Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am Sonntag Judica 1836

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Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres
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Am Sonntag Judica.
(Altdorf 1836.)


Joh. 13, 1–15 (siehe S. 264).

Von JEsu Hoheit und der Seinen Hochmut.

 Von der Liebe JEsu im Fußwaschen, von Seiner Demut im Fußwaschen, von der Nachfolge JEsu im Fußwaschen haben wir gepredigt. Wenigstens noch einmal, heute nämlich will ich diesen Text vor mich nehmen und im Gegensatz zu den zwei letzten Predigten von JEsu und der Seinen Demut nun predigen von JEsu Hoheit und der Seinen Hochmut aus der Geschichte vom Fußwaschen.

 Der Herr mit Seinem Geiste sei mit euch und mit mir! Um JEsu Christi willen! Amen.




 Daß JEsus Christus ein König sei über alle Könige und dazu in die Welt gekommen, daß Sein das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit sei, daß Ihm gebühre Lob und Preis und Dank und Anbetung, das ist offenbar. Denn es beugen sich ja im Himmel und auf Erden und unter der Erden alle Kniee vor Ihm und werden sich beugen, und alle Teufel fahren auf Sein Wort aus. Von dieser Seiner ewigen, unbestrittenen Majestät und Hoheit reden wir heute nicht; sondern von Seiner Hoheit in der Niedrigkeit. Denn eben weil Er so hoch und über alles erhaben ist von Geburt an, muß auch in Seiner Niedrigkeit eine verborgene wunderbare Hoheit wohnen. Seine Niedrigkeit muß die tiefste, die größte Offenbarung Seiner Hoheit sein. Und von diesem Seinen| Geheimnis, welches die Engel zu schauen gelüstet, möchte ich euch gerne mit ehrfürchtiger Hand den Schleier ein wenig wegziehen, auf daß ihr sehet, auf daß sich in euch spiegele des HErrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht und Seine Leidensschöne euch offenbar werde.

 Vor vierzehn Tagen haben wir die Demut unseres HErrn zuerst im Fußwaschen gefunden. Eben darin finden wir fürs erste Seine Hoheit. ER wäscht den Jüngern die Füße, bedient sie, wie ein Sklave; und da er sich vom Boden aufrichtet, ist Sein erstes Wort: „Ihr heißet mich Meister und HErr, und ihr sagt recht daran, denn ich bin’s auch!“ Damit macht er das Zeichen der Unterthänigkeit zum Zeichen der Herrschaft und gebietet auch allen denen, die groß und vornehm sein wollen in Seinem Reiche, Ihm darin nachzuahmen. Denn in Seinem Reiche ist eine Ordnung, welche im Vergleich dieser Welt gerade die entgegengesetzte und umgekehrte genannt werden muß. In dieser Welt nennt man die Gewaltigen gnädige Herren, im Reiche unsers Königs JEsu Christi werden die Ältesten wie die Jüngsten, die Größten werden die Kleinsten, und niemand ist geringer und kleiner geworden, als der ewige und große König, unser HErr JEsus Christus. Darum ist Er der Größte. Wie in einem Hause die Väter und Mütter die jungen Kinder bedienen und doch die Größten im Hause sind, so im Haus und Reich des HErrn: Er dient allen. Seine höchsten Engel haben nach Ihm den Vorzug, die Geringsten, die Kinder, zu bewahren und zu bedienen. Seine heiligen Apostel, die Fürsten Seines Reichs, die einst auf zwölf Stühlen sitzen und richten werden, sie gehen gleich Bettlern einher und predigen das Evangelium aller Kreatur. Sehet da ein Reich ohne Prunken, voll Wesen und Wahrheit, ohne Schein, voll äußerer Unscheinbarkeit, inwendiger Majestät. Da ist es nicht, wie in der Welt! In der Welt ist König, wer die Krone aufsetzt, daß sie schimmernd vom Haupte strahlt, hier ist König, wer sie ablegt, eines Knechts Gestalt anlegt und als Knecht die Füße seiner Knechte wäscht; und Demut heißt des Königs Glanz und Zier.

|  Und wahrlich, es ist auch größer eine Krone ablegen, als eine Krone aufsetzen; nichts werden in der Welt, als ihres Preises sich freuen!
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 Wir fanden die Demut JEsu vor vierzehn Tagen ferner in Seinem Versöhnungswerke, in Seinem Gehorsam, und zwar ebensowohl in dem leidenden, als in dem thätigen Gehorsam. Aber eben darin finden wir auch Seine Hoheit und die Offenbarung Seiner ganzen Größe. – Sechstausend Jahre steht die Welt, alle zwanzig Jahre geht eine Schar von Hundertmillionen Menschen zu Grabe. Jeder Mensch, auch der frömmste, hat zahllose Sünden auf sich liegen, jede Sünde eines jeden Menschen verwirkt zeitlichen und ewigen Tod als Strafe: welche Masse von Strafen ergiebt sich, wenn man auch nur mit einem flüchtigen Blick die zahllosen Sünden eines Menschen abschätzt, geschweige die zahllosen Sünden eines Menschenalters, einer Schar von Hundertmillionen. Und nun endlich die zahllosen Sünden aller Menschen, die in hundertundfünfzig hingegangenen Menschengeschlechtern zu Grabe gingen? Diese unaussprechliche, ja unausdenkliche Masse von Strafen auf sich nehmen, an sich alle abstrafen, erschöpft werden lassen, ist freilich Demut über Demut. Aber es ist nicht bloß Demut, sondern wer solche Demut leisten kann, wer diese Masse Strafen wegschaffen, abbüßen und der ganzen friedlosen Welt, den lebenden und hingeschiedenen Geschlechtern Gottes Frieden verschaffen kann, der ist ein Mann, welcher 6000 Jahre aufwiegt, ein Mann, der da sein muß, ehe die Welt gewesen ist, ein Mann, der da Gott ist, ein Mann, den man anbeten muß in tiefem Staub, und es ist klar, daß, solche Demut üben können, ein Zeichen überschwenglicher Größe und Hoheit ist. – Das gilt vom leidenden Gehorsam. Ebenso aber ist es mit dem thätigen Gehorsam. ER ist auf Erden eine demütige Knechtsgestalt. Sein ganzes Leben verzehrt sich wie eine reine Flamme, in Erfüllung, man muß sagen, in Verherrlichung der Gebote Seines himmlischen Vaters und in Seinem aufopfernden Dienste der Menschenliebe. Denn wie ER in Seinem leidenden Gehorsam es auf sich genommen hat, die Übertretung aller Menschengeschlechter durch Duldung der verdienten Strafen zu sühnen,| so hat ER es auch im thätigen Gehorsam übernommen, anstatt aller Menschen die Forderungen der göttlichen Gebote in aller ihrer Strenge zu befriedigen. Wie Adam und in ihm das ganze Menschengeschlecht abfiel und sündig wurde, so ist mit dem zweiten Adam Christus und in seiner Person das ganze Menschengeschlecht wieder auferstanden von dem Falle und opfert Gott und Seiner Gerechtigkeit. Christus JEsus leidet am Kreuz für alle, und alles, was Er gethan, was an Ihm heilig und lieblich ist, das hat ER wiederum anstatt aller gethan. ER hat einen so vollkommenen Gehorsam geleistet, daß ER vor Gott ebensoviel gilt, als wären alle Menschen, jeder für sich, vollkommen gehorsam und heilig geblieben. ER nimmt mit Seinem Leiden unsre Sünde und Strafe weg, weil wir aber dann doch noch ohne Gerechtigkeit, in Schande und Blöße erfunden werden, als die Bettler, die des Ruhmes mangeln, den sie vor Gott haben sollten, so erwirbt ER uns durch Seinen Gehorsam noch ein Kleid für unsre Blöße. Denn Sein Gehorsam, Seine Gerechtigkeit ist ein so großer weiter Mantel, daß er alle nackten Seelen decken kann. Alle Menschen, die da wollen, haben an ihm nicht bloß für einen Tag, sondern für die ganze Zeit ihres Lebens, für die Stunde ihres Todes, für den Tag des Gerichts, ja für die endlose Ewigkeit Gerechtigkeit und Freude in dem heiligen Geist. – Ob nun zwar nicht geleugnet werden kann, daß es für alle Menschen eine Demut ist, die ihresgleichen nicht findet, das Leben, das ganze Leben an anderer Statt und für andere dahinzubringen, so ist doch hinwiederum zuzugestehen, daß ein Mann, der nicht nur selbst ohne alle Sünde lebt, der nicht nur für sich alle Gesetze erfüllt, der es noch überdies auf sich nimmt, alle Gesetze anstatt aller Menschen und für alle Menschen zu erfüllen, der es nicht bloß auf sich nimmt, der es vollbringt und thut, der bei seiner Auffahrt der Welt die Gerechtigkeit zurückläßt, wie Elias seinen Mantel, ohne selbst arm vor Gott zu treten, der überdies vor Gott tritt mit dem größten Ansehn und für alle bittet in Kraft allmächtiger Bitte, daß dieser Mann ein Mann ist, dem keiner gleicht, der über alle ist, würdig zu nehmen Preis und Ruhm und alle Kronen aller Könige! Ja, dieser Demütige, der| für alle arbeitet, ist ein Herr aller. Er ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat Ihn auch Gott erhöhet und hat Ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist.

 Wir haben endlich vor vierzehn Tagen auch noch darin JEsu Demut gefunden, daß ER, obwohl erhöht auf Gottes Thron, dennoch sich ohne Unterlaß um alle und jede Seele kümmert, ihr nachgeht, sie mit dem Feuer Seiner Liebe beglücken will, daß ER es ist, der selbst gegenwärtig ist bei den menschlichen Handlungen der Kirche, daß ER die Kindlein tauft, daß ER die reumütigen Sünder absolviert, daß ER bei immer wiederkehrenden Sünden und Thränen der Buße der Seinen treuer Freund ist, sie immer aufs neue absolviert und ihnen die Füße wäscht, welche vom Wandeln staubig geworden sind, daß ER endlich sich selbst samt Seinem Leib und Blut zur Speise giebt. Alles das miteinander, in wenigen Worten zusammengefaßt, heiße nichts anders, als: ER ist es, welcher das Verdienst Seines Lebens und Sterbens den Menschen zueignet, ER hat ihnen Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist erworben, und nun ist ER bemüht, es in die Seelen niederzulegen, und jede Seele wissen, erfahren zu lassen, was das ist: Christus für uns gekreuzigt, Christus für uns unter das Gesetz gethan.

 Nun steht es keineswegs zu leugnen, daß eine solche Liebe, eine solche Demut des Hocherhabenen, welcher ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben, nach welcher ER sich herunterläßt, alle Seelen zu waschen, so befleckt, so schmutzig sie auch seien, anbetungswürdig ist. Aber es ist auch eine anbetungswürdige Größe darin verborgen. Denn es ist noch ein weiter Weg von der Erwerbung des Guts bis zur Zueignung. Hat Christus gleich alles erworben für alle, so ist doch der Mensch so arm, so schwach, so gefallen, daß er nicht einmal die Hand nach dem erworbenen Gute ausstrecken kann, und es nun allen geben, die Ihn segnen, daß sie thun, was ihnen befohlen ist, die Absolution segnen, die Predigt segnen, daß sie Frucht bringe: das ist nicht Menschenwerk, das ist Gotteswerk. Wer uns das Heil erworben, der kann es uns auch geben.| Es ist göttliches Werk, das wir erst auf den Knien erbitten müssen von Ihm, der’s allein kann. Über diesen letzten Punkt werden wir erst zur rechten Klarheit in dem neu beginnenden zweiten Teile von dem Hochmut der Jünger kommen. Denn dieser Hochmut kann nur fruchtbarlich in der Gegenüberstellung gegen die Hoheit JEsu betrachtet werden. Habet also Geduld, mir ferner zuzuhören.




 Den Hochmut der Jünger zeigen wir insbesondere voran an dem Jünger Petrus.

 Da der Herr den Jüngern allen die Füße gewaschen hatte, kam er, so scheint es, zuletzt zu Petrus. Dieser aber, der die Grundsätze des Reiches Jesu nach den Sitten maß, die in weltlichen Reichen Geltung haben, fand es unschicklich, daß der, welchen er noch in der Krone zu sehen hoffte, ihnen, seinen Unterthanen, die Füße wusch. Auch mochte wirklich ein Vergleich zwischen ihm selbst und seinem HErrn ihn zu dem Gedanken gebracht haben, daß er nicht wert sei, daß ihm von Christo die Füße gewaschen werden. Und nach seiner vorschnellen Natur, die einst schon bei der ersten Bekanntschaft mit Christo ihn gedrungen hatte, zu bitten: Gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch! die ihn gedrungen hatte, gleichfalls für des Herrn Leben zu sorgen, da er einige Tage zuvor auf der Herausreise nach Jerusalem gebeten wurde, zu rufen: „Herr, schone dein!“ rief er auch jetzt: „Du sollst mir ewig nicht die Füße waschen!“ Dies Benehmen Petri sieht nun, obenhin beschaut, aus, als wäre es eine demütige Scham, und es gefällt einem umsomehr, wenn man sich gegenüber den verstockten Judas denkt, der sich ganz ruhig von JEsu Christo die Füße waschen ließ, obwohl er sich in seinem Herzen bereits losgesagt und dem Satan übergeben hatte.

 Als nun Petrus gesagt hatte: „Du sollst mir ewig nicht die Füße waschen!“ antwortete ihm der HErr: „Werde ich dich nicht waschen, so hast du kein Teil an mir.“ Diese Antwort JEsu änderte nun mit einmal Petri Herz ganz in die gegenteilige Meinung um. Wie er zuvor sich in Ewigkeit nicht wollte von Christo die Füße waschen lassen, so wollte er nun| auf einmal Hände und Haupt samt den Füßen gewaschen haben. Und auch diese Unbeständigkeit muß einem oberflächlichen Betrachter gefallen, denn sie scheint aus herzlicher Ehrfurcht und Begier mit Christo teil zu haben, zu fließen und ist gegenüber der Beständigkeit und Beharrlichkeit, welche jener schauderhafte Judas trotz Fußwaschen und Abendmahl bewies, einem Engel des Lichtes gleich. Sie erscheint als ein treues und beständiges Lieben des Herrn, welches sich auch nicht scheut, Irrtum einzugestehn und über der großen und heiligen Konsequenz treuer Wahrheits- und Jesusliebe einzelne Inkonsequenzen und Schwachheiten gerne zugiebt.

 Aber dennoch erscheint das Benehmen Petri bei genauerer Betrachtung nur als Stolz, und seine liebenswürdig scheinende Offenheit verbirgt eine Selbstsucht, welche auch ihn nur desto mehr unter die Sünde beschließt. Zuerst will er allein sich in Ewigkeit von dem HErrn nicht thun lassen, was die andern Jünger von dem HErrn erfahren hatten. Auch dann will er sich’s nicht thun lassen, als ihn JEsus mit Verweisung auf ein darunter verborgenes Geheimnis zur Stille bringen wollte. Hernach aber, da er erfährt, es sei ein Geheimnis der Liebe unter der Fußwaschung verborgen, und der habe teil an JEsu, welcher gewaschen werde, will er wieder nicht zufrieden sein mit dem Teil, den andere Jünger haben, will er mehr teil an JEsu haben als sie, will Haupt, Hände und Füße gewaschen haben. Immer will er eine Auszeichnung vor den Jüngern, selbst in der Handlung, welche jeden Rangstreit wegnehmen soll, will er etwas Besonderes haben, besser sein, als seine Mitjünger. Immer hat er seinen eigenen Willen, selbst JEsu gegenüber, welchen hoch zu ehren er doch gewiß im Sinn zu haben glaubte. Sein Benehmen ist eben Stolz, und er hat vergessen, daß stiller, unverweilter, vertrauensvoller Gehorsam bei weitem die beste Demut ist. Bei seinem Benehmen fällt einem das schöne Lied ein: Merk, Seele, dir das große Wort etc.

 Dieser Hochmut in Form der Demut findet sich nun gar oft auch bei Gläubigen der heutigen Zeit und sonderlich, wenn man an die oben angegebene geistliche Bedeutung des Fußwaschens denkt. Denn ganz abgesehen von jenem groben| Hochmut, da der Mensch durch Buße und Almosen seine Sünde abzubüßen, das Versäumte nachholen zu können, aus eigner Kraft tugendhaft, ohne das Blut Christi gerecht zu werden glaubt, wie Heiden und Juden, ganz abgesehen von diesem Hochmut, den man am besten verschweigt, giebt es noch einen andern. Man nimmt nämlich zwar an, daß nur Christus für unsre Sünde genugthun, nur ER das Gesetz erfüllen konnte, daß ER Vergebung, Friede, Gerechtigkeit, Freude im heiligen Geist allein erwarten konnte, aber diese Güter des Heils zueignen, sich damit reinwaschen oder, was eins und dasselbe ist, durch herzlichen Glauben sich selbst und seine Seele damit stillen, das meint jeder selbst zu können. Viele hören das Wort von der allgemeinen Sündhaftigkeit und von dem einzigen Befreiungsmittel von derselben, das Wort von Buße und Glauben, und im Hui sind sie ihm beigefallen und reden ihm wieder das Wort, und, weil sie mit dem Munde es zugeben, bilden sie sich ein, sie hätten es ergriffen und geglaubt. Ehe sie es noch recht gehört haben, haben sie es schon aufgenommen, und ehe sie es verstanden haben, sind sie davon überzeugt, und ehe der Wind geblasen hat, triefen sie schon von der Morgenluft des Glaubens: sie rühmen sich, als seien sie mitten inne; sie sagen sich vor, wie’s gemeint ist. Alle Tage arbeiten sie, es fest zu halten, sie wollen sich es recht fest erglauben und bedenken nicht, daß im Leibe zwar arbeiten nützt, aber im Geiste niemand mit Laufen zum Ziele kommt. Ach, wie viele bringen es mit solcher blinden Mühe endlich dahin, daß sie wirklich meinen, sie hätten festen Glauben, und ist nichts weniger der Fall, als gerade dies. Kommt dann Sonnenhitze, gilt es, für seinen Glauben etwas zu leiden oder etwas zu entbehren, etwas aufzuopfern, so findet sich, daß ihr Glaube eine gemalte Quelle war, und gemalte Quellen, wenn sie auch allen Zauber der Darstellung hätten, sind doch dem Durstigen ein Greuel. Ja, der eingebildete Glaube, den der Mensch sich selbst angeschafft, ausgedacht, zugeeignet hat, der ist nichts, der bleibt vor der Trübsal nicht länger als der Schnee vor der Sonne.
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 Es kann sich eben niemand den Glauben nehmen, er werde| ihm denn von oben herab gegeben. Es macht eben kein Glaube das Herz gewiß und ruhig, als der von Gott geschenkte. Und wir können eben gar nichts, weder das Heil erwerben, noch es in unsre Seele legen. Das Heil stammt von Christo, und wer daran teil erlangen soll, der muß von Christo erst den Glauben selbst ausbitten, denn der Glaube ist das Organ, welcher das himmlische Teil ergreift. Wir können uns nicht einmal selbst den Sinn geben, der auf Gnade harrt, der Christo entgegengeht, der Christum ergreift: er ist nur ein Geschenk von dem Herrn und will erbeten sein. Der Herr aber will einen jeden erhören, der ihn darum bittet. Bitte den HErrn, so kommt ER, so giebt er dir Glauben und im Glauben teil an Seinem Heile. Glaube nicht, daß es ihm zu viel zugemutet sei, daß ER persönlich dich waschen soll, daß es ihm eine Unehre sei, überall im Werke zu sein. Diese Demut muß ER an dir üben, ER muß dir Buße und Glauben geben und die Güter Seiner Gnaden in dir niederlegen, und wenn du, statt Ihn machen zu lassen, statt von Ihm dir alles auszubitten, statt Seiner Hilfe zu harren, dich wehrest wie Petrus, dir von Ihm Barmherzigkeit erzeigen zu lassen, so scheinst du nur demütig und bist im Herzen recht hochmütig, rechter Bettelstolz. Denn wenn Dir das Herz brennt nach einer Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wenn du sie preisen hörst, als gegeben, und sie preist und siehst sie nicht, bist drüber voll Kummer und Jammer, arm und bloß, und wenn dir dann der selige Geber dieser Gerechtigkeit naht und will dir mit ihr dein Herz beglücken, und du willst dann nicht, so bist du wahrlich bettelstolzer, als ein Armer, der eher Hungers stirbt, als Geschenk annimmt. Ja, wenn du, falls dir Christus, nachdem ER das Wasser bereitet hat, mit demselben auch deine Seele waschen will, und du schreist: „Es ist zu viel! ich darf’s nicht annehmen!“ so gleichst du den Leuten, die in eingefleischtem Stolze keinen Dienst annehmen wollen, weil sie sich nicht gleich machen können, die von niemand Wohlthaten annehmen, um niemandem verbunden zu sein, ja, ja, du bist recht bettelstolz.
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 Einige sehen das ein. Sie haben’s aus Erfahrung, daß der Mensch nicht aus eigener Vernunft an JEsum Christum, Seinen| HErrn glauben oder zu ihm kommen, nicht sich selbst waschen kann, sie wollen von Christo gewaschen sein; aber sie haben einen andern Stolz und Eigensinn, sie wollen dem HErrn in die Art und Weise seines Waschens einreden und wollen Ihm zeigen, wo er anfangen soll, sie zu waschen. Wenn z. B. ein Mensch eine Sünde im verborgenen thut, daß er keinen Zeugen hat, die vergißt er, als wäre Gottes Auge nicht ein Zeuge über alle Zeugen; wenn er aber eine Sünde thut, über welche er ergriffen wird, die schmerzt ihn, auch wenn sie an und für sich gering wäre, mehr, als irgend eine, wenn auch die größte seiner geheimen Sünden, da will er nun zuerst für diese ihm groß vorkommenden Sünden Trost und Frieden haben, während etwa der HErr ihm erst seine wirklich großen, unerkannten Sünden unter die Augen stellen will in ihrer Größe und ihretwegen trösten. ER will Trost geben für die Sünde des Menschengeschlechts, der Glaube will Trost für ein gesprochenes ungläubiges Wort. Der HErr will trösten für die große Sünde des Mißtrauens und der Verzagtheit, und der Glaube will etwa Trost für eine That des Mißtrauens und der Verzagtheit. Wieder andere sind, wie oben schon angedeutet, mit der ganzen Art und Weise seines Waschens unzufrieden: sie wollen nicht das Gewissen rein gewaschen, sondern ganz weggewaschen haben, damit sie seine Regungen nicht mehr spüren; sie sind nicht zufrieden, daß der HErr sagt: „Ihr seid rein um des Worts willen, welches ich zu euch gesagt habe“; sie wollen im Gegenteil gleich eine innere Umwandlung spüren. Sie wollen nicht eine Vergebung der Sünden, sondern eine plötzliche Bekehrung des ganzen Menschen. Sie wollen ernten ohne Saat und wollen Früchte, die nicht gewachsen, sondern hergezaubert sind, nicht nach Gottes heiliger Wunderweise, sondern so, wie ihr hochmütiges Herz es gern hätte. Mit einem Wort, nicht eine Gerechtigkeit des Glaubens wollen sie, die auf Gottes Thron erhoben unantastbar bleibe, sondern eine eigne Gerechtigkeit, eine heilige, reine, damit sie darauf stolz sein könnten. Sie suchen nicht des HErrn Ehre und in ihr ihre eigene Ruhe, sondern sie suchen sich, nicht den Geber der Gaben,| und die Gabe nicht um ihretwillen, noch um des Gebers, sondern um ihrer selbst willen.

 O, es ist ungemein schwer, keinen Willen haben, stille sein und den HErrn machen lassen. Es ist ungemein schwer, stille halten in friedlicher Geduld und also erwarten, was der Herr aus uns macht. Es ist ungemein schwer, sich an Seiner Gnade genügen lassen zu sollen, wo einem die Fortschritte in der Heiligung verborgen werden. Es ist ungemein schwer, der Verheißung trauen, welche die Gottlosen gerecht spricht. Es ist ungemein schwer, alle Einbildungen und Vorurteile von Ihm und Seinem Thun fahren zu lassen, alle Hoffnungen, alle Wünsche inwendig verstummen und von Herzen so ganz sich Ihm hingeben, daß er bloß hört, was ER sagt, bloß will, was ER will, bloß nimmt, was ER giebt, bloß thut, was ER befiehlt. Ach, wer das kann, wer dahin, nicht will ich sagen, gedrungen ist, sondern nur dringt, forteilt, unverweilt; wohl, wohl dem! In dem ist Demut, der ist nicht mehr hochmütig, in dem ist des HErrn Hoheit auf den Thron gekommen und herrscht. Bis es dahin kommt, muß unser alter Mensch in seinen stolzen, eigengerechten Bemühungen schon sehr ermüdet worden sein durch von Gott gelegte Hindernisse, ach bis dahin braucht es eine große, sieghafte Gnade des heiligen Geistes, tiefeindringende, unwiderlegliche Beweise Gottes von unsrer Sünde, unsrer Ohnmacht, kräftige Züge zu Ihm und viel, sehr viel Vergebung! Wie oft hatte Petrus seinen eigenen Willen, wie oft war er fürwitzig! Noch am andern Tage verhieß er JEsu Treue bis in Bande und Tod, und wenige Stunden darauf schwor er die Treue ab! Viel Thränen, Kummer und Reue bedurfte es, bis er auf die dreimalige Absolution am See Liberias stille wurde und Mut gewann, bei JEsu Allwissenheit ohne Übertreibung zu schwören, daß er Ihn liebe und nicht mehr herrschen, sondern Schafe und Lämmer weiden wolle! Seliges Ziel, im Glaubensweg, voller Friede der Vergebung gehen, wert, um Demütigkeit und Demut zu beten, denn nur durch Demütigung macht ER uns groß, der selbst in seiner tiefsten Demut so groß ist!




|  Sehr hoch, sehr herrlich ist JEsus Christus, sehr hochmütig und darum sehr nichtig und klein sind seine treusten Jünger. Wie erst die, deren unentschiedenes, laues Leben kund giebt, daß die Demut in ihnen keinen Platz hat und nur der Hochmut im Regimente sitzt. Brüder, die da groß sind in ihrer Meinung, die sind bei Gott sehr klein und sind ein Greuel vor Ihm. Die Sterne, die wie Lucifer, die Stadt, die wie Kapernaum, bis zum Himmel erhoben sind, werden vom Jauchzen der untersten Hölle begrüßt! Hochmut kommt vor dem Fall, großer Hochmut vor tiefem Fall! Möge unser Hochmut, von Gott getroffen, fallen, solange wir leben, daß wir nicht ihn in den Tod mitnehmen und von ihm hinabgezogen werden in den Schlund, wo allen stolzen Geistern ein Bette der Verzagtheit bereitet ist, ein grauenhaftes Bette ewiger Verlassenheit von Gott! Bruder, Bruder! Es hilft nichts, durchs Thal muß gehen, wer auf den Berg steigen will! und wer da will kommen zu dem seligen Berge Zion und zu der Menge der Auserwählten, der muß erst hinab ins Thal der Buße und der Demut! nur dem Demütigen giebt Gott Gnade, nur aus der Tiefe holt ER die Seinen! ER läßt die Berggipfel stehen und sucht die stillen Blumen im Thal; ER ist gekommen, daß ER diene, auf daß durch Seinen Dienst alle Armen und Elenden erhoben werden! ER stößt vom Stuhl, die da hochmütig sind in ihres Herzens Sinn; ER erlöst die Armen aus dem Staub! O thut Buße für euren Hochmut, laßt uns weinen über unsre Einbildung und Luftschlösser, über jede hohe Meinung, die wir von uns hatten! Laßt uns erkennen, daß uns, während wir glaubten, etwas zu sein, der Kot der Sünde sehr beschmutzt hat, laßt uns beten, flehentlich beten, sehnlichst warten, bis der Allerhöchste uns wäscht und absolviert, gerechten Frieden giebt, bis wir, rein um des Worts willen, ihm dienen im heiligen Schmuck und sprechen: „Ich danke dir, daß du mich gedemütigt hast, denn ehe ich gedemütigt ward, irrte ich!“

 Ach! JEsu, JEsu! Amen. Amen.




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