Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am 1. Sonntag nach Epiphanias 1835

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Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres
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Am 1. Sonntag nach Epiphanias.
(Nürnberg 1835.)


Luk. 2, 41–52 (siehe vorige Predigt).

 Man hat schon oft bedauert, daß von den ersten dreißig Lebensjahren JEsu so wenig Nachricht auf uns gekommen ist. Allein das heutige Evangelium zeigt uns klar, wie Seine Jugend beschaffen war: ER war ein heiliges Kind, ein heiliger Jüngling, allzeit daheim in dem, was Seines Vaters war, allzeit auch den irdischen Eltern gehorsam. Daraus können wir auch schließen, warum weiter nichts aus dem Verlauf Seiner Jugend aufgeschrieben ist: sie verlief so still und heimlich, daß Menschen nichts besonders Augenfälliges bemerken konnten. Aus der Stille der Nacht kommt eine schöne Sonne und nach ihr ein kräftiges Tagewerk: – nach einer stillen Jugend, die im Gehorsam treu war, ein edles Mannesleben. – JEsu heilige Jugend zu preisen predige ich euch heute mit Gott über unser Sonntagsevangelium. – Gott segne die Betrachtung an uns allen durch Seinen heiligen Geist um JEsu willen! Amen.




I.
 An Ostern ging jeder Israelit nach Jerusalem, und wenn die Söhne das zwölfte Jahr zurückgelegt hatten, durften sie zum ersten Male mit hinaufziehen. Da nun JEsus zwölf Jahre alt geworden war, ging auch ER mit den feiernden Scharen durch das Land, wo Milch und Honig floß und der Frühling alle seine Lieblichkeiten ausgegossen hatte, hinauf in die Stadt, darin sich die Stämme vor dem HErrn versammelten,| – und zum Hause Gottes, um Seine heilige, reine Stimme in die Lobgesänge Israels zu mischen.

 Von Nazareth nach Jerusalem, von Josephs Hause, vom Hause eines irdischen Vaters zum Hause Seines himmlischen Vaters wurde der Knabe Gottes von Seinen irdischen Pflegern geführt. Hierin, liebe Seelen, finden wir ausgesprochen, was Erziehung ist – nämlich eine treue Führung vom irdischen zum himmlischen Vaterhause, von der Welt zur Kirche, von der Erde zum Himmel. Treue Eltern haben darum den Sinn des Täufers Johannis; der leitende Grundsatz ihrer Erziehung ist der: „Ich muß abnehmen, Gott muß zunehmen!“ Sie sehen’s nicht nur gern, nein, sie arbeiten dahin, ihren Kindern, anstatt zu sich selbst, allein zu dem himmlischen Vater Vertrauen einzuflößen. – Solche Grundsätze sind freilich den Grundsätzen der Welt gänzlich entgegen. Es ist nicht Spaß, es ist voller Ernst der Weltkinder, wenn sie fragen, ob es auch gut sei, junge Kinder schon mit Gott bekannt zu machen, ob das nicht besser erst im späteren, reiferen Alter geschehe. Sie meinen, es thue der Natürlichkeit der Kinder Eintrag, wenn sie früh himmlisch gesinnt werden. Als ob der Himmel nicht liebenswürdiger wäre, als die Natur, – als ob nicht der Geist unseres Vaters aus dem Himmel die Natur heiligte und verklärte, – als ob nicht die Natürlichkeit eines Kindes desto lieblicher würde, wenn es aus der Losgerissenheit von Gott wieder zum Leben in Gott geführt worden ist! – Darum eben ist das Leben unserer meisten Kinder so altklug, so unnatürlich, – darum übermannt sie das Verderben so leicht und bald, weil die Eltern die jungen Kinder, welche durch die Taufe in Gottes Arme gelegt werden, späterhin so viel wie möglich vor Gott und Seiner heiligen Religion zu behüten und zu bewahren suchen. – Die Welt betrügt sich, ihre Kindlein sind weder natürlich noch fromm – und ihre eigene Schande und Plage!

 Gesegnet hingegen sei die heilige Kirche, die eine treuere Mutter ist, als viele leibliche Mütter und Väter sind. Sie gleicht der frommen Mutter Maria, die ihr Kind so bald als möglich in des himmlischen Vaters Haus zu bringen sucht.| Sie trägt die Kindlein priesterlich zum gnadenreichen Wasser des Lebens, – sie weiß keine besseren Vaterarme, als die ihres Gottes, in diese legt sie ihre lieben Kleinodien, die jungen Seelen, baldmöglichst, – sie giebt ihnen Zucht und Vermahnung zum HErrn, – sie betet, daß der Erzhirte sich Seiner Herde selbst annehme und sie suche, wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind,[1] – und wenn die Kinder nicht geraten, sondern der Welt nachlaufen, ist wiederum das ihr Trost, sie schlägt Gottes Buch auf und faßt die Verheißung zu Herzen:[2] „Ich will Mich Meiner Herde selbst annehmen, die Schafmütter führen, die Lämmer im Busen tragen!“ Sie wünscht, daß der Kinder ganzes Leben eine Wallfahrt nach dem oberen Jerusalem, in Gottes ewiges Haus sein möge, – und wenn sie früh sterben, so spricht sie: „Sie sind im Tempel, sie singen Halleluja, es ist ihnen widerfahren, was geschrieben ist:[3] die Ihn frühe suchen, die finden Ihn.“


II.

 Da JEsus Christus in Jerusalem angekommen war, vergaß ER die ganze Welt über dem Hause Seines Vaters: – die Stadt Jerusalem, ihre Paläste, dazu die schnelle Flucht der sieben Ostertage, vergaß Vater und Mutter, vergaß Nazareth und die Heimat, – im Tempel, unter den Gesetzlehrern, unter den immerwährenden Erinnerungen an Seine himmlische Heimat, unter den priesterlichen Geschäften, unter dem Lobgesang: da war Ihm wohl, da war ER in dem, was Seines Vaters war. –

 Liebe Brüder und Schwestern, insbesondere ihr jüngeren Brüder und Schwestern, die ihr voll irdischer Unruhe seid und mit eurem Herzen voll Wünsche und Hoffnungen nicht wisset, wohin: wo ist unter uns der heilige Sinn unseres HErrn JEsu? Fraget die Alten, ob’s nicht wahr ist, daß in allem| Geschaffenen eine zu ewigem Frieden und ewiger Freude geschaffene Seele keine Ruhe finden kann! Die grauen Häupter werden euch sagen, daß Eitelkeit der Eitelkeiten der Name ist, welcher für die Dinge paßt, die man mit den Sinnen wahrnehmen kann. Eins ist not, – eins nur stillt das Herz! Unsere Seele schreit nach Gott – nur Gott kann sie stillen. „Wir sind für Ihn geschaffen,“ ruft ein alter Kirchenvater, „und unser Herz hat keine Ruhe, bis es in Ihm ruht!“ Wo man Ihm nahe kommt, da ist Vaterland und Vaterhaus. Ihn zu finden, ins Vaterland, ins Vaterhaus zu kommen, das ist der Zweck unseres Lebens, unsere Bestimmung in der Zeitlichkeit. Unsere Eltern sollen uns kundige Wegweiser ins Vaterhaus, treue Führer zu Gott sein, Lehrer und Beispiele, wie man den Zweck des Lebens erreichen kann. Sind sie uns das nicht, so müssen wir Gott mehr gehorchen, als den Menschen, – so müssen wir uns ohne menschliche Leitung, unter Gottes Führung auf den Weg machen. Auch wir müssen Nazareth und Heimat, die Welt und ihre Herrlichkeit samt Vater und Mutter vergessen und dahintenlassen, um unser ewiges Haus zu finden. Schon im Alten Testament, 5. Mos. 33, 9, steht geschrieben: „Wer zu seinem Vater und zu seiner Mutter spricht: Ich sehe ihn nicht – und zu seinem Bruder: Ich kenne ihn nicht – und zu seinem Sohne: Ich weiß nicht, – die halten, HErr, Deine Rede und bewahren Deinen Bund.“ Und im Neuen Testament spricht der, der da ewiglich lebt: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, als mich, der ist mein nicht wert!“ Auf, teure Brüder und Schwestern! Das ewige Heiligtum, die bleibende Stadt, das unvergängliche Vaterhaus steht offen; auf der Schwelle, mit ausgebreiteten Armen steht der liebevolle Vater, von dem, durch den, zu dem alle Geschöpfe erschaffen und erlöst sind: – was lasset ihr euch halten? Wollt ihr eures ewigen Lebens verlustig sein, – eure Bestimmung und die ewige Belohnung fahren lassen? Die Wallfahrt angefangen! Ins Vaterhaus geeilt! – Selig, ja selig sind, welche diese Stimme, die nicht allein von Menschen ist, hören und befolgen!


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III.

 Da die Eltern JEsu von Jerusalem wegzogen, sahen sie nicht nach dem Kinde JEsus, sondern meinten, ER wäre unter den Gefährten. Als sie nun in die nächste Nachtherberge kamen, fanden sie ihren JEsus nicht. Da trennten sie sich von ihren Reisegefährten, der schöne, freudige Heimzug der Festpilgrime, ihre Lieder, ihre Lobgesänge erfreuten sie nicht mehr, – ihr Herz war voll schmerzlicher Sehnsucht, sie suchten ihn eine Tagereise lang bei allen Freunden und Bekannten. – Die Schuld von diesen Schmerzen des Suchens und der Sehnsucht suchen manche an Maria selbst. Sie hätte, sagen sie, auf ihr Kind besser achtgeben sollen – und daraus leiten sie wohl gar Warnungen vor leichtsinniger Kinderzucht ab. Zu dergleichen Betrachtungen aber liegt im ganzen Evangelium kein Grund. Vielmehr müssen wir glauben, daß der zwölfjährige JEsus schon eine so treue, zuverlässige Seele gewesen sei, daß ER in allen Stücken schon so weise und einsichtsvoll war, daß Seine Eltern es als eine Schmach für Ihn würden angesehen haben, wenn sie Ihn gleich andern Kindern mit strengem Auge hätten beaufsichtigen wollen. Sie konnten Ihn bisher keines falschen, keines unvorsichtigen Trittes zeihen – darum war darin kein Fehl, daß sie, sich auf Seine eigene Weisheit verlassend, auch ohne Ihn bei sich zu sehen, ruhig weiterzogen. Eher war das ein Fehl, daß sie, als sie Ihn nicht fanden, Ihn so ängstlich suchten, ER war eines größeren Vertrauens wert. Doch auch über diese Angst ist nicht zu richten, da sie aus Liebe zu dem liebenswürdigsten Menschenkinde kam. Maria war keine leichtsinnige, aber eine überaus zärtliche und liebevolle Mutter des himmlischen Knaben.

 An einen unrechtmäßigeren Schmerz elterlicher Herzen aber erinnert die sehnsüchtige Angst der Mutter JEsu. Wenn manchmal der Geist des HErrn auf Söhne und Töchter fällt, daß sie die Wallfahrt zum Hause ihres himmlischen Vaters antreten, – wenn sie am ersten nach ihres Vaters Reich und Seiner Gerechtigkeit trachten, – wenn sie ihre weltlich gesinnten Eltern über dem Vater im Himmel und über dem| Bruder JEsus vergessen, dann werden solche weltlichen Eltern oft unzufrieden, daß ihre Kinder den Vater im Himmel und Seine Liebe den irdischen Eltern und ihrer Liebe vorziehen. Unbilligerweise verlangen sie, ihrer Kinder ein und alles zu sein – und möchten in der Kinder Herzen, gleich dem Antichristus, an dem Platze sitzen, der nur Gott gehört. Die Herzen der Väter und Mütter sollten in einem solchen Fall sich zu ihren Kindern bekehren. Wie ihre Kinder sollten sie sich aufmachen und zum Himmelsvater und Seinem Hause heimkehren. Thäten sie dies, so wären sie mit ihren Kindern eins, sie würden von ihren Kindern um so brünstiger geliebt werden, – ja zwischen Eltern und Kindern würde eine unauslöschliche Liebe entbrennen, über die Gräber der Kinder könnten die Eltern, über die Gräber der Eltern könnten die Kinder schreiben, was von der heiligen Liebe 1. Kor. 13, 8 gesagt wird: „Die Liebe höret nimmer auf!“ Eltern und Kinder kämen miteinander, vereinigt durch die Liebe zu dem einen Vater, in einen Himmel, in ein Vaterhaus. Statt dessen zürnen die Eltern mit ihren Kindern, die zum Vater gehen – und sind eifersüchtig wider Gott, als entzöge der ewig Reiche, welcher genug hat in der Liebe des Vaters, Sohnes und Geistes, ihnen ungebührlich ihrer Kinder Liebe. Solche Eltern werden erfunden ohne Gott, ihre Liebe zu ihren Kindern ist nicht von oben her, sondern fleischlich! Ist doch Gott ein Vater über alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden! Ist ER doch auch euer Vater, ihr Väter und Mütter! Ihm gebührt ja eure Liebe! Werdet doch Nachfolger und Nachfolgerinnen der Maria! Hängt eure Herzen an kein Menschenkind mehr, als allein an Ihn! Mit der Mutter JEsu geht aus, ihr Väter und Mütter, und suchet mit Schmerzen und Thränen, bis ihr JEsum gefunden habt! ER geht euch an, wie Maria, – ER ist auch euer JEsus, euer Freudenkindlein, euer Friedefürst! O Väter, Mütter der Gemeinde! Ehe ihr Ihn gefunden habt, legt euer Haupt nicht nieder! Lasset eure Füße nicht ruhen, zu suchen, – eure Stimme ruhe nicht, Ihn mit Namen zu rufen, bis ihr Ihn gefunden habt samt euren Kindern; denn euer Herz hat sicher| nicht eher wahre Ruhe, bis es in Seinen Händen ruht und an Seinem Herzen schlägt!


IV.

 Als Maria und Joseph ihren JEsus nirgends fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten Ihn. Und nach dreien Tagen schmerzlichen und vergeblichen Suchens suchten sie Ihn da, wo sie Ihn hätten zuerst suchen sollen, – im Tempel. Da saß JEsus mitten unter den Lehrern, in heiliger Vergessenheit aller irdischen Dinge, die himmlische Wissenschaft von Gottes Wort mit langen Zügen trinkend. ER fragte die Lehrer, und sie fragten Ihn; es war beiden so wohl – und man wußte nicht, wo man mehr Weisheit sehen sollte, ob auf den Lippen der ergrauten Lehrer, oder vielmehr auf den Lippen dieses Unmündigen, über dem mehr, als über allen Unmündigen gilt, was ER selbst als Mann sprach: „Ich preise Dich, HErr und Vater Himmels und der Erde, daß Du dies den Weisen etc.“ Die Lehrer schöpften Weisheit aus Seinen Fragen, und ER freute sich der Weisheit in ihren Antworten. Sie waren beiderseits voneinander hingenommen – und Gottes guter, heiliger Geist wirkte zwischen ihnen eine gegenseitige Liebe, wie sie nicht bei allen Lehrern und Schülern sich findet. So fanden Ihn Maria und Joseph; sie sahen es, und in ihre Freude mischte sich ein heiliges Entsetzen über den, welchen sie ihren JEsus, ihren Knaben nannten.

 Liebe Seelen! Der Mensch gleicht bei seiner Sehnsucht nach himmlischer Befriedigung, wenn es erlaubt ist, die Kinder der Welt mit solchen Personen zu vergleichen, er gleicht Maria und Joseph. Denn er sucht auch immer die himmlische Speise bei seinen Gefreundten und Bekannten, das ist, bei seinesgleichen, bei der Welt. Die arme Welt gleicht einem Marktschreier, der mit lautem Geschwätz die Güte seiner Mittel rühmt, die doch nichts helfen können. Es ist dem Marktschreier nicht um die Genesung der armen Welt zu thun, – ach nein! er schreit seinetwegen, er verspricht, was er nicht halten kann – und Thoren sind’s, die ihm trauen! Ihr Lieben! Warum folgen so viele unter uns der Gleißnerin,| der Welt? Warum sucht ihr euren Gott und Seinen Frieden bei ihr, die ohne Gott ist, von der doch geschrieben ist: „Die Gottlosen haben keinen Frieden!“? Warum doch sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Die Welt, ihre Weisheit, ihre Thorheit – ihre Herrlichkeit und Ehre und ihre Freude: noch ist keine Seele aus der Zeit vor Gottes Thron getreten, die nach vollbrachtem Lauf sagen konnte, daß sie in der Welt Frieden und Gott gefunden hätte. Warum sucht man den Ewigen, die Quelle des Lebens, den Vater des Lichts, an allen Orten – und nach Jerusalem geht man zuletzt? Und doch findet man Ihn nur da – das ist, nur im Tempel! Teure Seelen! Der Tempel ist zu klein für die Fülle Seiner Herrlichkeit; der Himmel ist Sein Stuhl, die Erde Seiner Füße Schemel – der Tempel ist überall! Du mußt nicht nach Jerusalem wallfahrten, um Ihn zu finden; der HErr ist allgegenwärtig, nahe bei einem jeglichen unter uns! Steh still, Seele! Überall, allgegenwärtig, auch um dich – ist deines Vaters Haus; falle nieder, seufze zu dem Allgegenwärtigen, den du nicht spürst, so wird ER sprechen: Hephata! Du wirst hören, wie ER um dich ist – mit Freudengetön! Du wirst merken, daß Sein Reich – mitten im Tumult der Welt – um dich ist! ER kann sich offenbaren, ER offenbart sich auch dem betenden Herzen! Und wenn ER sich offenbart, – dann freut man sich, wie Maria, da sie ihren Sohn fand, – wie die Mutter Gottes, da sie ihren HErrn und Gott und Sohn wieder hatte! O das ist eine selige Stunde, wo man dem nahe kommt, der uns allezeit nahe gewesen, der uns je und je geliebt und aus lauter Liebe zu sich gezogen hat! Was weiß die Welt, wie es einem seligen Sünder JEsu ist! Das ist ihr zu wunderlich und zu hoch; sie sei entschuldigt, wenn sie es für Schwärmerei hält. Sie kennt JEsum nicht, und den Weg zu Ihm kennt sie auch nicht; sie ist viel zu sinnlich und unvernünftig, als daß sie des HErrn Allgegenwart vernehmen und inne werden könnte! Aber selig sind, die Ihn finden! Bei ihnen heißt es: „Bei Dir ist ja Vergebung, daß man Dich fürchten muß!“ In die Freude der Vergebung mischt sich ein Staunen und Entsetzen| über die Menge der offenbarten Herrlichkeit des HErrn! Man freut sich zitternd – und zittert in seiner Freude! Man betet an aus weiter Ferne und ist Ihm nahe in seliger Liebe! Wer’s fassen kann, der fasse es!


V.

 Als Maria ihren Sohn gefunden hatte, sprach sie zu Ihm: „Mein Sohn, warum hast Du uns das gethan? Siehe, Dein Vater und ich haben Dich mit Schmerzen gesucht!“ Diese Frage ist eine Frage der innigsten, vertraulichsten Liebe, als hätte Maria sagen wollen: Ach, ich begreife Dich nicht, Du liebes Kind! Welche Schmerzen hast Du uns gemacht! Hast Du doch sonst, solange Du lebst, uns weder Kummer noch Schmerz gemacht. Ach, was hast Du denn für eine große Ursache gehabt, Deine Eltern so zu betrüben? Warum mußte das sein? – Eine zarte, liebreiche Frage, auf welche eine große, himmlische Antwort folgte, welche aus dem Munde des heiligen Kindes über alles majestätisch und doch so liebenswürdig klingt. „Was ist’s,“ spricht ER, „daß ihr Mich gesucht habt? Wisset ihr nicht, daß Ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?“ Als wollte ER sagen: Mutter, wenn Ich bei dir nicht bin, wo kannst du Mich sonst noch suchen, als in dem, das Meines Vaters ist? Kann Mir außer deinem Hause ein Haus lieber sein, als Sein Haus? Und das wirst doch du mir nicht verargen, daß ich Sein Haus deinem Hause vorziehe? Weißt du’s nicht? Denk an die Anbetung der Weisen, denk an die Engel und ihren Gesang in Meiner Geburtsnacht, denk an die Worte des Engels, die Meine Geburt angekündigt haben! O Mutter, o lieber Vater Joseph! Wisset ihr’s denn nicht, daß Ich in dem sein muß, das Meines Vaters ist? Ihr fragt, wo Ich sein könne. Ihr sucht Mich wo anders, ihr! O wisset ihr nicht? – Da standen die lieben Eltern – staunend und verstanden’s nicht. Ihr Kind war ihnen allewege voran!

 Liebe Seelen! So, wie Maria fragte: warum? so fragt, wer Ihn nach langem Suchen endlich fand, gar oft. „Ich habe Dich mit Schmerzen gesucht! Warum?“ Warum habe ich so lange warten müssen, bis Du mich fandest, bis ich Dich| fand? Denn es scheinen die Wege des HErrn in der Bekehrung der Menschen oft so wunderlich, wie eines Kindes Thun. Man fragt dann verwundert um die Wege des Unbegreiflichen. Man sieht oft Leute, die ihr Leben lang suchen und nicht finden, während es Kinder giebt, die nicht lange suchen und finden schon ihren Heiland und gehen still und friedenreich in Seiner Nähe vom Anfang bis ans Ende ihres Lebens. Warum find ich Dich nicht? fragt der Sehnsüchtige. Warum fand ich Dich nicht? fragt seliger, der Ihn gefunden hat. Warum findet Dich mein Vater, meine Mutter, mein Bruder nicht, und suchen doch auch? – Darauf ist Antwort: Sehnsüchtiger, warum suchst du mich in der Welt, wo ich nicht bin? Warum, mein Gefundener, suchtest Du mich so lange bei deinen Gefreundten und Verwandten, warum nicht in der heiligen Kirche, bei den Kindern meines Vaters? Sag deinem Vater etc., sie sollen Mich nicht mehr bei denen suchen, die nicht in Meines Vaters Hause sind, sie sollen Mich betend suchen in ihrer Nähe und wo Mein Wort gepredigt wird; so wird geschehen, was geschrieben ist: „Wer da suchet, der findet!“ Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist – weißt du das nicht?
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 Ist diese Antwort nicht einleuchtend und sehr natürlich? O darum wir, die wir Ihn gesucht haben eine lange Zeit, und haben Ihn spät gefunden: lasset uns beschämt um Vergebung bitten, wenn uns anders als in Anbetung Seiner Wege die Frage kommt: „Warum?“ Und ihr, die ihr suchet, suchet hinfort nicht mehr am falschen Ort, sondern suchet den HErrn, wo ER zu finden ist! Gehet aus von der Welt – suchet Ihn in der Stille, den Unsichtbaren, – wo Sein Wort und Sein Geist weht, da suchet Ihn! Kehret von den lügenhaften Lehren falscher Lehrer zurück zu der wahren und reinen Lehre derer, welche im Hause Gottes geblieben sind. Reine Lehre macht ein reines Herz, reines Herz schafft reine Augen, reine Augen schauen Gott, den Allgegenwärtigen, überall nah! Wer sich von der Welt sondert, steht vor Gottes Tempel, wo Christus ist, fragt und lehrt! Wer die Fremde verläßt, tritt ins Vaterhaus! Kehre ein bei JEsu Christo! Frage nicht| danach, was die Welt sagt und der Versucher! Gehst du zu Gott, so wird die Welt sagen: „Warum thust du das?“ Antwort: „Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist!“ Sie und der Satan verstehen Gottes Wege nicht! Nur in Gottes Erleuchtung sieht man das Licht! Brüder! Geht ins Vaterhaus, in die Heimat, und laßt euch nicht beirren, was der Unverstand dazu spricht! – Seid ihr bei Ihm, so werdet ihr nicht wißen, wie ihr Ihn nur anderswo suchen konntet, als in Seinem Hause – und werdet so selig bei Ihm sein!


VI.

 JEsus ging, nachdem Ihn Seine Eltern gefunden hatten, mit ihnen wieder hinab nach Nazareth und war ihnen unterthan. Seine Mutter aber behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. ER aber nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

 Aus diesem letzten Teile unseres Evangeliums, geliebte Seelen, erlaubt mir, noch einige Bemerkungen zu nehmen, ehe wir auseinander gehen.

 Warum wird doch JEsus, der König aller Könige, Seinen irdischen Eltern so unterthänig, – warum erniedrigt ER sich unter sie? Und – um von da gleich einen Schritt weiter zu gehen, – warum erniedrigt ER sich überhaupt so sehr und im Fortgang Seines Lebens immer mehr? Warum steigt ER herab bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze? Warum wird kein Elender auf Erden gefunden, gegen dessen Erniedrigung die Erniedrigung JEsu nicht viel tiefer, viel schmählicher wäre? O Brüder! ER stieg in die Niedrigkeit Seines Aufenthalts zu Nazareth, um Seine armen Eltern aus dieser Niedrigkeit zu großer Hoheit hinaufzuführen. ER erniedrigte sich unter die elendesten und geplagtesten Menschen, damit auch der Elendeste an Seiner Hand emporsteigen könnte – von Seinem Elende, von Seiner Finsternis, von Seiner Sündenschuld zu JEsu seligem Licht und der Freude der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. „Wenn Ich erhöhet werde von der Erde“ – so sprach ER – „dann will ich sie alle zu| Mir ziehen!“ Eine Erhöhung nennt ER es, daß ER ans Kreuz steigt, am Kreuze aufgerichtet wird, da es nichts anderes, als die tiefste Erniedrigung ist. Wenn ER um unsertwillen gekreuzigt wäre, wenn die Botschaft von Seinem Kreuzestode, von Seiner sterbenden, erlösenden Liebe zu den Ohren der armen, mühseligen und beladenen Sünder käme, dann, meinte ER, würden sie alle zu Ihm Zutrauen gewinnen, – solche Liebe würde sie alle zu Ihm ziehen, – ER würde sie dann mit Seinem Geiste erleuchten, die Größe Seiner Liebe recht zu betrachten, – ER würde sie durch solche Betrachtung Seiner Liebe beseligen, gerecht und heilig machen! – Liebe Seelen! Hat ER denn bei euch recht? Zieht euch denn Seine Erniedrigung bis zum Tode zu Ihm hin, verbindet sie eure Herzen mit Ihm, macht sie euch niedrig vor Euch selbst – und groß und selig in Ihm? Seid ihr lebendig in Seiner Liebe?
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 Wenn es noch nicht ist, wenn euch euer Herz sagt, daß ihr noch fern von Ihm seid, – wenn ihr den unsichtbaren Heiland noch nie als nahe erkannt habt: o so höret nur mit treuer Aufmerksamkeit das Wort vom Kreuze – und wenn ihr’s gehört habt, so bewegt es in euren Herzen und merket darauf, bis euch der Morgenstern aufgeht in euren Herzen. Da Maria die Worte JEsu im Herzen bewegte, wuchs indes ihr JEsus an Weisheit, Alter und Gnade heran, bis es mit Ihm so weit kam, daß ER die Erlösung vollbracht hatte, und der heilige Geist an Pfingsten herabkam, und sie nur in lebendigem Verständnis die Worte verstand, welche ihr Sohn schon als zwölfjähriger Knabe im Tempel zu ihr gesprochen hatte. Aus Licht in Licht, aus Glauben in Glauben, aus Leben in Leben gehen gläubige Seelen. An dem Orte, wo Gottes Worte schallen, wo Seine unsichtbare Gegenwart ist, bitte ich euch, still und harrend liegen zu bleiben, wie der Kranke am Teich Bethesda, wie der Lahme an der schönen Thür des Tempels. Endlich kommt doch die Stunde der Genesung. Durch Stillesein und Harren wird der Sieg erlangt, und geweissagt ist und bleibt denen die ewige Seligkeit, die Gottes Wort hören und bewahren wie Maria!| Es lasse kein Herz seine Hoffnung fahren; ein jedes suche, seufze, ringe, bete fort, es wird die Stunde kommen – wo sich vor dem Auge des Geistes der Tempel Gottes aufthut, wo man JEsum drinnen sieht und zu Ihm eingeht und bei Seinen Füßen Platz nimmt – ewig nicht mehr von Ihm weggeht, sondern mit Recht singt: „Mein Freund ist mein und ich bin Sein!“ Halleluja! Amen.





  1. Hes. 34, 11. 12.
  2. Jes. 40, 11.
  3. Spr. 8, 17.
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