Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am 2. Pfingsttage 1836 (Ps. 107, 1–7)

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« Am 2. Pfingsttage 1836 (Apg. 8, 26–39) Wilhelm Löhe
Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres
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Am 2. Pfingsttage.
(Bertholdsdorf 1836.)


Ps. 107, 1–7. Danket dem HErrn, denn ER ist freundlich, und Seine Güte währet ewiglich. Saget, die ihr erlöset seid durch den HErrn, die ER aus der Not erlöset hat, und die ER aus den Ländern zusammengebracht hat, vom Aufgang, vom Niedergang, von Mitternacht und vom Meer; die irre gingen in der Wüste, in ungebahntem Wege, und fanden keine Stadt, da sie wohnen konnten, hungrig und durstig und ihre Seele verschmachtet; und sie zum HErrn riefen in ihrer Not, und ER sie errettete aus ihren Ängsten, und führete sie einen richtigen Weg, daß sie gingen zur Stadt, da sie wohnen konnten.

 Wie paßt dieser Text zum heutigen Feste, liebe Brüder? Ich denke, er paßt recht wohl. Alle, die in Wahrheit erlöset sind aus der Not, wer sind sie anders, als die Glieder der Kirche Gottes? Die, welche aus allen Ländern zusammengebracht sind, die, welche irre gingen, die hungrig und durstig waren, die zum HErrn riefen, wer sind die anders, als die Kinder der heiligen Kirche Gottes? Ja, die Stadt, wohinein sie gingen und sich versammelten, was ist das anders, als der Schoß der Kirche? Und wer nun aus der Welt zur Kirche, aus der Wüste zur sicheren Weide der Schafe versammelt ist, soll der nicht sich und seinesgleichen zurufen: „Danket dem HErrn, denn ER ist freundlich, und Seine Güte währet ewiglich!“? Soll er’s nicht heute thun, heute, am Geburtstag der Kirche, die eine Mutter aller Gläubigen ist? Denn daß an Pfingsten der Kirche Geburtstag ist, das leidet keinen Zweifel. Seht, liebe Brüder, darum habe ich diesen Text unserer jetzigen Predigt vorangestellt, und von ihm will ich den Ton| zu ihr nehmen, wenn ich in derselben darlegen will, daß Pfingsten ein Tag des Dankes ist, weil es der Geburtstag der heiligen Kirche ist. Gott gebe uns dazu Seine Gnade und Seinen Segen um Christi willen! Amen.




 Die Kirche ist nichts anderes, als die Sammlung oder Versammlung aller Gläubigen. Der Tag, an welchem Gott anfing, sich eine Gemeinde aus den Menschen zu sammeln, ist der Geburtstag der Kirche. Gott aber fing an, Seine Gemeinde zu sammeln im Alten Testament fünfzig Tage nach Ostern, nachdem ER Sein zur Gemeinde auserwähltes Volk zum Berge Horeb oder Sinai geführt hatte, und dies ist das Pfingsten des Alten Testaments. Als aber dieser Alte Bund die von Gott ihm bestimmte Zeit gedauert hatte, da, ebenfalls fünfzig Tage nach Ostern, da goß ER auf die heiligen Apostel Seinen Geist aus, daß sie mit mancherlei Zungen redeten und anfingen, aus Parthern und Medern und Elamitern und allen Völkern ihrem HErrn eine Gemeinde zu sammeln, die Ihm wohlgefällig wäre. Also ist Pfingsten der Geburtstag der neutestamentlichen Kirche, wie es der Geburtstag der alttestamentlichen gewesen war. Diese Sammlung von Gläubigen, die zuerst nur aus den heiligen Aposteln, den übrigen Jüngern JEsu und deren Schülern bestand, hat sich ausgebreitet über die ganze Erde und ist ein Segen aller Völker geworden. Alle Völker haben darum den Tag ihres Anfangs, ihren Geburtstag, zu feiern und Gott für alle die Segnungen und Wohlthaten zu danken, welche ihnen durch sie von Gott zugestellt wurden zu allen Zeiten. Auch wir wollen dies nun thun. Lasset uns miteinander der Wohlthaten Gottes gedenken, die wir durch die heilige Kirche von Gott empfangen haben, auf daß wir freudenvoll und dankbar sprechen: Danket dem HErrn, denn ER ist freundlich, und Seine Güte währet ewiglich!

 O JEsu, JEsu, erbarme Dich und segne den Vortrag! Amen.




|  Die Kirche ist


I.

 des HErrn Braut und Sein Weib nach der Schrift. Wie ein Mann mit einem Weibe Kinder zeuget, so erzeugt der HErr durch den Dienst Seiner lieben Kirche, die ER mit dem heiligen Geiste erfüllt, Kinder Seiner Gnade. Seine Kirche predigt durch ihre Diener den Ungläubigen und tauft die jungen Kinder, durch die Predigt werden viele Ungläubige, durch die heilige Taufe viele Kinder neugeboren und Gottes Kinder. Wäre die Kirche nicht, so wäre das Mittel nicht, durch welches Gott sich Kinder für den Himmel schafft, so wären Predigt und Sakrament nicht. Nun sie aber ist, so wird sie von Ihm immer wieder gesegnet; einst war sie die Einsame, nun aber hat sie das Haus voll Kinder, Kinder, wie Tau aus dem Morgenrot geboren wird. – O Brüder, der HErr, der einst dem ersten Adam seine Eva zugeführt hat, aus seinem Fleisch und Bein geschaffen, derselbe hat unserm HErrn JEsu Christo Seine Braut, die heilige Kirche, zugeführt, aus Seinem Geist, wie aus Seinem Fleisch und Blut geboren! Wenige unter euch, vielleicht gar keiner, haben sich noch neugebären lassen durch Wort und Sakrament. Gelobt sei Gott, daß ER euch noch die Kirche gönnet, daß ER sie nicht weggenommen und auf diese Weise allen unsern Grund der Hoffnung entrissen hat! Wohl euch, daß die Kirche geboren ist und lebt, daß ihre Predigt und ihre Sakramente noch verwaltet werden! Danket dem HErrn, ER ist sehr freundlich! Auch euch will ER noch sammeln und zu sich ziehen, euch irrende Schafe zur grünen Weide, euch verlorene Kinder in den Schoß Seiner heiligen Kirche sammeln, die euch heimtragen soll zu Seiner ewigen Freude!


II.
 Die Kirche ist ferner auch darin eine fromme Mutter, daß sie die Kinder liebt, ehe sie geboren sind, ja, ehe die Wehen über ihrer Geburt angekommen sind, daß sie für sie sorgt, ehe sie noch da sind, daß sie für dieselben betet, noch ehe sie leben. Die Kirche Gottes, ihre Diener, ihre Kinder| sehen in der ganzen Welt nichts anderes, als Totengebeine, welche durch sie einen Tag der Auferstehung zu erfahren berufen sind. Sie haßt die Welt in diesem Sinne nicht, sondern im Gegenteil, sie liebt ihre Kinder und schaut sie mit Augen der Hoffnung und mit Glauben und Vertrauen auf den barmherzigen Gott an, der da machen kann, daß die Kinder geboren werden, ehe sie noch die Wehen ankommen. Sie freut sich im voraus, ehe die Kinder zur Welt geboren sind, sie geht den Ungläubigen nun schon achtzehnhundert Jahre nach, und es ist ihr die Geduld noch nicht ausgegangen, ihr Gebet hat noch nicht aufgehört, ihre Sehnsucht, ihr Durst noch nicht abgenommen, damit sie der Kinder ewiges Wohlsein ersehnt! Sie macht zwischen Hohen und Niedrigen keinen Unterschied, sie liebt die Armen, wie die Reichen, und geht dem ärmsten Schaf in der Wüste nach, wie den reichsten! Sie gleicht der Mutter Hanna, die vor Andacht und Verlangen im Tempel vergehen wollte, die keine Worte fand für ihr glühendes Herz, der ihre Worte auf den Lippen starben, die bebte vor Liebe zu ihrem Samuel, der noch nicht da war, die ihn dem HErrn weihte, ehe er im Mutterleibe war, die ihn dem HErrn weihte von Mutterleibe an, die keine größere Freude kannte, als dem HErrn ihren erbeteten Samuel darbringen zu dürfen. – Brüder, liebe Brüder, auch euch, die ihr noch nicht geboren seid, liebt die Kirche, betet und sorgt für euch! O Dank, daß sie lebt, die werte Mutter, daß sie geboren ist, die Hoffnung vieler Kinder! Ihr Geburtstag sei gesegnet, ihr Gebet werde erhört, ihre Sorge möge geraten! Ihr Ehrentag, der heutige Tag, werde auch diesmal in den verschiedenen Lagerplätzen und Orten der Nationen von Gott durch viele Kinder gesegnet, und die morgende Sonne schaue ein Feld lieblicher Tautropfen, ja, Amen!


III.
 Die Kirche ist drittens eine fromme Mutter, weil sie ihre neugeborenen Kinder mit lauterer Milch des Wortes und des heiligen Sakramentes nährt. Seit Jahrtausenden reicht sie im| Worte Öl und Wein, Gesetz und Evangelium, auf daß einem jeden Kinde seine Notdurft, ja, auch Arznei nach Notdurft gereicht werde! Sie verwaltet seit Jahrtausenden das heilige Sakrament des Altars, das Brot des Lebens reicht sie samt dem Kelch des Heils den Heranwachsenden! Ihre Vorräte nehmen nie ein Ende, ihr Herz hat Liebe genug! Und wenngleich ihre Kinder die gesunde Milch, Brot und Wein des mütterlichen Hauses nicht mehr mögen, wenn sie einen Ekel daran bekommen, sie entzieht sie ihnen nicht, sie trägt ihnen die himmlische Nahrung nach, und bevor einer seine Seele hat aus Mangel an himmlischer Speise verschmachten lassen, giebt sie ihn nicht auf, weicht sie nicht von ihm! Sie drängt sich zu, auch wenn sie von ihren Kindern verachtet wird, sie ist Sorgens gewohnt und giebt es nicht auf, sie ist treu, mehr, als es ihre Kinder gerne sehen! O danket Gott, daß ER Seiner heiligen Kirche eine so ausdauernde, heilige Liebe zu denen gegeben hat, welche die eitle Windesweide der Welt der gesunden Nahrung des Wortes Gottes vorziehen! Gott Lob und Dank! Manch Herz hast Du noch erlesen, o Gott! Manch dem Tode, dem Hungertods nahes Gemüt wendest Du noch zu dem Mutterhause, das Dein Haus ist, zu Deinem Hause, o Vater! Manch verlorener Sohn, der an den Träbern endlich Ekel gewinnt, wird, noch sehnsüchtig sich aufmachen und zum Vaterhause kommen und an Deinem Tisch essen! O Vater, o JEsu, segne die Bemühungen Deiner heiligen Kirche, daß es ihr gelinge! Unter Dank für bisherigen Segen bitten wir um ferneren Segen! Thue über Bitten und Verstehen, der Du allemal nicht thust, was wir verdienen, der Du allemal nur Gnade und Barmherzigkeit übest! Speise, speise auch mich, der ich immerdar hungere. Deine Speise sehe und sie nicht recht zu essen verstehe! O Vater, laß Deine heilige Kirche mich und alle Hungrigen speisen!


IV.
 Die Kirche ist eine Mutter über alle Mütter! Gar manchmal geschieht, was auch vor Gott ein Wunder ist, gar manchmal vergißt ein Weib ihrer Kinder und gedenkt des| Sohnes ihres Leibes nicht mehr! Viele Kinder sind Waisen beim Leben ihrer irdischen Väter und Mütter, aber so thut die Kirche nicht, sie nimmt sich ihrer Kinder an, sie ist die Braut dessen, der da sagt: „Ob auch ein Weib ihres Kindleins vergäße, so will Ich doch dein nicht vergessen!“ Ja, es thut viel! Wenn Vater und Mutter eines Kindes irdischer Welt sterben, so ist sie es, durch welche Gott vollbringt, was geschrieben steht: „Vater und Mutter verlassen mich, aber der HErr nimmt mich auf!“ Sie nimmt sich aller geistlich oder leiblich Verwaisten an, und ist freundlich auch denen, welchen kein irdischer Vater ein Vaterherz nachgelassen hat; sie hat Auftrag, auch denen nachzugehn, welche von ihren Eltern verflucht sind mit Flüchen dieses Lebens; sie soll statt alles irdischen Vatersegens ewigen Vatersegen denen bieten, die von Erdenvätern gesegnet sind, wie denen, welche von ihnen verflucht sind. Sie nimmt jedes Waislein auf und tröstet es, sie zieht durch ihre Diener die Waisen, groß und klein, in Zucht und Vermahnung zum himmlischen Vater auf, sie lehret sie Gottes Wege und deutet ihnen Seine Führungen also, daß es verstanden werden kann, der HErr sei freundlich! – O du gute, heilige Mutter Kirche, habe Dank, die du auch mich armes Waislein hast aufgenommen und mich aus deiner Zucht und Lehre nie gelassen bis auf diesen Tag! O Du guter, himmlischer Ewig-Vater, habe Dank, daß Du mir heute meine Mutter gegeben hast, die heilige Kirche; ich danke Dir im Namen aller Menschen, die sonst Waisen wären, und bitte Dich, Du wollest nach Deiner unaussprechlichen Gnade diese meine Mutter an allen Deinen Waisen segnen, an allen irrenden Menschen!


V.
 Die heilige Kirche ist ferner eine gute Mutter. Sie hat uns geliebt, ehe wir sie lieben konnten, und liebt uns, solange wir lieben können; sie liebt uns herein ins Leben und liebt uns hinaus; sie glaubt an unserm Tauftage und an unserm Sterbetage, daß es mit uns zum Leben geht, und zweifelt nicht! Sie kennt die Verheißungen Gottes und ist gesetzt zu| einer Haushälterin über Gottes Geheimnisse und Schätze. Es ist keine Not der Seele, sie weiß einen Trost aus Gottes Wort, und ihr Trost ist allemal gut, wenngleich wir nicht allemal gut genug sind, ihn zu fassen. Sie leidet zwar mit ihren Kindern, aber sie wird niemals hingerissen; sie hat immer Vorrat und reicht dar zu jeder Stunde, auch in der letzten Stunde ist sie reich, und ihre Tröstungen sind niemals kräftiger, als eben da. Sie drückt uns die Augen in Hoffnung zu und bringt die zagenden Kinder lächelnd durch Thränen zu ihrer Ruhe. Sie fürchtet sich nicht, wenn ihre Kinder beim Entschlafen sich fürchten, weil’s dunkel und unwegsam wird. Ihr Bräutigam hat die Ausgänge des Todes, führt hinein und heraus, das weiß sie und freut sich, wenn ihre Kinder fürs Geistliche das Ewige eintauschen! Sie bleibt auf Erden, solange ihr Bräutigam bleibt, der zu ihr spricht: „Siehe, Ich bin bei euch bis ans Ende der Tage!“ Sie ist unsterblich und weiß, daß ihre Kinder auch unsterblich sind, und jubelt über den Gräbern, daß sie so sicher sind, und steckt über denselben das edle Kreuzeszeichen, das Siegeszeichen, auf! – O du gute Mutter Kirche, drück uns auch die Augen zu, wenn wir heimfahren, und befiehl uns dem ewigen Bräutigam zum Leben und ewigen Frieden! O drück auch mir die Augen zu und freue dich über meinem Grabe! O Vater und Heiland in des Himmels Thron, Dank, Dank im Namen aller Sterbenden, die schon gestorben sind, die jetzt sterben unter den Tröstungen der Kirche, die unter ihren Tröstungen sterben werden! Dank für die Tröstungen, welche Du unserer Mutter vergönnet hast zu unserm Besten! Füll uns unsere Herzen mit Glauben und heiligem Geist, daß wir sie fassen können, und wenn wir sie nicht mehr fassen können, dann laß nachwirken, was wir aus ihrem Munde haben, und Dein Geist vertrete uns mit unaussprechlichem Seufzen!


VI.
 Die Kirche ist endlich eine ewige und majestätische Mutter. Sie sitzt auf Erden an unserm Sterbebett und tröstet uns; sie freuet sich hier über unsern Gräbern, aber sie ist auch dort,| wenn wir auffahren zu unserm Gott und Vater! Sie drückt uns hier die Augen zu, und dort, wo ihre Kinder triumphieren, empfängt sie uns mit seliger Mutterfreude! Sie führt uns zu der ewigen Ruhe und lehrt uns die ewigen Lieder! – O du heilige Mutter, die du mit deinem ewigen Bräutigam und Mann deinen Stuhl im Himmel hast und auf Erden deiner Füße Schemel, habe Dank im voraus für deine Liebe, mit welcher du in deinen seligen Kindern mich wirst aufnehmen in die ewigen Hütten! Du aber, ewiger Heiland, der Du die Deinen zu einer ewigen Kirche versammelt hast um Deinen Thron, zu einer heiligen, triumphierenden Kirche; der Du aus der irdischen Kirche, wie aus einem Pflanzgarten, ausjätest das Unkraut und Deine gedeihenden Bäume ins himmlische Paradies versetzest, wenn ich nicht mehr dahier, im Pflanzgarten, bleiben kann, so versetze mich ins Paradies Deiner ewigen Kirche! Und wenn Du einst Deinem Weibe einen neuen Himmel und eine neue Erde und auf der neuen Erde ein schönes Paradies bauest und niedersenkst die ewige Sulamith im ewigen Jerusalem, laß mich auch dabei sein, JEsu, JEsu! Laß auch von diesen hier dabei sein, so viele Du verordnet hast, ja, ja. Dein heiliger Wille geschehe, der da nichts ist, als unsere Seligkeit!




 Sehet, Brüder, da haben wir der Segnungen der heiligen Kirche gedacht, die da heute geboren ist. Wie vieles thut sie uns, und wie vieles haben wir an ihr in Zeit und Ewigkeit! Wie wohl dürfen wir einen Tag des Dankes aus ihrem Stiftungstag, aus ihrem Geburtstag machen! O lasset uns unserm Gott danken, lasset uns nicht danken mit eitlen Worten, sondern nach Seinem Willen im Geist und in der Wahrheit! Im Geist und Wahrheit aber, wie dankt man für die Gabe der heiligen Kirche?

 Höret die Predigt der heiligen Kirche, sie ist Gottes Wort, Gottes Wort aber ist ein lebendiger Same der Wiedergeburt! Gebet euch den wiedergebärenden Kräften des göttlichen Wortes hin, auf daß ihr wahrhaftige Kinder der Kirche| werdet! Das ist der beste Dank zu Gott, wenn man die Mühe, die Predigt, die Thränen, die Gebete der heiligen Kirche und ihrer Diener sich zur Wiedergeburt gereichen läßt!

 Ferner, ist jemand unter euch wiedergeboren, der höre, wer aber nicht wiedergeboren ist, den erinnere, wenn er’s jemals werden wird, der Geist der Gnade daran, daß er dann sich erinnert: also ist jemand wiedergeboren, der bleibe bei der reinen, lautern Milch der göttlichen Gnade und lasse sich von der guten Mutter nähren! Er werfe sich nicht an die, die ihn nicht geboren haben, sondern bleibe im Gehorsam seiner Mutter, durch welche Gott mit ihm redet! Die Kirche bleibe Dir treulich anbefohlen! Treue gegen die Kirche ist Dank gegen den, welcher sie gab, welcher sie heute geboren hat durch Seine Allmacht und aus JEsu Christi Seite gebildet!

 Ferner verachte die Zucht der heiligen Mutter Kirche nicht, sondern laß dich züchtigen. Küsse die Hand, die dich züchtigt, denn sie giebt dir, was dir gut ist, und ist weiser wie du. Viele sind, welche eine Zucht der Kirche, eine Kirchenzucht, hassen, als einen Zwang mehr; aber wohl dem, der keinen Zwang darin findet, sich züchtigen zu lassen, der sich gern züchtigen läßt, der sich erkennt als ein irrendes Wesen, das allezeit der Zucht bedarf! Wohl dem, der mit Dank und Freude trinkt, was bitter ist nach seinem Wahn, daß es ihm gedeihe zum Leben! – O Vater, gnadenreicher, barmherziger, o Du Heiland, ewiger Bräutigam, gieb treue Diener Deiner heiligen Kirche, die da mit ernster und barmherziger Liebe uns züchtigen, auf daß Deine Kirche nicht werde wie Eli, der Deinem Gebot nicht folgte, da Du ihm gebotest, seine Kinder zu ziehen in der Zucht und Vermahnung zum HErrn! Ach, laß Deine Kirche vor Dir Gnade finden, wir wollen Dir danken für ihr Leben, auch wenn Du uns züchtigst, sonderlich, wenn Du uns züchtigst! Denn ihre Züchtigungen annehmen, das ist Dank vor Dir!

 Ferner, wenn euch bange ist um die Seele, sei es eine Bangigkeit, welcher Art sie auch sein mag, ach, dann danket Gott für die edle Mutter Kirche dadurch, daß ihr ihren Trost suchet. Kann denn einer besser getröstet werden, denn wie ihn| seine Mutter tröstet? O ihre Tröstungen sind Balsam in Seelenwunden! Wer sollte nicht genesen wollen, und wer, wenn es zum Sterben geht, sollte nicht ein leichtes Gehen wünschen? Ihren Sterbenstrost nehmt an, ihr lieben Brüder! Sie tröstet euch nicht falsch, nicht nach dem Fleisch, nicht, wie ihr gern wollt, sie tröstet euch mit himmlischem Trost! Danket für ihren Trost, für ihre Liebe auch im Sterben, so wird ihr Trost euch ein Himmelswagen werden und euch entführen dorthin, wo sie euch aufnehmen wird in die ewigen Hütten!

 Liebe Brüder, endlich betet auch für die heilige Kirche, daß es ihr wohlgelinge in dieser letzten, bösen Zeit! Denn wahrlich, sie ist sehr voll der Bösen Spott, sie haben die Hochgeborene gebunden in gar mancherlei Ketten, sie haben ihr eine Dornenkrone aufs Haupt gesetzt, sie haben ihr die Schmach Christi in reichem Maße gegeben, sie trägt schwer an ihren Lasten, sie ist wie eine niedergehende Sonne. Betet, sie wird nicht untergehen, sie wird wieder aufgehen, sie wird am letzten Tage der Welt über den Gräbern scheinen, denn sie ist zwar sehr in Verachtung, aber dennoch geliebt bei dem, der ist A und O, der Allmächtige! Sie wird siegen, aber betet, auf daß unter eurem Beten ihr Haupt erhoben werde und sie verjüngt, wie ein Adler! Betet, betet, daß ihr als fromme Kinder erfunden werdet, betet, daß ihr gegeben werde der Geist der Gnade und des Gebets, der Geist des Bräutigams, der uns erneut und führt, wie die Jugend! Betet, daß sie möge einhergehen in der Kraft des HErrn, wie Heeresspitzen schrecklich den Bösen, den Frommen lieblich und ehrwürdig, als des Königs Braut! Solches Beten ist Dank!

 Und nun, geliebte, teure Brüder, freuet euch in dem HErrn an diesem Freudentage und sprechet mit mir also:

 Ich danke Dir, HErr, daß Du Dir heute eine heilige Kirche geschaffen hast, ich danke Dir und freue mich! Nun, HErr, erlöse unser armes Bertholdsdorf aus der Not der Blindheit und Bosheit der Sünde und führe uns, die wir am Ende der Welt wohnen, im verborgensten Winkel der Erde, führe uns, die wir in diesem engen Thale irre gehen,| führe uns, die wir, geschaffen zu Dir und Deinem ewigen Abendmahl, hungrig und durstig bleiben und verschmachten müssen, führe uns auf richtigem Wege zu Deiner Stadt, wo Deine Kirche wohnt, uns alle, uns alle, ach Gott, unser und unserer Väter Gott, zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem und zu der Menge vieler tausend Engel, und zu der Gemeine der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alles, und zu den Geistern der vollkommenen Gerechten, und zu dem Mittler des Neuen Testaments JEsu, und zu dem Blut der Besprengung, das da besser redet, denn Abels – o HErr, mit einem Worte, zu Deiner Kirche, in ihren Schoß, an ihre Brust! Amen. In JEsu Namen! Amen.

 O Gott, salbe mich und Deine Gemeinde zu diesem und allen Feiertagsvorträgen mit Deinem heiligen Geiste! O Gott, thue das Beste, wenn ich auf der Kanzel stehe! Gieb mir ein einsames, stilles, Dich innig liebendes Herz! Gieb mir Stille, daß meine Laute aus der tiefsten Stille komme! O bewege Herzen und Gemüter zu Deinem Gehorsam! Um JEsu willen! Amen.




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