RE:Minukianos 2

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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d. Jüngere, sophistischer Redner in Athen
Band XV,2 (1932) S. 19861988
GND: 102399654
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2) Minukianos der Jüngere ist der M.‚ auf den sich die biographischen Notizen in dem kontaminierten Suidas-Artikel s. v. beziehen, während die dort erwähnten Schriften dem älteren, dem Urgroßvater des jüngeren, gehören. Auch bei Himerios scheint, wo M. erwähnt wird, der ältere gemeint zu sein (s. o. 1975. 51). Nach Suidas lebte M. II. zur Zeit des Kaisers Gallienus (253–268). Er stammte aus Athen und war der Sohn des Sophisten (d. h. Redners und Redelehrers) Nikagoras (Suid. s. Νικαγόρας), der, etwa 175-180, geboren als Sohn des politischen Redners und Theoretikers des πολιτικὸς λόγος Mnesaios, um 230 den σοφιστικὸς θρόνος in Athen einnahm (Schissel Klio XXI 367). M. II. war gleich seinem Vater Vertreter der sophistischen Beredsamkeit in Athen. Als sein und des Agapetos Schüler wird uns der Sophist Genethlios genannt (über diesen W. Schmid o. Bd. VII S. 1134, 17ff.). Auch Porphyrios war wahrscheinlich sein Schüler (Schissel 365, 5 nach Bidez), und zwar vor 263. Schon Letronne (Journal des savants, 1844, 43-63) erkannte M. II. als Verfasser des Schriftchens περὶ ἐπιχειρημάτων. Aus dem Zusatz ἐν ἄλλῳ Νικαγόρου, der sich in einer Hs. findet, wird man wohl nicht schließen dürfen, daß diese Schrift auch dem Nikagoras zugeschrieben wurde, sondern M. II. hieß offenbar Μινουκιανὸς ὁ Νικαγόρου, und dieser unterscheidende Zusatz wurde von einem Schreiber mißdeutet (Schissel 369).

Die Schrift bildete wohl ein Ganzes und ist nicht als Teil eines größeren Werkes zu denken, wie Pauly o. Bd. V S. 1848 vermutete. Sie ist vollständig erhalten bis auf eine Lücke (I 423, 6 Sp. = 348, 10 H.)‚ wo der τόπος ἀπὸ τῶν παρεπομένων fehlt bei der Behandlung der einzelnen τόποι, während er vorher (420, 6 Sp. = 344, 5 H.) in der Aufzählung genannt war.

Die Schrift beginnt mit der Gegenüberstellung der πίστεις ἔντεχνοι und ἄτεχνοι. Wenn 417, 8 Sp = 340, 5 H. als ἄτεχνοι aufgezählt werden μαρτυρίαι, ὅρκοι, προκλήσεις, βάσανοι, νόμοι, συνθῆκαι, so fallen die προκλήσεις aus dem Rahmen des Üblichen heraus; denn die andern fünf stimmen mit den bei Aristot. I 55, 8 Sp. genannten überein, und bei dem sonst so engen Anschluß des Verfassers an Aristoteles muß die Hinzufügung der προκλήσεις verwundern, eines Terminus, den ich sonst nie unter den ἄτεχνοι gefunden habe; außerdem ist der Terminus zu allgemein und kann alle möglichen Aufforderungen, z. B. zur Folter, zur Eidesleistung, zum Zeugenbeweis usw. bedeuten. Ich glaube daher, daß hier προκλήσεις εἰς βάσανον zu lesen ist, zumal das Verschreiben paläographisch leicht zu erklären ist, oder προσκλήσεις nach Aristoph. Vesp. v. 104l, wenn nicht überhaupt προκλήσεις als in den Text eingedrungene Randbemerkung zu tilgen ist. Die ἔντεχνοι werden dann eingeteilt in ethische, pathetische und logische (pragmatische). Davon sind eingehend nur die logischen behandelt, deren ἀποδείξεις durch ἐπιχειρήματα erfolgen. Von den beiden Arten der Epicheireme werden wieder die enthymematischen [1987] mit 33 Gesichtspunkten (bzw. 35, da bei der Behandlung der einzelnen τόποι die beiden ἀπὸ κρίσεως καὶ ὄνόματος und ἀπὸ συγκρίσεως καὶ ἀναπλασμοῦ in je zwei getrennte τόποι zerlegt werden) viel eingehender als die paradeigmatischen behandelt (Christ-Schmid-Stählin II 937). Auch in der Behandlungsweise der enthymematischen Epicheireme finden sich wieder Verschiedenheiten. Manchmal wird nur ein Beispiel gegeben, manchmal zwei, selten mehr; bald wird dem Beispiel keine weitere Erklärung hinzugefügt, bald wird eine solche vor oder nach dem Beispiel gegeben. Die Beispiele stammen in der Hauptsache aus Demosthenes, seltener von Aischines und Thukydides oder aus dem Vorrat der Deklamationsthemata. Auch die Art des Zitierens ist verschieden: Bald wird die Rede des Demosthenes, aus der das Beispiel stammt, genannt, bald wird nur Demosthenes als Gewährsmann genannt, bald die Herkunft des Beispieles überhaupt verschwiegen (Angabe dieser Zitate bei H.).

Die Darstellung der Argumente lehnt sich stark an Aristoteles an und zeigt in ihrem logischen Gerüste (Definitionen, Einteilungen) und ihrem klaren Aufbau durchaus die peripatetisch- platonische Schulung der Zeit (Schissel 369). M. teilt die ἐπιχειρήματα in παράδειγμα und ἐνθύμημα wie Aristot. I 9, 17. 10, 1 Sp. die πίστεις und Alexandros ebd. 446, 2 f = 378, 14 H die ἔντεχνοι πίστεις, während nach Quintil. V 11, 2 die meisten Griechen die argumentatio in παραδείγματα und ἐπιχειρήματα teilten. Bei M. ist also ἐπιχείρημα ein Oberbegriff wie bei Apsin. I 376, 20 Sp. = 285, 7 H. Übrigens stimmt die Definition des Epicheirems (417, 26 Sp. = 341, 7 H) fast überein mit der des Enthymems bei Harpokration (I 447, 20 Sp. = 380, 18 H) und der des Epicheirems bei Georg. Pleth. (VI 581, 2 W). Die Definition des Paradeigma bei M. ähnelt der des Zenon (I 447, 11 Sp. = 380, 9 H) und Rufus (I 468, 15 Sp. = 405,15 H). Peripatetisch ist es, daß das παράδειγμα zur Gattung gemacht wird und unter seinen Unterarten das παράδειγμα noch einmal wiederkehrt (Schissel Ianus II (1920) 54. not. 197). Peripatetisch ist auch der Standpunkt über die Kürzungen im rhetorischen Schluß gegenüber dem philosophischen (Schissel 103, not. 209). Wenn M. 419, l0 Sp. = 343, 2 H die Beispiele aus der Sage ganz kurz abfertigt, ist er vielleicht dazu durch Apsin. 373, 24 Sp. = 281, 2 H veranlaßt, der vor πάνυ ἀρχαῖα und μυθώδη παραδείγματα gewarnt hatte. Denn auch sonst finden sich hier Berührungen mit Apsines. M. 418, 11 Sp. = 341, 20 H δεῖ δὲ τὰ παραδείγματα γνώριμα εἶναι τοῖς ἀκούουσι καὶ προσεχῆ τῷ πράγματι ∼ A. 373, 23 Sp. = 281, 1 H χρὴ δὲ τὰ παραδείγματα γνώριμα εἶναι καὶ σαφῆ (vgl. Z. 8 προσεχέστερα. Z. l3 προσεχῆ M. 418. 21 Sp. = 342, 4 H erinnert an eine Deklamation des A. 354, l5 Sp. = 251,20 H; M. 418, 23 Sp. = 342, 6 H Beispiel von Alkibiades ∼ A. 373, 3ff. Sp. = 280, 5 H. 374, 13ff. Sp. = 282,1 H; M. 422, 1 Sp. = 346, 17 H findet sich dasselbe Beispiel für den τόπος ἀπὸ τοῦ μείζονος wie A. 374, 25 Sp. = 282, 12 H; M. 42l, 25ff. Sp. = 346, 10 H. 422, 18 Sp. = 347,10 H dasselbe Beispiel wie A. 376, 28 Sp. = 285,17 H. Das ἀόριστον in der Unterscheidung der παραβολή vom παράδειγμα M. 418, 32 [1988] Sp. = 342, 15 H findet sich schon bei Tryphon III 20l, 2 Sp.‚ das γιγνόμενον bei Ruf. I 468, 22 Sp. = 405, 22 H, der auch dasselbe Beispiel für die παραβολή hat ebenso wie Apsin. 373, 2 Sp. = 280, 2 H. M. 422, 6 Sp. = 346, 22 H berührt mit der Unterscheidung von ἀντικείμενον und ἐναντίον eine von Anon. rhet. II 449, 58ff. Sp. behandelte Schulkontroverse.

Auf Grund der peripatetischen Grundeinstellung könnte das Schriftchen auch von M. I. stammen (Schissel Klio XXI 369). Glöckner (Bresl. ph. Abh. VIII 2, 24) ließ die Frage des Verfassers noch offen. In der Erhebung der Unterarten der ἐργασία ἐπιχειρήματος zu selbständigen ἐπιχειρήματα stimmen nun zwar M. I. und M. II. überein. Aber anderseits unterscheidet sich gerade da M. II. von M. I. in den Einzelheiten. Denn M. I trennt bei den Unterarten des συλλογισμός das ἴσον vom ὅμοιον, M. II. aber bei den τόποι der enthymematischen Epicheireme nicht, wohl aber dafür des ἀντικείμενον vom ἐναντίον, was wieder M. I. nicht tut. Auch würde sich die Dreiteilung der πίστεις ἔντεχνοι bei M. II in ἠθικαί, παθητικαί, πραγματικαί kaum vereinbaren lassen mit den fünf εἴδη προβλημάτων bei M. I. (s. o. S. 1978); vielmehr wäre dann eine ähnliche Einteilung der letzteren wie bei Aquila zu erwarten gewesen. Und vor allem lassen die oben genannten Parallelstellen, besonders die des Apsines, doch eher auf den jüngeren M. schließen. Daß Apsines M. II. beeinfiußt hat, ist schon dadurch wahrscheinlich, daß Apsines zur Zeit des Kaisers Maximinus (235-238) in Athen dozierte, also kurz nach dem um 230 dort tätigen Nikagoras, dem Vater unseres M. II.

Nicht ausgeschlossen, aber nicht nachzuweisen ist, daß M. II. für die Demosthenesbeispiele den Demostheneskommentar seines Urgroßvaters M. I. mit benutzt hat. Gekannt und in den orlesungen behandelt hat er die Schriften seines Urgroßvaters sicher; denn sein Schüler Porphyrios hat ja die τέχνη des M. I. kommentiert.

Daß M. II. von dem Schriftchen π. ἐπιχειρημάτων abgesehen noch andere technische Schriften hinterlassen hat, ist schon darum wahrscheinlich, weil dadurch die Kontamination des Suidasartikels erleichtert wurde (Schissel 368).

Die Hss. sind dieselben wie bei Apsines, zwei Pariser A und B; A wurde zuerst von Hammer herangezogen (vgl. dessen praef. XIV).

Ausgaben der Schrift π. ἐπιχειρημάτων: Chr. Walz Rhet. gr. IX 597–613 mit der praefatio Norrmanni. Spengel Rhet. gr. I 417-424 Hammer Rhet. gr. I 340-351.