Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am 3. Sonntag nach Epiphanias 1835

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Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres
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Am 3. Sonntag nach Epiphanias.
(Tag der Bekehrung Pauli.)
(Nürnberg 1835.)


Apg. 9, 1–22. Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden wider die Jünger des HErrn, und ging zum Hohenpriester und bat ihn um Briefe gen Damaskus an die Schulen, auf daß, so er etliche dieses Weges fände, Männer und Weiber, er sie gebunden führte gen Jerusalem. Und da er auf dem Wege war und nahe bei Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel. Und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgest du mich? Er aber sprach: HErr, wer bist Du? Der HErr sprach: Ich bin JEsus, den du verfolgest. Es wird dir schwer werden wider den Stachel löcken. Und er sprach mit Zittern und Zagen: HErr, was willst Du, daß ich thun soll? Der HErr sprach zu ihm: Stehe auf und gehe in die Stadt; da wird man dir sagen, was du thun sollst. Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen und waren erstarrt, denn sie hörten eine Stimme und sahen niemand. Saulus aber richtete sich auf von der Erde, und als er seine Augen aufthat, sah er niemand. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn gen Damaskus. Und war drei Tage nicht sehend und aß nicht und trank nicht. Es war aber ein Jünger zu Damaskus, mit Namen Ananias; zu dem sprach der HErr im Gesicht: Anania! Und er sprach: Hier bin ich, HErr! Der HErr sprach zu ihm: Stehe auf und gehe hin in die Gasse, die da heißt die richtige, und frage in dem Hause Juda nach Saulus mit Namen von Tarsus; denn siehe, er betet, und hat gesehen im Gesicht einen Mann mit Namen Ananias zu ihm hineinkommen und die Hand auf ihn legen, daß er wieder sehend werde. Ananias aber antwortete: HErr, ich habe von vielen gehört von diesem Manne, wie viel Übels er Deinen Heiligen gethan hat zu| Jerusalem; und er hat allhier Macht von den Hohenpriestern, zu binden alle, die Deinen Namen anrufen. Der HErr sprach zu ihm: Gehe hin, denn dieser ist Mir ein auserwähltes Rüstzeug, daß er Meinen Namen trage vor den Heiden, und vor den Königen, und vor den Kindern von Israel. Ich will ihm zeigen, wieviel er leiden muß um Meines Namens willen. Und Ananias ging hin, und kam in das Haus, und legte die Hände auf ihn, und sprach: Lieber Bruder Saul, der HErr hat mich gesandt (der dir erschienen ist auf dem Wege, da du herkamst), daß du wieder sehend und mit dem heiligen Geist erfüllet werdest. Und alsobald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen und nahm Speise zu sich und stärkte sich. Saulus aber war etliche Tage bei den Jüngern zu Damaskus. Und alsobald predigte er Christum in den Schulen, daß derselbige Gottes Sohn sei. Sie entsetzten sich aber alle, die es hörten, und sprachen: Ist das nicht, der zu Jerusalem verstörte alle, die diesen Namen anrufen, und darum hergekommen, daß er sie gebunden führte zu den Hohenpriestern? Saulus aber ward je mehr kräftiger, und trieb die Juden ein, die zu Damaskus wohnten, und bewährte es, daß dieser ist der Christ.

 Es ist auf Erden nichts Schöneres, als ein zerbrochenes Herz und ein geängsteter Geist, welcher betend seine Zuflucht zu dem einzigen Helfer und Heiland JEsus Christus nimmt, – ja, nichts ist so hehr und heilig auf Gottes Erdboden, als die betende Seele des erlösten Sünders. Sie hat sich aufgemacht mit Adlersflügeln, verlassen, was von der Erde ist, – aus ihrem Herzen verstoßen, was weltlich ist, und ein Strahl der Gnade Gottes, vor dem sie steht, das Morgenlicht einer andern Welt rötet ihre Wangen. – Das habe ich empfunden, als ich meinen heutigen Text las, und es sei mir darum heute eine liebe Aufgabe, welche zu lösen mein getreuer Heiland mir verleihen wird, daß ich euch die Geschichte der Bekehrung Pauli bis zu jenem Augenblick vor die Seelen führe, in welchem der HErr dem Ananias erscheint und zu ihm spricht: „Gehe hin zu Saulus; denn siehe, er betet!“

 Wenn Du mir verliehest, Hirte Deiner Schafe, daß ich heute eine Seele, die vor Dir mit gewandtem Angesichte flieht,| vor Dir, ihrem Heiland, – im Fliehen erhaschte, ihr Auge auf Dich wenden, zu Deiner heiligen, erlösenden Liebe kehren und durch Deines Geistes Kraft im Worte – zum Gebete hinreißen könnte, – daß sie betete und sich für alle Ewigkeiten Dir übergäbe; – wenn ich über ihr Deine Gnade anrufen und sprechen dürfte: „Kehre ein bei dieser Seele, denn siehe, sie betet!“ und Du kämest und hälfest ihr: – Hirte Deiner Schafe, so hättest Du heute ein Schaf gefunden, und es wäre am Abend dieses Tages Freude vor Dir und Deinen Engeln über einen verlorenen Sohn, der wiederkam, – über einen Toten, der lebendig geworden, – über einen Sünder, der Buße that! – Dir stell’ ich’s heim: ich bin Dein – fördere das Werk meiner Hände, Du Liebe ohne Maßen! Amen.


I.
 Als der treue Zeuge JEsu Christi, Stephanus, durch Mörderhände der Menschen mit dem Märtyrerkranze ewiger Ehren gekrönt, heimkehrte zu Seinem Heilande, entstand in Jerusalem eine große Verfolgung der ganzen Christengemeinde. Sie mußten in alle Örter Judäas und Samarias wie Schafe vor dem Wolfe zerstreut werden, auf daß durch sie allerorten die Ehre des Lammes, welches erniedrigt ward, den armen Seelen kund würde. Unter allen Verfolgern aber war zu jener Zeit in Jerusalem keiner, welcher an Wut und Glut einem pharisäischen Jüngling von Tarsus glich; sein weltberühmter Name ist Saulus. Der ging hin und her in die Häuser, spürte aus, wo etwa ein Christ versteckt war, und zog hervor Männer und Weiber und warf sie ins Gefängnis. Der HErr hatte Seine Absichten dabei, warum ER ihm das gelingen ließ – ER hatte seinen stolzen Verfolgungswellen schon das Ziel gesetzt, wo sie brechen und zu JEsu Füßen sich schmiegen mußten, wie ein Hündlein unter den Fußschemel seines Herrn, wo ER sprechen wollte: „hie sollen sich legen deine stolzen Wellen!“ Als in Jerusalem kein Christ mehr war, denn nach des HErrn Willen die heiligen Apostel, welche keine Qual berühren durfte, – da wurden für Saulus die| Mauern der Stadt zu eng. Er meinte, nach des HErrn Weissagung, Gott auf diese Weise einen Dienst zu thun, – ging zum Hohenpriester und bat ihn um Briefe gen Damaskus, wo viele Juden wohnten, damit er Vollmacht hätte, zu thun zu Damaskus wie in der heiligen Stadt. Mit den Briefen im Busen schnaubte er hinaus, und sein Leben war dazumal Dräuen und Morden wider die Jünger des HErrn. So eilte er vorwärts ohne Rasten, nach Damaskus hinauf, der Wasserstadt, wo eine junge Gemeinde unter des HErrn Flügeln die Tage ihrer ersten Liebe ihrem Christus darbrachte. Aber, sie war still, die Stadt Damaskus, ihre Auen grünten, ihre Kanäle flossen dahin. Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet und unter dem Schatten des Allmächtigen trauet, der fürchtet sich vor keinem rauchenden Löschbrand Saulus, sondern spricht getrost zu dem HErrn: „Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich traue!“

 O Saulus, Saulus, eile, brause dahin! Jawohl, nach Damaskus sollst du, das hat der HErr in Seinem Herzen längst gesagt. Aber merke dir auf den Weg den Spruch: „Des Menschen Herz schlägt seinen Weg an, aber der HErr allein giebt, daß er fortgehe!“ Du gehst nach Damaskus, du willst nach Damaskus, du kommst nach Damaskus; aber dein Weg geht doch nicht hinaus! Halleluja! Saul, Saul, geliebter Bruder Saulus, deine Stunde hat geschlagen!

 Geliebte Seelen, während Saulus die Beschwerden seiner segensvollen Reise trägt, stehen wir ein wenig still, schlagen an unsere Brust und sinnen nach! Welch ein Wüterich und Scheusal Gottes war Saulus, ehe der HErr ihn heimsuchte! Wer hätte vermutet, daß aus ihm der größte aller Apostel werden, daß er, der überflüssige, der dreizehnte, die gezwölfte Zahl an Gnaden und Gnadenkraft übertreffen würde? Sehet, wir Menschen gehen allesamt in der Irre, wie Schafe, ein jedes erwählt sich seinen Weg, ein jedes sieht auf seinen Weg, verfolgt ihn eigensinnig, und den Weg des Friedens kennt kein Sterblicher durch angeborene und eigene Weisheit. Der Weg ist schmal und die Pforte ist enge, die zum Leben führt, und ach! wie wenige sind es, von denen sie gefunden| wird! Es sei denn, daß ER sich erbarme und gebe Seinen heiligen Geist aus Seiner Höhe, so ist eitel der Menschen Dichten – auch unser, auch unser Dichten! Erhebe sich keiner, daß er nicht sei, wie Saulus – ist doch auch keiner unter uns, wie Paulus! Viele unter uns waren in vorigen Zeiten in ihrem Herzen wider die Jünger des HErrn so wütend, wie Saulus, um zu sein, wie Saulus, fehlten ihnen nur die Vollmachtsbriefe, die jener hatte, und der Feuereifer, den der eine hat, der andere nicht. Manche unter uns sind noch, wie Saulus: ihr Herz voll Grimm gegen die verhaßte uralte Lehre der Wahrheit und gegen den Christus, der mitten unter den Gemeinden wandelt, denken sie nicht an Bekehrung, nicht an Gebet – ach! ohne Gott, von wildem Haß gegen das Himmelreich verzehrt, gehen sie dahin, schaden dem Reiche Gottes im Grunde nie, denn ein Verfolger macht hundert Bekenner, nur sie selbst haben die Qual in ihrer Brust! –
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 O nur getrost, ihr Feinde des Evangeliums! Aus Stephanus’ Tod wird Saulus geboren! Nur Geduld! Noch ist nicht aller Tage Abend geworden, noch ist nicht jede Sonne untergegangen! Die Hand des HErrn ist nicht zu kurz! Arme, geliebte Feinde meines HErrn, die ihr so traurig in der Versammlung des Hauses Gottes steht, wie Satan, da er unter der Versammlung der heiligen Engel vor Gott trat, Hiob zu verklagen! Ihr betet nicht zu JEsu und Seinem Vater und Seinem Geiste: „Zu uns komme Dein Reich!“? Wohlan! Wisset, daß zu Saulus das Reich Gottes kam ohne sein Gebet, wie auch Luther in der zweiten Bitte jauchzt: „Das Reich Gottes kommt wohl ohne unser Gebet.“ Wer steht euch dafür, daß ihr noch als Feinde heimgeht in einer Stunde, hie Schwert des HErrn und Gottes Wort, das da tötet alle Feindschaft und füllt die Seelen vormaliger Feinde mit heiliger, brünstiger JEsusliebe! – Feinde JEsu! Ihr erwählt euch etwas anderes, als den König mit der Dornenkrone! Euch ist ER zu klein, und ihr dünkt euch zu groß, als daß ihr euch eines leidenden und sterbenden Heilandes und Königs für bedürftig hieltet! Aber wisset ihr, was da spricht der Dorngekrönte, in dessen Händen die Welt und ihre| Schicksale ruhen? – ER spricht zu Seinen Feinden: „Ihr habt Mich nicht erwählt, aber Ich habe euch erwählt!“ Wie könnt ihr nein sagen? Ist nicht das Herz ein betrügliches Ding – kann ER’s nicht wenden, kann ER nicht das flüchtige Ding fest machen in Seiner Gnade? – Nun denn, mein Held! mein JEsus! lege Ehre ein und siege! Schmücke Dich schön, gürte Dein Schwert an Deine Seite; zeuch einher, der Wahrheit zu gute! Siege mitten unter Deinen Feinden! Es müsse Dir gelingen in Deiner schönen Pracht, und Deine Saule laß werden Leute Deiner Hand, die Deinen Namen preisen und Dein Blut, o Lamm Gottes! Halleluja!


II.

 Saulus war nahe bei Damaskus. Sein Herz war finster, sein Gewissen wachte und störte ihn, wie manchmal ein Wurm im Täfelwerk der Kammer in stiller Finsternis nagt und lispelt. Was für Gedanken auf dem Wege ihm mögen aufgestiegen sein, das weiß der HErr! Aber eine sehr ernste Zeit war es für ihn. Da lag vor seinem Auge die berühmte Stadt, in welcher der Juden eine so große Menge wohnte, daß unter Nero zehntausend getötet werden konnten, ein großes Feld für einen Eber, der wütend kam, darin zu wühlen, eine große Ernte für Saulus, denn wo viele Juden, da waren in der ersten Zeit auch viele Christen! – Nun kam er, so sagt die uralte Sage, zu einer Brücke vor der Stadt, über die sollte nach dem Beschluß des Hochgelobten kein Saulus kommen, kein hochmütiger Trotz wider Sein Reich! Der HErr geht Seinen Feinden nicht weit entgegen, Er läßt sie nahe kommen mit ihrer Wut. Es ist Ihm ein Kleines, sie in den Staub zu betten, wenn’s Ihm darauf ankommt, muß eine Brücke und ein Wässerlein sie hemmen! Denn ER ist groß – was kann ER nicht?

 Als Saulus an die Brücke kam, da auf einmal umleuchtet’s ihn von oben her, die Klarheit des HErrn umleuchtete ihn, er sah auf einen Augenblick und sah den König des Himmels im aufgethanen Himmel stehen! – Wenn einst Deine Frommen an jenem Tage, HErr JEsu, Dich| werden sehen, das wird eine Freude sein, – nicht wahr, Du lieber, großer Gott! Den Deinigen bist Du ja nicht fürchterlich, geschlachtetes Lamm, unsere Zuversicht! Aber Saulus, – da er Dich an der Brücke sah, da Du Damaskus segnetest, ach, er war Dein Feind! Darum erschrak er, darum fiel er zu Boden, darum ward er blind, darum sah er nicht mehr, bis daß er rief: Hosianna!

 Liebe Seelen! Was dem Paulus bisher unsichtbar war, das sah er an jenem Tage, an welchem es dem HErrn gefiel, ihn zu erleuchten. JEsum sah er, den er unter die Toten, ja unter die Übelthäter, selbst unter die Verfluchten gerechnet hatte. Er war der einzige Ungläubige, welcher Ihn nach Seiner Auferstehung mit leiblichen Augen sehen durfte, der einzige, der nicht Lust hatte zu glauben und, damit er eines Apostels Zeichen hätte, durch Schauen zum Glauben kam. – O Brüder! Zwar ist es uns verordnet, daß wir durch Glauben und nicht durch Schauen selig werden sollen. Aber der Glaube ist doch auch ein Schauen, ein Schauen des Geistes in Dinge, welche der Welt verborgen sind. Am Tage, da wir vom Wort und Geist des HErrn umleuchtet werden, schaut unsere Seele, was sie vorher nie gesehen hatte, die Herrlichkeit im Kreuz, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater. Die Welt kann’s nicht erkennen, denn es ist nicht möglich, daß man durch eigene Vernunft und Kraft JEsum Christum erkenne! Das Auge ist blind von Natur, und die Vernunft ist verfinstert von Geburt her; aber der HErr giebt Auge und Vernunft der Kirche, wie sie bei keinem Weltweisen sich finden; der HErr giebt einen neuen Sinn, der da geschaffen wird zu Ehren des Gekreuzigten und Seiner Kreuzesherrlichkeit und zum Heil der Seelen!

 Ferner, Brüder, was dem Paulus vorher sichtbar war, dafür erblindet er an der Brücke bei Damaskus. Die ganze sichtbare Welt verliert den Schein, sein Auge hat den HErrn gesehen, des HErrn Glanz hat seines irdischen Auges Glanz ausgelöscht, nur ein Bild steht ihm noch vor Augen, das kann er nicht vergessen: der HErr, der ihm in himmlischer Klarheit erschienen war! – So ist’s, Seelen! Wenn der| HErr mit dem Lichte Seiner Gnade in die Nacht der Herzen scheint, und sie zu Lichtkindern umgewandelt werden, dann verliert zuerst die ganze Welt ihren Glanz und Wert, und man sieht nichts, als Ihn, nur Ihn, der einem das Herz dahinnimmt in Seiner Liebe! Es ist, als wäre nur ER, – als wäre kein Himmel und keine Erde, keine Kirche und keine Welt, ER ist dann alles! – Selig das Herz, das in Seinem Anschauen alle Liebe und alles Gedächtnis für die Welt verliert, und nur eine Leidenschaft behält, nämlich Ihn, den Gekreuzigten, nur Ihn!
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 Und doch, geliebte Seelen, ist ein Herz noch seliger! Wenn die Sonne aufgeht am Morgenhimmel, und ihr mit herzlichem Wohlgefallen ihr ins Angesicht schaut, welches Gott mit leuchtender Strahlenpracht geziert hat, und ihr schaut dann hinweg, dann geht es euch wie Paulus, ihr seht nichts als Sonnen, und die Welt, für welche diese Sonne aufgegangen ist, die seht ihr nicht mehr. Wie aber dann euer Auge geblendet ist und ihr nur dann ein gesundes Auge habt, wenn ihr die Sonne am Himmel und in ihren Strahlen die ganze Welt zu erkennen und zu unterscheiden vermöget, so war Paulus auch noch nicht am Ziele, als er die Sonne des Geistes gesehen, und ihm darob sein irdisches Auge erloschen war, sondern dann war er und seine Seele genesen, als unter Handauflegung Ananiä die Schuppen von seinen Augen fielen, und er im Lichte seiner Sonne die Welt ansah, alle Dinge nach dem HErrn und Seinem Sinn beurteilte und ihnen Wert beimaß und absprach, je nachdem sie zu Seinem Reiche dienen. Da war er vor Pniel übergegangen, denn die Sonne ist auf Erden nicht da, daß man allein sie anschaue und erblinde, sondern daß man in ihrem Schein sich freue und den Schöpfer in Seinen Werken lobe! Zuvor war einem Christus ein und alles, nun ist ER das Eine in allem geworden! ER ist einem lieber als alles, aber weil alle Dinge zu Seinen Ehren geschaffen sind und durch Sein Blut gereinigt, so fürchtet man sich, zu verachten, was der HErr ehrt! Man liebt Seine Kirche, man freut sich des Himmels, des ewigen Hauses, und der Erde, des Hauses der Vergänglichkeit,| mit dem Feuerblick des Geistes durchschaut man alle Dinge; als ein besonnener Mann wandelt man in himmlischer Weisheit auf Erden, thut hier des HErrn Werke mit Freuden, aber das Herz geht nach oben und ist nur dort beim Heiland daheim!

 So sehen wir, daß die Erleuchtung des Apostels und die Erleuchtung aller Menschen mit einem Erblinden für die Welt beginnt und mit einem hellen Geistesauge für die Welt endet, daß aber alles Licht JEsus Christus ist!

 Liebe Seelen! Ist euch JEsus Licht und Sonne, vergeht euer Leben in Seinem Schein? Seid ihr blind für die Sichtbarkeit, seht ihr sie nur an, wie man sie mit dem neuen Auge ansieht, welches uns durch die Erleuchtung des heiligen Geistes zu teil wird? Oder hat die Welt für euch auch noch ohne Christus einen Glanz und Wert? Deucht es euch nicht allein, woran ihr recht hättet, Hochmut, wenn man die Welt verachtet, sondern auch, wenn man sie allein in Christo JEsu ansieht, in Christo JEsu achtet? wenn man alles nur so hoch achtet, als es im Reiche Gottes dient? Ach, Brüder, wenn das letzte wäre, dann, ich muß es euch sagen, ich möchte es euch unvergeßlich sagen, dann seid ihr selbst noch hochmütig und kennt die wahre Demut nicht, welche allein unter JEsum sich beugt und demütig mit Seinem Wohlgefallen zufrieden ist, die Welt mag sagen, was ihr wohlgefällt!


III.

 Als St. Paulus vom Lichte der Erscheinung JEsu geblendet am Boden lag gleich den Häschern in Gethsemane, da demütigte ihn der HErr, daß er demütig ward. Denn ohne Demut nützt hohe Offenbarung nichts. Der HErr rief vom Himmel: „Saul, Saul, was verfolgst Du mich?“ Am Boden liegend seufzte Saulus: „HErr, wer bist Du?“ – „Ich bin JEsus, den Du verfolgest!“ antwortete der HErr.

 Welch eine Antwort, welche Reden des HErrn! Wie mögen sie in das Herz Pauli hinabgefallen sein wie brennende Pfeile, die tiefe, schmerzvolle Wunden schlagen! – Ich bin| JEsus von Nazareth! Siehst du, Saulus, siehst du Meine Herrlichkeit? Siehst du, was aus der Dornenkrone für Licht und Strahlen gewachsen sind? Siehst du, daß die Predigt der Jünger wahr ist, daß Ich auferstanden, daß Ich aufgefahren bin, daß Ich lebe und regiere in Ewigkeit, daß in Meinen Händen liegt alle Macht und Gewalt? Du liegst am Boden, armer Saul, – was willst du länger wider Mich dich auflehnen? – Mich, ja Mich verfolgst du! Was du thust einem unter Meinen geringsten Brüdern, das thust du Mir. Ich und die Meinen, wir sind eins! Fürchtest du dich nicht? Meinst du, Ich sei ein Hirte, der seiner Schafe Jammer gleichgültig ansieht? Saul, Saul, was denkst du, diese Schafe sind Mein – Mein Volk, – erwählt von Mir zu Preis und Ehre! Sie sollen sich ausbreiten, sie sollen die Welt einnehmen, sie sollen das Erdreich besitzen! Ich will es! Was willst du? – Warum, warum verfolgst du Mich? Ich habe deine Wut gesehen und habe deiner bisher geschont. Aber warum hast du das gethan? Was habe Ich dir gethan, daß du Mir so vergelten willst? du, den Ich auserwählt habe von Mutterleibe an, daß du Mir ein auserwähltes Rüstzeug würdest, zu tragen Meinen Namen vor alle Geschlechter der Erde! Du, dem Ich einen Stuhl gesetzt in der Zahl der heiligen Apostel, – du, für den Ich auch verschmäht und verspottet bin und gekreuzigt und getötet! Saul, Saul, was willst du, was verfolgst du Mich? –
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 Ach! das hatte Saul nie gedacht! Er glaubte seinem Gott gedient zu haben von reinem Herzen, und wie war es nun! Er stand da vor dem Richter der Welt, und wenn ER mit ihm hätte wollen ins Gericht gehen, so wäre er unrettbar gewesen! Aber ER redete gnädig, ER erwies sich als den, der da sanftmütig und von Herzen demütig ist, der nicht wiederschilt, wenn ER gescholten wird, – der segnet, die Ihm fluchen! Und einen solchen Heiland hatte er beleidigt! Zitternd und voll Schrecken lag Saulus vor dem Himmlischen, dessen Zorn und Gnade zu gleicher Zeit auf ihn hereinzubrechen, ihn zu erdrücken drohte. Zitternd und voll Zagen, von heimlichem Vertrauen getrieben zu dem,| dessen majestätische Nähe von den Strömen Seiner Liebe gemäßigt war, fragte er den HErrn: „HErr, was willst Du, daß ich thun soll?“ Der starre, eigensinnige, stolze Pharisäer Saulus ist getroffen von der Hand des HErrn – das Herz ist ihm zerbrochen, der Geist ist ihm geängstigt, die Rechte des HErrn hat den Sieg behalten, Halleluja! Saulus, Saulus liegt auf der Erde, am Schemel der Füße des ewigen Königs – demütig ist er geworden, JEsum will er hören, JEsu gehorchen! Ehre JEsu, Heil dir, Saul, so geht man zum Himmel hinein! Gelobt sei Gott, nun wirst du gewiesen in die Gasse, die da heißt die richtige, zum Evangelium des Friedens, zum Aufthun deiner Augen, auf daß du vielen die Augen aufthust, auf daß du viele zur Gerechtigkeit weisest, und werdest ein Stern an jenem Tage, der alle Sterne und Lehrer an Klarheit übertrifft.

 Ja, die Demut feiert ihren Sieg in unserm Text! Nicht allein Paulus fragt demütig, sondern auch der HErr antwortet sehr demütig. „Steh auf, geh in die Stadt,“ spricht ER, „da wird man dir sagen, was du thun sollst.“ ER weist ihn hinein zu Ananias, der HErr weist von sich zu einem Menschen, damit der Mensch den armen Sünder wieder zu Ihm weisen soll! Der HErr weist ihn an Ananias, denn der HErr will, daß man durch Menschen zu Ihm geführt werde, ER ehrt die Predigt des Evangeliums, damit es Wahrheit werde: „Der Glaube kommt aus der Predigt.“ – Paulus steht auf, seine Augen sehen nicht, seine Füße zittern, er geht über die Brücke, er geht nach Damaskus, aber nicht, wie er’s gedacht hatte. Zum Zerstören war er gekommen, flehend geht er in die Stadt, auf daß er gebaut werde! O JEsu, wie wunderlich führst Du die Deinigen, wie herrlich führst Du sie! Wie mächtig bist Du! – Paulus geht in die richtige Straße nach Damaskus zu Juda, da wohnt er, da hängt er seinen Schmerzen, seiner Reue nach, seine Augen sind finster, sonst wären sie von seinen Thränen finster geworden, drei Tage ißt und trinkt er nicht und, teure Brüder, dann fängt er an zu beten!

 Er betet um Licht und Trost, um Frieden und Freude,| um Gnade und Vergebung, betet innig, anhaltend, mit Macht, belehrt vom Geist, der immer mehr ihn trieb, auf daß er ein Kind Gottes würde, und Saulus fand Erhörung über Bitten und Verstehen. Vom Weinen und Kummer, von Reue und Schmerz, von Schreck und Hunger und vom Feuer des Gebets verzehrt, fällt er in einen tiefen Schlaf. Und da er schläft, da sieht er im süßen Traum einen Mann, mit Namen Ananias, hineingehen zu sich, und seine Hände liegen auf seinem Haupt, und seine Augen genesen: die Blindheit, Gottes Strafe, wird weggenommen, und die Gnade kehret ein. – Und nachdem der HErr der betenden Seele Pauli im Traumbild die Erhörung gezeigt, erschien ER dem Ananias und spricht: „Stehe auf etc. – denn siehe, er betet!“

 Ananias, er betet, soll Ich ihn nicht hören? Steht es nicht in Meinem Wort: „Wer den Namen des HErrn anruft, der soll selig werden! Wendet euch zu Mir, so werdet ihr selig, aller Welt Ende!“ Ananias! die Sünde ist bei ihm mächtig, mächtiger ist Meine Gnade; Ich vergebe ihm, Ich helfe ihm auch, Ich habe ihn erlöst und ihn mit Namen gerufen, Ich will ihn groß machen bei den Heiden und Mich durch ihn, Ich will ihn retten durch Gemeinschaft Meiner Leiden! Ananias! geh hin, sag es ihm! sag ihm: er soll genesen, mit dem heiligen Geiste erfüllt werden in der heiligen Taufe und Meinen Namen predigen, daß seinesgleichen Prediger nicht sein soll, solange die Welt steht! Geh hin, Ananias! Denn siehe, er betet! ein Saulus betet, und Ich lasse mich erbitten! Ehe er rief, habe Ich ihn erhört! Geh hin! denn siehe, er betet!

 Brüder! was gilt doch vor dem HErrn das Gebet! Wie freut sich der HErr, daß Saulus betet! daß er nicht mehr stolz auf eigene Kraft vertraut, daß er vom HErrn Leben und Seligkeit erfleht!

 Brüder! das Gebet Sauli ist eine Frucht des letzten Gebets Stephani! Hätte Stephanus nicht gebetet: „rechne ihnen ihre Sünde nicht zu!“ so wäre der Mörder Saul zu jener heilvollen Brücke bei Damaskus nicht gekommen! Das| Gebet Sauli aber hat zur Frucht die Bekehrung vieler Heiden, deren Prediger er geworden ist! Solange der Mensch noch nicht demütig geworden ist, solange betet er nicht! Er traut auf eigene Kraft und findet in sich nur Hülfe, er verachtet das Beten, denn er hält es für eine Schwachheit! Ach, möchten alle Feinde des Gebets, alle Feinde JEsu es versuchen, zu beten, ob sie ihr Herz erheben können, ob sie imstande sind, nur mit Ihm zu reden! Sie können’s nicht, denn sie glauben nicht! Sie dürfen nicht mit Gott reden, denn sie hassen ihn! –

 Ihr Seelen, die ihr glaubet, es mit dem Christentum ernstlich zu nehmen, wisset, all euer Fragen und Suchen hilft euch nicht zur Erhörung Pauli! Betet! Daran ist zu erkennen, daß es mit dem Suchen nach Wahrheit ernstlich ist, wenn man zum Beten getrieben wird! Wenn ein Saulus anfängt zu beten, dann wird er bald ein Paulus geworden sein! Das Gebet hat Christi Gunst, dabei bleibt es!




 An die Feinde meines HErrn kehre ich nun noch meine Worte! Feinde meines HErrn, so rede ich euch an! Aber seid nicht unwillig, sprecht nicht: wir sind’s nicht! Ihr seid es; denn wer Seine Jünger verfolgt, der ist Sein Feind! Feinde meines HErrn, warum hasset ihr den Himmelskönig? warum den, der es so treu mit euch meint? Feinde, die ich meine – nicht allein, die ihr wider Ihn ankämpfet und das Gedeihen Seines Reiches, sondern auch, die ihr mit eurem Leben Ihn beleidigt, das Ihm nicht gefallen kann, weil ER euch die gerechte Strafe alles Bösen bringt, weil ER euch nicht retten kann, warum seid ihr Seine Feinde? Was hat ER euch gethan? Braucht ihr nicht auch eine Erlösung? Seid ihr nicht Sklaven eures Eigenwillens, eurer Sünde, eurer Schwäche, eurer Lust? Wollt ihr ewig in euren Ketten bleiben? Lastet nicht auf euch schon das böse Gewissen wie ein Grabstein? wird er euch nicht, wenn eure Seele scheidet, hinabdrücken in jene Ewigkeit, wo euer keine Freude wartet? Was hat euch JEsus gethan, daß ihr Ihn flieht? Ist das| euer Dank, daß ER für euch Sein Blut und Leben aufgeopfert hat, daß ER, obwohl in göttlicher Gestalt, sich für euch bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz erniedrigte! daß ER euch, ehe ihr geboren wurdet, das Bett der Gnade, und ehe ihr sterbet, die Wohnung im Himmel bereitet! daß ER euch warnt ohne Unterlaß, daß ER euch wie ein guter Hirte nachgeht, daß ER von euch nicht weicht? Für solche Freundschaft gebt ihr solche Feindschaft? Was habt ihr dazu für Ursache? was habt ihr für Grund! Geht in euch – ihr werdet erfunden, als die ihre eigene Seele erwürgen!

 O Brüder! Brüder! Die Feinde des HErrn können nicht beten! Kommt zu Hülfe ihrer Ohnmacht, ihr, die ihr angethan mit der Macht und dem Geiste eures Gottes, beten könnt! Das Gebet können sie uns ja nicht wehren, wenn sie unserer Liebe ausweichen, wenn sie der erlösenden Liebe des HErrn ausweichen, – diese Liebe können sie nicht hindern, daß wir für sie beten! Es bete, wer beten kann. Es stelle sich das Heer der Gläubigen – ein jeder in seiner Kammer – vor den Gnadenthron. Der ewige Fürbitter ist unter uns; der ewige Fürbitter betet vor: „Vater, vergieb!“ Der ewige Fürbitter betet mit uns für alle Saule, daß sie mögen beten lernen, daß aus allem Volk ein betendes Volk werde! Betend Volk ein selig Volk! Betender JEsu, lehre uns beten, lehre Deine Feinde beten! – Erhöre, erhöre uns! Amen.

 O JEsu, lehre mich besser beten und predigen! Ich sehe wohl, daß ich nur kann, was Du verleihst, verleih nach Deiner Gnade! Ich bin sehr elend und arm! Ach! Amen.




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