: „Ci git le maréchal Ney duc d’Elchingen, décédé le 7 Decebr. 1815“ bezeichnete die Stelle, wo die Gebeine des Bravsten unter[WS 3] den Braven ruhten.

Mehrere Personen wurden damals, wie mir der pariser Freund versicherte, wegen Bekränzung der beiden Gräber verhaftet. Wie sich die Zeiten ändern! Auf Labedoyere’s Grab prangt ein schönes Denkmal und dem Marschall Ney, diesem tapfern, aber unglücklichen Sohn des Ruhms, hat der Neffe seines Kaisers, für den er gefallen, ein glänzendes Denkmal setzen lassen.

Wenige Schritte von dem Grabe Labedoyere’s waren noch zwei Gräber, die unsere Blicke auf sich zogen. Sie waren weder mit einem Denkmal, noch mit einem Grabstein geschmückt; zwei einfache, hölzerne, schwarz angestrichene Kreuze mit einer weißen Inschrift und einige Herbstblumen und Kränze Strohblumen waren ihr ganzer Schmuck. Auch waren es keine berühmten Namen; nicht einmal die Familiennamen standen da, nur der Vorname und eine kurze Angabe, wenn sie gestorben.

Man sah es den beide Gräbern an, daß sie zwei Kindern aus dem Volke gehörten. Nur zwei Zeilen standen auf jedem Kreuz, aber diese zwei Zeilen erzählten uns von den zwei denkwürdigsten Tagen aus der Geschichte Frankreichs. Auf dem einen der Gräber stand „Ci git mon frère[WS 4] Geoffroi † 28. Juillet 1830,“ auf dem anderen: Ici repose mon Jules † 24. Février 1848, „Madeleine.“ „Hier liegt mein Bruder Gottfried, gestorben am 28. Juli 1830, und hier ruht mein Julius, gestorben am 24. Februar 1848“ – wie einfach klingen diese Worte und wieviel sagen sie doch! Die Gräber dieser zwei Kinder des Volks, welche in den heißen Tagen des Juli und Februars in den Straßen von Paris gefallen – und mit ihnen zwei Dynastien und das Grabmal Labedoyere’s und Ney’s, welche Erinnerungen riefen sie nicht wach! Um die Geschichte Frankreichs in den letzten sechzig Jahre zu studiren, dürfte man nicht leicht einen besseren Platz als den Père La Chaise finden. Die Kreuze und Steintafeln und Grabsteine seiner Todtenhügel sind beredter als alle Bücher der Geschichtschreiber … In dem Augenblick, wo wir die zwei Gräber verließen, kam ein junges Mädchen von vielleicht zweiundzwanzig Jahren, deren Aeußeres sofort die Grisette verrieth.

„Sehen Sie die kleine Grisette – was mag sie hier wollen?“ sprach der Pariser auf sie deutend.

Das junge Mädchen trug einige Sträußer von Herbstblumen und zwei kleine Kränze, welche sie auf dem jüngeren Grab niederlegte … dann sahen wir sie niederknien, und den Kopf in die Hand gestützt, lange an dem Grabhügel verweilen. Vielleicht war es die Madeleine, welche das Kreuz auf das Grab ihres Julius hatte setzen lassen, und die nach sechs Jahren noch nicht ihren Geliebten vergessen hatte. Eine seltene Treue bei einer pariser Grisette! Der Aufseher zeigte uns dann noch die Gräber Racine’s, Molière’s, der einst durch ihre Schönheit so berühmten Madame Recamier[WS 5], der Mademoiselle Rancourt, der berühmten Schauspielerin, Casimir Perier’s, des Dichters Delille[WS 6] und einer Menge anderer berühmter Frauen und Männer, deren Namen die gewaltigsten Erinnerungen wachrufen … Aber der Père La Chaise sieht nicht blos Scenen der Trauer und Thränen des Schmerzes – er sieht auch die Küsse der Liebenden. In der dunklen Allee, die an dem Grabmal Abälard’s und Heloisen’s vorbeiführt, wandelte eine junge elegante Frau und ein junger hübscher Mann seit geraumer Zeit auf und nieder, mitunter blieben sie stehen, und nachdem sie [454] sich verstohlen umgesehen, wechselten sie schnell einige zärtliche Küsse. Mein pariser Freund versicherte mir, daß der Père La Chaise sehr häufig zum Stelldichein für Liebende, welche Vorsicht nöthig haben, gewählt wird.

Wir hatten indessen die Höhe hinter der „Chazelle,“ von wo man die schönste Aussicht hat, erreicht. Es war ein herrlicher Anblick. Vor uns Paris mit seinen Palästen, Säulen, Thürmen, Boulevards und Plätzen, ein weites, unübersehbares Häusermeer; zur Linken die Höhen von Belleville, von La Chazelle und Montmartre. Im Osten die von Bercy sich heraufschlängelnde Seine mit ihren Brücken und Quai’s, die immer von Menschen wimmeln. – Auf dem Rückweg warfen wir noch einen Blick auf den israelitischen Gottesacker, welcher, es verdient dies erwähnt zu werden, seinen Platz gleichsam innerhalb der Mauer, welcher die hundertunddreißig Acker des Père La Chaise umschließt, gefunden … Zum Begräbnißplatz wurde der Père La Chaise im Jahre 1793 durch ein Decret des Nationalconvents, welches alle Beerdigungen in Mitten der Stadt Paris, in den Kirchen und inneren städtischen Kirchhöfen streng untersagte … Von den Höhen von Belleville und des Montmartre begann ein kalter Herbstwind zu wehen und dunkle Regenwolken zogen über den Himmel und trieben uns zum Heimweg an. Am Ausgang der Rue de la Roquette, da wo sie auf den Boulevard Bourbon mündet, hemmte eine dichte Menschenmenge unsere Schritte und zugleich schlugen die Klänge der neuen französischen Nationalhymne: „Partant pour la Syrie,“ an unser Ohr. Es war ein Regiment Linieninfanterie, welches mit seinem Musikcorps an der Spitze nach dem Bahnhof marschirte, um nach Marseille abzugehen, wo es nach der Krim eingeschifft werden sollte … Der Oberst ritt mit gezogenem Säbel an der Spitze des Regiments, dessen Glieder sich gelöst hatten, um den Frauen, Mädchen und Kindern, die von ihren Gatten, Geliebten, Vätern, Abschied nahmen, Platz zu machen. Mir fiel die junge Frau vom Père La Chaise ein, deren Mann auch in der Krim stand; wie viele von diesen weinenden Frauen, Mädchen und Kindern sahen hier auf dem Boulevard Bourbon ihre Lieben zum letzten Mal.

„Indessen,“ meinte der Pariser, „bleibt sich das gleich, ob man vor Sebastopol oder im Père La Chaise begraben liegt – man schläft hier wie dort.“

Die Worte sind charakteristisch. Die jungen Soldaten schienen übrigens durchaus nicht traurig, man sah nur heitere, muntere Gesichter, die aussahen als gingen sie zum Tanz und nicht zum blutigen Schlachtenkrieg, und als der Oberst sich endlich auf dem Pferde wendete und „Achtung!“ commandirte, die Tamboure wirbelten und die Gewehre sich schulterten und die Weiber und Kinder zurückwichen, da blitzte jedes Auge im Regiment kampfeslustig, und die Umstehenden riefen ein Hoch auf den Colonel und seiner braves garçons! Wie viele von ihnen werden die Boulevards von Paris wieder erblicken?
Karl Wartenburg. 

Anmerkungen (Wikisource)